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“Grand erinnert an Fred Vargas.” France Culture. In einer nordfranzösischen Kleinstadt wird die Leiche der drogenabhängigen Pauline gefunden. Der Schuldige scheint schnell ausgemacht: Ein Geldeintreiber, der für die illegalen Kredithaie arbeitet, bei denen Pauline eine hohe Summe geliehen hat. Wenige Tage später wird eine weitere Person ermordet, und die Polizei steht vor einem Rätsel. Doch dann stößt Kommissar Erik Buchmeyer, der die Gegend wie kein zweiter kennt, auf eine Spur, die ihn direkt in die Vergangenheit des Ortes führt. Und je länger er sich mit den damaligen Ereignissen beschäftigt, desto größer wird seine Gewissheit, dass auch nach über 30 Jahren Vergangenes längst nicht vergessen ist. Ein temporeicher Thriller, der von seiner Atmosphäre und den überzeugenden Charakteren lebt.
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Seitenzahl: 505
Emmanuel Grand wuchs an der französischen Atlantikküste auf. Heute lebt er mit seiner Frau und seinen vier Töchtern in der Nähe von Paris und arbeitet als Webdesigner einer großen Telefongesellschaft.
»Grand erinnert an Fred Vargas.« France Culture
In einer nordfranzösischen Kleinstadt wird die Leiche der drogenabhängigen Pauline gefunden. Der Schuldige scheint schnell ausgemacht: Ein Geldeintreiber, der für die illegalen Kredithaie arbeitet, bei denen Pauline eine hohe Summe geliehen hat. Wenige Tage später wird eine weitere Person ermordet, und die Polizei steht vor einem Rätsel. Doch dann stößt Kommissar Erik Buchmeyer, der die Gegend wie kein zweiter kennt, auf eine Spur, die ihn direkt in die Vergangenheit des Ortes führt. Und je länger er sich mit den damaligen Ereignissen beschäftigt, desto größer wird seine Gewissheit, dass auch nach über 30 Jahren Vergangenes längst nicht vergessen ist.
Ein temporeicher Thriller, der von seiner Atmosphäre und den überzeugenden Charakteren lebt.
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Emmanuel Grand
Späte Vergeltung
Thriller
Aus dem Französischen von Volker Zimmermann
Inhaltsübersicht
Über Emmanuel Grand
Informationen zum Buch
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Douve
1944. Brazzaville.
Juli 1952. Haiphong.
1954. Paris. Palais Bourbon.
Oktober 1957. Algier.
1964. Lyon.
1964. Wollaing. Hauptquartier der Berga Metallfabrik.
Wollaing
Pauline
Saliha
Buchmeyer
Berga
Mai 1983. Nord Éclair.
Wallet
Dienstag, 3. Februar. 7:10 Uhr.
Brüssel
Delcroix
Paul
Freitag, 21. März 1983.
Epilog
Danksagung
Anmerkungen
Impressum
FÜR AUDREY
»Immer wieder heißt es, dass dieser Krieg mit einer sogenannten Befreiung der kolonisierten Völker enden muss. Im großen kolonialen Frankreich gibt es jedoch weder Völker, die befreit, noch rassische Diskriminierungen, die abgeschafft werden müssen. Es gibt Bevölkerungen, die sich französisch fühlen. Denen es darum geht, einen größeren Anteil am demokratischen Leben und an den demokratischen Institutionen Frankreichs zu haben. Frankreich ist bereit, ihnen das zu gewähren. Es gibt Bevölkerungen, die wir Schritt für Schritt in die Mündigkeit führen wollen. Die reifsten unter ihnen werden am politischen Prozess beteiligt werden, doch sie werden unter Unabhängigkeit nie etwas anderes verstehen als die Unabhängigkeit Frankreichs.«
René Pleven, Kolonialminister
Konferenz von Brazzaville, 30. Januar 1944
Der Scout Car kroch langsam auf der Straße voran, die sich zwischen den Reisterrassen des Flussdeltas hinschlängelte. Auf beiden Seiten lagen schlammige, überschwemmte Felder, auf denen Bauern mit bloßen Händen den Boden umgruben. Unter der drückenden Hitze wiederholten sie mit ihren Strohhüten auf dem Kopf endlos die immer gleichen Bewegungen. Von Zeit zu Zeit konnte man phlegmatische Büffel sehen, die ihre schweren Körper über die Erddeiche schleppten. Kinder lagen auf ihren Rücken und trieben die Tiere mit Tampenschlägen und hellen Rufen an. Gerade vor denen musste man sich in Acht nehmen. Der Konvoi brauste vorbei und wirbelte eine Staubwolke auf. Die Bauern hoben nicht einmal mehr den Kopf, so viele sahen sie vorbeifahren. Zumindest war das der Eindruck, den sie vermitteln wollten. Doch Korporal Douve und seine Kameraden wussten, dass die Nhaqués sie aus den Augenwinkeln genau beobachteten.
Der M3A1 Scout Car war ein mittelmäßiger Panzerspähwagen aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Panzerung war zu dünn und der Motor zu schwach, die Aufhängung stammte von einem zivilen Lastwagen – vollkommen ungeeignet für die unwegsamen Pisten, auf denen er vom Expeditionskorps benutzt wurde, um zwischen den Militärbasen und vorgeschobenen Außenposten im Dschungel hin- und herzufahren. Hunderte dieser Fahrzeuge hatte sich die französische Armee von den Amerikanern andrehen lassen, die darin eine gute Möglichkeit sahen, sich ihrer alten Karren zu entledigen und gleichzeitig zu zeigen, dass sie ihre treuen Alliierten unterstützten. Auf der Ladefläche des Scout Cars waren drei Maschinengewehre fixiert, ein M2 und zwei leichte Brownings.
Gérard Dubus, genannt Gégé, saß am Steuer. Charron, der Leutnant, bediente das zentrale Maschinengewehr. Auf den seitlichen Posten saßen Douve und Jo Barjo. Ständig auf der Hut vor Heckenschützen, suchten sie die Reisfelder und Schlammdeiche ab. Hinter ihnen schob sich in einer braunen Wolke der GMC-Truck voran. Er war voller Kies und Zementsäcke, die sie bis zu den Vorposten in der Region Phu Tho transportieren sollten.
Erst gegen drei Uhr nachmittags hatten sie den Laster endlich fertig beladen, Charron war deswegen immer noch wütend. Die Président Durand, ein bis zur Bordkante voll beladenes Frachtschiff aus Marseille, hatte im Hafen von Haiphong Vorrang bekommen. Drei Stunden Fracht löschen, drei Stunden Verspätung. Alle Docker abkommandiert. Sie entluden Berge von Mehl, Bier, Sardinen in Öl, cassoulet und Sauerkraut, ein Geschenk des Mutterlands an seine Kolonien in den Tropen. Douve hatte sich schon oft gefragt, wie sich diese Flachpfeifen in der Verwaltung die Situation in Indochina eigentlich vorstellten, und ob sie wirklich glaubten, dass man sich an ihrem verdammten cassoulet satt essen würde. Das Delta und der Dschungel waren so heiß und feucht wie der Arsch des Teufels selbst. Die Vegetation drang brüllend, braun, faserig, verwickelt aus der Erde. Verdrehte Baumstämme voller Borsten. Die Zweige weich, die Blätter riesig, dick wie Karton oder voller Stacheln. Das Gras auf dem Boden war so hart und scharf, dass es einem die Füße zerschnitt. Eine Kuh aus der Normandie hätte sich an diesem Teufelszeug glatt den Bauch aufgeschlitzt.
Charron und seine Männer hatten zugeschaut, wie erst die Verpflegungskisten und dann, als der Frachter seine Laderäume weit aufgemacht hatte, das Kriegsgerät an ihnen vorbeizog. MAS-Gewehre, M1-Karabiner, Maschinenpistolen, Mörser, Kanonen, MGs, Bazookas, Munition, Ersatzteile und acht amerikanische M3-Halftracks, die verbesserte Version des Scout Cars. Dann musste der Papierkram erledigt werden. Um vier Uhr nachmittags hatten sie gerade mal zwanzig Kilometer in Richtung Hanoi geschafft.
Douve drehte seinen Kopf nach hinten und warf einen strengen Blick auf Dreyer, den Fahrer des GMC. Scheiß boche. Der und der andere, Nha Thang, ein hagerer Thai, der den Kopiloten machte, die hatten immer ihren Spaß. Fast könnte man meinen, sie legten es darauf an, dem Rest der Truppe auf den Senkel zu gehen. Als ihnen im Hafen von Haiphong ein Vietnamese im Pyjama erklärt hatte, dass sie mit dem Einladen warten mussten, protestierte Dreyer nicht einmal. Er hatte sich einfach zu Charron und seinen Männern umgedreht und grinsend mit den Schultern gezuckt. Sein Thai machte es genauso, nur diskreter.
Drei Stunden Verspätung. Ein dreimal so hohes Risiko, einer Vietminh-Kolonne in die Arme zu laufen. Aber die zwei Arschlöcher lachten sich trotzdem schief. Was hätte Douve darum gegeben, mit dem einen auf den anderen einzuschlagen. Auch Barjo kribbelte der Finger am Abzug seines Maschinengewehrs. Doch Dreyer und Nha Thang mussten sich keine Sorgen machen, das wussten sie nur zu gut. Dieser Scheißdeutsche war unersetzbar. Er war ohne Übertreibung der beste Mechaniker zwischen Tonkin und Cochinchina. Und zwar war er nicht nur irgendein Schönwetter-Schrauber, sondern ein echter Buschmechaniker. Ein Kerl, der einen Dieselmotor mit Draht und ein paar Stücken Bambus reparieren konnte. Das war Gold wert. Er wusste es genau, und das machte ihm Spaß.
