Spiegel und Licht - Hilary Mantel - E-Book
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Spiegel und Licht E-Book

Hilary Mantel

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Beschreibung

Regungslos verfolgt Cromwell die Hinrichtung der Königin, um dann mit den Siegern zu frühstücken. Der Sohn des Schmieds aus Putney taucht aus dem Blutbad des vergangenen Frühlings auf, um seinen Aufstieg zu Macht und Reichtum fortzusetzen. Zur selben Zeit gibt sich Henry VIII., der mehr und mehr zum unberechenbaren Gebieter wird, dem kurzlebigen Glück mit seiner dritten Königin hin, die schon bald bei der Geburt des lang ersehnten männlichen Thronfolgers sterben wird. Cromwell kann sich nur auf seinen Verstand verlassen, denn er hat weder eine starke adlige Familie noch eine private Armee hinter sich. Der Kampf mit dem Papst und der katholischen Welt Europas droht England zu zerreißen. Da sind die religiösen Rebellen im eigenen Land und die Verräter aus den eigenen Reihen, die sich im Ausland mit den Feinden verbünden. Und da ist der König, den nichts so sehr interessiert wie die Sicherung der Thronfolge. Trotz alldem sieht der weitsichtige Cromwell ein neues England im Spiegel der Zukunft – und ist für diese Vision zu jedem Opfer bereit. Doch kann eine Nation oder eine Einzelperson ihre Vergangenheit abwerfen wie eine Schlange ihre Haut? Was wird er tun, wenn die Toten sich nicht abschütteln lassen, wenn der König ihm sein Vertrauen entzieht? In ›Spiegel und Licht‹ zeichnet Hilary Mantel die letzten Lebensjahre des Thomas Cromwell nach und entwirft ein eindrucksvolles Porträt von Jäger und Gejagtem, von dem erbitterten Wettstreit zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen königlichem Willen und der Vision eines einfachen Mannes: der Vision einer modernen Nation, die sich durch Konflikt, Leidenschaft und Tapferkeit selbst erschafft. Der lang erwartete dritte Band der Tudor-Trilogie! Für ›Wölfe‹ (2009) und ›Falken‹ (2012) wurde Hilary Mantel jeweils mit dem renommierten Booker Prize ausgezeichnet.

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Regungslos verfolgt Cromwell die Hinrichtung der Königin, um dann mit den Siegern zu frühstücken. Der Sohn des Schmieds aus Putney taucht aus dem Blutbad des vergangenen Frühlings auf, um seinen Aufstieg zu Macht und Reichtum fortzusetzen. Zur selben Zeit gibt sich Henry VIII., der mehr und mehr zum unberechenbaren Gebieter wird, dem kurzlebigen Glück mit seiner dritten Königin hin, die schon bald bei der Geburt des lang ersehnten männlichen Thronfolgers sterben wird.

Cromwell kann sich nur auf seinen Verstand verlassen, denn er hat weder eine starke adlige Familie noch eine private Armee hinter sich. Der Kampf mit dem Papst und der katholischen Welt Europas droht England zu zerreißen. Da sind die religiösen Rebellen im eigenen Land und die Verräter aus den eigenen Reihen, die sich im Ausland mit den Feinden verbünden. Und da ist der König, den nichts so sehr interessiert wie die Sicherung der Thronfolge. Trotz alldem sieht der weitsichtige Cromwell ein neues England im Spiegel der Zukunft – und ist für diese Vision zu jedem Opfer bereit. Doch kann eine Nation oder eine Einzelperson ihre Vergangenheit abwerfen wie eine Schlange ihre Haut? Was wird er tun, wenn die Toten sich nicht abschütteln lassen, wenn der König ihm sein Vertrauen entzieht?

In ›Spiegel und Licht‹ zeichnet Hilary Mantel die letzten Lebensjahre des Thomas Cromwell nach und entwirft ein eindrucksvolles Porträt von Jäger und Gejagtem, von dem erbitterten Wettstreit zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen königlichem Willen und der Vision eines einfachen Mannes: der Vision einer modernen Nation, die sich durch Konflikt, Leidenschaft und Tapferkeit selbst erschafft.

© Els Zweerink

Hilary Mantel, geboren 1952 in Glossop, England, war nach dem Jurastudium in London als Sozialarbeiterin tätig. Für den Roman ›Wölfe‹ (DuMont 2010) wurde sie 2009 mit dem Booker-Preis, dem wichtigsten britischen Literaturpreis, ausgezeichnet. Mit ›Falken‹, dem zweiten Band der Tudor-Trilogie, gewann Hilary Mantel 2012 den Booker erneut. Bei DuMont erschien zuletzt der Roman ›Der Hilfsprediger‹ (2017).

Werner Löcher-Lawrence, geboren 1956, ist als literarischer Agent und Übersetzer tätig. Zu den von ihm übersetzten Autoren zählen u. a. John Boyne, Ethan Canin, Patricia Duncker, Hisham Matar, Louis Sachar, Nathan Englander und Nathan Hill.

HILARY MANTEL

SPIEGEL UND LICHT

ROMAN

Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence

Von Hilary Mantel sind bei DuMont außerdem erschienen: Wölfe Brüder Falken Der riesige O’Brien Die Ermordung Margaret Thatchers Von Geist und Geistern Jeder Tag ist Muttertag Im Vollbesitz des eigenen Wahns Der Hilfsprediger

Die englische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel ›The Mirror and the Light‹ bei Fourth Estate, London. © Tertius Enterprises 2020

eBook 2020 © 2020 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln Alle Rechte vorbehalten Übersetzung: Werner Löcher-Lawrence Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln Satz: Angelika Kudella, Köln eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, LeckISBN eBook 978-3-8321-8490-2

www.dumont-buchverlag.de

Für Mary Robertson,

O Mensch, o Bruder, machst du hier einst Rast

Verhärte nicht dein Herz vor unsrer Pein.

François Villon

Blick auf und sieh den Wind,

Wir sind bereit zu segeln.

TEIL EINS

I

Trümmer (1)

London, Mai 1536

Sobald der Kopf der Königin abgetrennt ist, geht er davon. Ein stechendes Hungergefühl erinnert ihn daran, dass es Zeit für ein zweites Frühstück ist oder vielleicht für ein frühes Mittagessen. Die Umstände dieses Morgens sind neu, und es gibt keine Regeln, die uns leiten könnten. Die Zeugen, die zum Entschwinden der Seele niedergekniet sind, erheben sich und setzen ihre Hüte auf. Die Gesichter darunter sind wie betäubt.

Aber er kommt noch einmal zurück, um dem Scharfrichter ein Wort des Dankes zu sagen. Der Mann hat seine Aufgabe mit Stil erfüllt, und wenn der König ihn auch gut bezahlt, ist es doch wichtig, seine Leistung mit Zuspruch zu belohnen, zusätzlich zum Salär. Da er selbst einst ein armer Mann war, weiß er das aus Erfahrung.

Der kleine Körper liegt auf dem Schafott, so wie er gestürzt ist: bäuchlings, die Hände ausgestreckt, schwimmt er in einer Lache aus flüssig-finsterem Purpur, das Blut sickert zwischen die Bretter. Der Franzose – sie haben den Scharfrichter aus Calais kommen lassen – hat den Kopf aufgehoben, in ein Leintuch gewickelt und ihn einer der verschleierten Frauen gegeben, die Anne in ihren letzten Momenten gedient haben.

Er hat gesehen, wie die Frau, als sie das Bündel nahm, von Kopf bis Fuß erschauderte. Sie hat es jedoch sicher gehalten, und ein Kopf ist schwerer, als du erwartest. Er hat an Schlachten teilgenommen und weiß das ebenfalls aus Erfahrung.

Die Frauen haben es gut gemacht. Anne wäre stolz auf sie. Sie lassen sie von keinem Mann anrühren, die Hände vorgestreckt, wehren sie alle ab, die ihnen helfen wollen. Sie rutschen durch das gerinnende Blut und beugen sich über den schmalen Kadaver. Er hört, wie sie einatmen, als sie anheben, was von ihr übrig ist, sieht, wie sie den Körper allein bei den Kleidern halten. Sie haben Angst, der Stoff könnte reißen, Angst, ihre Finger könnten das auskühlende Fleisch berühren. Jede Einzelne von ihnen vermeidet mit einem vorsichtigen Schritt zur Seite das jetzt bleischwere, mit ihrem Blut gesättigte Kissen, auf dem sie gekniet hat. Aus dem Augenwinkel sieht er etwas, jemanden davonhuschen, einen schlanken Mann in einem Lederwams. Es ist Francis Bryan, ein wendiger Höfling, der läuft, Henry zu sagen, dass er ein freier Mann ist. Auf Francis ist Verlass, denkt er: Er ist ein Cousin der toten Anne, hat sich aber daran erinnert, dass er auch einer der zukünftigen Königin ist.

Die Wachleute des Towers haben statt eines Sargs eine Truhe bereitgestellt, in der bisher Pfeile aufbewahrt wurden. Der schmale Körper passt hinein. Die Frau, die den Kopf hält, kniet mit ihrem triefenden Bündel nieder. Da sonst nirgends Platz ist, legt sie den Kopf neben die Füße der Leiche, erhebt und bekreuzigt sich. Die Hände der Umstehenden beschreiben eine nachahmende Geste, und auch seine Hand bewegt sich. Doch im letzten Moment kontrolliert er sich und macht eine lockere Faust.

