Spiel auf Zeit - Nina Schulz - E-Book

Spiel auf Zeit E-Book

Nina Schulz

4,9

Beschreibung

In eindringlichen Porträts ausgegrenzter NS-Verfolgter, die für unaufgearbeitete Verbrechen des Nationalsozialismus stehen, schildern die preisgekrönten Reportagen des Autorinnen-Duos deren bis heute andauernden Kämpfe um Anerkennung und Entschädigung. Die Politik der Bundesrepublik Deutschland gilt in der öffentlichen Wahrnehmung weltweit als Modell einer gelungenen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Dabei hat die Mehrheit der NS-Verfolgten nie eine Entschädigung erhalten. »Nina Schulz und Elisabeth Mena Urbitsch haben es sich zur Aufgabe gemacht, die ›offenen Rechnungen‹ der deutschen Erinnerungspolitik an Einzelschicksalen darzustellen« (Irene Stuiber in der Laudatio zur Verleihung des Alternativen Medienpreises 2015).

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NINA SCHULZ

ELISABETH MENA URBITSCH

SPIEL AUF ZEIT

Die Journalistin Nina Schulz und die Fotografin Elisabeth Mena Urbitsch arbeiten seit 2005 als Team zusammen. Schwerpunkt ihrer Arbeit sind Reportagen zu erinnerungspolitischen Themen. Ihre Reportage »Spiel auf Zeit« zu Überlebenden des Nationalsozialismus und deren Kampf um ihre Ghettorenten wurde 2010 mit dem Alternativen Medienpreis ausgezeichnet. 2015 bekamen sie diesen Preis ein zweites Mal für ihre Reportage »Hasenbrote« aus der Reihe »Offene Rechnungen«, in der sie die andauernden Auseinandersetzungen von NS-Verfolgten um Anerkennung und Entschädigung darstellen. Nina Schulz und Elisabeth Mena Urbitsch leben in Hamburg.

Spiel auf Zeit NS-Verfolgte und ihre Kämpfeum Anerkennung und Entschädigung

Texte von Nina Schulz

Fotos von Elisabeth Mena Urbitsch

© Berlin, Hamburg 2016Assoziation AGneisenaustraße 2a10961 [email protected]@assoziation-a.de

Print: ISBN 978-3-86241-451-2EPub: ISBN 978-3-86241-621-9

Gestaltung: Andreas Homann

Gewidmet allen Verfolgtendes Nationalsozialismus

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1 Warum Tone Kristan Angela Merkel nicht zu ihrer Wiederwahl gratulierte — Slowenien. Die slowenische »Vereinigung der Okkupationsopfer 1941–1945, Kranj« erinnert seit Jahren daran, dass Deutschland bisher keine Entschädigungen für ihre Zwangsarbeit und Verschleppungen gezahlt hat.

2 Zimmer mit Aussicht — Deutschland.Die ehemals inhaftierten und als »asozial« kriminalisierten Frauen im Konzentrationslager Ravensbrück zählen zu den ausgegrenzten Verfolgten des Nationalsozialismus und führen schon seit langem einen Kampf um öffentliche Anerkennung und Entschädigung.

3 Requiem für eine Rente — Israel, Tschechische Republik, Deutschland.NS-Verfolgte kämpfen bis heute um ihre Ghettorenten.

4 Sinti heißt Mensch und Roma Mann — Deutschland.Wie eine Sintezza, die Auschwitz, Ravensbrück und Bergen-Belsen überlebte, um Anerkennung und Entschädigung kämpfte.

5 Die eine Sache noch — Polen. Der Überlebende einer Vergeltungsaktion der Deutschen im polnischen Dorf Szczecyn, hat trotz vielfältiger juristischer Anstrengungen, bis heute keine Entschädigung aus Deutschland bekommen.

6 Endlich »Nein« sagen — Italien. Bis heute weigert sich die Bundesregierung, ehemaligen italienischen Kriegsgefangenen eine Entschädigung für ihre Zwangsarbeit und ihre Behandlung in der Kriegsgefangenschaft zu zahlen.

7 Hasenbrote — Deutschland. Bis heute werden Zwangssterilisierte und »Euthanasie«-Geschädigte entschädigungsrechtlich nicht den anderen NS-Verfolgten gleichgestellt.

8 Saturn über Distomo — Griechenland. Mehr als siebzig Jahre nach dem SS-Massaker im griechischen Distomo haben die Opfer noch keine Entschädigung erhalten. Von der deutschen Justiz sind die Täter nie angeklagt oder verurteilt worden.

9 Die Fragen bleiben — Rumänien. 1971 lieferten zwei Laster aus Rumänien 155.000 Akten von NS-Verfolgten beim Auswärtigen Amt in Bonn ab, um auf nichtgezahlte Entschädigungen hinzuweisen. Das Ministerium nahm die Akten nicht offiziell an, sondern bewahrte sie jahrzehntelang in einem Lagerraum auf. Unregistriert.

10 Der Talisman — Russland. Erst im Mai 2015 beschließt die Bundesregierung, ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen eine Anerkennungsleistung für ihre Zwangsarbeit und ihre Behandlung in der Kriegsgefangenschaft zu zahlen. Wie schnell die Berechtigten ermittelt werden und noch eine Zahlung erhalten, steht auf einem anderen Blatt.

11 Philotimo — Griechenland. 1942 zahlte die Jüdische Gemeinde Thessaloniki Lösegeld an die deutschen Besatzer, um 9.000 Männer vor der Zwangsarbeit zu bewahren. Dennoch wurden sie später nach Auschwitz deportiert. Bis heute bemüht sich die Gemeinde um eine Restitution der Zahlung.

12 Der Suchende — Deutschland. Die Nationalsozialisten haben Kinder aus anderen Ländern geraubt und Maßnahmen der Zwangsgermanisierung unterworfen. Bis heute wissen viele nichts über ihre Herkunft und kämpfen immer noch um Anerkennung und Entschädigung.

13 »Guten Morgen« — Österreich. Entschädigungszahlungen für Zeugen Jehovas wurden häufig abgelehnt. Besonders männliche Mitglieder seien nicht aufgrund ihres Glaubens, sondern aufgrund ihrer Weigerung, den »gesetzlich vorgeschriebenen« Wehrdienst zu leisten, verfolgt worden.

14 Die Spuren von Sant’Anna di Stazzema — Italien. Mehr als siebzig Jahre nach dem SS-Massaker im italienischen Sant’Anna di Stazzema haben die Opfer noch keine Entschädigung erhalten. Trotz einer Verurteilung in Italien sind die SS-Angehörigen in Deutschland nie angeklagt worden. Überlebende des Massakers fordern von der deutschen Justiz weiter Antworten.

15 Der Dada und die Rehabilitierung — Deutschland. Verfolgung aufgrund von Homosexualität wurde nicht als typisches NS-Unrecht anerkannt. In der Bundesrepublik galt die nationalsozialistische Verschärfung des § 175 aus dem Jahre 1935 bis 1969 unverändert fort und führte auch nach 1945 zu Strafverfolgungen.

EpilogZeitabläufe. Eine kleine Geschichte der (Nicht-)Entschädigung

SchlusswortNachurteile von Argyris Sfountouris, Überlebender des SS-Massakers von Distomo

Danksagung

Vorwort

Das Unsägliche geht, leise gesagt, übers Land.Ingeborg Bachmann

»Why don’t you write about fashion? – Warum schreiben Sie nicht über Mode?«, fragte uns Uri Chanoch während eines längeren Telefonats vor unserer Recherchereise nach Israel. Das war 2009. Es ging um die hohe Ablehnungsquote von Ghettorente-Anträgen. Uri Chanoch, selbst Überlebender des Holocaust, hat – neben anderen – das Center of Organizations of Holocaust Survivors in Israel in der Auseinandersetzung um die Renten vertreten. Seine Frage stand am Ende einer Reihe anderer Fragen: »Wer interessiert sich schon dafür? Und können Sie mit solchen Themen Ihren Lebensunterhalt verdienen?« Sie war solidarisch gemeint. Und verwies gleichzeitig darauf, wie wenig Beachtung das Thema in der Öffentlichkeit fand.

Die Ghettorenten bildeten den Auftakt für unsere Beschäftigung mit dem Thema. So entstanden unsere Reportagen. In ihnen schildern ausgegrenzte NS-Verfolgte, wie sie bis heute um Anerkennung und Entschädigung kämpfen.

Dabei war unser Anliegen, die Perspektiven von NS-Verfolgten in den Mittelpunkt zu stellen und ihre politische und juristische Arbeit, ihre Versuche, ihre Geschichten vor dem Vergessen zu bewahren, zu skizzieren. Uns geht es darum, die Vielfalt der Verfolgungsgeschichten und der daraus resultierenden Verletzungen zu dokumentieren. Einen Anspruch auf Vollständigkeit können und wollen wir dabei nicht erheben. Aber mit jeder neuen Begegnung, mit jeder neuen Geschichte kristallisierte sich für uns zunehmend ein Muster heraus: eine Systematik, mit der bestimmte NS-Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit weder anerkannt noch entschädigt werden.

2013 haben wir mit der Arbeit an diesem Buch begonnen, in das Begegnungen eingewoben sind, die bis 2009 zurückdatieren. Wir sind in acht Länder, in persönliche Erinnerungslandschaften und Auseinandersetzungsorte, zu Befreiungsfeierlichkeiten und Gedenkstätten und in Wohnzimmer gereist, um mit den Menschen zu sein.

Wir haben biografische Interviews geführt, in denen Zeit ausschlaggebend war. Nicht nur in ihrer Endlich-, sondern auch in ihrer Großzügigkeit. Die Zeit, die sich unsere Protagonistinnen und Protagonisten für uns genommen haben. Dass wir unsererseits mehr Zeit mitbrachten als nur für einen Kaffee, erstaunte einige unserer Interviewten. In den Details der persönlichen Schilderungen offenbarte sich, wie sich Verfolgungsstrukturen im Alltag und Ausnahmezustand auswirkten und bis heute wirken. So sind Porträts von außergewöhnlichen Menschen entstanden.