Die schwüle Hitze zermürbte die Soldaten. Mit freiem Oberkörper und Strohhüten auf dem Kopf hielten sich Douve und Barjo an ihren Waffen fest. Der Leutnant wusste, dass sie niemals vor Einbruch der Dunkelheit in Phu Tho ankommen würden. Natürlich hätte er Dubus einfach befehlen können, das Marschtempo anzuziehen, und Gérard hätte mit großem Vergnügen aufs Gaspedal getreten, doch das hätte das Material zu sehr strapaziert. Versorgungslinien waren die Lieblingsziele der Vietminh. Sie kamen in die Dörfer, rekrutierten ein paar Bauern, drückten jedem ein Gewehr und eine Granate in die Hand und gaben ihnen den Befehl, gegen die erstbesten Franzosen loszuschlagen, die sie sahen. Die Kommunisten waren Meister der Überzeugungskunst und die Nhaqués hatten keine andere Wahl, als die Befehle auszuführen. Also musste man doppelt so gut aufpassen und langsam fahren, denn diese Saukerle verschmolzen geradezu mit der Landschaft. Hinter jedem Busch, Grasbüschel oder Erdhügel lauerte die Gefahr.
Während der Durchquerung des Deltas brummten ohne Unterlass Flugzeuge über ihren Köpfen. Das hatte etwas Beruhigendes. Deren Bomben konnten jeden feindlichen Angriff in einem Sekundenbruchteil ausradieren. Doch gleichzeitig belastete es auch die Nerven, als ob ständig eine Alarmglocke ihn ihren Ohren schrillte. Zwei Mal bestrich Douve ein Reisfeld mit Maschinengewehrfeuer. Barjo leerte sein Magazin in ein Gebüsch, in dem er glaubte, einen schwarzen Büffel gesehen zu haben. Die Schlitzaugen benutzten sie manchmal als Deckung, um sich den Konvois zu nähern. Charron hatte zwar nicht geschossen, aber während der ganzen Fahrt die Kiefer so sehr zusammengebissen, dass seine Zähne nun noch ein wenig mehr abgeschliffen waren.
Der Konvoi passierte Hanoi um fünf Uhr abends. Der Leutnant entschied, Richtung Viet Tri weiterzufahren, ein strategisch wichtiger Punkt, an dem der Klare Fluss in den Roten Fluss mündete. Die französische Armee betrieb dort einen befestigten Stützpunkt.
Sie erreichten das Fort bei Einbruch der Nacht. Die Männer verstauten ihre Waffen und das Marschgepäck. Dreyer hatte ein ungewohntes Geräusch ausgemacht und steckte den Kopf unter die Motorhaube, während Nha Thang in die Kantine ging und mit zwei Schalen Reis und cassoulet zurückkam.
»Ein echtes kleines Paar, diese beiden«, scherzte Dubus, als er mit seinem Rucksack auf der Schulter vom Scout Car sprang.
»Wenn ich die erwische, wie sie sich hinter einem Busch verstecken – taktaktaktaktak«, versetzte Barjo.
»Das würde mich wundern«, sagte Douve. »Ich hab Dreyer mal mit einer Bande von Legionären in einem Puff in Hanoi gesehen. Er hat mich nicht bemerkt, aber ich schwör euch, dass er es war.«
Sichtlich enttäuscht schulterten die zwei Soldaten ihre Rucksäcke.
»Heute Abend müsst ihr ohne mich auskommen, Jungs. Ich bin mit Charron beim Colonel eingeladen.«
»Man hört, es gibt Champagner!«, sagte Dubus.
»Und ’ne Ordonnanz, die ihm schöne Abendessen kocht, mit frischem Fleisch und Gemüse«, fügte Barjo hinzu.
»Ihr kriegt dann meinen Bericht«, sagte Douve mit einem Grinsen, bevor er zu seinem Zelt marschierte.
Colonel Florac ähnelte in keinem Punkt den alten Trotteln aus Hanoi oder Saigon, die ihre Gäste mit demonstrativ an die weiße Uniform gehefteten Orden empfingen und dann lang und breit ihre unschlagbaren Theorien zum Besten gaben, wie man General Giap fertigmachen konnte. Nein, Florac war ein echtes Frontschwein, ein großer Kerl mit sonnengebräuntem Gesicht, kurzem grauem Schnurrbart und strengem Scheitel.
Er empfing Leutnant Charron und Korporal Douve in Kampfuniform, die Ärmel perfekt an den Vorderarmen hochgekrempelt.
Sein Quartier war eine Bambushütte auf Stelzen, die nach dem gleichen Muster wie die Pagoden gebaut war, die man so häufig im Delta des Roten Flusses sah. Das Dinner war auf der Terrasse angerichtet worden, vor fremden Blicken durch ein einfaches Moskitonetz abgeschirmt, das von der Decke bis zum Boden reichte. Ein warmer Regen prasselte auf das Strohdach nieder und verursachte dabei mehr Lärm als ein Gewitter. Der lehmige Boden sog sich schnell mit Wasser voll, und bald stürzte unter dem Haus ein kleiner Bach herab, was Florac jedoch in keiner Weise aus der Ruhe brachte. Der Colonel eröffnete die Kampfhandlungen mit einer Flasche Bordeaux. Weiße Tischdecke, drei Teller aus Limoges-Porzellan, Silberbesteck und handgearbeitete Gläser, die das orangefarbene Licht der Lüster reflektierten. Dieser alte Fuchs wusste, was savoir-vivre bedeutet. Der vietnamesische Ordonnanzoffizier huschte diskret um die Abendgesellschaft und servierte Rinderzunge mit Pilzen. Douve lief das Wasser im Mund zusammen.
»Was ist Ihr Bestimmungsort, Charron?«, fragte der Colonel.
»Die Region um Phu Tho. Wir versorgen insgesamt vier Vorposten.«
»Seit einer Woche ist da unten die Hölle los«, stellte Florac fest und goss sich Soße über das Fleisch. »Ich weiß nicht, was die da auskochen, aber überall sind Minen mit Stolperdrähten verlegt. Erst heute sind zwei Fahrzeuge aus meiner Einheit in die Luft geflogen.«
»Haben Sie eine Empfehlung, Colonel?«, frage Charron.
»Ich empfehle Ihnen, sich entsprechend auszurüsten«, sagte er und schluckte ein Stück Zunge herunter.
»Meinen sie eine Eskorte?«
»Eher eine Art von … Späher«, sagte Florac mit einem Lächeln.
Douve beobachtete den Colonel, ohne etwas zu sagen, und gab acht, keine Flecken auf die weiße Tischdecke zu machen. Charron lächelte verlegen.
»Ich überlasse Ihnen einen gefangenen Vietminh«, sagte Florac. »Den setzen Sie auf ein Fahrrad, und er fährt vor Ihnen her. Können Sie mir folgen?«
»Selbstverständlich, Colonel. Vielen Dank, Colonel!«, sagte Charron.
Florac drehte sich zu einer kleinen Anrichte um und griff nach einem in Zeitungspapier gewickelten Gegenstand, den er vor den Augen seiner Gästen auspackte.
»Sehen Sie das? Das haben wir einem Gefangenen abgenommen«, sagte er.
»Eine Smith & Wesson Automatik, Kaliber 38«, sagte Douve.
»Die Pistole meine ich nicht.«
Florac legte die Waffe auf den Tisch und hielt die Zeitung hoch, in der sie eingewickelt gewesen war.
»Das hier meine ich«, sagte er mit angewidertem Gesichtsausdruck.
»Scheiße«, sagte Douve. »Bei allem Respekt.«
»Sie sagen es, Korporal«, antwortete Florac. »Dieses verdammte Schlitzauge hat seine Knarre in eine Ausgabe von L’Humanité eingewickelt. Das, meine Herren, ist der unwiderlegbare Beweis, dass die Kommunistische Partei Frankreichs ihr Schmierblatt bis hierhin exportiert.«
»Unglaublich«, sagte Charron.
»Das hier …«, knurrte Florac, während er die Zeitung schüttelte, »das bedeutet Weltkrieg! Onkel Ho hat uns schön verarscht! Das Gerede von Autonomie, Vietnam für die Vietnamesen und der ganze Scheiß, das ist vorbei. Ab heute, meine Herren, bekämpfen wir den expansionistischen Kommunismus. China facht das Feuer an, die USA machen sich in die Hosen und wir, wir stecken mittendrin, und die Schweine von der KP schießen uns in den Rücken.«
»Ekelhaft«, sagte Charron.
»Zum Kotzen«, sagte Douve.
»Wir müssen einen anderen Krieg führen, haben Sie mich verstanden? Hier und jetzt. Oder wir werden ihn nie gewinnen«, versetzte der Colonel und schenkte sich noch etwas Saint-Émilion ein.
»Was meinen Sie damit, Colonel?«, fragte Charron.
»Es gibt nur einen Weg, wie wir die Vietminh besiegen können. Nämlich mit ihren eigenen Mitteln.«
»Und welche Mittel sind das?«
»Terror, Korporal. Die Viets halten dieses Land, indem sie die Bauern terrorisieren. Giap kann hunderttausend Hampelmänner als Kanonenfutter verheizen, ohne auch nur eine Träne zu vergießen. Wenn das der einzige Weg zum Sieg ist, wird er nicht zögern. Seine Soldaten sind die härtesten, gegen die ich je gekämpft habe, weil sie sich nicht um ihr eigenes Leben scheren. Auch wir müssen Terror verbreiten. Unerbittlich sein. Massenbestrafungen, um Exempel zu statuieren. Die Nhaqués müssen uns mehr fürchten als den Vietminh. Entweder das, oder wir liefern Frankreich den Kommunisten aus. Treffen Sie Ihre Wahl. Der Konflikt hat eine andere Dimension bekommen. Die Kommunisten führen einen totalen Krieg: Hier im Dschungel, im Norden jenseits der chinesischen Grenze, in Moskau und in Paris. Wenn wir nicht dagegenhalten, schnüren sie uns über kurz oder lang die Kehle zu.«
Die drei Offiziere saßen bis spät in die Nacht bei Tisch. Noch lange nach diesem Tag würde sich Douve an die ausgerissene Seite der L’Humanité erinnern, an die Flüche, mit denen sie die Kommunisten bedacht hatten und an den Saint-Émilion mitten im Dschungel, der ihnen die Lippen tiefrot gefärbt hatte.