Die Frauen werfen einen letzten Blick auf die Tote. Dann treten sie zurück, die Hände von sich weggestreckt, um ihre Kleider nicht zu beschmutzen. Einer der Männer des Konstablers bietet Leintücher an – zu spät, als dass sie von Nutzen sein könnten. Diese Leute sind unglaublich, sagt er dem Franzosen. Kein Sarg, wo sie doch Tage für die Vorbereitungen hatten? Sie wussten, dass sie sterben musste. Daran gab es keinen Zweifel.

»Nun, vielleicht doch, Maître Cremuel.« (Kein Franzose spricht je seinen Namen richtig aus.) »Vielleicht doch. Ich glaube, die Lady selbst dachte, der König würde einen Boten schicken, um der Sache Einhalt zu gebieten. Selbst noch, als sie die Stufen hinaufstieg, hat sie sich über die Schulter geblickt, haben Sie es nicht gesehen?«

»Er hat nicht mal an sie gedacht. Er ist mit Kopf und Herz ganz bei seiner neuen Braut.«

»Alors, vielleicht hat er diesmal mehr Glück«, sagt der Franzose. »Hoffen Sie es. Wenn ich wieder herkommen muss, hebe ich meinen Preis an.«

Der Mann wendet sich ab und beginnt sein Schwert zu reinigen. Er tut es liebevoll, als wäre die Waffe sein Freund. »Toledo-Stahl.« Er hält sie hoch, um sie bewundern zu lassen. »Wir müssen noch immer zu den Spaniern, um solch eine Klinge zu bekommen.«

Er, Cromwell, berührt das Metall mit dem Finger. Man nimmt es nicht an, wenn man ihn heute so sieht, aber sein Vater war Schmied. Er hat eine Nähe zu Eisen und Stahl, zu allem, was aus der Erde gefördert und geschmiedet wird, was geschmolzen, gehämmert und mit einer Schneide versehen wird. In die Klinge des Henkers ist die Dornenkrone Christi eingraviert, zusammen mit den Worten eines Gebets.

Jetzt gehen die Zuschauer davon, Höflinge, Ratsherren und Stadtobere, Männergruppen in Seide und mit goldenen Ketten, in den Gewändern der Tudors und mit den Insignien der Londoner Gilden. Zahllose Zeugen, und niemand ist wirklich sicher, was er da gesehen hat. Ihnen ist bewusst, dass die Königin tot ist, doch alles ging so schnell, dass sie es kaum begreifen können. »Sie hat nicht gelitten, Cromwell«, sagt Charles Brandon.

»Doch, Mylord Suffolk, Sie dürfen zufrieden sein, das hat sie.«

Brandon ekelt ihn an. Als die anderen Zeugen niederknieten, blieb der Herzog fest auf den Beinen. Sein Hass auf die Königin war so groß, dass er nicht einmal das bisschen Anstand für sie aufgebracht hat. Er, Cromwell, sieht wieder vor sich, wie zögerlich sie zum Schafott ging, den Blick, wie der Franzose sagte, über die Schulter gerichtet. Selbst noch bei ihren letzten Worten, als sie die Leute bat, für den König zu beten, hielt sie über die Menge hinweg Ausschau. Ohne es der Hoffnung zu erlauben, sie zu schwächen. Wenige Frauen sind am Ende so resolut, und auch nicht viele Männer. Er hat gesehen, wie sie zu zittern begann, aber erst nach ihrem letzten Gebet. Es gab keinen Richtblock, der Mann aus Calais benutzt keinen. Sie musste sich aufrecht hinknien, ohne Stütze. Eine ihrer Frauen hat ihr die Augen verbunden. Sie hat das Schwert nicht gesehen, nicht einmal seinen Schatten, und die Klinge fuhr mit einem Seufzen durch ihren Hals, leichter als eine Schere durch Seide. Wir alle – nun, die meisten von uns, nicht Brandon – bedauern, dass es dazu gekommen ist.

Jetzt wird die Truhe aus Ulmenholz zur Kapelle getragen, wo sie die Bodenplatten abgehoben haben, damit sie zum Leichnam ihres Bruders kann, George Boleyn. »Sie haben sich lebend ein Bett geteilt«, sagt Brandon, »da passt es, dass sie sich auch ein Grab teilen. Sehen wir mal, ob sie sich immer noch mögen.«

»Kommen Sie, Master Sekretär«, sagt der Konstabler des Towers. »Ich habe einen leichten Imbiss vorbereiten lassen, wenn Sie mir die Ehre erweisen wollen. Wir waren heute alle schon früh auf den Beinen.«

»Sie wollen jetzt etwas essen, Sir?« Sein Sohn Gregory hat noch nie jemanden sterben sehen.

»Wir müssen arbeiten, um essen, und essen, um arbeiten zu können«, sagt der Konstabler. »Zu was ist dem König ein Diener von Nutzen, der abgelenkt ist, nur weil ihm ein Stück Brot fehlt?«

»Abgelenkt«, wiederholt Gregory. Zuletzt wurde er fortgeschickt, um die Kunst des öffentlichen Redens zu lernen, und das Ergebnis ist, dass er, obwohl ihm immer noch die Souveränität für einen großen rhetorischen Auftritt fehlt, ein Interesse an Wörtern entwickelt hat, die er einzeln für sich betrachtet. Manchmal scheint er sie prüfend vor sich hin zu halten, manchmal mit einem Stock nach ihnen zu stoßen, manchmal, und der Vergleich ist unvermeidlich, scheint er ihnen mit dem schwanzwedelnden Interesse eines Hundes zu begegnen, der den Haufen eines anderen Hundes beschnüffelt. Jetzt fragt er den Konstabler: »Sir William, ist schon einmal eine englische Königin hingerichtet worden?«

»Nicht dass ich wüsste, junger Mann«, sagt der Konstabler. »Wenigstens nicht unter meiner Aufsicht.«

»Verstehe«, sagt er, Cromwell. »Zu den Versäumnissen der letzten Tage ist es also nur gekommen, weil Ihnen die Praxis fehlt? Sie können nichts zum ersten Mal tun und es dennoch richtig machen?«

Kingston lacht herzlich. Vermutlich, weil er es für einen Scherz hält. »Hören Sie nur, Mylord Suffolk«, sagt er zu Charles Brandon. »Cromwell sagt, ich brauche mehr Übung im Köpfeabschlagen.«

Das habe ich nicht gesagt, denkt er. »Die Truhe war ein Glücksfund.«

»Ich hätte sie auf einen Misthaufen geworfen«, sagt Brandon. »Zusammen mit ihrem Bruder. Und ihren Vater dazu gezwungen, es mit anzusehen. Ich weiß nicht, was das soll, Cromwell. Warum lassen Sie ihn am Leben? Damit er weiter Schaden anrichten kann?«

Er sieht ihn an, wütend. Wobei er Wut oft nur vortäuscht. »Mylord Suffolk, Sie haben den König schon viele Male erzürnt und anschließend auf den Knien um Verzeihung gebeten. Und da ich Sie kenne, hege ich keine Zweifel, dass Sie ihn wieder erzürnen werden. Was dann? Wollen Sie einen König, dem der Gedanke, Gnade walten zu lassen, fremd ist? Wenn Sie den König lieben, und Sie sagen, das tun Sie, denken Sie an seine Seele. Eines Tages wird er vor Gott stehen und für jeden Untertan Rechenschaft ablegen müssen. Wenn ich sage, Thomas Boleyn ist keine Gefahr für das Reich, ist er keine Gefahr. Wenn ich sage, er wird friedlich bleiben, wird er das.«

Die über das Grün ziehenden Höflinge beäugen die beiden: Suffolk mit seinem mächtigen Bart, den blitzenden Augen, der breiten Brust und den Master Sekretär, düster, geduckt, stämmig. Vorsichtig weichen sie zur Seite, trennen sich, bilden Strudel und finden hinter ihnen erleichtert wieder zu schwatzenden Gruppen zusammen.

»Mein Gott«, sagt Brandon. »Sie wollen mich belehren? Einen Peer? Einen Angehörigen des Hochadels? Sie? Jemand, der daher kommt, wo Sie herkommen?«

»Ich stehe nur da, wohin der König mich gestellt hat, und werde Sie belehren, wann immer es nötig ist.«

Er denkt, Cromwell, was machst du da? Für gewöhnlich ist er die Höflichkeit in Person. Aber wenn man bei einer Enthauptung nicht die Wahrheit sagen kann, wann dann?

Er wirft einen Blick auf seinen Sohn. Wir alle sind drei Jahre älter als bei Annes Krönung, ein Monat fehlt noch. Einige von uns sind weiser, einige größer. Gregory hatte gesagt, er könne das nicht, als es hieß, er solle Zeuge ihrer Hinrichtung sein: »Ich kann nicht. Eine Frau, ich kann nicht.« Aber der Junge hat Züge und Zunge in Zaum gehalten. Sei dir in der Öffentlichkeit immer dessen bewusst, hat er ihm erklärt, dass die Leute dich beobachten, um zu sehen, ob du dazu taugst, mir im Dienst für den König nachzufolgen.

Sie treten zur Seite, um sich vor dem Herzog von Richmond zu verbeugen: Henry Fitzroy, dem unehelichen Sohn des Königs. Er ist ein gut aussehender Bursche mit der schönen geröteten Haut und dem rotblonden Haar seines Vaters: eine zarte Pflanze, schlankwüchsig, ein Junge, der noch nicht in seinen großen Körper hineingewachsen ist. Er wiegt sich über ihnen beiden: »Master Sekretär? Seit heute Morgen ist England ein besserer Ort.«

Gregory sagt: »Mylord, Sie sind auch nicht niedergekniet. Warum?«

Richmond wird rot. Er weiß, er ist im Unrecht, und zeigt es genau so, wie sein Vater es täte: mit entschiedener Selbstgerechtigkeit. »Ich will kein Heuchler sein, Gregory. Mein Herr Vater hat mir dargelegt, wie Boleyn mich vergiftet hätte. Er sagt, sie hat damit angegeben, dass sie es täte. Aber jetzt sind ihre abscheulichen Ehebrüche ans Licht gekommen, und sie wurde angemessen bestraft.«

»Sie sind doch nicht krank, Mylord?« Er, Cromwell, denkt, zu viel Wein gestern Abend: um auf seine Zukunft anzustoßen, zweifellos.