Darin spielen die Fotografien eine tragende Rolle und öffnen eine weitere Perspektive, in der die Verfolgten im Vordergrund stehen. Die Fotografien sind inmitten unserer Begegnungen entstanden. Sie porträtieren Überlebende an unterschiedlichen Orten als Protagonisten und Protagonistinnen: als Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, Aktivistinnen und Aktivisten, Experten und Expertinnen. So bieten die Fotografien eine parallele Erzählung an und sind gleichzeitig eng mit dem Text verwoben.

Reflektionen

Für uns ist dieses Buch eine Sammlung von Lebensgeschichten mit Langzeitbelichtungen und Leerstellen, von Momentaufnahmen und Dialogen der Gegenwart mit der Vergangenheit, von Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen und von Erinnerungen, die auffordern und verstören. Es sind Versuche gegen das Vergessen.

Bei unserer Arbeit sind wir immer wieder an Grenzen gestoßen: an unsere persönlichen, aber auch an zeitliche. Leider ist es uns nicht gelungen, alle diejenigen in diesem Buch vorzustellen, die wir gerne vorgestellt hätten. Und deswegen stehen die Leerstellen auch für die Vielzahl der Geschichten von NS-Verfolgten, die nie erzählt wurden; die nur einmal erzählt wurden und dann nie wieder; die immer wieder erzählt, aber nicht gehört wurden, und die wir einfach gerne gehört hätten, es aber nicht geschafft haben. Weil das Trauma im Alter mit neuer Wucht zurückkommt und das Erzählen erneut zu einer bedrohlichen Erfahrung macht. Weil das nachlassende Gedächtnis die Erinnerungen schwer zugänglich macht. Weil der Tod wieder schneller war. Die Zeit stand nicht immer auf unserer Seite.

Für uns geht es um ein Zuhören, das wahrnimmt, mitnimmt und herausfordert, das bisher Wahrgenommene immer wieder in Frage stellt, im Prozess geduldig darum bittet, weiter zu hören, zu sehen und überhaupt zu verstehen. Die Begegnungen beunruhigen, weil sie einen Abschied verlangen: von einem Nichtwissen, von einer Besänftigung, dass irgendwie schon alles in Ordnung sei, und von einer manchmal fast für selbstverständlich gehaltenen Unversehrtheit des Seins.

Die Begegnungen bewegen, weil sie einen Aufbruch verlangen. Weil diese Geschichten und Erfahrungen zumutbar sind und sein sollten. Weil die Bereitschaft der Betroffenen, sich ausführlich zu ihrer Lebensgeschichte zu äußern, biografische Details preiszugeben, offen über Traumatisierungen und Verletzungen zu sprechen, immer eine Herausforderung ist. Vor allem für sie. Das beeindruckt uns und flößt uns größten Respekt ein. Allen unseren Protagonistinnen und Protagonisten gilt unser ganz besonderer Dank für ihren Mut, ihre Offenheit, ihre Geduld, ihre Ausdauer, ihre Arbeit und ihre Zeit. Ihr bewegt uns.

Protagonisten und Protagonistinnen

Der Umgang mit Forderungen zu Entschädigungen und Anerkennungen von NS-Unrecht ist immer eine Geschichte des Ein- und des Ausschlusses und mehr als 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs nach wie vor ein umstrittenes politisches Thema. Es geht nicht nur um die Summe der einzelnen juristischen Verfahren, es bleibt ein gesamtgesellschaftliches Verfahren. Eine politische und menschliche Frage und Herausforderung. Es geht um Aktion und gesellschaftliche Rezeption. NS-Verfolgte traten und treten darin als Protagonistinnen und Protagonisten der Geschichte auf. Sie fordern hegemoniale Erinnerungs-, Entschädigungs-, Anerkennungs- und Strafverfolgungspolitiken heraus. Sie fordern die Deutung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft heraus und hinterfragen einen Sprachgebrauch, der oftmals darüber entscheidet, was überhaupt als Leid und wessen Leid wahrgenommen, anerkannt und entschädigt wird. Sie weisen auf Kontinuitäten in der Verfolgung hin. Sie demonstrieren die Vielfältigkeit der Erinnerungen, statt ihre verschiedenen Schicksale in einer kollektiven Identität zu vereinheitlichen.

Argyris Sfountouris, Überlebender des SS-Massakers vom 10. Juni 1944 in Distomo, Griechenland sagt: »Die deutsche Politik muss sich mit den Opfern als Menschen beschäftigen. Wir sind kein Abstraktum.« Am 11. Juni 2010 steht der damals 69-Jährige in der Mittagshitze vor der Deutschen Botschaft in Athen zwischen zwei Transparenten. Auf denen steht: »Keine Staatenimmunität für Nazi-Kriegsverbrechen« und »Sofortige Entschädigung aller griechischen Opfer des Nazismus«. Erwartungen hat Argyris Sfountouris nicht mehr viele. »Deutschlands Schlussstrichmentalität lässt meine Hoffnungen sehr gering ausfallen. Aber ich lasse mich gerne eines Besseren belehren«, erläutert er und reckt dabei das Kinn gen Himmel. »Ich kann jedenfalls nicht damit leben, nichts zu tun.« Er schließt mit dem Satz: »Würden Opfer entschädigt, würden sich Kriege nicht mehr lohnen.« (Vgl. Kapitel 8.)

»Wehe, mein Vater hatte kein Hasenbrot mitgebracht«, erzählt Elisabeth Bornstein schmunzelnd. »Für seine gewerkschaftliche Arbeit war er viel unterwegs. Wenn er nach Hause kam, interessierten mich sein Hasenbrot und seine Geschichten.« Es ist ein sonniger Augusttag in Berlin 2013. Geschäftig gleiten Züge in den Bahnhof Friedrichstraße ein und aus. Gemächlich tuckern Ausflugsschiffe auf der Spree vorbei. Am Horizont schimmert der Schriftzug der Charité. Der Ausblick begeistert Elisabeth Bornstein. Wenn sie zurückblickt, ist sie jedoch betrübt. »Ich erinnere mich in letzter Zeit so genau. Die Bilder von damals sind ganz deutlich wieder da.« Damals – das ist ihre Jugend im Nationalsozialismus. »Ich bin nicht normal aufgewachsen«, erklärt die 86-Jährige. Ihr Vater Max Rothhand, Gewerkschafter und SPD-Mitglied, wird 1941 im Rahmen des nationalsozialistischen »Euthanasie«-Programms ermordet. »Euthanasie«-Geschädigte leben immer noch mit dem Stigma, das die nationalsozialistische Verfolgung mit sich brachte. Elisabeth Bornstein kämpft bis heute um Anerkennung und Entschädigung. (Vgl. Kapitel 7.)

Auseinandersetzungen

Im Gegensatz zu den Ansichten der Protagonistinnen und Protagonisten sind die wechselnden Bundesregierungen der Meinung, dass die Thematik der Entschädigung für NS-Verbrechen schon lange abgeschlossen sei. Dabei hat die Mehrheit der mehr als 20 Millionen NS-Verfolgten nie eine Entschädigung erhalten. Die Realität rüttelt am Bild einer Bundesrepublik, deren Entschädigung für die Opfer von Kriegsverbrechen und Verfolgung weltweit als Modell gilt. Bei näherer Betrachtung entpuppt sich dieses Modell eher als Mythos.

Die Auseinandersetzung um Anerkennung und Entschädigung ist von der andauernden politischen und juristischen Arbeit von Überlebenden, Verfolgtenverbänden und politischen Solidaritätsgruppen geprägt, die sich in Tagungen, Demonstrationen, Prozessen, Entschädigungsklagen in- und außerhalb Deutschlands, in Kleinen und Großen Anfragen im Bundestag oder dem Schriftwechsel mit der Bundesregierung und eigenen Publikationen Ausdruck verschafft.

In der Vielfalt der Auseinandersetzungen ist es notwendig, die Stimmen der NS-Verfolgten und Verfolgtenverbände im In- und Ausland wahrzunehmen, zu verstärken, aus der Vereinzelung zu einem gesamtgesellschaftlichen Anliegen zusammenzuführen, ohne sie zu vereinheitlichen. Wir plädieren dafür, sowohl die Entschädigungsfrage zu internationalisieren und somit die Trennung in inländische und ausländische Verfolgte aufzuheben als auch den NS-Verfolgtenbegriff grundsätzlich zu erweitern, jenseits von nationalsozialistisch willkürlich definierten Gruppenzuschreibungen.

All das bedeutet eine neue, grundsätzliche und dynamische Auseinandersetzung mit der Komplexität der nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen, ihrer Vielschichtigkeit, ihrer Kontinuitäten, den daraus resultierenden gesellschaftlichen Ausschlüssen von NS-Verfolgten und den daraus resultierenden entschädigungsrechtlichen Konsequenzen. Verfolgung zu verstehen müsste bedeuten sie anzuerkennen. Nicht nur symbolisch und politisch, sondern auch rechtlich und materiell. Denn während es manchmal eine späte, öffentliche Anerkennung gibt, fehlt es häufig an materieller Entschädigung. So enden offizielle moralische Schuldbekenntnisse meistens mit der Abweisung von Entschädigungsansprüchen. Eine Einbettung in größere gesellschaftliche Kampagnen zum Umgang mit NS-Verfolgten vor dem Hintergrund einer transnationalen Perspektive findet nur vereinzelt statt. Das sollte sich ändern.

Die Zeit drängt

Vielleicht ist die Frage der Anerkennung von NS-Verfolgten und ihrer Entschädigung heute nicht mehr in Mode. Unserer Meinung nach gehört sie aber dringend auf die Tagesordnung aktueller Politiken. Die NS-Verfolgten sterben und es stellt sich die Frage, wie Erinnerungen an ihre Erfahrungen und an NS-Verbrechen weiterhin lebendig gehalten werden sollen – insbesondere jene an die ausgegrenzten Opfer. Unser Buch Spiel auf Zeit soll dazu einen Beitrag leisten, die Debatte in eine breitere Öffentlichkeit tragen und unaufgearbeitete Verbrechen, »offene Rechnungen« der Geschichte in die Gegenwart katapultieren. Die Zeit drängt.