Am nächsten Morgen um neun setzte sich der Konvoi wieder in Bewegung. Charron behielt den jungen Gefangenen, der vor ihnen auf einem kaputten Manufrance-Fahrrad in die Pedale trat, stets im Visier seines M2. Damit sich der Vietnamese nicht in der ersten Kurve aus dem Staub machte, hatten sie einen langen Bambusstock am Lenker befestigt. Dubus hatte die Anweisung, zwanzig Meter Abstand zwischen dem Scout Car und dem Radfahrer zu halten, und fuhr daher nicht schneller als zehn Stundenkilometer. Das hieß, dass der nächste Posten zwei Stunden entfernt war, wenn alles gutging. Gleichzeitig durften sie keine Sekunde verlieren, denn die Jungs an der Front erwarteten sie wie den Messias. Wenn man die Ausflüchte der Spinner aus dem Palais Bourbon und das Sprichwort in Betracht zog, dass man manchmal einen Krieg mit einer mittelmäßigen Strategie, jedoch nie ohne eine perfekt funktionierende Logistik gewinnen kann, musste man zugeben, dass der Ausgang des Konflikts hauptsächlich von Kerlen wie Charron und seinen Männern abhing. Sie lieferten das Material, mit dem man Befestigungen wieder aufbaute, Mauern errichtete und Schutzwälle verstärkte: Eine unerlässliche materielle und moralische Unterstützung für die Truppen der Vorposten. Auf den Karten im Generalstabsquartier, die aussahen, als wären sie vom Wundbrand überzogen, waren sie die von allen Seiten vom Vietminh bedrängten gelben Punkte. Sie zu reparieren glich dem Versuch, Sandburgen in der Brandung des Ozeans zu errichten. Seit sechs Monaten fielen sie wie die Fliegen, einer nach dem anderen. Und jedes Mal wanderte in General Linares’ Hauptquartier in Hanoi eine gelbe Stecknadel mehr in die Kiste.
Auf der Piste ging es im Schneckentempo voran. Der vietnamesische Gefangene fuhr bemerkenswert geschickt in der Mitte der rutschigen Straße. Charron hatte das M2 an Douve übergeben und sich nach hinten zu Barjo gesetzt. Die mit Lianen verhangenen Bäume am Straßenrand waren eine grüne Mauer, die bis in den Himmel reichte. Der Dschungel erstickte alle Geräusche und umschloss die Soldaten in einem Kokon von Blätterrascheln und Insektensummen. Das Geräusch der Dieselmotoren wurde allein von gellenden Vogelschreien durchbrochen. Von Zeit zu Zeit war auch das Kreischen eines Affen zu hören.
Plötzlich trat Dubus auf die Bremse. Der Gefangene hatte angehalten. Douve richtete sich hinter seinem Maschinengewehr auf.
»Was ist los?«, fragte er Dubus, der versuchte, durch die verschmierte Windschutzscheibe etwas zu erkennen.
»Ich weiß nicht. Vielleicht hat er was gesehen. Eine Mine?«
Der Vietnamese bewegte sich noch immer nicht. Douve drehte sich um, doch Charron war schon vom Scout Car gesprungen.
»Behalt ihn im Visier. Bei der ersten falschen Bewegung erschießt du ihn.«
»Verstanden«, sagte Douve zu Charron, der sich mit dem Gewehr unter dem Arm zur Vorderseite des Spähwagens bewegte.
Jo Barjo war angespannt, er schwenkte sein am Scout montiertes MG von links nach rechts und wieder zurück und versuchte, seine Wachsamkeit nicht davon beeinträchtigen zu lassen, dass vorne etwas passierte. Dreyer hatte den Motor noch nicht abgestellt.
»Was passiert?«
Barjo antwortete nicht. Konnte der boche nicht französisch sprechen? Dreyer brauchte sowieso keine Antwort, um zu verstehen. Universelle Körpersprache. Barjo hatte den Finger am Abzug. Er war bereit, beim kleinsten Anzeichen alles niederzumähen. Charron war am Scout Car vorbei. Er ging vorsichtig weiter, achtete auf jedes Detail. Douve wischte sich mit der Hand über die Stirn. Die Affen schrien. Irgendetwas irritierte sie. Das gefiel ihm nicht. Der Gefangene atmete schwer und bewegte sich immer noch nicht. Unter seinem Pyjama konnte man die Bewegungen des kleinen Körpers ausmachen.
»Vorsicht, Leutnant. Ich hab den Eindruck, der heckt was aus.«
Douve wusste nicht, wie recht er damit hatte. Noch bevor er seinen Satz ganz ausgesprochen hatte, sprang der Gefangene in einem großen Satz vom Fahrrad.
»Los! Knall ihn ab!«, schrie Dubus.
Der Vietnamese kam gerade mal zwei Meter weit, bevor er mit dem Kopf voran in den Schlamm fiel. Das M2 rauchte. Douve fluchte. Charron, der sich vorsichtig dem Fahrrad genähert hatte, machte einen Schritt auf den Vietnamesen zu, als eine Explosion den Dschungel zum Erbeben brachte. Das panische Geschrei von Tieren erklang, und auf einen Schlag spuckten die Bäume Tausende verschreckter Vögel in den Himmel. Schlamm spritzte über den Scout Car. Barjo schoss blind ins Dickicht, während Douve von der Ladefläche sprang. Er bewegte sich in Richtung Charron und schrie. Die Piste, das dichte Gras, die Blätter – alles war mit seinem Blut bespritzt. Einen Moment lang schwankte Charron noch, seine Arme waren auf der Höhe der Ellenbogen abgerissen, das Gedärm hing ihm aus dem Bauch und seine gesamte Vorderseite war von Glassplittern und Nägeln durchlöchert. Dann klatschte er zu Boden, nicht einmal zwei Meter neben dem Gefangenen.
Douve ließ seine Waffe fallen und sank auf die Knie. Hätten Soldaten im Hinterhalt gelegen, hätten sie ihn jetzt einfach abknallen können. Hinter ihm hatten Dubus und Dreyer nach ihren Pistolen gegriffen, und Barjo hatte das M2 bemannt. Alles war in Stille getaucht. Nichts bewegte sich mehr. Douve war am Boden, mit Rotz im Gesicht und Blut an den Händen. So verharrten sie einige Augenblicke, wie erstarrt. Dann erhob sich Douve. Ohne ein Wort nahmen sie Charrons Körper und hievten ihn hinten auf den Scout Car. Dubus und Dreyer räumten erst das Fahrrad aus dem Weg und dann den Fahrer, den sie an den Armen wegschleiften.
Sie hatten sich gerade zu den Fahrzeugen gewandt, um weiterzufahren, als Douve sich ihnen in den Weg stellte.
»Wir werden die Schweine finden, die das getan haben.«
»Douve …«, entgegnete Dubus zögernd. »Die sind schon lange weg. Die haben die Mine gelegt und sich dann in Luft aufgelöst. Wir müssten tagelang durch den Dschungel marschieren …«
»Und nicht mal dann wäre es sicher, dass wir sie finden«, ergänzte Dreyer.
»So ist der Krieg«, bekräftigte Barjo.
»Wir müssen den Vorposten erreichen«, sagte Dubus.
Ungerührt hatte Douve sein MAS nachgeladen.
»Ich bin jetzt für diesen Konvoi verantwortlich. Wir werden uns von diesen Scheißkommunisten nicht in die Luft jagen lassen, ohne dass wir es ihnen heimzahlen. Sonst könnten sie sich gleich mit unserer Flagge den Arsch abwischen!«
»Das seh ich genauso, Douve«, sagte Barjo, »aber …«
»Korporal«, sagte Douve plötzlich in einem ungleich strengeren Ton und rückte sich den Gürtel zurecht, »um den Krieg gegen die Kommunisten zu gewinnen, müssen wir wie die Kommunisten kämpfen. Sie fordern uns heraus? Dann werden sie von uns hören. Nehmt eure Waffen.«
Die Männer gehorchten. Douve war der Ranghöchste, er hatte das Kommando. Es gab keinen Widerspruch. Sie stiegen aus den Fahrzeugen, steckten ihre Pistolen in die Halfter und hängten sich die Gewehre um.
»Wo ist das nächste Dorf?«, fragte Douve.
Dubus entfaltete eine Karte auf der Motorhaube und setzte seinen Finger auf einen grauen Punkt.
»Kim Duc. Eine Stunde zu Fuß.«
Die fünf Männer stießen in den Wald vor, bis an die Zähne bewaffnet, ohne genau zu wissen, was sie suchten, und ohne zu wissen, was sie tun würden, wenn sie das Dorf denn einmal fänden. Bald wurden sie von einer amorphen Masse von Farnen, Palmen, Stengeln und verwickelten Ästen verschluckt. Die schweren Blätter litten unter ihrem eigenen Gewicht, umgefallene Stämme waren mit Wasser vollgesaugt und von Moos zerfressen, trockenes Laub krachte unter ihren Schnürstiefeln. Alles war grün. Der Himmel nur noch ein schmaler blauer Streifen über ihren Köpfen. Sie marschierten mehr als eine Stunde, wachsam und ohne ein Wort zu sagen, bevor sie auf den Gipfel eines Hügels kamen, von wo aus sie das grüne Gewimmel überblicken konnten. In der Ferne wogten aus der feuchten Erde der Täler aufgestiegene Nebelschwaden.