»Ich bin nur müde. Ich gehe und lege mich schlafen. Ich lasse dieses Spektakel hinter mir.«

Gregory sieht Richmond hinterher. »Glauben Sie, er kann je König werden?«

»Wenn er es wird, erinnert er sich an dich«, sagt er fröhlich.

»Oh, er kennt mich längst«, sagt Gregory. »Habe ich etwas falsch gemacht?«

»Es ist nicht falsch zu sagen, was man denkt. Gelegentlich. Sie lassen dich dafür bezahlen, aber es geht nicht anders.«

»Ich glaube nicht, dass ich je in den Rat komme«, sagt Gregory. »Ich glaube nicht, dass ich es jemals lernen werde – wann ich etwas sagen und wann ich schweigen soll, wann hinsehen und wann nicht. Sie haben mir erklärt, in dem Moment, da du die Klinge in der Luft siehst, stirbt sie. In dem Moment, haben Sie gesagt, beuge den Kopf und schließe die Augen. Aber ich habe Sie angesehen: Sie haben den Blick auf sie gerichtet gehalten.«

»Natürlich habe ich das.« Er nimmt den Arm seines Sohnes. »Es würde zur verstorbenen Königin passen, sich den Kopf wieder aufzusetzen und das Schwert zu nehmen, um mich nach Whitehall zu jagen.« Sie mag ja tot sein, denkt er, doch sie kann mich immer noch zu Fall bringen.

Frühstück. Schöne weiße Laibe, Wein, so stark, dass dir schwindelig wird. Der Herzog von Norfolk, der Onkel der toten Königin, nickt ihm zu. »Die meisten Leichen würden in keine Pfeiltruhe passen, wie? Da müsste man die Arme abhacken. Denken Sie, Kingston ist langsam zu alt?«

Gregory ist überrascht. »Sir William ist nicht älter als Sie, Mylord.«

Ein bellendes Lachen. »Denkst du, Männer sollten mit sechzig auf die Weide geschickt werden?«

»Leim sollte aus ihnen gekocht werden, denkt er.« Er legt einen Arm um die Schultern seines Sohnes. »Bald schon wird er seinen Vater in den Topf werfen, stimmt’s?«

»Aber Sie sind weit jünger als der Mylord Herzog.« Gregory dreht sich zu Norfolk hin, um ihn direkt anzusprechen. »Mein Vater ist bei bester Gesundheit, wenn Sie von seinem besonderen Fieber einmal absehen, das er sich in Italien geholt hat. Es stimmt, er arbeitet viel, aber er glaubt, dass das noch niemanden umgebracht hat, das sagt er oft. Sein Doktor meint, Sie können ihn nicht mal mit einer Kanonenkugel fällen.«

Mittlerweile haben die Zeugen gesehen, wie die Truhe mit der toten Königin zugenagelt wurde, und schieben sich durch die offenen Tore. Die städtischen Amtsträger drängen heran und sind erpicht auf ein Wort von ihm. Dieselben Fragen aus all ihren Mündern: Master Sekretär, wann werden wir die neue Königin sehen? Wann wird Jane uns die Ehre erweisen? Wird sie durch die Straßen reiten oder mit der königlichen Barke fahren? Welches Wappen, welches Emblem wird sie als Königin wählen, welchen Leitspruch? Wann dürfen wir die Maler und Handwerker bestellen, damit sie an die Arbeit gehen? Wird es bald schon eine Krönung geben? Welches Geschenk können wir ihr machen, das Gefallen bei ihr findet?

»Ein Beutel Geld ist immer brauchbar«, sagt er. »Ich glaube nicht, dass wir sie in der Öffentlichkeit sehen, bis sie und der König verheiratet sind, doch das wird nicht lange dauern. Sie ist auf die alte Weise fromm, und alle Banner und bemalten Stoffe mit Engeln, Heiligen und der Heiligen Jungfrau werden ihr willkommen sein.«

»Also«, sagt der Lord Mayor, »können wir nachsehen, was wir aus Königin Katherines Zeiten noch auf Lager haben?«

»Das wäre klug, Sir John, und würde die Mittel der Stadt schonen.«

»Wir haben Bilder aus dem Leben der heiligen Veronika«, sagt ein älterer Zunftgenosse. »Auf dem ersten steht sie weinend am Weg nach Golgatha, während Christus sein Kreuz trägt. Auf dem zweiten …«

»Natürlich …«, murmelt er.

»… auf dem zweiten wischt die Heilige mit einem Tuch über das Gesicht unseres Heilands. Auf dem dritten hält sie das Tuch hoch, und dort sehen wir das Bild Christi, klar erkennbar in seinem wertvollen Blut.«

»Meiner Frau ist aufgefallen«, sagt Konstabler Kingston, »dass die Lady heute Morgen ihren gewohnten Kopfputz hat liegen lassen und sich für eine Aufmachung wie die der verstorbenen Katherine entschieden hat. Sie fragt sich, was sie damit sagen wollte.«

Vielleicht war es Höflichkeit, denkt er, der ihr Vorausgegangenen gegenüber. Sie werden sich heute noch in einem anderen Land treffen, wo sie sich zweifellos viel zu erzählen haben.

»Hätte meine Nichte doch auch in anderen Belangen Katherine nachgestrebt«, sagt Norfolk. »Wäre sie gehorsam, keusch und sanftmütig gewesen, vielleicht trüge sie ihren Kopf dann noch auf den Schultern.«

Gregory ist so verblüfft, dass er einen Schritt zurückweicht, in den Lord Mayor hinein. »Aber Mylord, Katherine war gewiss nicht gehorsam! Jahr um Jahr hat sie sich dem König widersetzt, während er wollte, dass sie sich von ihm scheiden ließ. Sind Sie nicht selbst aufs Land gefahren, um sie zu drängen, und ist sie nicht in ihr Gemach geflüchtet und hat den Schlüssel gedreht, sodass Sie zwölf Weihnachtstage lang gezwungen waren, durch ihre Tür zu brüllen?«

»Obacht, das war Mylord Suffolk«, sagt der Herzog knapp. »Noch ein nutzloser, dementer Greis, was, Gregory? Da drüben steht er, Charles Brandon, der mächtige Kerl mit dem großen Bart. Ich bin der sehnige Bursche, der immer so jähzornig ist. Erkennen Sie den Unterschied?«

»Richtig«, sagt Gregory. »Natürlich, es war Mylord Suffolk, der durch die Tür geschrien hat. Jetzt erinnere ich mich. Meinem Vater hat die Geschichte so gut gefallen, dass wir sie zum Dreikönigsfest als Stück aufgeführt haben. Mein Cousin Richard war Mylord Suffolk, mit einem Wollbart bis auf den Bauch. Rafe Sadler hatte einen Rock an, spielte die Königin und hat den Herzog auf Spanisch beleidigt. Mein Vater war die Tür.«

»Das hätte ich gerne gesehen.« Norfolk reibt sich die Nasenspitze. »Nein, ernsthaft, Gregory.« Er und Charles Brandon sind alte Rivalen und genießen es, wenn der jeweils andere bloßgestellt wird. »Ich frage mich, was ihr dieses Jahr Weihnachten aufführt?«

Gregory öffnet den Mund und schließt ihn wieder. Die Zukunft ist merkwürdig leer. Er, Cromwell, geht dazwischen, bevor sein Sohn versucht, sie zu füllen. »Gentlemen, ich kann Ihnen sagen, was die neue Königin als Leitspruch wählen wird: ›Bestimmt, zu gehorchen und zu dienen.‹«

Ein zustimmendes Murmeln wandert durch den Raum. Brandon lacht dröhnend. »Vorsicht ist besser als Nachsicht, oder?«

»Das sollten wir uns alle gesagt sein lassen.« Norfolk schüttet seinen kanarischen Wein herunter. »Wer immer dem König in den kommenden Jahren in die Quere kommt, Gentlemen, es wird nicht Thomas Howard sein.« Er stößt sich mit dem Finger gegen die Brust, als wüssten sie sonst vielleicht nicht, wer er ist. Dann schlägt er dem Master Sekretär kameradschaftlich auf die Schulter. »Was jetzt, Cromwell?«

Lass dich nicht täuschen. Onkel Norfolk ist weder unser Kamerad noch unser Verbündeter oder Freund. Er schlägt uns auf die Schulter, um abzuschätzen, wie stabil wir sind. Er beäugt den cromwellschen Stiernacken und fragt sich, was für eine Klinge man brauchen würde, um ihn zu durchtrennen.

Es ist zehn, als sie die Gesellschaft verlassen. Draußen tüpfelt die Sonne das Gras. Er tritt in den Schatten, seinen Neffen Richard Cromwell an seiner Seite. »Besser, wenn wir Wyatt noch besuchen.«

»Geht es Ihnen gut, Sir?«

»Bestens«, sagt er ausdruckslos.

Es war Richard, der Thomas Wyatt vor ein paar Tagen in den Tower gebracht hat; ohne Zurschaustellung von Gewalt, ohne bewaffnete Männer hat er ihn so problemlos in Gewahrsam gebracht, als machten sie einen Spaziergang am Fluss entlang. Er verlangte, dass dem Gefangenen jede Art von Aufmerksamkeit gewährt und er in eine angenehme Torhauskammer gesperrt werde, zu der sie der Wärter Martin jetzt führt.