Nachtrag

Drei der porträtierten Menschen sind mittlerweile gestorben: Bat-Sheva Szwarc am 30. Mai 2011. Uri Chanoch am 1. September 2015. Oldřich Stránský am 18. Juli 2014.

SlowenienWarum Tone Kristan Angela Merkel nicht zu ihrer Wiederwahl gratuliert Die slowenische »Vereinigung der Okkupationsopfer 1941–1945, Kranj« erinnert seit Jahren daran, dass Deutschland bisher keine Entschädigungen für ihre Zwangsarbeit und Verschleppungen gezahlt hat.

Tone Kristan im Büro der slowenischen »Vereinigung der Okkupationsopfer 1941–1945, Kranj«

Damals hat Tone Kristan Angela Merkel gratuliert. Zur gewonnenen Bundestagswahl 2009. Mit einer Flasche Sliwovitz. Und sie an die ausstehenden Entschädigungszahlungen erinnert. Die Antwort des Bundeskanzleramtes: Der Sliwovitz sei von guter Qualität. Das war alles. Kein Wort zu den Entschädigungsforderungen, um die die slowenische »Vereinigung der Okkupationsopfer 1941–1945, Kranj« (Združenje Žrtev Okupatorjev 1941–1945, Kranj) seit 1997 kämpft.

Der 84-jährige Initiator und ehemalige Präsident des Vereins, Tone Kristan, beugt sich in einem der schwarzen Kunstledersessel des Konferenzraums nach vorne, faltet die Hände und schmunzelt, während er die Anekdote erzählt. Er trägt eine helle Hose, ein sportliches, kariertes Kurzarmhemd und eine schwarze Schiebermütze. An diesem Morgen im August 2013 sind sechs weitere Mitglieder der Vereinigung in die Räume der Stadtverwaltung in Kranj gekommen. Im Erdgeschoss befindet sich ihr Büro, zwischen dem der Jugendorganisation »Jugendslowenien-Mladina Slovenije« links und dem des Partisanenverbandes rechts. Die Einrichtung ist spärlich. Auf einem der Holzschreibtische aus den 1970er Jahren steht prominent ein Faxgerät. Computerbildschirm und Drucker sind mit kurzen Decken abgehängt. Kleine Magneten mit der Queen Mary 2, dem Hamburger Hafen und dem Leuchtturm von Westerhever schmücken den Kabelkanal an der Wand. Holzvertäfelung an den Seitenwänden. Kassettendecke aus Styropor. Der Büroraum ist zu klein für das Treffen, deswegen gehen wir in das Konferenzzimmer nebenan.

Zu Beginn der Sitzung werden historische Fakten richtiggestellt. Bisher galt Hitlers Rede in Maribor am 27. April 1941 als Auftakt der nationalsozialistischen Vernichtungs- und Vertreibungspolitik in Slowenien. »Macht mir dieses Land wieder deutsch«, hatte der Befehl gelautet. Jetzt hat Tone Kristan erfahren, dass Hitler die Rede in Graz gehalten hat. Am 26. April 1941. Das nehmen die Anwesenden interessiert zur Kenntnis. Die meisten von ihnen sind erst im Exil geboren, in den Lagern. Sie erinnern sich nur an den Rücktransport nach Jugoslawien. Die Viehwaggons. Die Freude, als sie wieder ihre eigene Sprache sprechen und hören können. Slowenisch.

Allen Anwesenden ist es wichtig, dass an die Okkupationszeit von 1941– 1945 und die Vertreibung erinnert wird. »Warum gibt es Krieg? Warum hat der Krieg diese Grausamkeiten mitgebracht?«, wirft Janko K. als Fragen auf. Antworten gibt es keine. »Sie sind noch nicht zu Ende diskutiert«, sagt er. Auf der einen Seite stehe das Interesse zu erinnern. Auf der anderen das zu vergessen. Auch in Slowenien. Die ehemaligen Kollaborateure nützten immer noch jede Möglichkeit, die Kommunisten und die Partisanen zu beschimpfen. »Es ist unmöglich, das voneinander zu lösen. Immer gibt es beim Erinnern ein Kontrainteresse. Mit den wechselnden Regierungen kommt eine andere Politik. Deshalb sind Historiker und Historikerinnen wichtig, die die Dinge bearbeiten«, führt er aus. Deutschlands Umgang mit den slowenischen Entschädigungsforderungen charakterisieren die Anwesenden als »unhöflich«. »Deutschland soll die Entschädigungen bezahlen. Und Frau Merkel sich für die Verzögerung entschuldigen und anerkennen, dass wir Opfer sind.« Von 180.000 Opfern geht die Vereinigung aus. Tone Kristan ist eines von ihnen.

Orte des Geschehens

In einer bewaldeten, bergigen Gegend im Südosten Sloweniens befinden wir uns am Ort des Geschehens. Tone Kristan erzählt anschaulich, genau. 13 Jahre ist er alt, als er alles verliert. Er putzt gerade das Fahrrad der Familie, als die Deutschen über die Alpen anfliegen. »Ab da war an Fahrradfahren nicht mehr zu denken.« Jetzt steht er in der Morgensonne auf einem Balkon. Dort, wo früher sein Elternhaus stand. Deutet mit seinem rechten Zeigefinger gen Horizont. Richtung Alpen. Dort, wo heute die Grenze zwischen Österreich und Slowenien verläuft. Ein Reh springt aufgescheucht aus den Rebstöcken. Rauchschwalben jagen durch die Luft nach Insekten, zwitschern während ihrer akrobatischen Flugübungen. In der Ferne rattert eine Zementmaschine. Ein Hahn aus Ton ziert die Giebelspitze der kleinen Scheune gegenüber. Er ist das Markenzeichen der Region. Die ländliche Legende dazu: Kein Mädchen singt schöner als unser Hahn. Der Belag der Straße ist hier oben aus Schotter. Gewunden führt sie vorbei an Apfelbäumen, Weinbergen, Wäldern, Gewächshäusern. 100 Kilometer südöstlich von Ljubljana in Slowenien. Idyllisch wirkt der Landstrich. Fast friedlich.

Anfang April 1941 zieht hier und im Rest des ehemaligen Jugoslawiens der Krieg ein. Monate später stoppt ein Laster mit deutschen Soldaten vor dem Haus der Familie Kristan. Es ist der 25. Oktober 1941. Das Mittagessen steht auf dem Tisch. »Sie haben eine Stunde, um ihre Sachen zu packen und auf dem LKW zu sein.« So lautet der Befehl. Das Mittagessen bleibt unangerührt. Der jüngere Bruder möchte den Hund mitnehmen. Verboten. Tone Kristan hat den Sommer über gearbeitet, gespart, sich ein neues Paar Schuhe gekauft. Die nimmt der örtliche Kollaborateur, der »Dolmetscher«, mit. Am Hauseingang liegen drei Decken. Tone greift geistesgegenwärtig danach. Rollt sie zu einem Bündel zusammen. Für die Fahrt. Für die Mutter. Deren Wirbelsäule ist gebrochen. Gerade erst ist sie nach einem achtmonatigen Krankenhausaufenthalt nach Hause gekommen. Er denkt an die Schlaglöcher. An die Schmerzen der Mutter. Dann sieht die Familie ihr Zuhause zum letzten Mal.

Die Gebiete Sloweniens, die unter nationalsozialistische Herrschaft geraten, sollten besonders schnell und gründlich »germanisiert« werden. Die slowenische Sprache wurde ausgelöscht. Menschen rassistisch untersucht. Registriert. Nach der NS-Rassentheorie klassifiziert. Selektiert zur »Eindeutschung«

Im Südosten Sloweniens, dort, wo früher Tone Kristans Elternhaus stand.

im »Altreich« oder vertrieben in andere Länder, damit »Volksdeutsche« an ihre Stelle treten. Festgenommen. Verhört. Deportiert. In Konzentrationslager gebracht. In Straflager. In Arbeitslager. Ermordet.1

Nummern

In der Nachmittagssonne thront das restaurierte Brestanica, die ehemalige Reichenburg, auf dem Berg über der Straße, am Fluss Save. Tone Kristan hält an, steigt aus, deutet auf das Schloss. Seine rechteckige Brille tönt sich im Sonnenlicht. Im Oktober 1941 kommt Familie Kristan in die damalige Reichenburg, die zur Sammelstelle umfunktioniert ist, zum zentralen Durchgangslager für die Deportationen der slowenischen Bevölkerung. Dort wird alles erfasst. Dort übergeben sie ihre Ausweise. Ihre Wertpapiere. »Dann haben wir eine Blechnummer um den Hals gekriegt. Ab da waren wir keine Menschen mehr, nur noch Nummern.« Eine Nummer. Eingestanzt auf einer Metallmarke. Mit Paketband um den Hals befestigt. Tone bekommt die Nummer 2422. Er und seine Familie verlassen Brestanica nach zwei Tagen, mit dem zweiten Transport, der nach Deutschland geht. Heute kommentiert Tone Kristan sarkastisch: »Die Reichenburg war für den Export und Import.« Dank der Überredungskunst des Vaters, der auf die angeschlagene Gesundheit seiner Frau aufmerksam macht, bekommen sie ein Abteil im Personenwagen und müssen nicht in die Viehwaggons. Die drei Decken dienen als spartanische Schutzpolster für die Mutter. Nach zwei Tagen fast ohne Verpflegung kommt Familie Kristan am 1. November 1941 in Breslau an. Um ein Uhr nachts. »Nach einigen Tagen habe ich das erste Mal wieder eine Uhr gesehen. Die Bahnhofsuhr in Breslau werde ich nie vergessen.« Sie werden wieder auf LKWs verladen und über die Oder gefahren. »Es war kalt wie Teufel.« Für ihn und seine Familie beginnt ein langer Leidensweg durch verschiedene Lager. Als »Volksdeutsche Mittelstelle« werden die Lager für die Vertriebenen im Deutschen Reich bezeichnet. 249 gibt es davon in Deutschland, 45 in Schlesien und 11 in Österreich.2

Sie landen im Lager in Breslau, einem ehemaligen Kloster, bekommen Strohsäcke, suchen sich einen Platz in einem großen Raum. »Die Polizei drückte immer mehr Leute in den Raum. Das war fürchterlich. Wir haben dort fast aufeinander gelegen. Hatten Hunger und Durst. Kinder haben geweint. Andere gejammert.« Sie müssen das Gebäude für die Deportierten einrichten, Mobiliar verschieben, den Hof sauber machen. Dann erstellen die Behörden Listen mit arbeitsfähigen Personen und ihren Qualifikationen. Zwei Monate sind sie dort. Am 16. Januar 1942 wird Tone Kristan dem Gartenbaubetrieb Rabin zugeteilt, arbeitet am Rand der Stadt, am Hauptfriedhof, ohne Bezahlung. Als Tagesration bekommt der 13-Jährige »ein Stück Brot, durch das man hindurchsehen konnte, manchmal einen Apfel«. Im Sommer beobachten er und seine Kollegen, wie Soldaten und Gefangene auf dem Friedhof ein großes Loch graben. Erklären können sie es sich nicht. Bis eines Tages LKWs vorfahren. »Und dann waren darin Menschenleichen. Das waren viele. Es war ein Massengrab.« Er und seine Kollegen haben Glück. Sie werden nicht gesehen.

