Spiritualität - moralische Werte - kulturelle Ressourcen -  - E-Book

Spiritualität - moralische Werte - kulturelle Ressourcen E-Book

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Beschreibung

Welche Rolle spielt das Religiöse und damit auch die religiöse Erziehung in unserer heutigen Welt? Wie sich vor allem an der Flüchtlings- und Asyldebatte deutlich zeigt, bilden religiöse Überzeugungen nicht etwa ein die Menschen Verbindendes, sondern etwas, das sie voneinander trennt, ja angesichts des Fremden sogar in Angst und Schrecken versetzt. Andererseits haben praktisch alle Religionen nur ein Ziel, nämlich die Überwindung des Egoismus und die liebevolle Zuwendung zum anderen Menschen. Welche Rolle aber spielt bei diesem Thema der Mitmenschlichkeit die Religion? Oder anders gefragt: Was hat die Hinwendung zum Mitmenschen mit dem Göttlichen zu tun? Oder noch anders gefragt: Lebt nicht in jedem Menschen etwas vom Göttlichen? Worin aber bestünde dieses und wie ließe es sich finden? Und pädagogisch gefragt: Wie kann Erziehung heute, unter Umständen jenseits aller traditionellen religiösen Bindungen, auf dieses Göttliche aufmerksam machen bzw. eine Empfindsamkeit dafür entwickeln helfen? Das sind die Fragen, die in diesem Band, der die Vorträge und Seminarinhalte des BildungsKongresses 2019 wiedergibt, beantwortet werden. Inhaltsverzeichnis: Andreas Neider: Einführung des Herausgebers Elisabeth von Kügelgen: »Das Religiöse ist dem Menschen angeboren«. Was bedeutet das für die Erziehung heute? Albert Schmelzer: Die Weltreligionen – Ursache von Konflikten oder Quelle des Friedens? Johannes Greiner: Von den Weltreligionen zur Menschheits-Erden-Religion Corina Gleide: Beziehung mit dem Engel Stefan Grosse: Wie finden wir das Göttliche im anderen Menschen? Michaela Glöckler: Religiosität und Virtualität – welchen Einfluss haben die Medien auf die religiöse Suche in Kindheit und Jugend?

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Inhalt

ANDREAS NEIDER

Einführung des Herausgebers

ELISABETH VON KÜGELGEN

»Das Religiöse ist dem Menschen angeboren«.

Was bedeutet das für die Erziehung heute?

ALBERT SCHMELZER

Die Weltreligionen – Ursache von Konflikten oder Quelle des Friedens?

JOHANNES GREINER

Von den Weltreligionen zur Menschheits-Erden-Religion

CORINNA GLEIDE

Beziehung mit dem Engel

STEFAN GROSSE

Wie finden wir das Göttliche im anderen Menschen?

MICHAELA GLÖCKLER

Religiosität und Virtualität – welchen Einfluss haben die Medien

auf die religiöse Suche in Kindheit und Jugend?

Über die Autoren

Einführung des Herausgebers

Unser heutiges Dasein, und das trifft inzwischen praktisch für die ganze Menschheit zu, ist geprägt durch die Digitalisierung. Was heißt das? Ich möchte mich, um auf unser Thema, unser Verhältnis und das unserer Kinder zum Religiösen, hinzublicken, eines Ausdruckes bedienen, den der bekannte Soziologe Hartmut Rosa in seinem jüngsten Werk »Verfügbarkeit« nennt.1 Durch die Digitalisierung macht sich der Mensch die ganze Welt verfügbar. Sie können das am besten studieren, wenn sie sich einen der Hauptantreiber und Pioniere der Digitalisierung, nämlich die Konsumplattform amazon ansehen und benutzen. Dabei bemerken Sie sehr schnell, was durch die Digitalisierung geschieht: Sie machen sich die Welt, in diesem Falle die Welt der Konsumgüter verfügbar. Es gibt bei amazon nichts, was Sie sich nicht verfügbar machen könnten. Und indem Sie was auch immer bestellen, lassen Sie die Menschen, zumeist in China, das entsprechende Produkt herstellen, lassen Sie die Transportunternehmen für sich arbeiten, um die Ware am Ende zu retournieren, was erneute Transportarbeiten notwendig macht.

Diese Verfügbarkeit der Welt, die ja auch auf das soziale Leben übergegriffen hat, indem durch die sozialen Netzwerke die Menschen untereinander verfügbar werden, abgesehen von all den Daten, die dabei erzeugt und damit für die Internetunternehmen alias Facebook & Co. verfügbar gemacht werden, hat aber einen sehr hohen Preis, auf den eben Hartmut Rosa hinweist: Alles, was wir uns verfügbar machen und damit unserem Zugriff, unserer Macht und letztlich sogar unserer Kontrolle unterwerfen, hört auf, zu uns zu sprechen. Die Welt verstummt, indem wir sie uns verfügbar machen, sie erzeugt keine Resonanz mehr. Denn Resonanz bedeutet, dass wir zu etwas in Beziehung treten, über das wir nicht verfügen können. Rosa nennt diesen Bereich des Lebens den Bereich der Unverfügbarkeit.

Und damit wären wir bei unserem Thema angelangt. Denn alles Religiöse, ob wir es nun als Gott betrachten, als göttlich oder wie auch immer wir es benennen mögen, ist dadurch gekennzeichnet, dass es eben unverfügbar ist. Am deutlichsten wird das bei unserem Verhältnis zur Natur. Denn sobald wir uns die Natur verfügbar machen, und in der Regel bedeutet das, das wir sie dadurch zerstören, hört die Natur auf, in uns Resonanz zu erzeugen, sie verstummt. Rachel Carson hat ihr berühmtes Pionierwerk der Ökologie daher nicht umsonst Der stumme Frühling genannt.2 Denn anhand der Zerstörungen, die die industrialisierte Landwirtschaft mit sich brachte, wurde deutlich, dass dadurch die Natur, in diesem Falle die Vögel, tatsächlich verstummen, das heißt, sterben.