»Wie geht es dem Gefangenen?«, fragt er.

Als handelte es sich um irgendjemanden und nicht um Wyatt, der ihm so teuer ist wie sonst nur eine andere lebende Person.

Martin sagt: »Mir scheint, Sir, er ist ziemlich beunruhigt wegen der fünf Gentlemen, die vor Tagen ihre Köpfe verloren haben.«

Der Gefängniswärter lässt es beiläufig klingen, als ginge es um den Verlust ihrer Hüte. »Ich glaube, Master Wyatt fragt sich, warum er nicht unter ihnen war. Und so läuft er auf und ab, Sir. Dann setzt er sich, ein Blatt Papier vor sich, und es sieht aus, als wollte er etwas schreiben, doch nicht ein Wort kommt dabei heraus. Er schläft auch nicht. Mitten in der Nacht ist er auf und ruft nach Licht. Zieht seinen Hocker an den Tisch und spitzt seinen Federkiel. Um sechs dann, am helllichten Tag, bringe ich sein Brot und sein Ale, und da liegt sein Papier, leer, und die Kerze brennt immer noch. Eine Verschwendung ist das.«

»Lassen Sie ihm das Licht. Ich bezahle, was er braucht.«

»Wobei ich sagen muss: Er ist ein wahrer Gentleman. Nicht hochmütig wie die, die wir auf der anderen Seite hatten. Henry Norris – den ›sanftmütigen Norris‹ nannten sie ihn – aber mit uns hat er geredet, als wären wir Hunde. Daran erkennt man einen wahren Gentleman: dass er einen unter Lebensgefahr immer noch anständig behandelt.«

»Ich werde daran denken, Martin«, sagt er ernst. »Wie geht es meiner Patentochter?«

»Sie wird schon zwei, können Sie das glauben?«

In der Woche, in der Martins Tochter geboren wurde, war er im Tower, um Thomas More zu besuchen. Es waren die frühen Tage ihres Streits, und er hoffte noch, More käme dem König einen Schritt entgegen und würde damit sein Leben retten. »Wollen Sie ihr Pate werden?«, fragte Martin ihn. Er suchte den Namen aus: Grace, nach seiner jüngsten Tochter, die seit einigen Jahren tot ist.

Martin sagt: »Wir können einen Gefangenen nicht jede Minute überwachen. Ich fürchte, MrWyatt könnte sich etwas antun.«

Richard lacht fröhlich. »Haben Sie nie einen Dichter bei sich im Gefängnis gehabt? Einen, der tief seufzt und wenig schläft, und wenn er betet, dann in Versen? Ein Dichter mag melancholisch sein, aber ich sage Ihnen, er wird so gut wie jeder andere auf sich aufpassen. Er braucht das Essen und Trinken, um seinen Appetit zu stillen, und wenn ihn etwas schmerzt oder zwickt, hören Sie es schon.«

»Er schreibt ein Sonett, wenn er sich den Zeh anschlägt«, sagt er.

»Dichter gedeihen«, sagt Richard. »Es sind ihre Freunde, die den Schaden davontragen.«

Martin kündigt sie mit einem verhaltenen Klopfen an, als kämen sie in die Privatsuite eines Lords. »Besucher, MrWyatt?«

Der Raum ist voll mit tanzendem Licht, der junge Mann sitzt in der vollen Sonne am Tisch. »In den Schatten, Wyatt«, sagt Richard. »So sieht man Ihre Kopfhaut.«

Er vergisst immer wieder, wie unerbittlich die jungen Leute sind. Wenn der König fragt: »Bekomme ich eine Glatze, Crumb?«, sagt er: »Die Kopfform Ihrer Majestät würde jedem Künstler gefallen.«

Wyatt fährt sich mit der Hand durch sein feines Haar. »Es wird immer weniger, Rich. Wenn ich vierzig bin, wird mich keine Frau mehr ansehen, es sei denn, um zu versuchen, mir den Schädel mit einem Eierlöffel aufzuschlagen.«

Wyatt könnte heute Morgen lachen oder weinen, das eine wie das andere würde nichts bedeuten. Immer noch am Leben, während fünf andere Männer tot sind, immer noch am Leben und voller Staunen darüber steht er am Rande eines vernichtenden Schmerzes – wie ein auf einem Dorn wankender Mann, mit Halt allein unter einem Zeh. Er, Cromwell, weiß von einer ähnlichen Verhörmethode, die er aber nie hat anwenden müssen: Du bindest den Gefangenen an einen Balken, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Sein Körper hängt in der Luft, gestützt von nur einem winzigen Zoll. Wenn er sich bewegt oder du ihm den Fuß wegreißt, zieht sein gesamtes Gewicht an den Armen und kugelt ihm die Schultern aus. Der Teil der Prozedur sollte unnötig sein. Du willst ihn nicht ausschalten, willst ihn nur so halten, im Gleichgewicht, bis er dich mit seinen Antworten befriedigt hat.

»Immerhin haben wir gut gefrühstückt«, sagt er. »Konstabler Kingston ist so ein Tölpel, dass wir mit verschimmeltem Brot gerechnet hatten.«

»Das ist neu für ihn gewesen«, sagt Wyatt. »Eine englische Königin zu enthaupten, dazu fünf ihrer Liebhaber. Das tut ein Mann nicht jede Woche.«

Er wankt. Er wankt auf dem Dorn: Bald wird er wegrutschen und aufschreien. »Es ist also vorbei, nehme ich an, oder Sie wären nicht hier bei mir.«

Richard durchquert den Raum. Er tritt hinter Wyatt und sieht auf dessen gebeugten Nacken hinab. Er reibt ihm die Schulter, freundlich und fest, wie ein Mann es bei seinem Lieblingshund tut. Wyatt rührt sich nicht, das Gesicht in den Händen. Richard hebt den Blick: Sie oder ich, Sir?

Er neigt den Kopf: Du.

Richard sagt: »Sie hat tapfer an ihr Ende gefunden, sprach kurz und auf den Punkt, um Vergebung bittend, die Gnade des Königs preisend, ohne etwas zu beschönigen.«

Wyatt sieht auf. Er wirkt verstört. »Sie hat niemanden beschuldigt?«

»Es war nicht an ihr, jemanden zu beschuldigen«, sagt Richard sanft.

»Aber Sie wissen, wie Anne war. Und sie ist lange genug hier festgehalten worden, sie hatte Zeit zum Nachdenken und Planen. Sie muss gedacht haben«, seine blauen Augen blicken zur Seite, »hier haben sie mich eingesperrt, und wo sind die Beweise gegen mich? Als die fünf Männer zum Sterben hinausgebracht wurden, muss sie für sie gebetet und sich gefragt haben: Warum ist Wyatt nicht einer von ihnen?«

»Sie hätte doch sicher«, entgegnet er, »Ihren Kopf nicht auf der Straße liegen sehen wollen? Ich weiß, mit der Liebe zwischen Ihnen war es vorbei, und ich weiß auch, dass sie ein Wesen von größter Bosheit war, aber sie wird sich doch nicht gewünscht haben, die Zahl der Männer noch zu erhöhen, die sie vernichtet hat?«

»Das habe ich nicht angenommen«, sagt Wyatt. »Aber sie hätte es für gerecht halten können.«

Er will, dass Richard sich vorlehnt und Wyatt den Mund fest zuhält.

»Tom Wyatt«, sagt er, »lassen Sie uns das beenden. Sie mögen denken, ein Geständnis könnte Ihnen Erleichterung bringen, und wenn es so ist, schicken Sie nach einem Priester, sagen Sie, was Sie sagen müssen, holen Sie sich Ihre Absolution und bezahlen Sie ihn für sein Schweigen. Aber gestehen Sie mir um Himmels willen nichts.« Und er fügt leise noch hinzu: »Sie haben es so weit geschafft. Sie haben alle Schwierigkeiten gemeistert, haben gesprochen, als Sie sprechen sollten. Hören Sie jetzt auf damit.«

»Lassen Sie sich nicht gehen«, sagt Richard. »Das käme Sie teuer zu stehen. Mein Onkel ist für Sie auf Messers Schneide gewandelt. Der Verdacht des Königs war so groß, dass nur er ihn hat zerstreuen können, niemand anderem hätte der König zugehört. Er hätte Sie mit den anderen getötet. Im Übrigen …« Er hebt den Blick. »Sir, darf ich es ihm sagen? Das Gericht brauchte die Beweise nicht, die Sie uns gegeben haben. Ihr Name wurde nicht genannt. Der Bruder der Lady hat sich mit seinen eigenen Worten verurteilt, hat dem König vor Gericht offen ins Gesicht gekichert und gesagt, dass Henry, welche Mannhaftigkeit er auch für sich in Anspruch nimmt, Fähigkeit und vertu fehlen, um es mit einer Frau zu machen.«

»Ja«, sagt er Wyatt in sein ungläubiges Gesicht, »solch ein Narr war George Boleyn, und ich musste mich jahrelang mit ihm herumschlagen.«

»Und Georges Frau«, sagt Richard, »hat eine schriftliche Aussage gegen ihn abgegeben und bezeugt, dass sie gesehen hat, wie er seine Schwester geküsst hat und ihr dabei mit der Zunge in den Mund gefahren ist. Die Stunden hat sie beschrieben, die sie allein hinter verschlossener Tür waren.«

Wyatt ist mit seinem Hocker vom Tisch weggerückt. Er hebt sein Gesicht in die Sonne, und das Licht wäscht jeden Ausdruck von ihm herunter.