Am 20. Januar 1943 wird er ins Lager Juppendorf verlegt, das ehemalige Schloss Guhrau, und im Ort mit zwei Kollegen dem Elektrobetrieb Max Schumann zugeteilt. Seine Kollegen werden nach einem Monat versetzt. Zuerst verhält sich sein Chef brutal und unmenschlich. Dann arbeitet er aber immer mehr mit Tone Kristan zusammen, holt ihn nachts mit seinem Motorrad, einer alten Puch 250, aus dem Lager ab, wenn wieder einmal die Elektrik in der örtlichen Molkerei ausfällt. Kristans Chef arrangiert, dass Tone Kristan in das Haus der Familie umziehen darf. Die Auflage: wöchentliche Meldung bei der örtlichen Polizei. Kontrollen am Arbeitsplatz finden ebenfalls statt. »Aber ich war zufrieden. Sie haben mich nicht wie irgendeinen Clochard behandelt. Die jüngere Tochter hat mir Deutsch beigebracht. In dieser Situation habe ich noch Glück gehabt.« Mit seinem Chef elektrifiziert er Höfe und Häuser, außerdem sind sie für die Betriebswerke zuständig. Er lernt, wie Drähte bezeichnet werden, was der Unterschied zwischen einer Zwick- und einer Kombinationszange ist, wie ein Drahtdurchmesser berechnet wird. Auf einmal heißt es umsiedeln. Tone Kristans Eltern und Bruder sollen nach Klein-Kloden. Ein erneuter Bruch. Er hat Angst und will mit. Dann erfährt er, dass es nur zehn Kilometer entfernt ist, und bleibt.

Für jede Bombe gelacht

Und dann sind da wieder die Schuhe. Seine zerschlissenen Modelle erregen das Mitleid des Dorfschusters. Er verspricht ihm neue, besorgt das Material. Bevor sie fertig sind, nähert sich die Front, die Familie wird erneut umgesiedelt. »Dann war es nichts mit diesen Schuhen. Da bin ich wieder pleite geblieben.« Am 15. Mai 1944 treffen sie in Wernigerode im Harz ein. Dort sind sie im Kloster »Margaretenhof« untergebracht. In der Fabrik »Reiswunderwerk«, die ein Kaffee-Ersatzmittel herstellt, beginnt Tone Kristan als Elektroinstallateur. Untergebracht ist er auf dem Gelände der Fabrik, um Tag und Nacht arbeiten zu können. Bei Fliegeralarm laufen er und seine Freunde in den Wald und nicht in den Bunker. Sie sehen sich an, wie die Flieger bombardieren. »Ich habe für jede Bombe gelacht.« Seine Freude fällt auf: Er muss zur Polizei nach Wernigerode, wird verhört, geschlagen, wenn die Antwort falsch war. Drei Mal muss er zur Polizei. Einmal kommt ein älterer Offizier herein, als er beim Verhör schreit, und fragt, was los sei. Tone Kristans Antworten stellen ihn zufrieden. Er wird zurück in die Fabrik gebracht. Ein anderes Mal holt ihn der Betriebsleiter bei der Polizei ab, weil er ihn dringend braucht. Nun folgt ein Geheimpolizist Tone Kristan auf Schritt und Tritt, beobachtet ihn, sucht seine Freunde heim, verleumdet ihn bei der Polizei, bereitet seine Festnahme vor. Aber Tone Kristans Arbeit wird so geschätzt, dass es vorerst nicht dazu kommt.

Nazi-Gegner, mit denen er in Kontakt steht, unterrichten ihn Anfang April 1945 über seine drohende Verhaftung. Sie bringen ihn in der Nacht in Sicherheit. An einen geheimen Ort in der Nähe von Lautenthal, Ilsenburg. Drei Tage vor der Ankunft der englischen Soldaten erreicht er Lautenthal und findet dort seine Eltern und seinen Bruder. Mehrere Wochen bereiten die Engländer die Rückkehr der Vertriebenen vor. Schließlich halten sie sich vier Tage am Bahnhof von Goslar auf, stellen selbst einen Zug aus Vieh- und Personenwagen zusammen. Kommen nach Braunschweig, von wo aus die Züge nach Jugoslawien starten. Am 15. August 1945 fahren sie los. Bei ihrer Ankunft zu Hause gibt es nichts mehr. »Als wir 1945 zurückkamen, gab es nicht einmal Stroh zum Drauflegen. Da hat sich der Scherz entwickelt: Machen Sie ein paar Züge bereit, dass wir zurückfahren und Stroh holen können.« Nachdenklich fügt er hinzu: »So ist das Leben weitergegangen. Es war nicht allzu viel Schönes. Aber wir haben überlebt. Sogar lange.«

In Tone Kristans Appartement. Links oben eine Zeichnung des Elternhauses, darunter die des Hauses, das er mit seiner Frau bewohnte.

Franc Rovan in der Küche seines wiederaufgebauten Elternhauses.

Ausblicke

Seine Augen blitzen hinter der Brille. Wenn er einen Witz macht und auf die Reaktion wartet. Wenn sich ein Scherz anbahnt nach den präzisen Schilderungen des Schreckens. Wenn er lacht. »Das Leben ist sowieso schon schweinehart. Da sollte man, soweit es möglich ist, Spaß haben. Ich schaue auf die guten Dinge.« Er setzt an: »Wenn ich zurückblicke« und macht eine Pause. »Da bleibe ich besser stehen.« Gelegentlich verdunkelt sich seine Augenpartie. Legt er die Stirn in Falten. Zieht die Augenbrauen zusammen. Wenn er von den Verletzungen erzählt. Von den Demütigungen. Wenn er angestrengt nachdenkt, sorgsam seine Antworten abwägt. Mitunter streicht er mit Daumen und Zeigefinger über die Mundwinkel. Tone Kristan hat viele offene Fragen: »Habe ich mit meiner Familie und den anderen Vertriebenen nach Deutschland, Serbien, Kroatien und Bosnien nach dem deutschen Gesetz das Anrecht auf eine Entschädigung? Wenn dem so ist, werden wir sowohl für das materielle wie das immaterielle Leid entschädigt, das uns zugefügt wurde?« Diese Fragen beschäftigen nicht nur Tone Kristan. Sie beschäftigen viele Menschen in Slowenien.

Auf dem kleinen Bauernhof, der sich an den Fuß eines Hügels schmiegt und in einer Kurve des Sopota-Tals am Fluss liegt, bellt ein Husky und kündigt den Besuch an. Franc Rovan, der heutige Präsident der Vereinigung, wartet im Wohnzimmer des alten Wohnhauses. Er ist ein hochgewachsener, hagerer Mann mit kurzem, weißem Haar und blauen Augen. Das schwarz-weißblau karierte Hemd steckt in einer hellen Hose. Seine beiden Brüder Willi und Stanko sind ebenfalls zu Hause. Willi hat sich die Hüfte gebrochen und stützt sich auf Krücken. Franc Rovan hilft ihm jetzt auf seinem Hof, den der Bruder nicht weiterbetreiben kann. Zehn Milchkühe stehen noch in einem schmalen, langgestreckten Stall. Sie sind bereits verkauft. Die Nachmittagssonne spendet dort ein wenig Licht. Vor dem Stall erzählt Franc Rovan, wie ihm die Blüten der Brennnesseln zum Verhängnis wurden. »Als wir am 9. September 1945 auf unseren Hof zurückgekommen sind, war alles zerstört. Dort standen nur noch Brennnesseln. Ich dachte, die Blüten wären weiße Rosen. Ich lief auf sie zu, griff hinein, verbrannte mir die Hand und weinte nur noch. Ich war damals dreieinhalb Jahre alt.« Es gab kein Baumaterial, kein Essen, keine Form der Unterstützung. Fast vier Jahre brauchte die Familie, um den Hof wieder aufzubauen. »Niemand hat eine Entschädigung bekommen. Keine materielle Entschädigung. Wir bekommen heute eine Rente, aber die bezahlen wir uns selbst. Vom Okkupator haben wir nichts bekommen.« In der bescheidenen Küche des Hauses hängt ein gemaltes Bild von einem Walnusskuchen, dem populären Potica. Im Radio neben der Eckbank läuft Popmusik. Franc Rovan und Tone Kristan berichten von den Anfängen ihrer Organisation.