»Wir sind da«, sagte Dubus.
Am Fuße des Hügels standen in der Nähe eines Flussarms einige Strohhütten. Der Korporal gab ein Handzeichen, und die Männer schlichen gebückt und ohne ein Geräusch zu machen den Hügel hinab.
Unten angekommen, stürmten sie aus dem Bambuswald und ließen ihre Gewehre sprechen. In wenigen Minuten hatten sie das Dorf besetzt und die Bauern zusammengetrieben. Die Männer auf der einen Seite, Frauen und Kinder auf der anderen. Eine zitternde Masse. Einige Frauen wimmerten. Mit ihren Gewehren im Anschlag hielten Douve und seine Schergen die Männer in Schach. Diese starrten schweigend auf ihre Füße.
»Wer hat die Minen auf die Straße gelegt?«, schrie Douve und betonte dabei jede Silbe.
Er war rot vor Hass. Barjo kannte ihn seit mehr als zwei Jahren und hatte ihn noch nie so gesehen. Der Korporal ging auf die Gefangenen zu, zielte mit seinem Gewehr auf irgendeinen Kopf und lud die Waffe laut durch, um nicht den leisesten Zweifel an seinem Vorhaben zu lassen.
»Wer ist hier der Chef?«
Die Gefangenen ließen die Köpfe hängen. Douve wiederholte seine Frage und ließ seinen Blick über die gebeugten Nacken wandern. Niemand antwortete. Also drehte er sein Gewehr um und verpasste dem nächstbesten Kopf einen krachenden Kolbenschlag. Der Mann brach zusammen. Aus der Gruppe der Frauen erklang ein kleiner Schrei. Douve wiederholte seine Frage, richtete das Gewehr wieder auf den Kopf des Bauern und entsicherte es. Da trat einer der Dorfbewohner vor, ohne den Kopf zu heben.
»Bist du der Chef?«
»Ja … Chef …«, murmelte der Mann.
»Wer hat die Minen gelegt?«
»Weiß nicht … Minen … weiß nicht …«
»Willst du mich verarschen? Auf der Straße über deinem Dorf sind Minen verlegt. Vor gerade mal einer Stunde hat es unseren Leutnant erwischt. Jemand hat die Minen gelegt, und er kann nicht weit sein. Wo ist er?«
»Minen … weiß nicht …«
Noch bevor der Mann sein Gejammer beenden konnte, schoss Douve dem am Boden liegenden Mann zweimal in die Schläfe. Die Bauern waren fassungslos. Ein Geheul stieg von der Seite der Frauen auf.
»Verarsch mich noch einmal, und du bist der Nächste.«
Dann hob er den Kopf und blickte um sich.
»Ich weiß, dass die Vietminh hier durchgekommen sind. Ich weiß, dass sie einen Mann bei euch gelassen haben, vielleicht sogar mehrere. Wir sind die französische Armee. Wir sind nicht im Krieg mit euch. Wir sind im Krieg mit den Kommunisten und den Vietminh. Wer ist der Vietminh unter euch? Wenn ihr redet, wird euch nichts passieren.«
Douve hatte sein Gewehr auf einen zweiten Kopf vor ihm gerichtet. Der Bauer zitterte am ganzen Körper. Douve legte seinen Finger auf den Abzug. Der Chef kreischte:
»Der da … Vietminh! Der da … Vietminh!«
Er zeigte auf einen Kerl, der sofort aufsprang und flüchtete, jedoch direkt Barjo und seiner Automatik in die Arme lief. Er hielt abrupt an und blickte sich verängstigt um.
»Bring ihn her«, sagte Douve. Barjo gehorchte sofort.
Im gleichen Moment sprang ein weiter Vietnamese an der anderen Seite der Reihe auf und wurde von Dubus abgefangen. Einen Moment später knieten zwei Gefangene vor Douve.
»Sind das die Kommunisten?«, fragte Douve den, der vorgab, der Chef zu sein.
»Ja … Kommunisten …«
Die zwei Vietnamesen hatten ihre Köpfe gehoben. Angesichts des Funkelns in ihren Augen war kein Zweifel möglich. Das waren Giaps Soldaten. Douve befahl den Dorfbewohnern, gut zuzuschauen. Da sie zögerten, schoss er eine Salve in die Bäume, und die Köpfe schnellten in seine Richtung.
Er schnallte sich sein Gewehr wieder auf den Rücken und befahl Dreyer und Nha Thang, zwei Bambusstöcke zu schneiden, während er die zwei Vietnamesen umkreiste und ihnen mit der flachen Seite seines Bajonetts über die Wangen strich. Dann kehrte er ihnen den Rücken zu und baute sich wieder vor den verängstigten Bauern auf. Er stand unter Hochspannung, war trunken vor Wut und Macht. Er sprach zu ihnen wie ein Tribun.
»Wir sind die französische Armee. Wir sind eure Freunde. Die wahren Feinde Tonkins sind die Kommunisten«, sagte er und zeigte mit dem Messer auf die zwei Männer. »Sie legen Minen. Sie kämpfen gegen die französische Armee, und wir kämpfen gegen sie. Und auch ihr müsst gegen sie kämpfen. Sie haben keinen Respekt und werden euch zu Sklaven machen. Sie werden eure Dörfer niederbrennen. Sie werden die Männer töten und die Frauen vergewaltigen. Sie sind eure Feinde.«
Dann machte er eine Pause und betrachtete sein Publikum. Niemand sagte ein Wort. Also schrie er der Menge zu:
»Wer sind eure Feinde?«
Ein zaghafter Chor kam zurück: »Die Kommunisten.«
Douve wiederholte seine Frage noch drei Mal und bekam jedes Mal die gleiche Antwort. Als er sich sicher war, dass alle verstanden hatten, wandte er sich wieder den Gefangenen zu, trat dem Ersten mit seinem Stiefel in den Rücken, so dass er nach vorne auf die Erde fiel, legte seine Hand auf den Mund des zweiten und schnitt ihm scheinbar mühelos die Kehle durch. Das Blut strömte in Stößen aus der durchtrennten Halsschlagader, und der Körper sackte leblos in sich zusammen. Douve bückte sich zu dem anderen herunter, packte ihn beim Schopf, zog seinen Kopf nach hinten und durchtrennte seine Kehle auf die gleiche Weise. Die versammelte Dorfgemeinschaft blieb stumm. Keine Klage, kein Geschrei, nur Schauer des Entsetzens.
Douve gab Nha Thang ein Zeichen, nahm seine Machete und trennte den Toten mit zwei kräftigen Hieben die Köpfe ab. Er stand auf, rot und zitternd, die beiden noch blutenden Köpfe in den Händen. Dann rammte er sie auf die zwei Bambusstöcke, die Nha Thang ihm hinhielt, und stellte sie in der Mitte des Dorfes auf. Dubus, Barjo und Dreyer hielten die versammelte Menge mit ihren Gewehren unter Kontrolle. Douve steckte das Messer in die Scheide und wischte sich die Hände an seinem Kampfanzug ab, dann ging er auf die Bauern zu. Er hob seine Hand zum Kopf einer Frau, als ob er sie streicheln wollte, doch kurz bevor er mit ihrem glatten, schwarzen Haar in Berührung kam, zog er seinen Arm zurück. Dann gab er einen kurzen Befehl, und die fünf Männer verschwanden im Dschungel.
»In der Nacht vom 31. Oktober auf den 1. November 1954 wurden in Algerien siebzig Attentate verübt. Wird sich Algerien, wie Marokko und Tunesien, wo das Phänomen des individuellen Terrorismus in den Städten und auf dem Land aufgetreten ist, nun in den Kreis der Länder einreihen, die sich seit fünfzehn Jahren in der Revolte befinden, und sich gegen die Nationen auflehnen, unter dessen Kontrolle es gestanden haben soll? Das wird es nicht! Denn es ist nun einmal so, dass Algerien zu Frankreich gehört, die Départements Algeriens sind Départements der Französischen Republik. Von Flandern bis in den Kongo herrscht das Gesetz […], und dieses Gesetz ist das Gesetz Frankreichs. Es ist dasjenige, das Sie bestimmen, denn in den Überseeterritorien, in den Regionen Algeriens und im Mutterland existiert nur ein Parlament und eine Nation […]. Wir haben sofortige Maßnahmen ergriffen […]. In einem Zeitraum von drei Tagen sind sechzehn Kompanien Republikanischer Sicherheitsgarden nach Algerien geschickt worden, was die Gesamtanzahl der Kompanien auf algerischem Gebiet auf zwanzig erhöht. Das alles ist in drei Tagen geschehen. Es wurde gefragt: ›Geschieht das, um die Ordnung aufrechtzuerhalten?‹ Nein, nicht allein. Aber auch, um Frankreichs Stärke und Willen zu demonstrieren.«
François Mitterrand, Innenminister
Nationalversammlung, 12. November 1954
Von ihrem Posten aus, nur knapp zweihundert Meter von der Orléans-Kaserne entfernt, konnten sie die gesamte Stadt von Bab-el-Oued bis zur Kasbah überblicken. General Massus Fallschirmjäger hatten gleich nach Erteilung der außerordentlichen Vollmachten Anfang Januar einige Villen requiriert, die auf den Höhen der Stadt erbaut worden waren und daher strategisch wichtige Punkte darstellten. Wann immer sie konnten, versammelten sich die Männer auf einem der Kreidedächer. Sie genossen dort einige Momente der Ruhe nach den aufreibenden Tagen, die sie damit zugebracht hatten, Terroristen in den Hinterhöfen Algiers nachzujagen.