»Auch Annes Frauen«, sagt Richard, »haben gegen sie ausgesagt, berichtet, was sich da alles im Dunkeln getan hat. Deshalb war es genug, auch ohne Ihre Hilfe. Sie haben Annes Winkelzüge während dieser zwei Jahre und länger direkt miterlebt.«

Oh, Himmel, denkt er, lass uns das jetzt beenden. Er nimmt ein Bündel zusammengefalteter Blätter aus der Tasche und legt sie auf den Tisch. »Hier ist Ihre Aussage. Wollen Sie sie selbst vernichten, oder soll ich es tun?«

»Ich werde es tun«, sagt Wyatt.

Wyatt, denkt er, traut mir nicht, trotz allem, selbst jetzt noch nicht. Gott weiß, dass ich ihn nicht hinters Licht geführt habe. In dieser letzten Woche, Stunde für Stunde, hat er um Wyatts Leben gekämpft, hat dem König angeboten, was Wyatt über die Tote wusste. Ob sein Wissen auch fleischlicher Natur war, hat er Wyatt nie gefragt und wird es auch nicht tun. Dem König hat er versichert, dass es nicht so war – wenn auch nicht explizit. Falls er Henry getäuscht hat, will er es lieber nicht wissen. Er sagt zu Wyatt: »Ich habe Ihrem Vater gesagt, ich würde mich um Sie kümmern, und das habe ich getan.«

»Ich stehe in Ihrer Schuld«, sagt Wyatt.

Draußen tanzen die Rotmilane über den Mauern des Towers. Der König hat sich nicht dafür entschieden, die Köpfe von Annes Liebhabern auf der London Bridge zur Schau zu stellen – für den Fall, dass er beschließt, mit seiner Frau durch die Hauptstadt zu fahren, möchte er sie sauber wissen. So werden die Aasvögel um ihre Beute geprellt. Kein Zweifel, sagt er zu Richard, deshalb lechzen sie nach Tom Wyatt.

Richard sagt: »Da sieht man es. Was für ein anständiger Mann, dieser Wyatt. Selbst seine Wärter lieben ihn. Und sein Pisspott bewundert ihn, weil er sich herablässt, ihn zu benutzen.«

»Martin hat zu erfahren versucht, was mit ihm geschehen wird.«

»Sicher«, sagt Richard, »bevor er sich zu sehr an ihn gewöhnt. Und was wird geschehen?«

»Fürs Erste ist er da sicher.«

»Ist es mit den Verhaftungen vorbei? War er der Letzte?«

»Ich denke schon.«

»Ist es also vorbei?«

»Vorbei? Oh nein.«

Thomas Cromwell ist jetzt fünfzig Jahre alt. Dieselben schnellen Augen, derselbe stämmige, unerschütterliche Körper: dieselben Pflichten. Er ist zu Hause, wo immer er aufwacht: im Rolls House an der Chancery Lane oder in seinem Stadthaus in Austin Friars, in Whitehall beim König oder an einem anderen Ort, an dem Henry sich gerade aufhält. Um fünf steht er auf, betet seine Gebete, wäscht sich und bricht sein Fasten. Um sechs empfängt er Bittsteller, seinen Neffen Richard Cromwell neben sich. Master Sekretärs Barke bringt ihn nach Greenwich und zurück, nach Hampton Court, zur Münze und zu den Waffenkammern des Tower of London. Obwohl immer noch ein Bürgerlicher, ist er der zweite Mann Englands, da würden die meisten zustimmen. Er ist der Vertreter des Königs in kirchlichen Angelegenheiten, sein Vicegerent und hat die Befugnis, Erkundigungen über sämtliche Regierungsbereiche einzuziehen, auch über den königlichen Haushalt. Er hat die Gesetze Englands im Kopf, die Psalmen und die Worte der Propheten, dazu die Zahlen in den Haushaltsbüchern des Königs, und er weiß um die Abstammungslinien, den Grundbesitz und das Einkommen jeder wichtigen Person im Land. Er ist für sein Gedächtnis berühmt, und der König hat Spaß daran, es auf die Probe zu stellen und ihn nach Einzelheiten obskurer, zwanzig Jahre zurückliegender Streitfälle zu fragen. Manchmal trägt er, Cromwell, einen getrockneten Zweig Rosmarin oder Gartenraute bei sich und zerdrückt ihn in der Hand, als würde das Einatmen des Geruchs seiner Erinnerung auf die Sprünge helfen. Aber alle wissen, das ist nur ein Spielchen. Die einzigen Dinge, an die er sich nicht erinnert, sind die, die er nie wusste.

Seine Hauptaufgabe (so scheint es im Moment) besteht darin, dem König neue Ehefrauen zuzuführen und ihn von den alten zu befreien. Seine Tage sind lang und beschwerlich, voller Gesetze, die es zu entwerfen, und Botschafter, die es zu betören gilt. Mit Beginn der Dämmerung arbeitet er bei Kerzenlicht, sommers wie winters, wenn die Sonne schon um halb vier untergeht. Selbst seine Nächte gehören nicht ihm. Oft schläft er in einer Kammer nahe beim König, und Henry weckt ihn in den frühen Morgenstunden und fragt nach den Einnahmen der Staatskasse, oder er erzählt ihm seine Träume und will wissen, was sie bedeuten.

Manchmal denkt er, dass er gerne wieder heiraten würde: Es sind jetzt schon sieben Jahre, dass er Elizabeth und seine kleinen Mädchen verloren hat. Aber keine Frau würde sich mit dieser Art Leben abfinden.

Als er nach Hause kommt, wartet der junge Rafe Sadler auf ihn und nimmt den Hut ab, als er seinen Master sieht. »Sir?«

»Geschafft«, sagt er.

Rafe wartet, den Blick auf ihn gerichtet.

»Es gibt nichts zu erzählen. Ein gebetsreiches Ende. Der König?«

»Wir haben ihn kaum gesehen. Er lief zwischen Schlafkammer und Kapelle hin und her und sprach mit seinem Kaplan.« Rafe ist jetzt Kammerherr in den Privatgemächern des Königs, sein, Cromwells, Verbindungsmann. »Ich dachte, ich sollte herkommen, für den Fall, dass Sie eine Nachricht für ihn haben.«

Eine mündliche Nachricht, meint er. Etwas, das besser nicht mit Tinte dokumentiert wird. Er überlegt. Was sagt man einem Mann, der gerade seine Frau umgebracht hat? »Keine Nachricht. Geh nach Hause zu deiner Frau.«

»Helen wird froh sein zu wissen, dass die Lady ihr Unglück hinter sich hat.«

Er ist überrascht. »Sie bemitleidet sie doch nicht?«

Rafe wirkt beklommen. »Für sie war Anne die Beschützerin des Evangeliums, und das hat, wie Sie wissen, einen Platz nahe bei Helens Herz.«

»Oh, nun ja«, sagt er. »Aber ich kann es besser beschützen.«

»Aber Sie wissen ja, die Frauen … Wenn einer von ihnen etwas zustößt, denke ich, spüren es alle. Sie sind mitfühlender als wir, und es wäre eine raue Welt, wenn es nicht so wäre.«

»Anne war nicht mitfühlend«, sagt er. »Hast du Helen nicht erzählt, wie sie mir mit meiner Enthauptung gedroht hat? Zudem hatte sie vor, wie wir jetzt wissen, das Leben des Königs selbst zu verkürzen.«

»Ja, Sir«, sagt Rafe, als wollte er ihn bei Laune halten, »das ist vor Gericht festgestellt worden. Aber Helen wird fragen – vergeben Sie mir, für eine Frau ist es eine normale Frage –, was aus Anne Boleyns kleiner Tochter wird. Wird der König sie enterben? Er kann nicht sicher sein, dass er ihr Vater ist, aber auch nicht, dass er es nicht ist.«

»Das ändert kaum etwas«, sagt er. »Selbst wenn Eliza Henrys Kind ist, ist sie doch auf jeden Fall ein Bastard. Wie wir jetzt wissen, war seine Ehe mit Anne nie gültig.«

Rafe reibt sich den Kopf, dass das rote Haar wild in die Höhe ragt. »Und da seine Verbindung zu Katherine auch nicht gültig war, war er in seinem Leben noch kein einziges Mal verheiratet. Zweimal ein Bräutigam, aber nie ein Ehemann: Ist das je einem König passiert? Nicht mal im Alten Testament. Gebe Gott, dass sich Mistress Seymour an die Arbeit macht und ihm einen Sohn schenkt. Wir scheinen keinen Erben halten zu können. Die Tochter des Königs von Katherine – ein Bastard. Seine Tochter von Anne – ein Bastard. Bleibt nur noch sein Sohn Richmond, der von Beginn an ein Bastard war.« Er zerdrückt seinen Hut. »Ich muss.«

Er eilt hinaus und lässt die Tür offen. Von der Treppe ruft er: »Ich sehe Sie morgen, Sir.«

Er steht auf, schließt die Tür, bleibt aber noch stehen, die Hand auf dem Holz. Er vermisst Rafe, seine ständige Gegenwart im Haus, doch der Junge hat jetzt sein eigenes Haus, mit seiner eigenen jungen Familie, neue Pflichten am Hof. Es ist ihm eine Freude, Rafe zu einer Laufbahn zu verhelfen. Er ist ihm so lieb, als wäre er sein Sohn, dazu pflichtbewusst, beharrlich, aufmerksam, und – der entscheidende Punkt – der König mag ihn und vertraut ihm.