Am 21. August 1997 gründet sich die Vereinigung in Kranj. Der Auslöser: Wegen des guten Verhältnisses zwischen Deutschland und Slowenien fordert das kleine Balkanland keine Entschädigung von der Bundesrepublik. Aber die Verfolgten und Überlebenden fordern Entschädigungen: für die materiellen und immateriellen Schäden. Dafür setzt sich die Vereinigung seither ein. Am 8. Januar 1998 schicken sie den ersten Brief an die deutschen Behörden und fordern eine Entschädigung. Die Reaktion: Aufruhr und Abwehr auf deutscher Seite. Antworten von allen Seiten, per Mail, per Brief, dass Deutschland alles bezahlt habe, sie alles bekommen hätten, nicht mehr berechtigt seien. »Sie dachten, in Slowenien sei irgendjemand verrückt geworden, und haben sich gefragt, von wo wir gekommen sind. Als ob vorher kein Slowenien dagewesen wäre«, erzählt Tone Kristan eindringlich.

Franc Rovan fällt ihm ins Wort. »›Wer sind Sie?‹, haben sie uns ständig gefragt.« Joschka Fischer sagt ihnen, wenn ihre Regierung ihre Sache übernehmen würde, könnten sie reden. Aber mit einem Verein der Zivilgesellschaft seien solche Verhandlungen nicht möglich. Zwei Mal schreibt der Anwalt der Vereinigungden Präsidenten Sloweniens an und bittet um ein Treffen mit ihm und Tone Kristan. Dazu kommt es nicht. Es folgen Briefwechsel, Protestaktionen und ein Abschlussbericht des Bundestages. Die Bundesrepublik beruft sich auf die Kapitalhilfeabkommen und Kredite. »Aber Kredite sind keine Entschädigungen für die slowenischen Opfer«, kommentiert Tone Kristan. In einem seiner zahlreichen Schreiben an die verschiedenen Bundesregierungen listet er genau auf, was für Beträge die Vereinigung für die Opfer vorschlägt. Und er erinnert an die bereits geleisteten Entschädigungen. »Vergessen Sie nicht, dass schon mehr als zwei Drittel der slowenischen Opfer entschädigt wurden – mit Gräbern.«3

In den 1950er und 1960er Jahren schloss die Bundesrepublik »Entschädigungszahlungen nach Osteuropa grundsätzlich aus«.4 Und eine diplomatische Klausel im BEG (§ 4) besagte, dass neben den Einschränkungen des Territorialprinzips nur diejenigen Anspruch auf Entschädigung hätten, die ihren Wohnsitz oder dauerhaften Aufenthalt in Staaten hatten, mit denen die Bundesrepublik diplomatische Beziehungen unterhielt oder die sie so behandelte, »als ob mit ihnen diplomatische Beziehungen unterhalten worden wären« (BEG-SchlG § 238a). »Die diplomatische Klausel war eine entschädigungsrechtliche Form des Kalten Krieges.«5 Ausnahmen bildeten die Verhandlungen der Bundesrepublik mit Jugoslawien, die oft als »Brioni-Formel« wiedergegeben werden. Die Bundesrepublik konnte mit ihrer Interpretation von Devisen als indirekten Wiedergutmachungen weitere Entschädigungsforderungen aus Osteuropa abblocken. Aber diese Kapitalhilfeabkommen kamen nicht den Betroffenen von NS-Verbrechen zugute, wie Tone Kristan zu erzählen weiß.

Am 10. März 1956 schloss die Bundesrepublik einen Vertrag mit Jugoslawien über die »wirtschaftliche Zusammenarbeit und die Regelung von Ansprüchen auf Entschädigung für nicht realisierbare Restitutionen und von Ansprüchen gegen die deutsche Verrechnungskasse«.6 Der umfasste 300 Millionen DM, von denen 240 Millionen als Kredit galten. Am 25. April 1961 folgte ein Globalabkommen mit Jugoslawien über die Entschädigung von Opfern pseudomedizinischer Versuche, das am 7. September 1963 nachdotiert wurde.7 Details dazu sind nicht veröffentlicht. Am 20. Februar 1972 kam ein Kapitalhilfeabkommen mit Jugoslawien über 300 Millionen DM zustande.8 Dem folgte am 10. Dezember 1974 ein weiteres Kapitalhilfeabkommen, Brioni-Formel genannt, über 700 Millionen DM, um »noch offene Fragen aus der Vergangenheit durch langfristige Zusammenarbeit auf wirtschaftlichen und anderen Gebieten zu lösen«.9 Jugoslawien zahlte insgesamt 1,24 Milliarden DM an die Bundesrepublik zurück. Übrig blieben 60 Millionen DM, die den Opfern nationalsozialistischer Medizinexperimente zugute kamen. Slowenische Opfer erhielten davon12 Millionen DM.10 Im Rahmen der sogenannten Hirsch-Initiative vom 4. und 5. Mai 1998 erhielten 1.600 ehemalige KZ-Häftlinge und gestohlene Kinder einmalig je tausend DM. Im Gesetz der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« wurden außer den KZ-Häftlingen keine slowenischen Opfer berücksichtigt. Erst nach Interventionen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) wurden auch sogenannte gestohlene Kinder berücksichtigt. Willkürlich erhielten 9.505 Personen Entschädigungen für Zwangsarbeit (3.202 KZ-Häftlinge und gestohlene Kinder) und für materielle Schäden (2.342 Familien).11 Tone Kristan merkt an, dass es 180.000 Opfer der Okkupation gibt, von denen heute nur noch 30.000 leben. Nach wie vor beruft sich die Bundesregierung auf ihre »erhebliche(n) Beiträge« zur Wirtschaftshilfe, mit denen »offene Fragen der Vergangenheit gelöst werden sollten«. Und führt ebenfalls die Hirsch-Initiative an. Das Fazit der Bundesregierung: »Darüber hinaus sieht die Bundesregierung keinen Handlungsbedarf.«12

Werte

Im slowenischen Parlament gibt es ebenfalls eine Diskussion zu Entschädigungen, die schnell in einen politischen Schlagabtausch zwischen Links und Rechts mündet. Da sagt Tone Kristan: »Und wo sind wir als Opfer?« Am 8. Mai 2002 protestieren sie vor dem Regierungsgebäude in Ljubljana. Das Resultat: Eine Regierungskommission will sich dem Thema widmen. Die ständigen Regierungswechsel untergraben jedwede Kontinuität der ebenfalls ständig neu besetzten Kommission. Zu Verhandlungen zwischen Slowenien und Deutschland kommt es nicht.

»Es geht nicht um das Geld. Es geht um den Vertrag oder ein Gesetz über diese Entschädigung, in dem beschlossen wird, was wer pro Monat bekommt.

Rittersaal im Posavje Museum in Brežice: Tone Kristan auf dem Weg zur Ausstellung über die Okkupationszeit.

Es geht um einen Gegenwert. Eine materielle und immaterielle Entschädigung für unser Leid. Wir hatten nicht viel, aber das, was wir hatten, war für uns viel wert«, stellt Tone Kristan klar. Und fügt resigniert hinzu: »Nicht mal im Traum hätte ich daran gedacht, dass die deutsche Regierung darauf nicht reagieren würde. Ich war fest davon überzeugt, wie alle anderen, dass wir berechtigt sind. Ich kann mich mit verschiedenen Auffassungen auseinandersetzen, aber nicht beleidigt werden, nach allem, was passiert ist.«

Am 22. August 2011 schreibt Tone Kristan einen Abschiedsbrief an die deutsche Regierung. Und wählt deutliche Worte: »Wir sind zutiefst verletzt über das, was wir in den letzten Jahren ertragen mussten. Die Enttäuschung über einen Staat, der sich für demokratisch, sozial und rechtfähig hält, ist groß. Wir sind fest davon überzeugt, dass wir eine materielle und immaterielle Entschädigung bekommen müssten, vor allem weil von den 180.000 Opfern nur noch 30.000 bis 35.000 übrig geblieben sind. Uns bleibt jetzt nichts anderes übrig, als dieses Kriegsleiden und die großen Schwierigkeiten, mit denen wir uns nach unserer Rückkehr auseinandersetzen mussten, als wir mit Schwielen und hungernd das Nötigste fürs Überleben aufbauen mussten, zu vergessen. Wir hoffen, dass die BRD mit diesem Kleingeld, das uns gehört hätte, reich werden wird. Wir haben für das Reich vier Jahre Sklaverei durchlitten. Ich habe mir gedacht, dass ich diese Geschichte niederschreiben muss, damit alle Bürokraten, die für dieses Fiasko verantwortlich sind, wissen, dass hier ein Volk existiert hat und noch immer existiert, das nicht wegen dem eigenen Verschulden viel durchlitten und verloren hat (nicht nur in materieller Hinsicht).«

Er endet mit einer Erinnerung: »Ansonsten beende ich nach 13 Jahren mit diesem Brief die Korrespondenz mit den deutschen Behörden zu diesem Thema. Wir haben so viel durchlebt, also werden wir auch das, wenn auch mit einem faden Beigeschmack, überleben. Am Ende will ich noch einmal an die gültige gesetzliche Bestimmung erinnern, dass Kriegsverbrechen NIE VERJÄHREN!«13

Erinnerungsorte

Und wie gestaltet sich die Erinnerung an die Okkupationszeit von 1941–1945 in Slowenien? Verschieden. Das Posavje Museum in Brežice ist fast fertig renoviert. Und wirbt mit seinem imposanten Rittersaal für Hochzeiten. Unter säkularen, barocken Fresken stehen spiegelgleiche Stuhlreihen. Sie bieten Platz für 280 Gäste. So viele Besuchende hat die ehemalige Renaissance-Festung heute nicht. Die hellen, großzügig gestalteten Ausstellungsräume im zweiten Stock präsentieren eine Zeitreise von der Vorgeschichte bis in die 1950er Jahre. Vorbei an Äxten und Waffen aus dem Bronzezeitalter, Tongefäßen, Malereien, Porträts auf Staffeleien geht es weiter durch den Rittersaal. Schließlich gelangen die Besuchenden in einen Raum im Seitenflügel des Museums.