An diesem 15. Oktober waren die Abende noch warm. Etwa ein Dutzend Männer in Kampfanzügen lehnten an der Brüstung. Das waren Montforts dünne Wölfe, die Besten der Besten.
Douve und Dubus hatten ihre MAS 36 gegen die Mauer gelehnt. Barjo hatte seins umgehängt. Sie tranken einen kalten Pastis und betrachteten das Straßen- und Häusergewirr, das sich bis zum Hafen erstreckte. Unter ihnen lag ein Meer von ineinander verschachtelten weißen Würfeln, die ein undurchdringliches Straßenlabyrinth verdeckten, in das sie jeden Tag zu zehnt, in Leopardentarnfleck gekleidet und mit der Maschinenpistole in der Hand, vorstießen. Sie rannten Treppen hoch, traten Türen mit Stiefeltritten ein, feuerten Maschinengewehrsalven ab, schrien, rannten, prügelten und legten Handschellen an. Seit Januar hatten sie diese Drecksarbeit geleistet und jetzt war Algier eine einzige offene Wunde. Zehn Monate hart ausgefochtener Krieg, fünfundzwanzigtausend Verhaftungen, dreitausend Tote. Zehn Monate Bombenanschläge, Straßenkämpfe, Streik, Verhaftungen, Verhöre. Unzählige Fahrten zur Villa Sésini1, um aus den Feinden Frankreichs Informationen herauszupressen. Zehn Monate durchhalten, auch wenn das Mutterland sie im Stich ließ.
Die Männer auf der Terrasse unterhielten sich leise. Während in der Stadt einige entfernte Explosionen widerhallten, sank die Sonne ins Meer. Natürlich gab es immer Momente des Zweifels, doch Montfort sprang stets in die Bresche. Er fand immer die richtigen Worte für seine Wölfe. Ihre schrecklichen, heldenhaften Anstrengungen waren kriegsentscheidend. Ihnen war es zu verdanken, dass die Schlacht von Algier gewonnen und der Sieg nun zum Greifen nahe war.
Das letzte Mal, dass er sich seinen Männern gezeigt hatte, war am 27. September gewesen, zwei Tage nach der Verhaftung von Yacef Saadi, dem Chef der Bombenleger. Er stand unter Strom, war jederzeit bereit, zuzubeißen. Das Ende des Kriegs war nah, sein Ausgang unumkehrbar. Auch Montfort war in Indochina gewesen, und wie alle Veteranen hatte er nie richtig verdauen können, dass die Roten Socken aus Nordvietnam ihnen damals den Arsch versohlt hatten. Für viele Soldaten war das hart gewesen, doch für ihn war es ein zentnerschwerer Stein, der ihm im Magen lag. Und auch wenn er es nicht öffentlich zugab, hatte der Algerienkrieg für ihn genau ein Ziel: Rache an den Kommunisten. Der Schuldschein, der in Hanoi und Saigon ausgestellt worden war, sollte in Algier zurückgezahlt werden. Nhaqués und Araber waren ein und dieselbe Sache. Die FLN war eine marxistische Organisation, die von der Sowjetunion und diesen Schweinen von der Kommunistischen Partei Frankreichs unterstützt wurde. Genau wie der Vietminh in Indochina. Da gab es keinen Unterschied.
Montfort stand mit in die Hüften gestützten Händen vor seinen Männern. Sein Barett saß perfekt, die Kampfuniform war picobello, der Hals gereckt. »Ihr seid Herren«, bellte er. Sie saugten seine Worte begeistert auf. »Der Sieg gehört uns. Der Sieg gehört euch, Männer, und die algerischen Kommunisten liegen am Boden. Ihr habt die Drecksarbeit gemacht, und heute trägt sie ihre Früchte. Alle, die etwas wussten, haben geredet. Die Netzwerke sind zerschlagen worden. Das sind die unwiderlegbaren Fakten. Doch wenn auch der Feind nicht mehr in Algier ist, so ist er doch vom Land noch nicht vertrieben worden. Er versteckt sich in Tizi Ouzou, in Sétif, in Constantine und in Biskra. Er hat sich in den Dörfern und in den Bergen verschanzt. Aber wir sind im Vorteil. Und es ist an der Zeit, diesen Vorteil zu nutzen, für den Sieg und für Frankreich. Das Vaterland erwartet heute von euch, das kommunistische Ungeziefer in den französischen Provinzen Nordafrikas auszurotten.«
Er hatte geschrien, was sein Hals hergab, kam dann wieder zu Sinnen und bedachte seine Krieger mit einem hasserfüllten, fiebrigen Blick. »Hört mir gut zu. Ihr habt freie Hand. Wir brauchen Ergebnisse, und zwar schnell. Ihr seid gedeckt. Der Generalstab deckt euch, die Regierung deckt euch. Denkt daran, wenn ihr einen Verräter im Visier habt. Denkt daran, wenn er versucht, euch um Gnade anzuflehen und euch weich zu machen. Es sollte nur eine Sache zählen, nämlich eure Pflicht.« Er wurde dunkelrot. »Warum sollten wir so weit gekommen sein, nur um kurz vor dem Ziel kehrtzumachen? Wie viele tote Zivilisten, wie viele ermordete Kameraden haben den höchsten Preis gezahlt? Erinnert euch an das Opfer, das sie gegeben haben, und bestraft die Schuldigen.«
Nachdem er seine Rede beendet hatte, war Douve vorgetreten und hatte verkündet: »Colonel, im Namen aller meiner Kameraden möchte ich sagen, dass wir stolz sind, zum dritten Regiment der kolonialen Fallschirmjäger zu gehören. Wir versprechen Ihnen, loyal und unerbittlich zu sein. Colonel, Sie können sich auf uns verlassen, wir werden den Auftrag ausführen.« Dann hatte er salutiert und war zurückgetreten.
Am Ende des Indochinakriegs war Douve neunzehn Jahre alt und hatte bereits den Rang eines Sergeanten erreicht. Er war nach Frankreich zurückgekehrt und hatte in Lille eine Stelle als Angestellter beim Crédit du Nord bekommen. Dort hatte er in allen Facetten mitbekommen, was die alten Veteranen mit den »Qualen der Rückkehr ins zivile Leben« meinten. Die Langeweile eines Lebens ohne Adrenalin, das Gefühl des Erstickens, durch die pingeligen Ermahnungen seines Vorgesetzten auf die Spitze getrieben, und der verdammte Schnee, der bis weit in den März hinein liegen blieb. Er hatte schnell kapiert, dass er das nicht lange mitmachen würde. Der einzige Lichtblick in dieser Zeit war Adèle, die er im Frühling 1954 getroffen hatte. Sie sollte seine Frau werden.
Barjo hatte im Familienbetrieb in Tourcoing angefangen und kam auch nicht viel besser zurecht. Dubus – der Schlaueste der drei – hatte sich sechs Monate nach Dien Bien Phu2 in Nordafrika verpflichtet. Douve und Barjo trafen sich von Zeit zu Zeit, um sich gegenseitig zu bedauern, hatten diese Routine aber nicht lange durchgehalten. Neun Monate später machten sie sich auf den Weg zu ihrem Kameraden in Algerien. 1957, mit nur zweiundzwanzig Jahren, war Douve bereits in der Hierarchie aufgestiegen. Als Leutnant und Zugführer befehligte er nun dreißig katzenartige, drahtige und bewegliche Männer. Sie waren ein zusammengeschweißtes Team und hatten sich ihren Ruf als harte Hunde durch blutige Tatsachen erarbeitet. Wenn sie schliefen, dann immer in Kampfausrüstung. Sie waren stets bereit, beim kleinsten Zeichen loszuschlagen. Sie konnten egal wann egal wohin geschickt werden.
Dieser Oktoberabend hatte den wundervollen Beigeschmack des Waffenstillstands. Die rote Sonne verschwand am Horizont, der Rauch der Stadt verzog sich und langsam erstarb auch das Geknalle. Douve stellte sein Glas hin und wünschte seinen Männern eine gute Nacht. Alle wussten, dass die Atempause nur kurz sein würde.
Es sollte sich bewahrheiten. Am nächsten Morgen um fünf stürmte Dubus durch die Zelte und riss seine Kameraden aus dem Schlaf. Nur drei Minuten später stand die Truppe auf einem nahe liegenden Feld bereit. Bei ohrenbetäubendem Lärm lehnten sich die Männer gegen den Wind der Rotorblätter eines landenden Sikorsky S-58 und hielten sich die Mützen fest. Die Kampfanzüge flatterten. Die Männer sprangen in die geöffnete Luke, und der Hubschrauber flog ab in Richtung Kabylei. Eine Stunde später, als die Morgendämmerung hinter den roten Bergen hervorkroch, waren sie bereits über Tizi Ouzou. Nach weiteren fünfzehn Minuten setzte der Sikorsky die Männer auf einer steinigen Hochebene ab, bevor er wieder in Richtung See verschwand.
Douve rief seine Soldaten zusammen und wiederholte die Anweisungen. Ihr Ziel: Charfa, ein Dorf des Dschebels, das General Salan von der Karte radiert sehen wollte. Begründung: Waffenlager und Versorgungsbasis für die Terroristen. Taktik: »Blankoscheck«, was soviel hieß wie »Schießt auf alles, was sich bewegt«. Die Männer nickten und die Truppe verteilte sich in Vierergruppen am staubigen, ockerfarbenen Hang.