Er tritt an seinen Schreibtisch. Es ist erst Mai, denkt er, und schon sind zwei Königinnen Englands tot. Vor ihm liegt ein Brief von Eustace Chapuys, dem kaiserlichen Botschafter – obwohl es kein Brief ist, den Eustace auf seinem Tisch sehen wollte. Mittlerweile ist der Inhalt wohl bereits veraltet. Der Botschafter benutzt einen neuen Code, aber es sollte möglich sein zu sehen, worum es geht. Chapuys scheint zu frohlocken und Kaiser Karl mitzuteilen, dass die Konkubine des Königs ihre letzten Stunden verlebt.

Der Brief ist also tatsächlich veraltet. Er arbeitet daran, bis er die Eigennamen erkennen kann, einschließlich seines eigenen, und wendet sich dann anderen Aufgaben zu. Lass MrWriothesley das machen, denkt er, den König der Dechiffrierer.

Als die Glocken der Stadt zum Abendgebet rufen, hört er MrWriothesley unten mit Gregory lachen. »Kommen Sie herauf, Nennt-Mich«, ruft er. Der junge Mann nimmt immer gleich zwei Stufen auf einmal und kommt hereinmarschiert, einen Brief in der Hand. »Aus Frankreich, Sir, von Bischof Gardiner.« Zuvorkommenderweise hat er ihn bereits geöffnet.

Nennt-mich? Ein Spitzname, ein Witz aus der Zeit, als Tom Wyatt noch einen vollen Haarschopf hatte, als Katherine Königin war, Thomas Wolsey England regierte und er, Thomas Cromwell, nachts noch zu schlafen pflegte. Nennt-Mich wechselte von einem Tag auf den anderen nach Austin Friars – ein wohlgestalteter junger Mann, lebhaft und nervös wie ein Hase. Wir warfen einen Blick auf sein aufgeschlitztes Wams, den gefiederten Hut und den vergoldeten Dolch an seiner Taille: wie wir lachten. Er sah gut aus, wusste zu argumentieren und war fähig und darauf vorbereitet, bewundert zu werden. In Cambridge war Stephen Gardiner sein Lehrer gewesen, und Stephen hat viel weiterzugeben, nur leider keine Geduld, und genau danach schmachtet etwas in Nennt-Mich: Er will, dass man ihm zuhört, will reden. Wie ein Hase scheint er hellwach für das, was hinter ihm passiert, halb wissend, halb ratend, immer am Rand.

»Gardiner sagt, am französischen Hof zerreißen sie sich die Mäuler, Sir. Das Gerücht geht, dass die verstorbene Königin hundert Liebhaber hatte. König François ist amüsiert.«

»Da bin ich sicher.«

»Und Gardiner fragt … als Botschafter Englands … Was soll ich ihm sagen?«

»Sie können ihm schreiben. Schreiben Sie ihm, was er wissen muss.« Er überlegt. »Oder vielleicht etwas weniger.«

Die französische Vorstellungskraft wird schnell alle Einzelheiten hinzufügen, die Stephen fehlen: Was die tote Königin getan hat und mit wem und wie oft und in welchen Positionen. Er sagt: »Es ist nicht gut für einen Zölibatären, sich von so etwas aufwühlen zu lassen. Es ist unsere Aufgabe, MrWriothesley, den Bischof vor der Sünde zu bewahren.«

Wriothesley fängt seinen Blick auf und lacht. Jetzt, wo er außerhalb des Reiches ist, hängt Gardiner, was seine Informationen angeht, von Nennt-Mich ab. Der Master muss darauf warten, dass es seinem Schüler gefällt, ihm zu schreiben. Wriothesley hat eine Stellung, er ist Siegelbeamter. Er hat ein Einkommen und eine hübsche Frau, und er aalt sich im Wohlwollen des Königs. Im Moment genießt er die Aufmerksamkeit des Master Sekretärs. »Gregory scheint glücklich«, sagt er.

»Gregory ist froh, den Tag überstanden zu haben. Er hat so etwas noch nie erlebt. Keiner von uns hat das.«

»Unser armer Monarch«, sagt Nennt-Mich, »sein gutes Herz wurde ausgenutzt: von zwei Frauen, wie noch kein Mann sie je hat ertragen müssen, der Prinzessin von Aragón und Anne Boleyn. Solch bittere Zungen. Solch verdorbene Seelen.« Er setzt sich, doch nur auf den Rand seines Hockers. »Der Hof ist verängstigt, Sir. Die Leute fragen sich, ob es vorbei ist. Sie fragen sich, was Wyatt Ihnen gesagt hat, das nicht zu Protokoll gegeben wurde.«

»Sollen sie sich fragen.«

»Sie wollen wissen, ob es mehr Verhaftungen geben wird.«

»Die Frage stellt sich.«

Wriothesley lächelt. »Sie sind ein Meister in diesen Dingen.«

»Oh, das weiß ich nicht.« Er fühlt sich erschöpft. Sieben Jahre hat der König gebraucht, Anne zu bekommen. Drei Jahre lang mit ihr regiert. Sie in drei Wochen vor Gericht gebracht, und das alles wurde innerhalb von drei Herzschlägen beendet. Aber es sind ihre wie seine Herzschläge gewesen. Die Anstrengung, die er für sie aufgebracht hat, ist allem anderen hinzuzufügen.

»Sir«, Nennt-Mich beugt sich vor, »Sie sollten gegen den Herzog von Norfolk vorgehen. Ihn beim König in Verruf bringen. Tun Sie es jetzt, da er Ihnen gegenüber im Nachteil ist. Die Möglichkeit kommt vielleicht nicht wieder.«

»Ich habe den Herzog mir gegenüber heute Morgen als sehr liebenswürdig empfunden. Zieht man in Betracht, dass wir seine Nichte getötet haben.«

»Thomas Howard ist Freund wie Feind gegenüber gleich liebenswürdig.«

»Das stimmt.« Die Herzogin von Norfolk, von der sich der Herzog entfremdet hat, sagt genau das – oder Schlimmeres.

»Man sollte denken«, sagt Nennt-Mich, »jetzt, wo Anne und sein Neffe George in Schande zu Tode gekommen sind, dass er sich da beschämt auf seinen Besitz verkriecht.«

»Scham und Onkel Norfolk sind einander nicht bekannt.«

»Wie ich höre, drängt er darauf, dass Richmond zum Erben gemacht wird. Er meint, wenn sein Schwiegersohn König wird und seine kleine Tochter auf dem Thron neben ihm sitzt, hat er ganz England unter seiner Howard-Fuchtel. Er sagt: ›Da jetzt Henrys Kinder alle Bastarde sind, sollten wir den männlichen wählen: Wenigstens kann Richmond auf einem Pferd sitzen und ein Schwert ziehen, womit er die mickrige, kränkliche Lady Mary und Baby Eliza aussticht, die sich öffentlich in die Hosen macht.‹«

Er sagt: »Richmond wäre zweifellos ein guter König. Aber mir gefällt der Gedanke mit der Howard-Fuchtel nicht.«

MrWriothesleys Blick ruht auf ihm. »Die Freunde Lady Marys wollen sie zurück an den Hof bringen. Wenn das Parlament zusammenkommt, soll sie zur Erbin ernannt werden. Sie erwarten, dass Sie Ihr Versprechen halten und den König zurück auf ihre Seite bringen.«

»Tun sie das?«, sagt er. »Sie erstaunen mich. Selbst wenn ich etwas versprochen habe, das bestimmt nicht.«

Nennt-Mich wirkt verunsichert. »Sir, die alten Familien haben Ihnen geholfen, die Boleyns zu Fall zu bringen. Das haben sie nicht einfach so getan. Und ganz sicher nicht, damit Richmond König werden kann und Norfolk alles an sich rafft.«

»Ich muss mich also entscheiden?«, sagt er. »Nach dem, was Sie sagen, muss eine Seite das Nachsehen haben, entweder Norfolk oder Marys Freunde. Und wer immer den Sieg davonträgt, wird mir anschließend ans Leder gehen, denken Sie nicht?«

Die Tür öffnet sich. Nennt-Mich zuckt zusammen. Es ist Richard Cromwell. »Wer, dachten Sie, Nennt-Mich, würde da kommen? Der Bischof von Winchester?«

Stell dir Gardiner vor, wie er in einer Schwefelwolke aus dem Boden aufsteigt, mit den gespaltenen Hufen ausschlägt und das Tintenfass durch den Raum schleudert. Stell dir vor, wie ihm der Sabber das Kinn runterrinnt, während er sämtliche Schatullen auskippt und mit seinen rollenden, wütenden Augen den Inhalt durchsucht.

»Ein Brief von Nicholas Carew«, sagt Richard.

»Ich sage es doch«, Nennt-Mich sieht ihn an, »Marys Leute. Jetzt schon.«

»Und übrigens«, sagt Richard, »die Katze ist wieder los.«

Er eilt zum Fenster, den Brief in der Hand: »Wo ist sie?«

Nennt-Mich neben ihm: »Was ist los?«

Er bricht das Siegel. »Da! Sie rennt den Baum hinauf.«

Er blickt auf den Brief. Sir Nicholas möchte ihn sprechen.