Eng aneinandergereiht stehen dort fast zwei Meter hohe Informationstafeln. Im Eingangsbereich zeigen sie Fotografien von Nazigrößen. Darüber prangen rote Schriftzüge auf Deutsch wie »Verordnung« oder Hakenkreuze. Dazwischen gestreut sind Informationstexte auf Slowenisch und Englisch. Im Innenraum informieren Stellwände mit Fotografien von Partisanen und Berichten über ihren Widerstand. In den Ecken des kleinen Raumes das gleiche Darstellungsmuster. Fotografien auf Stellwänden. Mit Kindern auf Schulbänken, Menschen auf Lastwagen. Dazwischen Textpassagen zur Vertreibung, Erziehung und Arbeit im Exil. Ergänzt mit Originalen historischer Dokumente. In Vitrinen liegen Exponate. In einer: Armbinden mit der Aufschrift »Deutscher Volkssturm Wehrmacht«, Siegelringe, Gürtelschnallen der deutschen Infanterie. In einer anderen: eine Kamera, sogenannte Kennausweise, andere Dokumente der Deportierten. Tone Kristan deutet auf eine der Vitrinen. »Das sind die Metallmarken mit der Nummer, die wir bekommen haben. Die Nummer, auf die wir reduziert wurden.« Der Raum behandelt die Okkupationszeit von 1941–1945. An den Seitenflanken sind hinter Glas die Waffen der Partisanen zu sehen.

Später, im Innenhof der Festung, kritisiert Tone Kristan die Ausstellung. »Natürlich brauchen auch Tongefäße ihren Platz, aber hier ist die Okkupationszeit ganz hinten, ganz versteckt in einen Raum gequetscht worden. Und nicht anschaulich präsentiert. Die einzelnen Sachen sind nicht gut sichtbar, sondern verdecken einander. Es wirkt so, als ob die Ausstellung unerwünscht ist.« Aber in diesem Schloss sei schließlich genug Platz. Er will einen Brief an die Museumsleitung schreiben. Die Malereien auf der Sonnenuhr im Innenhof der ehemaligen Festung blättern ab. Mit einigen Zeiten der jüngeren Vergangenheit scheint es die Museumsleitung nicht so genau zu nehmen.

Die schmale Schotterstraße schraubt sich den Berg hinauf. Tone Kristan kennt die Serpentinen im Schlaf. Es geht zum Weinberg seines guten Freundes. Ivan erwartet bereits den Besuch. Zeigt bescheiden seinen Weinkeller, erklärt die Apparaturen, lächelt freundlich, zurückhaltend. Klopft an die Edelstahl-Behältnisse, kommuniziert so: Die sind nicht voll. Der Hagel vor einer Woche hat alle Reben seines Weinbergs zerstört. Drei Jahre wird es bis zur nächsten Ernte dauern. Ivan ist untröstlich. In der kleinen Küche hängen mehrere Auszeichnungen für seine Weine an den Wänden. Draußen stehen zwei solide Holztische. Sie sind bald mit Tischdecken in leichtem Grün dekoriert, die gelb-schwarze Blüten und Blumen zieren. Hier kann der Blick über die von den Alpen eingerahmte Tiefebene schweifen. Ein Adler kreist über den Weinbergen. Kohlweißlinge flattern um die Tomatenpflanzen. Der Wein wird in Karaffe und Krug kredenzt. Cviček, ein spezieller Rotwein aus mehreren Traubensorten, und Weißwein. Dazu frisches Weißbrot. Eine Käse- und Wurstplatte. Ivan und Tone kennen sich seit über 40 Jahren. Ivan ist auch in der Vereinigung organisiert. »Aber hier oben«, erklärt Tone Kristan, »da werden die Augen ganz schön gesund.« Beide lächeln und prosten sich zu. Na zdravje.

Tone Kristan, der 84-Jährige, nimmt sich Zeit und fährt mit uns zu Orten der Erinnerung. Ljubelj liegt an einer belebten Straße in Slowenien. Kurz vor der österreichischen Grenze. Ab 1943 diente es als Außenlager des Konzentrationslagers Mauthausen. Am 3. Juni 1943 kamen die ersten Insassen an. Ihre Aufgabe: den sogenannten Loibl-Tunnel zu bauen, durch die Berggruppe der Karawanken. Am 4. Dezember 1944 fuhr das erste Auto durch den Tunnel. 1.039 Häftlinge waren bei der Befreiung durch Partisanen am 28. April 1945 noch im südlichen und nördlichen Teil des Lagers. Aktuell dient der Keller des Wirtshauses als Ausstellungsort. Dort schlägt Besuchenden ein modriger Geruch entgegen. In einer der Vitrinen liegt das Tagebuch des Partisanen Janko Tisler. Ein karierter Spiralblock im A7-Format. Fein säuberlich mit Bleistift beschrieben. Mit Plänen zur Befreiung von Gefangenen. Ein Exponat im kargen Keller von Ljubelj.

Gedenkstätten

Draußen führt durch Klee, Wiesenschaumkraut und Löwenzahn ein schmaler Trampelpfad vom Parkplatz zum Memorial. Inmitten der fünf Steine reckt ein Skelett seine Hände gen Himmel. Der Schriftzug »J’accuse« (Ich klage an) umschließt den Sockel der Statue. Eingestanzt auf Beton. Den Übergang zum Gedenkort auf der anderen Straßenseite soll ein Zebrastreifen gewährleisten. Mitten auf einer Schnellstraße in den Serpentinen. Tempolimit für die Passage: 60 km/h. Eine Überwachungskamera dient der Kontrolle. Vor einigen Jahren haben Unbekannte beide Erinnerungsorte verwüstet, Gedenktafeln entfernt und sie in die umgebenden Wiesen geworfen. Am Eingang des ehemaligen Lagers steht heute eine Informationstafel aus silbernem Metall. Schemenhaft ist der Lageplan zu erkennen. Der Rest ist ausgeblichen. Unlesbar. Grillen zirpen in der Mittagshitze. Das Fundament der früheren Lagerküche ist tiefergelegt. Ebenerdig stützen vier horizontale Querstreben den Bau. Im Inneren ein kleiner Grünstreifen. Wild gewachsene Tannen, wieder Wiesenschaumkraut, Alpenveilchen, Gräser. Gedenksteine aus Beton an den Wänden. Mit den Namen verschiedener Konzentrationslager. Darauf Steine. Darunter verrostete Metallhaken. Unter Ravensbrück hängt daran ein Kranz. Auf dem Boden steht ein elektronisches, blinkendes Grablicht. Eine Gedenkstätte ist hier seit langem geplant. Der Bürgermeister der Gemeinde kann fünfzig Prozent davon finanzieren. Der Staat soll den Rest aufbringen. Aber der fehlt. »Es ist schon traurig, wie es hier aussieht«, seufzt Tone Kristan und verschränkt seine Hände hinter dem Rücken. Leicht gebeugt geht er über das unebene Gelände, hält kurz inne und blickt auf.

Ljubelj diente ab 1943 als Außenlager des Konzentrationslagers Mauthausen. Durch die Berggruppe der Karawanken mussten die Inhaftierten den sogenannten Loibl-Tunnel bauen.

Die Fahrt geht weiter. Über »Ziegenstraßen«, so nennt Tone Kristan die Schleichwege durch die Berge. Abseits der Hauptstraßen. Begunje liegt 20 Kilometer südwestlich von Ljubelj, am Fuß der Karawanken. Von den Berghängen sind Kuhglocken zu hören. Im ehemaligen Schloss Katzenstein befindet sich heute eine Psychiatrie. Das Geiselmuseum (Muzej Talcev) ist im nordwestlichen Seitenflügel untergebracht. Dort richtete die Gestapo während der Besatzungszeit ein Gefängnis mit Folterkammer ein. Heute sind die Gefängniszellen zu einem Museum umgestaltet. Am Eingang ein schmaler Bereich mit Informationsmaterial. Dahinter links ein langer Gang, von dem zehn Zellen nach links abgehen. Alle gleich groß, ca. zehn Quadratmeter. Mit einer massiven Holztür, einem Guckloch, Eisenriegeln unten und oben. Außen am Boden kleine Holztüren, durch die die akustische Folter der Gefangenen stattfand. Vergitterte Fenster mit 24 Streben, sechs quer, vier längs. In den Zellen Ritzereien. Zahlen, Striche in einer fortlaufenden Reihe. 49 sind es in einer. Detaillierte Zeichnungen vom Gelände mit seinen Gebäuden. Ein Kopf im Profil. Ein Stiefmütterchen, andere Blumen. Nachrichten wie »Meine Liebe, ich denke an dich«. Gespaltene Herzen. In Zelle sieben steht »Memento Mori« (Bedenke, dass du sterben musst). An einigen Stellen blättert der Putz von den Wänden. Unter den Inschriften: Leisten mit LED-Leuchten. Darüber: Scheiben aus Plexiglas. In Weiß schimmern die Mitteilungen der ehemaligen Gefangenen hervor. Im Zellengang prangen in Schulterhöhe A3-Plakate. Mit dem immer gleichen Titel: »Bekanntmachung«. Objava. Auf Deutsch und Slowenisch. Darunter die vorgeworfene Tat. Dann folgt »Hingerichtet« oder »Zum Tode verurteilt«. Darunter die Namen der Verurteilten. Mit dem Zusatz am unteren Rand: Das Urteil wurde sofort vollstreckt. Mehr als 12.000 Menschen befanden sich hier in Haft. In der gesamten Oberkrain wurden etwa 1.200 Geiseln erschossen. Davon fast 900 im Schlossgarten des Gefängnisses.

Zum Park mit den Grabstätten für die Ermordeten führt eine schmale Brücke über einen Bach. Eine selbstgebaute Wassermühle aus Stöcken und Plastikdeckeln transportiert unermüdlich verschwindend geringe Wassermengen. Patienten der Psychiatrie und ihr Besuch ruhen sich auf den Bänken unter hochgewachsenen Bäumen aus oder gehen spazieren. Helle Kieselsteine weisen den Weg zwischen den Grünflächen zu den Grabsteinen. Die grauen, gleich gestalteten Quader tragen die Namen der Ermordeten. Anhand der Listen sind sie identifiziert, aber nicht exhumiert aus den Massenerschießungsplätzen in den umgebenden Wäldern. Talka heißt eine Erinnerungsstatue aus Marmor in der Mitte des Platzes. An die inhaftierten Frauen soll sie erinnern. Plötzlich wirbeln vertrocknete Blätter auf. Wie ein kleiner Schwarm Vögel, der aus dem Nichts kommt, in einen Strudel gerät, sich verspielt in den Himmel schraubt und sanft zu Boden sinkt. Die Kirchturmglocke schlägt drei Mal. Die frühere Glocke der Kirchengemeinde diente den Gefangenen als Orientierung, als Erinnerung, als Kompass in der verlorenen Zeit. Als ein eigenes Mahnmal steht sie Richtung Ausgang.