Nach zwei Stunden Marsch waren sie in Sichtweite des Dorfes: Ein paar Häuser aus rotem Lehm, die sich gegen einen Berghang drückten und durch einen unbefestigten Weg erreicht werden konnten. Barjo – und da war er nicht der Einzige – hätte ohne Zögern eine Stange Zigaretten darauf verwettet, dass sich hier allerhöchstens Bergziegen und keine bewaffneten Terroristen versteckten. Aber Befehl war Befehl, und so rückten die Fallschirmjäger aus. Nachdem sie eine halbe Stunde lang manövriert hatten, um das Dorf einzukreisen, verließ eine Person eines der Häuser und kam auf sie zu. Sie wurde sofort erschossen. Douve gab das Signal zum Angriff. Die Maschinenpistolen ratterten. Barjo kam ganz nah an der Leiche des ersten Opfers vorbei. Es war ein Mädchen von etwa zehn Jahren, das nun mit blutüberströmtem Kopf und offenen Augen am Wegesrand lag.
Die Dorfbewohner rannten wild gestikulierend aus ihren Häusern. Die Kugeln zischten und sie fielen wie die Fliegen. Hauptsächlich Frauen und Kinder. Bald antwortete Gewehrfeuer. Einige Soldaten brachen mit zersplittertem Schädel oder blutender Brust zusammen.
»Deckung, verdammt noch mal! Das kommt von da oben!«
Die Fallschirmjäger erwiderten das Feuer. Salven aus ihren MPs zerplatzten an den Mauern. Ein paar Männer in Djellabas flüchteten mit dem Gewehr in der Hand, doch nach einigen Metern brachen sie zusammen. Hier und dort konnte man Stöhnen vernehmen.
»Von oben!«, schrie Douve.
Zwei Gruppen rückten aus, um das Widerstandsnest in die Zange zu nehmen. Gewehrsalven aus allen Richtungen. Erneut versuchten vier Männer zu fliehen und wurden aus nächster Nähe von den Leoparden erschossen. Schüsse hörte man nur noch vereinzelt, sie wurden nach und nach von den Rufen der Soldaten abgelöst, die in die Häuser vordrangen und die verbliebenen Dorfbewohner mit Gewalt nach draußen zerrten. Alle, die eine Waffe trugen – viele waren es nicht – wurden auf der Stelle erschossen. Dasselbe Schicksal erwartete die, die sich versteckten.
Jo Barjo setzte sich an die Spitze einer kleinen Gruppe. Sie brachten die Rebellen in die Mitte des Dorfs. Es waren vierundsechzig, zweiunddreißig davon tot. Barjo und ein anderer Soldat vergewisserten sich, dass das auch wirklich der Fall war. Schüsse aus automatischen Gewehren waren manchmal ungenau und es musste sichergestellt werden, dass der Job erledigt war. Man schubste die Körper ein wenig herum und setzte ihnen dann eine Kugel in den Kopf. Während die Leoparden das Dorf sicherten, ging Barjo gewissenhaft die Reihen der Verletzten ab. Das Krachen seiner Schüsse hallte an den Bergwänden wider. Manchmal trafen sich die Blicke. Dann schoss er schnell und schloss dabei die Augen. Doch diesmal sollte es sich anders fügen. Als er sein Werk vollbracht hatte, zeigte Douve auf zwei Männer. Sie waren im Besitz von Waffen gefasst worden. Ihr Schicksal war besiegelt. Jo befahl dem Ersten, sich hinzuknien. Ein etwa vierzigjähriger Mann mit einem harten, ausdruckslosen Gesicht. Als er seine Pistole hob, salutierte der Mann und sagte leise:
»Können Sie mir meine Medaille anstecken, Korporal?«
Barjo ließ die Pistole sinken und sah den Kerl von der Seite an. Ganz schön frech, in so einer Situation einen Leoparden zu verarschen.
»Eine Medaille? Und wo ist sie, deine Medaille?«
»Hier, Korporal.«
Der Kerl zeigte mit dem Kinn auf seine Hosentasche. Barjo hielt ihm die Pistole an die Brust und suchte mit seiner linken Hand. Er holte ein kleines Stück Metall an einem Stück Stoff hervor. Barjo wurde bleich. Alles war da: Das von silbernen Lorbeeren umrankte Profil des Kaisers, die Inschrift République Française auf blauem Grund, und ein gelbes Band mit grüner Borte.
Dieser kabylische Bauer befand sich im Besitz der höchsten Auszeichnung, die ein Rangsoldat der französischen Armee erhalten konnte. Barjo wusste das besser als jeder andere, denn auf seinem Nachttisch lag der gleiche Orden.
»Unten in meiner Tasche, Korporal.«
Barjo suchte weiter und holte ein fettiges Dokument hervor, das er auseinanderfaltete. Chancellerie de la Légion d’honneur. Adjutant Mourad Boutrame. Das dazugehörige Diplom hatte er auch.
»Und wo hast du ihn dir verdient, deinen Orden?«, fragte Barjo.
»In Indochina, mein Kleiner. Ich habe lange vor dir Krieg geführt, um dein Land zu retten. Ich habe mir einen Orden in Indochina verdient. Ich bin sogar 1944 in Marseille gelandet. Auch ich habe in der französischen Armee gekämpft.«
Barjo drehte sich zu Douve um, der knapp hundert Meter entfernt stand.
»Leutnant!«, schrie er. »Der hier hat einen Orden.«
»Egal. Dann hätte er eben nicht auf uns schießen sollen«, kam Douves Stimme aus der Ferne zurück.
Fassungslos drehte sich Barjo wieder zu dem Kabylen um.
»Da kann man nichts machen«, sagte Boutrame. »Befehl ist Befehl.«
Barjo nickte nur.
»Steck mir den Orden an und bring es hinter dich. Ich hab keine Angst.«
Also beugte sich Barjo zu dem Mann herunter und heftete ihm den Orden an die Tunika. Der Adjutant Mourad Boutrame schaute ihm direkt in die Augen. Barjo konnte sich diesem Blick nicht entreißen. Straff, würdevoll, voller Mut. Genau so, wie er dreinschauen wollte, sollte er selbst eines Tages vom Feind gefasst werden. Ein Blick, der ihn in den kommenden sechzig Jahren jede Nacht heimsuchen sollte.
Barjos Hände umklammerten den Griff seiner Maschinenpistole, aber sie schienen sich nicht davon losmachen zu können.
»Na los, Kleiner, nur Mut. Schau mich an und drück ab«, half ihm Boutrame.
Und Barjo drückte ab.
»Der Fortschritt gewinnt immer. Die Arbeiter der Seidenmanufaktur in Lyon wurden nicht nur von Louis-Philippes Soldaten oder vom Kapitalismus besiegt. Sie wurden vor allem Opfer des Jacquard-Webstuhls. Es war der technische Fortschritt, der ihr Schicksal besiegelte.
Daraus ziehe ich den Schluss, dass der Fortschritt in unserer Zeit ein reißender Strom geworden ist, und dass es nichts nützt, sich gegen ihn anzustemmen und zu versuchen, ihn zu verlangsamen. Baut man Dämme und versucht, hinter diesen Dämmen zu leben, wird man früher oder später dazu verdammt sein, von den Wassermassen weggerissen und zerstört zu werden. Man muss den Fortschritt nutzen, kanalisieren und kontrollieren.
Doch um den Fortschritt kanalisieren zu können, um ihn zu nutzen, um ihn zu kontrollieren, bedarf es einer großen Anstrengung, einer Anstrengung aller. Zuvorderst betrifft das Unternehmensleiter, deren Pflicht es ist, immer auf der Suche nach technischen Neuerungen zu sein, auf der Suche nach möglichen Verbesserungen für ihre Produktion, auf der Suche nach drohenden Veränderungen, die sie vorhersehen und denen sie sich im richtigen Moment anpassen müssen. Doch es gehört auch zur Pflicht dieser Unternehmer, weit genug vorauszuschauen und dabei die menschliche Komponente des Problems nicht zu vergessen – denn am Ende von all diesen Dingen steht die Arbeit und die Anstrengung der Menschen. Man muss daran erinnern, dass die in den Büros getroffenen Entscheidungen direkte Konsequenzen für das Leben der Menschen und den Alltag in den Haushalten haben. Das ist etwas, das die Arbeitgeber Frankreichs mit überwältigender Mehrheit verstanden haben. Das ist etwas, was der Arbeitgeberverband, und in allererster Linie ihr Präsident, ihr Landsmann, Georges Villiers, verstanden hat.«
Georges Pompidou, Premierminister.
Lyon, den 15. März 1964.
Edouard hatte für das Vorstellungsgespräch einen eng sitzenden Anzug aus grauer Wolle angezogen. Dazu trug er ein weißes Hemd aus Popeline und einen schmalen schwarzen Schlips, der ihm den Hals abschnürte, als wäre er reif für den Galgen. Seine Füße steckten in zu engen Halbschuhen, zwei Lederschraubstöcke, die er seit der Hochzeit seines Freunds Lepoutre im Juli 1962 nicht mehr getragen hatte. Jeder andere hätte sich mit solchen Blasen an den Füßen vor Schmerzen gekrümmt, doch Edouard brachte das nicht aus der Ruhe. Das war gerade mal ein Hundertstel dessen, was er an Schmerzen ertragen konnte. Er saß aufrecht auf einer schwarzen Kunstlederbank und betrachtete schweigend das Foyer der Berga-Geschäftsführung, neben ihm seine sorgfältig hingestellte Aktentasche, die bis auf ein einziges Empfehlungsschreiben vollkommen leer war.
Der übergroße Raum war mit Linoleum ausgelegt, das genauso hell glänzte wie jenes im Flughafen von Orly. An drei stahlgrauen Wänden hingen Luftaufnahmen der Fabrik und das lebensgroße Porträt eines Mannes mit weißen Haaren und perfekt gepflegtem Schnurrbart. Sein leicht nach vorn geneigtes Gesicht strahlte ruhige Kraft aus, und sein Blick, klar und intensiv, flößte Besuchern Respekt ein. Dieser Mann war ein geborener Anführer, da kannte Edouard sich aus. Und hier war man in seinem Reich, diese Fabrik war sein Lebenswerk.