»Ist das eine Katze?« Wriothesley staunt. »Das gestreifte Viech?«

»Sie ist aus Damaskus in einer Kiste hergekommen. Ich habe sie von einem italienischen Händler, für einen unglaublichen Preis. Sie soll im Haus bleiben, sonst lässt sie sich von einem Londoner Kater schwängern. Ich muss einen gestreiften Mann für sie finden.« Er öffnet das Fenster. »Christophe! Sie ist oben im Baum!«

Was Carew vorschlägt, ist ein Treffen der Dynastien: der Courtenays mit dem Marquis von Exeter an der Spitze und der Poles unter Lord Montague. Das sind die beiden Familien, die dem Thron am nächsten sind, Nachkommen des alten Königs Edward und seiner Brüder. Sie behaupten, für Mary, die Tochter des Königs, zu sprechen und ihre Interessen zu vertreten. Wenn sie England schon nicht selbst regieren können wie einst die Plantagenets, dann zumindest durch die Tochter des Königs. Sie zollen ihrer Abstammung Anerkennung, dem spanischen Erbe seitens ihrer Mutter Katherine. Um das traurige kleine Mädchen selbst geht es ihnen dabei weit weniger. Wenn ich Mary sehe, denkt er, werde ich ihr das sagen. Sicher ist sie bei denen nicht: Männern, die in der Vergangenheit leben.

Carew, die Courtenays, die Poles, sie alle, jeder Einzelne, sind Papisten. Carew war ein alter Waffenbruder des Königs und Königin Katherines Freund, als ihre Positionen noch vereinbar waren. Er sieht sich als Ritter und Begünstigter des Schicksals. Für Carew, die Poles, die Courtenays und ihre Unterstützer waren die Boleyns ein schlimmer Fehler, dem der Henker nun ein Ende gesetzt hat. Zweifellos nehmen sie an, dass sich auch Thomas Cromwell rückgängig machen und wieder zu dem Schreiber machen lässt, der er einmal war: nützlich, um Geld zu beschaffen, aber entbehrlich, ein Sklave, den du auf dem Weg zurück zu Ruhm und Herrlichkeit in den Dreck trittst.

»Nennt-Mich hat recht«, sagt er zu Richard, »Sir Nicholas legt einen hochmütigen Ton an den Tag.« Er hält den Brief in die Höhe. »Sie erwarten, dass ich nach ihrer Pfeife tanze.«

Wriothesley sagt: »Sie erwarten, dass Sie ihnen zu Diensten sind, oder sie werden Sie zu Fall bringen.«

Unter dem Fenster finden sich die jungen Leute von Austin Friars ein, Köche, Schreiber und Bedienstete aller Art. Er sagt: »Ich glaube, mein Sohn hat den Verstand verloren.« Dann ruft er nach unten: »Gregory, du kannst eine Katze nicht mit einem Netz fangen. Jetzt hat sie dich gesehen – zurück.«

»Seht, wie Christophe den Baum schüttelt«, sagt Richard. »Der dumme kleine Scheißer.«

»Tun Sie das nicht ab, Sir«, bettelt Nennt-Mich. »Weil letzte Woche …«

»Es ist nur natürlich, dass sie immer wieder ausbricht«, sagt er zu Richard. »Sie ist ihr keusches Leben leid. Sie will einen Prinzen. Ja, Nennt-Mich? Was war letzte Woche?«

»Die Leute reden vom Kardinal. Sie sagen, seht, was Cromwell Wolseys Feinden in zwei Jahren alles angetan hat. Thomas More ist tot. Königin Anne. Sie blicken auf die, die ihn beleidigt haben – Brereton, Norris –, wobei Norris nicht der Schlimmste war …«

Norris, denkt er, war gut zu meinem Herrn – sofern dieser hinsah. Hat gegeben und genommen, der sanfte Norris: ein Heuchler. Er sagt: »Wenn ich mich an Wolseys Feinden rächen wollte, würde ich die halbe Nation niederstrecken müssen.«

»Ich sage nur, was die Leute sagen.«

»Da kommt Dick Purser«, sagt Richard. Er beugt sich aus dem Fenster. »Fang sie ein, Junge, bevor wir sie im Dunkeln verlieren.«

»Die Leute«, sagt Wriothesley, »fragen, wer war der größte Feind des Kardinals? Ihre Antwort: der König. Und so fragen sie weiter: Wenn sich die Gelegenheit bietet, was wird Thomas Cromwell dann seinem Souverän antun, seinem Fürsten?«

Unten im dunkel werdenden Garten heben die Katzenjäger die Arme, als flehten sie den Mond an. Die Katze hoch oben im Baum ist nicht mehr als ein schwacher Umriss, sichtbar nur für das geschulte Auge: Sie lässt die Beine baumeln und ist völlig eins mit dem Ast, auf dem sie liegt. Er denkt an Marlinspike, den Kater des Kardinals. Als er ihn nach Austin Friars holte, war er noch so klein, dass er in seine Tasche passte. Dann wurde Marlinspike erwachsen und lief davon, um sein Glück zu machen.

Ich bin darüber hinausgewachsen, denkt er: über diesen Tag, dieses schwindende Licht, diese Schlingen. Ich bin die Damaszener Katze. Ich bin so weit gereist, um hierher zu kommen, und nichts von dem, was sie tun, verstört mich, so hoch auf meinem Ast.

Und doch scheint Wriothesleys Frage in ihn zu sickern und in seinem Kopf ein frostiges Rinnsal zu hinterlassen, wie Wasser, das in einen Keller dringt. Er ist erschrocken: Erstens, weil die Frage so gestellt werden kann. Zweitens, weil Nennt-Mich sie stellt. Drittens, weil er die Antwort darauf nicht weiß.

Richard wendet sich wieder ihnen zu: »Sir, was sagt Christophe da unten?«

Er übersetzt: der Argot des Jungen ist nicht einfach zu verstehen. »Christophe schwört, dass sie in Frankreich Katzen immer mit einem Netz fangen, jedes Kind kann das, und dass er es uns gerne demonstriert, wenn wir ihm unsere Aufmerksamkeit schenken wollen.« Er sagt zu Wriothesley: »Ihre Frage …«

»Nehmen Sie sie mir nicht übel …«

»… kommt sie von Gardiner?«

»Weil«, sagt Richard, »wer sonst als der verdammte sodomitische Bischof von Winchester könnte mit so einer Frage kommen?«

Nennt-Mich sagt: »Wenn ich Winchesters Worte hier wiederhole, tue ich nicht mehr als das. Ich spreche nicht für ihn oder in seinem Namen.«

»Gut«, sagt Richard, »sonst müsste ich Ihnen den Kopf abreißen und ihn hoch zur Katze in den Baum werfen.«

»Richard, glauben Sie mir«, sagt Wriothesley, »wenn ich aufseiten des Bischofs stünde, wäre ich mit in seiner Gesandtschaft und nicht hier bei Ihnen.« Tränen sammeln sich in seinen Augen. »Ich versuche zu verstehen, was der Master Sekretär will. Aber Ihr sorgt Euch nur um die Katze und versucht mich einzuschüchtern. Ich muss mich hier durch Dornen kämpfen.«

»Ich verstehe«, sagt er sanft. »Wenn Sie Stephen Gardiner schreiben, sagen Sie ihm, dass ich sehen werde, was ich ihm an Vergünstigungen verschaffen kann. George Boleyn bekam aus Winchesters Einkünften eine jährliche Zuwendung in Höhe von zweihundert Pfund. Die kann er auf jeden Fall schon einmal zurückhaben.«

Er denkt, das wird den Bischof nicht ruhigstellen. Das ist nicht mehr als eine Geste des guten Willens einem enttäuschten Mann gegenüber. Stephen hat gehofft, wenn Anne Boleyn fiele, würde sie mich mitreißen.

»Sie sprechen von den Feinden des Kardinals«, sagt Richard. »Ich würde Bischof Gardiner mit auf die Liste setzen. Dennoch hat er keinen Schaden genommen, oder?«

»Doch, ich denke, das hat er«, sagt Wriothesley. »Schließlich war er der Vertraute des Kardinals, bis Master Cromwell ihn beiseitegestoßen hat. Er war der Sekretär des Königs, bis Master Cromwell ihm den Boden unter den Füßen weggezogen hat. Der König hat ihn außer Landes geschickt, und er weiß, dass Master Cromwell dahintersteckt.«

Das stimmt. Stimmt alles. Gardiner weiß, wie er jemandem schaden kann, auch von Frankreich aus. Er weiß, wie man Zwist sät und das Gemeinwesen vergiftet. Er sagt: »Schon der Gedanke, dass ich einen Groll gegen meinen Souverän hegen sollte, ist das Gespinst seines kranken bischöflichen Hirns. Was besitze ich, was ich nicht vom König habe? Was bin ich anderes als der Mann, zu dem er mich gemacht hat? Mein ganzes Vertrauen liegt in ihm.«

Wriothesley sagt: »Soll ich Nicholas Carew nun eine Nachricht überbringen? Werden Sie ihn treffen? Ich denke, das sollten Sie.«

»Ihn besänftigen?«, fragt Richard. »Nein.« Er schließt das Fenster. »Ich wette, dass Purser sie kriegt.«

»Ich setze auf die Katze.« Er stellt sich die Welt unter ihr vor: durch die Prismen ihres scharfen Blicks, wie sich die Glieder aufgeregter Männer Bändern gleich entfalten und durchs Dunkel bangen. Vielleicht glaubt sie, sie beten zu ihr. Vielleicht glaubt sie, sie ist zu den Sternen hinaufgeklettert. Vielleicht fällt die Dunkelheit in Lichtflecken und Funken von ihr ab, Dächer und Giebel wie Schatten im Wasser, und wenn sie das Netz betrachtet, sieht sie nur die Öffnungen darin.