In Deutschland gibt es eine Gedenktafel, die an die slowenischen Deportierten erinnert. Es ist die einzige. Seit dem 15. Mai 2007 hängt sie in Wernigerode. Dort angebracht und finanziert hat sie die Vereinigung. »Damit es nicht in Vergessenheit gerät« titelt sie in Großbuchstaben. Wie die Auseinandersetzung um Entschädigungen für die Okkupationsopfer Sloweniens ausgeht, steht nicht fest. Ein wenig Ausdauer hat Tone Kristan noch. »Wenn ich etwas annehme, bin ich von Anfang bis Ende dabei. Was auch dabei rauskommt: entweder ein Bär oder ein Elefant.«

Zu ihrer Wiederwahl 2013 gratuliert Tone Kristan Angela Merkel nicht. Ende September 2015 spricht er zur 2. Auflage des Buches Entrechtung, Vertreibung, Mord im Dokumentationszentrum »Topographie des Terrors« in Berlin. Er berichtet von den Versuchen der Vereinigung, eine Entschädigung zu bekommen. Und zieht eine Zwischenbilanz: »Bis jetzt ist noch nichts geschehen. Die deutschen Behörden und die deutsche Öffentlichkeit wissen nichts über den Krieg in Jugoslawien.« Das versucht die Vereinigung bis heute zu ändern.

Tone Kristan auf seinem Balkon.

1 Vgl. Gerhard Jochem/Georg Seiderer (Hg.): Entrechtung, Vertreibung, Mord. NS-Unrecht in Slowenien und seine Spuren in Bayern 1941–1945, Berlin 2005. 2. Auflage 2014.

2 Združenje Žrtev Okupatorjev 1941–1945, Kranj: Damit es nicht in Vergessenheit gerät. Die Liste der Lager von slowenischen Vertriebenen in Deutschland 1941–1945, Kranj 2009, S. 1-7.

3 Združenje Žrtev Okupatorjev 1941–1945, Kranj: Forderungen der Združenje Žrtev Okupatorjev 1941–1945 zur Entschädigung der NS-Opfer in Slowenien, September 2000 (http://www.zdruzenje-zrtev.si/RIJO/6.htm).

4 Krzysztof Ruchniewicz: Deutschland und das Problem der Nachkriegsentschädigungen für Polen, in Hans Günter Hockerts/Claudia Moisel/Tobias Winstel (Hg.): Grenzen der Wiedergutmachung, Die Entschädigung für NS-Verfolgte in West- und Osteuropa 1945–2000, Göttingen 2006, S. 736.

5 Hockerts/Moisel/Winstel 2006, S. 39.

6 Bundesministerium der Finanzen (BMF): Kalendarium zur Wiedergutmachung von NS-Unrecht, Berlin 2012, S. 8.

7 Ebd., S. 10.

8 Ebd., S. 11.

9 Ebd.

10 Združenje Žrtev Okupatorjev 1941–1945, Kranj: Kommentar zur Antwort der Bundesregierung vom 16.8.2006 - Kleine Anfrage (http://www.zdruzenje-zrtev.si/kako_obvescamo_pripombe.asp).

11 Ebd.

12 Deutscher Bundestag, 16. Wahlperiode, Drucksache 16/2423, Fehlende Entschädigung für NS-Opfer, 21.8.2006, S. 9.

13 Združenje Žrtev Okupatorjev 1941–1945, Kranj: Ersatz-Einleitung, 22.8.2011 (http://www.zdruzenje-zrtev.si/kako_obvescamo_ersatz-einleitung-2011-08-31.asp).

DeutschlandZimmer mit Aussicht Die ehemals inhaftierten und als »asozial« kriminalisierten Frauen im Konzentrationslager Ravensbrück zählen zu den ausgegrenzten Verfolgten des Nationalsozialismus und führen schon seit langem einen Kampf um öffentliche Anerkennung und Entschädigung.

Ilse Heinrich vor der Kommandantur des ehemaligen Konzentrationslagers Ravensbrück.

»Dort haben wir unser Zimmer mit Panoramablick. Da sehen wir, wer ein und wer aus geht und haben alles im Blick. Bis zum Tor«, erklärt Ilse Heinrich. Die letzten drei Worte spricht sie stakkatoartig. Beim Wort »Tor« rollt sie das R, wird ihre Stimme strenger. »Wo ich gekrochen bin«, sagt sie jetzt leise, fällt in das Sofa zurück und knetet konzentriert ihre gelbe Serviette. »Auf allen Vieren bin ich da im April 1945 hinausgekrochen. Da habe ich schon fast nicht mehr gelebt. Es war die Hölle. Keiner sollte mehr lebend rauskommen.«

Ausgerechnet der Panoramablick. Auf den Eingang des ehemaligen Konzentrationslagers Ravensbrück. Zu Anfangkonnte Ilse Heinrich in der Gästewohnung der Gedenkstätte nicht schlafen, die genau gegenüber der ehemaligen SS-Kommandantur liegt. Das gehe erst seit vier Jahren. Es hat sie viel Kraft gekostet. »Ich seh dat ja immer noch, das Bild.« Eines der vielen Bilder, die sie nicht loslassen. »Sie wussten nicht, wohin mit den Toten. Die Öfen haben nicht mehr gearbeitet. Abseits in der Ecke, neben dem Haupttor, wo man als Erstes reinkam, habe sie ein riesiges Loch gebuddelt. Es sind ja noch Massen gestorben. Da haben sie die Toten reingeschmissen. Und dann was drübergestreut. Ich sehe noch heute das Bild, wie meine Kameradinnen da drinliegen. Kreuz und quer.« Dann fügt die 88-Jährige gedämpft hinzu: »Es hat nicht viel gefehlt, dann wäre auch ich da eingebuddelt worden. Oder durch den Ofen gejagt worden«, und blickt gedankenverloren auf die Serviette in ihren Händen.

Ilse Heinrich erinnert sich an viele Ereignisse ihres Lebens, ihrer Verfolgung. Sie erzählt ihre Geschichte Anfang März 2013 auf dem cremefarbenen Sofa in ihrer Wohnung in Berlin, Mitte des Monats vor Auszubildenden von Siemens in Ravensbrück, sie erzählt sie Mitte April vor der Jugendgruppe der Feuerwehr in Rathenow. Echos der Vergangenheit, die bis heute widerhallen. »Man muss sich das so vorstellen: Ich lauf die ganze Strecke ab, hier oben im Gehirn. So wie ich reingekommen bin, wat ich da erlebt habe, bis ich gekrochen bin.« Der Weg der Erinnerung. Brutal angelegt – seit Jahren behutsam wieder begangen. Manchmal verzweifelt sie mitten in der Erzählung. »Das kann man gar nicht so wiedergeben. Man muss das persönlich erlebt haben. Das kostet immer wieder Nerven, immer wieder Kraft. Das wieder zu erzählen und wieder zu erzählen.« Und fügt ebenso verzweifelt wie verantwortungsbewusst hinzu: »Aber es soll doch nicht vergessen werden.« Und deswegen geht sie immer wieder nach Ravensbrück. An den Ort, an dem sie fast umgebracht wurde.

Abgestempelt

Ilse Heinrich wird 1924 als drittes Kind einer Bauernfamilie in Hornstorf geboren. Als Ilse Zietz. Früh muss Ilse bei der Feldarbeit helfen. Ein Landmensch wird aber nie aus ihr. Charlotte Kroll, ebenfalls Ravensbrück-Überlebende und eine sehr gute Freundin, neckt sie heute auf der Fahrt in die Mahn- und Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers. »›Ilse, kiek mol links, kiek mol rechts.‹ Die Felder, links und rechts, soll ich mir angucken, weil sie genau weiß, dass mir graut, wenn ich die sehe.« Als sie vier ist, stirbt ihre Mutter an Tuberkulose. Ein Verlust, den sie nie verkraftet. Die fehlende Mutterliebe ist ein Thema, das sie bis heute beschäftigt und belastet. Die zweite Frau ihres Vaters hat kein Verständnis für sie. Nach ihrem Schulabschluss 1939 möchte sie Schiffs- oder Säuglingsschwester werden. Und in der Stadt leben. Stattdessen muss sie bei einem Bauern arbeiten und reißt immer wieder aus. »Ich hab die Arbeit verweigert und dadurch bin ich abgestempelt worden. Als Asoziale. Weil ich mich dagegen gewehrt habe. Das haben sie als asozial eingestuft.« Dabei wollte Ilse Heinrich nur in die Stadt und ihren Traum verwirklichen. »Aber ick war nun verdammt als Landmensch, weil das Gesetz so war. Heute lacht man darüber. Wie kann das angehen? Das kann man sich heute nicht mehr vorstellen, wie das ist, wenn man kein freier Mensch ist. Und nicht frei entscheiden kann. Darum geht das, dass man nicht frei entscheiden konnte.«

In Ilse Heinrichs Küche: Daten für ihre Zeitzeuginnengespräche.

Als »arbeitsscheu« und »asozial« klassifiziert, wird sie am 3. November 1943 ins Arbeitshaus Schloss Güstrow eingeliefert. Wird dort zwangsweise und haftähnlich untergebracht. Muss dort Feld- und Gartenarbeit leisten. Bis zum 1. August 1944. »Wir sollten uns fertig machen und unsere Sachen packen. Du dachtest, du gehst nach Hause. Und dann steht da die grüne Minna im Hof. Wir wussten nicht, wo wir hinkamen.« An dem Tag wird Ilse Heinrich ins Konzentrationslager nach Ravensbrück deportiert.