In der Mitte des Foyers standen zwei mit Kunstleder bezogene Bänke und zwischen ihnen ein überlanger, niedriger Tisch aus Holzimitat. Die vierte Wand des Raums bestand aus einer gläsernen Fensterfront, von der aus die gesamte Fabrik überblickt werden konnte. Der Blick auf die dröhnende, kreischende Industrieanlage wurde dadurch noch unwirklicher, dass kein einziges Geräusch durch die dicken Scheiben drang.
Die junge Sekretärin, die Edouard empfangen und in das Foyer begleitet hatte, bevor sie sich mit einer flinken Drehung auf ihren lackierten Pumps zurückgezogen hatte, war wiedergekommen. Ihr glattgebügeltes Lächeln weckte in Edouard den unangenehmen Verdacht, dass sie ihn für zurückgeblieben hielt.
»Der Herr Direktor wird Sie nun empfangen.«
Edouard stand auf, nahm seine Sachen und folgte der Sekretärin, die auf einem imaginären Hochseil zu laufen schien. Sie gingen den Korridor in die andere Richtung zurück, und nach zwei Ecken machte die junge Frau vor einer offenen Tür halt, hinter der ein weitläufiges, helles Büro lag. Cremefarbene Wände, dicker Teppich. Ein leichter weißer Nebel hing im Raum. Ein Mann stand auf und lehnte sich nach vorn, die Hand ausgestreckt und eine Zigarette im Mundwinkel.
»Devrard. Bitte setzen Sie sich.«
Der Gästesessel war aus echtem Leder der besten Qualität, da bestand kein Zweifel. Edouard stellte die Aktentasche auf seine Knie, nahm den Briefumschlag heraus und reichte ihn dem Direktor.
»Danke«, sagte dieser, ohne seinen Besucher aus den Augen zu lassen.
Er öffnete den Brief und überflog ihn schnell. Der Mann war hochgewachsen, hatte eine breite Stirn, Bürstenhaarschnitt, leicht angegraute Schläfen, kleine, mandelförmige Augen und ein rundes Gesicht mit schmalem, fast lippenlosem Mund. Er strahlte eine gewisse Jovialität und Einfachheit aus, wie man sie bei dem Leiter einer der wichtigsten metallurgischen Fabriken des Landes nicht erwartet hätte. Devrard hatte zwei Drittel der französischen Bleiproduktion unter seiner Verantwortung sowie ein Drittel der Zinkproduktion und durch seine Filiale in Douai fast die Hälfte der primären Verarbeitungsprodukte von Kupfer. Seine Fabrik beschäftigte an die tausend Arbeiter: Gießer, Former, Kesselbauer, Blechschmiede, Schweißer. Und das Mindeste, was man über sie sagen konnte, war, dass sie sich nicht so leicht die Butter vom Brot nehmen ließen. Edouard hatte Nachforschungen angestellt: Die CGT-Mitgliederzahlen3 waren hier so hoch wie nirgends.
»In diesem Schreiben steht nichts, was ich nicht bereits wüsste«, sagte der Direktor und steckte sich eine Zigarette an.
Er hielt Edouard das Paket hin und ließ sich in den gepolsterten Sessel fallen, wobei er eine dicke Rauchwolke ausstieß.
»Ich habe viel über Sie gehört, Edouard. Oder sollte ich lieber Douve sagen? So nannte man Sie doch, oder?«
»Richtig. Das war mein Kriegsname. Hat Ligier Ihnen von mir erzählt?«
Devrard hob fragend die Augenbrauen.
»Marcel Ligier, genannt Bazooka, Kommandant des 24. Delta-Kommandos4«, erklärte Edouard.
»Sein Chef.«
»Delgueldre?«
»Höchstpersönlich. Er hat Sie in den höchsten Tönen gelobt. Wie lange waren Sie bei den Deltas?«
»Drei Jahre. Seit Anfang 61.«
»Und trotzdem haben Sie genug Zeit gehabt, sich einen Namen zu machen«, sagte Devrard mit einem Grinsen.
»Die Gaullisten haben so getan, als wären wir eine ganze Armee, dabei waren wir nur eine Handvoll Männer.«
»Warum sind Sie bei den Deltas eingestiegen?«
»Damals war die Kacke am Dampfen. Alles ging drunter und drüber. Die Armee zerfetzte sich selbst. Von heute auf morgen war Salan ein von der Hierarchie verleugneter Rebell geworden. Man musste entscheiden, auf welcher Seite man stand: dem Generalstab gehorchen oder den Idealen treu bleiben.«
»Und Sie haben die Treue gewählt«, sagte Devrard.
»Ja. Viele von meinen Kameraden haben anders entschieden, aber das kreide ich ihnen nicht an.«
»Aber sie wurden zu Feinden …«
»Ich kenne keinen einzigen Soldaten in Algerien, dem diese Wahl leichtgefallen ist. Paris zu gehorchen hieß unsere Kameraden zu verraten, die im Dschebel und in Indochina gefallen waren. Sich der OAS5 anzuschließen, machte uns zu Verrätern und Deserteuren. Aber wenigstens hatten wir ein ruhiges Gewissen. Die Treue unseren Toten gegenüber gab uns eine unvergleichliche Kraft. Die Soldaten, die nicht ausgeschert waren, beneideten uns. Einige haben mir das selbst gesagt.«
»Das war es wohl, was Salan vor dem Erschießungskommando gerettet hat, als er vor dem Hohen Militärtribunal stand.«
»Die Generäle haben sich in die Hosen geschissen, als sie Salan verurteilen mussten.«
»Kommen wir zu Ihnen zurück«, sagte Devrard. »Sie haben sich den Deltas angeschlossen, um zu kämpfen, nicht wahr?«
»Es war Krieg. Doch de Gaulle hatte nicht den Schneid, uns frontal anzugreifen. Er hat eine Armee von Gaunern und Kanaken geschickt, um die Drecksarbeit zu machen.«
»Die Barbouzes …«
»Ein Haufen von Außenseitern, Zuhältern und Ex-Gestapo-Mitgliedern. Sogar Schlitzaugen und Araber waren mit von der Partie, das hat dem Ganzen die Krone aufgesetzt.«
»Und denen haben Sie Manieren beigebracht«, bemerkte Devrard.
»Wir haben sie zu Hackfleisch verarbeitet. Wir waren Soldaten, die blutige Anfänger.«
»Wie lange ist es her, dass Sie Algerien verlassen haben?«
»Ich bin vor zwei Wochen weggegangen. Ich bin zu meiner Frau nach Lille zurück. Wir sind seit zwei Jahren verheiratet. Wir haben uns getroffen, als ich 1954 auf Heimaturlaub war. Ich will neu anfangen. Ins zivile Leben zurückkehren. In ein paar Jahren wird alles vergessen sein. De Gaulle wird das wie bei der Befreiung von den Nazis machen. Ein paar Köpfe werden rollen, um ein Exempel zu statuieren, und der Rest bekommt Amnestie. Er weiß, dass eine echte Säuberung die Armee destabilisieren würde und dass das nicht in seinem Interesse ist.«
»Sie sind ein scharfsinniger Analytiker, Herr Vanderbeken.«
Devrard erhob sich aus seinem Sessel und ging zu einem Serviertisch aus Nussbaum. Er nahm eine Karaffe und goss sich ein Glas ein.
»Whisky?«
»Da sage ich nicht nein.«
Devrard reichte Edouard ein Glas mit einem Fingerbreit gelber Flüssigkeit. Ein komplizenhaftes Lächeln umspielte sein Gesicht und seine kleinen Augen funkelten.
»Diese Schlampe von de Gaulle hat uns ordentlich gefickt.«
Douve fühlte, wie ihm ein Schauer über die Haut lief.
»Die große Zohra6…«, murmelte er mit zusammengebissenen Zähnen.
»Wenn es in Petit-Clamart7 geklappt hätte, wäre alles anders gewesen.«
»Sicher«, gab Edouard zu.
»Aber so ist es eben. Petit-Clamart war ein Fehlschlag«, fuhr Devrard fort und nippte an seinem Whisky. »Salan und Buscia sind im Gefängnis. Degueldre und Bastien-Thiry wurden hingerichtet. Bidault ist im Exil. Die Netzwerke sind aufgeflogen. Und der Rest ist bereits Geschichte.«
Er stellte sein Glas hin, zündete sich eine neue Zigarette an und stützte sich mit beiden Händen auf den Schreibtisch.
»Edouard, Sie sind ein Kämpfer, das gefällt mir. Der Krieg ist die treibende Kraft der Menschheit. Der Krieg an sich, selbstverständlich, nicht der Algerienkrieg. Der ist verloren, wir müssen neu anfangen. Denn es zeichnet sich ein neuer Kampf ab. Wir leben in einer neuen Welt, in der die Zauberwörter Produktion, Expansion und Fortschritt sind, und natürlich sind wir nicht die Einzigen, die ein Stück vom Kuchen haben wollen. Auch in diesem neuen Krieg gibt es Armeen, Schlachtfelder, Tote und Verkrüppelte. Und an diesem modernen Krieg bitte ich Sie teilzunehmen, Edouard. An meiner Seite. Es ist der Wirtschaftskrieg, Edouard. Ein Krieg, der keiner zu sein scheint, der aber, glauben Sie mir, noch blutiger sein könnte als der, der mit Pulver und Kanonen geführt wird.«
Er stand auf und gab Edouard ein Zeichen, ihm zur großen Fensterfront zu folgen. Sie bot ein beeindruckendes Panorama von Stahlinnereien, Türmen, Hallen und Schornsteinen in allen Durchmessern und Formen – aus Backstein, Blech, gerade oder krumm –, die dicken gelben und weißen Rauch ausstießen, verschachtelte Laufbrücken, gigantische Tanks, rollende Züge, Gerüste und Treppen, die bis in den Himmel reichten, wie um zu unterstreichen, wie winzig der Mensch im Vergleich zu Berga war.