»Ich denke, wir sollten etwas trinken«, erklärt er Wriothesley. »Wir werden Lichter entzünden. Und ein Feuer, eins nach dem anderen. Schickt Christophe her, wenn er aus dem Garten kommt. Er wird uns zeigen, wie die Franzosen ein Feuer entfachen. Vielleicht verbrennen wir Carews Brief, MrWriothesley, was denken Sie?«

»Was ich denke?« Es ist fast ein Knurren, das Gardiner zur Ehre gereichen würde. »Ich denke, Sie haben Norfolk gegen sich, den Bischof gegen sich, und jetzt ziehen Sie auch noch gegen die alten Familien. Gott helfe Ihnen, Sir. Sie sind mein Master. Ich diene Ihnen, ich bete für Sie. Aber bei den Gebeinen der Heiligen! Denken Sie, diese Leute haben die Boleyns zu Fall gebracht, damit Sie den Gockel geben?«

»Ja«, sagt Richard. »Genau das denken wir. Es mag nicht ihre Absicht gewesen sein, aber wir arbeiten daran, dass es das Ergebnis wird.«

Wie ruhig Richards Hand ist, als er sie ausstreckt, um ihm das Glas zu reichen. Wie ruhig seine eigene, die es entgegennimmt. »Lord Lisle schickt diesen Wein aus Calais«, sagt er.

»Verwirrung komme über unsere Feinde«, sagt Richard, »Glück über unsere Freunde.«

Wriothesley sagt: »Ich hoffe, Ihr könnt sie auseinanderhalten.«

»Nennt-Mich, wärmen Sie Ihr armes, bebendes Herz.« Er wirft einen Blick zum Fenster hinüber und sieht die schwache, vernebelte Kontur seiner selbst darin. »Schreiben Sie Gardiner, dass Geld für ihn unterwegs ist. Dann müssen wir Codes entschlüsseln.«

Jemand hat eine Fackel in den Garten unten gebracht. Ein düsteres Flackern füllt die Scheiben. Sein Schatten im Fenster hebt eine Hand, er neigt ihr den Kopf entgegen. »Trinkt auf meine Gesundheit.«

In dieser Nacht träumt er vom Tod Anne Boleyns, ein Traum in einzelnen Bildern. Auf dem ersten steht er da und sieht zu, wie sie auf das Schafott zugeht, auf dem Kopf ihre klobige Giebelhaube. Auf dem zweiten kniet sie mit ihrer weißen Unterhaube da, während der Franzose sein Schwert hebt. Auf dem letzten blutet der abgetrennte Kopf sein Abbild in das ihn umhüllende Leinen.

Er wacht auf, als der Stoff ausgeschüttelt wird. Ihr Gesicht hat sich darin eingeprägt, er ist zu benommen, um es zu sehen. Es ist der 20. Mai 1536.

II

Bergung

London, Sommer 1536

»Wo ist mein oranger Mantel?«, fragt er. »Ich hatte immer einen orangen Mantel.«

»Ich habe ihn nicht gesehen«, sagt der Junge, Christophe. Er sagt es voller Skepsis, als spräche er von einem Kometen.

»Ich habe ihn weggehängt. Bevor ich dich hergeholt habe. Als du noch jenseits des Meeres warst und in Calais einen Misthaufen mit deiner Anwesenheit gesegnet hast.«

»Sie verspotten mich.« Christophe ist beleidigt. »Dabei war ich es, der die Katze gefangen hat.«

»Hast du nicht!«, sagt Gregory. »Das war Dick Purser. Christophe hat nur die Jagdrufe ausgestoßen, und jetzt will er sich das Verdienst zuschreiben!«

Sein Neffe Richard sagt: »Sie haben den Mantel weggehängt, als der Kardinal zu Fall kam. Da waren Sie nicht mehr in der Stimmung dafür.«

»Ja, aber jetzt bin ich gut aufgelegt. Ich werde vor dem Bräutigam nicht als Trauernder erscheinen.«

»Nein?«, fragt Christophe. »Bei diesem König braucht man eine Wendejacke. Man weiß nie, ist es Sterben oder Tanzen?«

»Dein Englisch wird besser, Christophe.«

»Ihr Französisch ist wie immer.«

»Was erwartest du von einem alten Soldaten? Ich werde keine Verse mehr schreiben.«

»Aber Sie fluchen gut«, sagt Christophe ermutigend. »Besser als mein Vater, der, wie Sie wissen, ein großer Räuber und in der ganzen Provinz gefürchtet war.«

»Würde dein Vater dich heute erkennen?«, fragt Richard Cromwell. »Ich meine, wenn er dich heute sähe. Einen halben Engländer in der Livree meines Vaters?«

Christophe sacken die Mundwinkel herunter. »Wahrscheinlich haben sie ihn längst gehängt.«

»Macht dir das nichts?«

»Ich spucke auf ihn.«

»Das ist nicht nötig«, sagt er, Cromwell, tröstend. »Der Mantel, Christophe? Gehst du ihn suchen?«

Gregory sagt: »Das letzte Mal, als wir alle zusammen ausgegangen sind …«

Richard sagt: »Nicht. Sag es nicht. Denk nicht mal an die andere.«

»Ich weiß«, sagt Gregory freundlich. »Meine Lehrer haben es mir eingeschärft, von Anfang an: Sprich auf einer Hochzeit nicht von abgeschlagenen Köpfen.«

Tatsächlich hat die Hochzeit des Königs schon tags zuvor stattgefunden – eine kleine, private Zeremonie. Sie kommen heute als Abordnung, um der neuen Königin zu gratulieren. Für gewöhnlich kleidet er sich in jene düsteren, teuren Farbschattierungen, die die Italiener berettino nennen: das Graubraun des Laubes zur Zeit des Festes der heiligen Cäcilia, das Graublau im Licht des Advents. Heute jedoch ist eine Anstrengung gefordert, und Christophe hilft ihm in sein Festgewand und bestaunt es, als Nennt-Mich hereingestürmt kommt: »Ich bin doch nicht zu spät?« Er weicht einen Schritt zurück. »Sir, das wollen Sie wirklich tragen?«

»Natürlich trägt er das!« Christophe ist beleidigt. »Ihre Meinung dazu ist nicht erwünscht.«

»Es ist nur so, dass auch die Leute des Kardinals Orange-Braun getragen haben, und wenn es den König daran erinnert … Er wird möglicherweise nicht daran erinnert werden wollen …« Nennt-Mich zögert. Das Gespräch vom gestrigen Abend liegt wie ein Fleck auf seinem eigenen Aufzug, wie etwas, das sich nicht herausbürsten lässt. Jetzt sagt er kleinlaut: »Natürlich, vielleicht mag der König den Mantel ja auch.«

»Wenn nicht, kann er mir sagen, ich soll ihn ablegen. Aufgepasst, dass er das nicht in Bezug auf Ihren Kopf sagt.«

Nennt-Mich zuckt zusammen. Er ist selbst für einen Rotschopf besonders empfindlich und schrumpft ein wenig, als sie hinaus in die Sonne treten. »Nennt-Mich«, sagt Gregory, »haben Sie gesehen, wie Dick Purser in den Baum hinauf ist und die Katze gefangen hat? Vater, kann er nicht etwas zusätzlich zu seinem Lohn bekommen?«

Christophe murmelt ein paar Worte. Eines davon klingt wie Ketzer.

»Was?«, fragt er.

»Dick Purser, ein Ketzer«, sagt Christophe. »Glaubt, die Hostie ist nichts als Brot.«

»Aber das tun wir doch auch!«, sagt Gregory. »Gewiss, oder … warte …« Zweifel scheinen in seinem Gesicht auf.

»Gregory«, sagt Richard, »was wir von dir wollen, ist weniger Theologie und mehr aufrechter Gang. Stell dich auf die neuen Brüder des Königs ein – die Seymours werden heute in Hochstimmung sein. Wenn Jane dem König einen Sohn schenkt, werden sie große Männer, Ned und Tom. Wir allerdings auch.«

Denn dies ist England, ein glückliches Land, ein Land der Wunder, in dem die Steine unter den Füßen Goldklumpen sind und in den Bächen Claret fließt. Der weiße Falke der Boleyns hängt wie ein trauriger Sperling an einem Zaun, während der Phönix der Seymours aufsteigt. Edelleute von alter Art, Förster, Meister von Wolf Hall, sie sind die neue Familie des Königs und befinden sich jetzt auf einem Rang mit den Howards, den Talbots, den Percys und den Courtenays. Die Cromwells – Vater, Sohn und Neffe – gehören ebenfalls einer alten Art an. Sind wir nicht alle im Garten Eden gezeugt worden? Als Adam grub und Eva spann,/ Wer war denn da der Edelmann? Wenn die Cromwells in dieser Woche ihr Haus verlassen, gehen ihnen die Gentlemen Englands aus dem Weg.

Der König trägt grünen Samt: Er ist eine saftige Wiese, mit Diamanten gesprenkelt. Er löst sich von seinem alten Freund William Fitzwilliam, mit dem er zusammensteht, nimmt den Master Sekretär beim Arm und zieht ihn in eine Fensternische. Er blinzelt im Sonnenlicht. Es ist der letzte Tag im Mai.

Die Hochzeitsnacht: Wie fragt man danach? Die neue Braut wirkt so jungfräulich, dass es ihn nicht wundern würde, wenn sie sich unters Bett geflüchtet und starr auf dem Rücken dagelegen hätte, die Hände zum Gebet gefaltet. Und Henry, wie ihm verschiedene Frauen erklärt haben, braucht einiges an Ermunterung.

Der König flüstert: »Solch eine Frische. Solch eine Zartheit. Solch jungfernhafte pudeur.«

»Ich freue mich für Ihre Majestät.« Er denkt, ja, ja: Aber hast du es vollbracht?

»Ich bin aus der Hölle in den Himmel gelangt, und das alles in einer Nacht.«

Das ist die Antwort, die er wollte.