Verfolgung

Die Grundlage lieferte der »Grunderlass Vorbeugende Verbrechensbekämpfung« vom 14. Dezember 19371, auch wenn es schon vorher Möglichkeiten gab, sogenannte »Asoziale« in Konzentrationslager zu sperren. Unter Ausschaltung der Gerichte konnte nun, wer »ohne Berufs- und Gewohnheitsverbrecher zu sein, durch sein asoziales Verhalten die Allgemeinheit gefährdet« via kriminalpolizeilicher Vorbeugungshaft in ein Konzentrationslager eingewiesen werden. Zwar erfolgte eine Konzentrationslagerhaft immer unter Ausschaltung der Gerichte. Neu war, dass die Kategorisierung eines Menschen als »asozial« ein dezidierter Verfolgungsgrund wurde und nun auch die Kriminalpolizei einweisen konnte. Der Grunderlass ermächtigte die Kriminalpolizei dazu, sogenannte »Gemeingefährliche« und »Asoziale« in Jugendkonzentrationslagern zu inhaftieren. Die Überstellung von Patienten in Heil- und Pflegeanstalten war Teil der »T4-Aktion«. Davon waren auch Patienten betroffen, die aufgrund des »Gewohnheitsverbrechergesetzes/den Maßregeln zur Sicherung und Besserung« zwangsweise in die Psychiatrie eingeliefert und dort, aufgrund der Angaben in den Meldebogen, für die Transporte selektiert wurden. Interniert wurden sogenannte Asoziale weiter auch in Arbeitshäusern, Arbeitslagern oder anderen geschlossenen Anstalten.

Dennoch blieb die Definition »asozial« unscharf. »Als asozial gilt, wer durch gemeinschaftswidriges, wenn auch nicht verbrecherisches Verhalten zeigt, dass er sich nicht in die Gemeinschaft einfügen, […] sich der in einem nationalsozialistischen Staate selbstverständlichen Ordnung nicht fügen will.«2 Abweichendes Verhalten von den willkürlich definierten, nationalsozialistischen Normen der »Volksgemeinschaft« wurde biologisiert, sexualisiert und kriminalisiert. Fortan dienten Zuschreibungen wie »arbeitsscheu«, »gemeinschaftsfremd«, »Volksschädling« und Zuschreibungen wie »sexuell verwahrlost« als Etikettierungen, unter die hauptsächlich soziale Minderheiten fielen und die Inhaftierungen nach sich zogen.3 Auch viele Roma und Sinti wurden mit der Zuschreibung »Asoziale« verfolgt. Im Unterschied zu anderen »Asozialen« und »Berufsverbrechern« wurden sie jedoch nach Auschwitz deportiert.

Dem Grunderlass folgte im Frühjahr und Sommer 1938 eine Verhaftungswelle im Rahmen der Aktion »Arbeitsscheu Reich«. Mehr als 10.000 Personen wurden als sogenannte »Asoziale« in Konzentrationslager verschleppt und dort mit dem schwarzen Winkel gekennzeichnet. Ab dem 1. Juli 1939 überwachten die Reichszentrale zur Bekämpfung der Jugendkriminalität und die weibliche Kriminalpolizei Kinder und Jugendliche, die »erblich kriminell belastet scheinen«. Sie wendeten polizeiliche Zwangsmittel an, ließen Jugendliche einweisen und legten eine »Asozialenkartei« an. Später war die Reichszentrale für Jugendkonzentrationslager wie Moringen und Uckermark verantwortlich. Gemäß der politischen Erfordernisse gab es hier eine geschlechtsspezifische Entwicklung: In der ersten Phase richtete sich die »Asozialenverfolgung« vor allem gegen Männer, ab der Kriegszeit mehr gegen Frauen, Kinder und Jugendliche. Eine Ausnahme stellte die Umsetzung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) dar. In diesem wurde »asozial« in die Diagnose »Schwachsinn« übersetzt.

Mit Beginn des Krieges konzentrierte sich die Kriminalpolizei verstärkt auf bestimmte Personengruppen, zu denen u.a. die »Asozialen« zählten, unter ihnen besonders Frauen, Kinder und Jugendliche. In der Folge stieg die Zahl der als »asozial« Verfolgten an. Außerdem sollten für die wirtschaftlichen Anforderungen des Krieges billige Arbeitskräfte gewonnen werden. Das machte sich auch im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück bemerkbar. Im Mai 1939 war laut einer Häftlingsstärkemeldung ein Viertel der Häftlinge in Ravensbrück als »Asoziale« gelistet: 240 von insgesamt 974 Frauen. Im Februar 1942 ist die Zahl auf das Achtfache angestiegen und betraf nun 1.976 Häftlinge von insgesamt 7.216 Frauen.4 Insgesamt waren in Ravensbrück 5.742 Frauen und 716 Männer als sogenannte Asoziale inhaftiert.5

Strafen

Am 1. August 1944 wird auch Ilse Heinrich zu einer »Asozialen« gemacht. »Ich hab den schwarzen Winkel gehabt. Schwarz war asozial. Daran konnte man sehen, welcher Gefangene was gemacht hatte und warum er überhaupt da war.« In Ravensbrück beginnt für sie eine grausame Zeit. »Namen hatten wir nicht mehr. Wir waren nur noch eine Nummer. Damit machten sie uns kaputt. Ob das Essen war. Ob das Kleidung war. Ob das die Strafen waren. Damit wollten sie uns unter die Erde bringen. Das war ja das A und O. Deswegen sind wir da so behandelt worden.«

Ilse Heinrich erinnert sich sehr genau an die Strafen im Konzentrationslager. »Ich habe drei Strafen gekriegt.« Die erste Strafe bekommt sie im Hofkommando. Ilse Heinrich muss die Baracken sauber machen, Abfälle aufsammeln. In einer der Mülltonnen liegen Kartoffeln. Ganz oben. Verfault. »Da habe ich mir eine genommen und sie abgepellt und davon was rausgepickt.« Das sieht die Aufseherin Bergmann. Alle Namen ihrer Peiniger hat sich Ilse Heinrich gemerkt. Die Aufseherin hat sie gemeldet. »Dann musste ich acht Tage in dem großen Raum, in dem wir gegessen haben, in der Ecke stehen und zusehen, wie die anderen gegessen haben.«

Blick aus dem ehemaligen SS-Führerhaus auf das Mahnmal am See und die heutige Gästewohnung gegenüber der Kommandantur des ehemaligen Konzentrationslagers Ravensbrück.

Die zweite Strafe folgt im Strickkommando. Im Hochwinter 1944. Ein strenger Winter. Der Schnee liegt einen halben Meter hoch. »Wir hatten Hunger und haben gefroren. Klamotten hatten wir keine, nur so dünnes Zeug.« Im Strickkommando müssen sie schwarze Strümpfe stricken. Ilse Heinrich wird der Hacken zum Verhängnis. »Das mit dem Hacken habe ich nicht begriffen.« Das Urteil: »›Stellt sich nur blöde an. Det Aas will nich.‹ So haben die SS-Weiber das immer ausgelegt.« Dann wird Ilse Heinrich aus der Baracke nach draußen beordert. In den hohen Schnee. In die Kälte, die durch die Nähe zum Wasser noch schneidender ist. Vor der Baracke nimmt die SS-Aufseherin einen Eimer Wasser und »den habe ich über den Kopf gekriegt. Dann musste ich so lange stehen, bis das Eis war. Bis das angefroren war.« Ihre Stimme bricht, als sie das berichtet. Bricht, so wie die dünne Schutzschicht, die sie sich über die Jahre angeeignet hat, um überhaupt über das Erlebte erzählen zu können. »Das kann sich keiner vorstellen. Nur wer das erlebt hat, kann das erzählen.« Als das Wasser an ihrem Körper angefroren ist, darf sie wieder in die Baracke, bekommt aber keine neue Kleidung.

Die dritte Strafe kommt in der Schneiderei. Ilse Heinrich sitzt an der Nähmaschine. »Wir waren alle so verkrampft. Vor Hunger, vor Kälte, vor Angst. Das kann man gar nicht wiedergeben. Wir waren nicht mehr bei Sinnen. Wir waren gar nicht mehr da.« Der SS-Werksmeister Binder ist für seine Brutalität bekannt. »Wir haben schon gezittert, wenn der in die Tür kam.« Eines Tages zieht er sie von der Maschine weg in den Gang und verprügelt sie mit einem dicken Knüppel, weil sie zu langsam war. Sie kommt in das Krankenrevier. »Dann wurde ich immer weniger und weniger.« Das war bereits im Januar und Februar 1945. »Das Ende kam ja schon. Meine Rettung war, dass ich im Krankenrevier lag. Sonst wäre ich heute nicht mehr.« Am 27. April 1945 müssen die Häftlinge, die noch dazu in der Lage sind, auf den Todesmarsch. 20.000 sind es. Die Kranken werden im KZ zurückgelassen. Unter ihnen Ilse Heinrich.

Nach Hause

Irgendwann spricht sie eine Häftlings-Krankenschwester an: »›Komm, wir wollen nach Hause. Komm. Ich helfe dir.‹ Und die wollte tatsächlich mit mir nach Hause.« In der SS-Führervilla, in der sich die beiden verstecken, erleben sie »noch mal das Schlimmste«. Die Villa umgibt ein dichter Wald. Und dann kommen die ersten sowjetischen Soldaten auf Pferden angeritten. Sie vergewaltigen die beiden Frauen. »Dat war mein Letztes. Da habe ich geschrien, geschrien, ich will sterben. Da wollte ich sterben. Das vergisst man nie.« Und fährt fort: »Es hat ein ganz schlimmes Ende gehabt.« Am 30. April befreien sowjetische Truppen die verbliebenen Insassen des KZ Ravensbrück. Die beiden Frauen bleiben noch 14 Tage in der Villa. Die Speisekammer ist prall gefüllt. Nur verdauen kann Ilse Heinrich das Essen nicht. Stufenweise baut die Krankenschwester Ilse auf. »Ich bin immer wieder zusammengefallen.«