»Ich stelle Sie als Personalchef ein. Sie werden gerecht sein müssen, aber unbeugsam. Sie müssen die Kerle bei der Kandare halten, und ich habe keine Zweifel, dass Sie das Zeug dazu haben.«
Devrard drehte sich zu Edouard hin und schüttelte ihm energisch die Hand.
»Sie können sich auf mich verlassen.«
»Was die Konditionen angeht – ich schlage vor, dass wir den gleichen Vertrag aufsetzen wie für Ihren Vorgänger und …«
»Das geht in Ordnung«, unterbrach Edouard.
»Ausgezeichnet. Wir werden diesen Kampf zusammen führen, Edouard, und dieses Mal, das garantiere ich Ihnen, werden wir gewinnen.«
Wollaing. 2015. Eine kleine Stadt in Nordfrankreich an der Kreuzung zwischen der D40 Richtung Autobahn und der D13 zwischen Douai und Valenciennes. Ein paar kleine Häuser mit Ziegeldächern hatten sich dort nach und nach angesiedelt, sie waren alle gleich und doch verschieden. Meistens waren sie aus Klinker, manchmal cremefarben angestrichen oder von einem kleinen Garten oder Hoftor flankiert.
Über den Straßen verliefen in allen Richtungen Stromleitungen, gehalten von Betonmasten mit uralten Straßenlichtern. Auf die zwei Kilometer, die das Ortseingangs- und Ausgangsschild trennten, verteilten sich nacheinander die Bäckerei, die Pferdefleischerei, der Zeitungskiosk und die Apotheke. Der Place Auguste Lainelle stellte mit der Post und dem Frisörladen so etwas wie das Stadtzentrum dar. An seiner Südseite befand sich das Café des Sports mit seinem rot-schwarzen Pelforth-Schild und ihm gegenüber die Bar de la Place mit dem blauen Schild der Française des jeux und dem grünen des PMU-Pferdewettbüros.
Ging man die kleine Rue Anatole France entlang und bog dann rechts in die Rue Jean-Pierre Timbaud, konnte man hinter einer Reihe von Buchen ein prächtiges Haus aus Klinkersteinen entdecken, das auf einem weiten, von einer dicken Mauer umgebenen Grundstück gebaut worden war. Das Tor öffnete sich auf einen großen Hof. Rechts standen in einer offenen Garage drei Wagen, darunter ein sandfarbener Land Rover. Linker Hand rahmten kleine Mäuerchen eine Anpflanzung von perfekt geschnittenen Buchsbäumen ein. Hinter dem Haus ließen sich große Linden erahnen, einige weiße Gartensessel und ein paar Büsche. An der Eingangstür waren zwei Messingschilder befestigt:
Dr. Antoine Vanderbeken
Allgemeinmedizin
Diplom der Medizinischen Fakultät Grenoble
Dr. Henri Delcourt
Allgemeinmedizin
Preisträger der Medizinischen Fakultät Lille
Die Tür öffnete sich langsam und ein etwa sechzigjähriger, auf einen Gehstock gestützter Mann schüttelte dem Arzt eifrig die Hand.
»Auf Wiedersehen, Herr Doktor.«
»Auf Wiedersehen. Vergessen Sie nicht, regelmäßig die Medikamente zu nehmen, die ich Ihnen verschrieben habe. Das ist wirklich alles, was ich Ihnen im Moment raten kann.«
»Darauf können Sie sich verlassen.«
Wieder zurück in seiner Praxis, schob Dr. Vanderbeken die Tür zum Wartezimmer auf.
»Madame Piquemal. Wie es aussieht, sind Sie heute die Letzte.«
Die Frau ergriff ihren Sohn beim Arm, drückte sich an dem Arzt vorbei und setzte sich in den Sessel.
»Und, wo drückt der Schuh?«
Diese Frage, die er systematisch jedem Patienten stellte, war in dem vorliegenden Fall komplett überflüssig, denn bei Madame Piquemal wusste Vanderbeken bereits ganz genau, worum es ging.
»Der Kleine hat Ohrenschmerzen«, sagte die Mutter zögerlich.
Der Arzt legte den Jungen auf die Untersuchungsliege, knipste sein Otoskop an und führte es in das rechte Ohr des Kindes ein, das sogleich zusammenzuckte und die Zähne zusammenbiss. Tränen liefen ihm über die Wangen.
»Tut das sehr weh oder nur ein bisschen?«
»Sehr.«
Vanderbeken hörte ihn mit dem Stethoskop ab und ließ ihn sich wieder anziehen und zu seiner Mutter zurückkehren.
»Hat er die Schmerzen schon lange?«
»Zwei, drei Tage«, sagte die Mutter.
»Er hat eine akute Mittelohrentzündung. Der Gehörgang ist komplett vereitert.«
Er wendete sich an den Jungen.
»Tut es schon lange weh?«
Der Kleine nickte. Vanderbeken wendete sich wieder an die Mutter. Ihre Lippen zitterten.
»Sie hätten früher kommen müssen. Er braucht sofort eine Behandlung mit einer vollen Dosis Antibiotika.«
»Ich dachte, es geht von selber wieder weg«, verteidigte sie sich. »Ich kann doch nicht wegen jeder Kleinigkeit zum Arzt laufen.«
»Es stimmt schon, Mittelohrentzündungen gehen manchmal von selbst vorüber, aber diese hier ist schon lange über das Stadium hinaus.«
Die Augen der Frau füllten sich mit Tränen.
»Madame Piquemal, ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass wir immer eine Lösung finden können, wenn es mit dem Geld mal nicht passt.«
»Aber ich kann doch nicht einfach …« stammelte sie.
»Wir haben das doch schon besprochen. Machen Sie sich keine Sorgen.«
Der Arzt ging zu einem Schrank und schloss ihn auf. Er nahm zwei kleine Schachteln heraus, ging zu seinem Schreibtisch zurück und schrieb etwas auf einen Zettel.
»Hier. Die bekommt er dreimal pro Tag, fünf Tage lang. Und die Tropfen morgens und abends in die Ohren, bis die Ausflüsse aufhören.«
Die Frau nahm die Medikamente und wischte sich die Tränen ab. Als sie noch etwas anfügen wollte, kam Vanderbeken ihr zuvor.
»Das sind Probepackungen. Ich habe immer welche in meiner Praxis, nur für den Fall. Machen Sie sich keine Gedanken. Kümmern Sie sich um Ihren Sohn, und kommen Sie wieder, wenn die Schmerzen nicht nachlassen.«
Die Frau stand auf und drückte die Hand des Arztes sehr fest.
»Doktor, ich weiß nicht, wie ich …«
Der Rest des Satzes blieb ihr im Hals stecken. Vanderbeken begleitete sie zur Tür und schaute zu, wie sie sich langsam entfernte, während der kleine Junge neben ihr hertrippelte.
***
Infraschall-Gewubber prügelte aus der im Kofferraum montierten Bassrolle, und Yolandis überhohe Stimme kreischte bei voller Lautstärke aus den sechs Lautsprechern, die Gérard Waterlos, genannt Gigi, in seinen BMW eingebaut hatte. I think you’re freeky and I like it a lot, schrie die blonde White-trash-Ikone aus Südafrika. Es war das einzige, was Gigi vom Text verstehen konnte, doch das reichte ihm voll und ganz. Beim Refrain setzte er mit ein und gestikulierte wild. Auf dem Beifahrersitz: Frédéric Wallet, genannt Freddie. Der war ganz in sein Handy vertieft und hatte schlechte Laune.
Der BMW ballerte über die grüne, vom Wind zerfurchte Steppe, die hier und dort von goldgelben Rapsfeldern durchzogen war. Die Landschaft war komplett flach, bis auf die Hochspannungsleitungen, die sich zwischen jedem Mast dem Horizont näherten und die man gerade noch durch die getönten Scheiben und den dichten Nieselregen erkennen konnte. Kleine Grüppchen von braunen Hausdächern, mit der Richtschnur gezogene Thujahecken und weiße Zäune erinnerten daran, dass hier Menschen wohnten. Irgendwo muss man ja hin. Von Zeit zu Zeit hoben sich Wälder aus der Ebene, die der Flurbereinigung entkommen waren. Der Rest war platt, so weit man blicken konnte. Die einzigen Kapriolen, die diese Landschaft schlug, waren die alten Abraumhalden der Bergwerke. Sonst zog sich die Landstraße ohne Hindernisse dahin. I think you’re freeky, brüllte Waterlos und ließ das rechte Hinterrad des BMWs auf einer Länge von dreißig Metern rechts über den Randstreifen schlittern.
»Verdammt noch mal, Gigi!« schrie Freddie.
Gigi ruckte am Lenkrad und brachte den Boliden mit einem kontrollierten Drift auf den Asphalt zurück.
»Ruhig, Brauner … Tja, die Sauerkrautfresser sind eben doch die Besten, was Autos angeht«, murmelte Waterlos, als er das Steuer wieder ausrichtete.
»Bei der nächsten Tankstelle fährst du raus, Gigi.«
Sie schossen an den Reihen von quadratischen Häusern vorbei, die die D645 säumten. Fünf Kilometer hinter Douai bog Gigi ab und ließ die Reifen auf dem Schotter vor einer alten, heruntergekommenen Villa knirschen, die in eine Tankstelle umgewandelt worden war. Hier gab es keine Leuchtreklame, nur ein Schild mit der Aufschrift Werkstatt