Unverfügbarkeit aber heißt nicht, dass uns die Natur und eben auch das Göttliche, das Religiöse vollkommen unzugänglich wären. Nein, wir können das Unverfügbare, anstatt es verfügbar zu machen, auch erreichbar werden lassen. Unser Verhältnis zum Göttlichen und damit zum Religiösen besteht deshalb hauptsächlich darin, das Unverfügbare erreichbar werden zu lassen. Und das zeigt sich schon an den einfachsten Phänomenen unseres Lebens. Denn auch in unserem eigenen Leben, in unserer Biographie zeigt sich Vieles, das unverfügbar ist. Alles das, was wir das Schicksal nennen, das auf uns zukommt, auf welchen Wegen wissen wir oft nicht, das uns einfach so geschieht, das ist weder verfügbar noch berechenbar noch steuerbar, es geschieht eben einfach. Auch ohne dabei von einer göttlichen Führung zu sprechen, können wir daran jedoch erleben, was Unverfügbarkeit bedeutet. Rudolf Steiner hat in einer kleinen Schrift auf diese Wege, die das Unverfügbare im Leben des Menschen geht, aufmerksam gemacht.3 Denn oft bemerken wir gar nicht, wie wir, wie von unsichtbarer Hand geleitet, Menschen begegnen, die wir scheinbar nicht kannten, und die dann für uns von enormer Bedeutung werden. Erst später können wir im Rückblick erkennen, dass wir bei solchen schicksalhaften Begegnungen tatsächlich von einer höheren Weisheit geführt wurden und dass der menschlichen Begegnung im Hinblick auf das Religiöse damit eine besondere Bedeutung zukommt.

Zum Religiösen entwickeln wir also gerade dadurch eine Beziehung, dass wir die Welt nicht prinzipiell für verfügbar, das heißt heute vor allem, für digitalisierbar halten, sondern dass wir mit dem Unverfügbaren lernen, in richtiger Weise umzugehen, das heißt, es erreichbar werden zu lassen.

Damit kommen wir auch zu der pädagogischen Fragestellung, die uns in diesem Kongressband beschäftigen wird, nämlich: Wie bringen wir Kindern die Unverfügbarkeit der Welt so nahe, dass diese für sie erreichbar wird? Da fallen einem natürlich Dinge ein wie Staunen oder Ehrfurcht oder Andacht – Worte, die heute im Vokabular vieler Pädagogen gar nicht mehr vorkommen. Vor allem bedeutet das auch, anderen Menschen gegenüber ein solches Verhältnis der Erreichbarkeit zu entwickeln, der Resonanz und der Anerkennung, dass ich über den anderen nicht verfügen kann. Und für den Pädagogen bezieht sich das natürlich auch auf das Verhältnis, das er oder sie sich selbst gegenüber einnimmt. Denn in uns selbst gibt es einen Bereich, der unverfügbar ist, der sich uns entzieht, zu dem wir aber ein Verhältnis der Resonanz entwickeln können, um diesen »höheren« Bereich des eigenen Wesens erreichbar machen zu können.

Die Beiträge dieses Kongressbuches, in dem Vorträge und Seminarinhalte des BildungsKongresses 2019 wiedergegeben werden, möchten eine solche Resonanzfähigkeit gegenüber dem Göttlichen, dem Bereich des Religiösen anregen. Dabei geht Elisabeth von Kügelgen von der Aussage Rudolf Steiners, die Religiosität sei dem Kinde angeboren, aus und verfolgt dabei die Frage nach dem, was unabhängig von einzelnen Konfessionen mit dieser allgemein menschlichen Religiosität gemeint sein kann. Albert Schmelzer stellt demgegenüber die Weltreligionen in ihrer je eigenen Charakteristik vor und fragt nach dem, was in diesen Religionen das Verbindende, eben das Allgemeinmenschliche ausmacht, womit zugleich auch die Frieden stiftende Dimension der Weltreligionen gemeint ist. Johannes Greiner greift diesen Gedanken auf, indem er die unterschiedlichen Qualitäten der Weltreligionen mit den Qualitäten der Planeten in Beziehung setzt. Danach geht es ihm um die Frage nach der Würde der menschlichen Begegnung und wie diese im Alltag realisiert werden kann. An diese Frage schließen die Beiträge von Corinna Gleide mit Übungen zur Erfahrung des eigenen Engels und Stefan Grosse mit biografischen Beispielen zur Dimension des Religiösen in der menschlichen Begegnung an. Michaela Glöckler bildet den Abschluss mit einer Betrachtung zum menschlichen Ich und seiner Beziehung zur Religiosität und stellt die Gefährdungen der Ich-Entwicklung in Kindheit und Jugend durch digitale Medien dar.

Mögen die Beiträge dieses Kongressbandes für die vertiefte Beschäftigung mit dem Bereich des Religiösen zahlreiche Anregungen bieten, durch die wir das Unverfügbare als für uns erreichbar erleben können.

Andreas Neider, Herbstbeginn 2019

1 Vgl. Hartmut Rosa, Unverfügbarkeit, Wien 2018.

2 Rachel Carson, Der stumme Frühling, München 2019

3 Vgl. dazu Rudolf Steiner, Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit, Dornach 1987

ELISABETH VON KÜGELGEN

»Das Religiöse

ist dem Menschen angeboren«

Was bedeutet das für die Erziehung heute?

Diesem Beitrag ist die Äußerung Rudolf Steiners vorangestellt: »Das Religiöse ist dem Menschen angeboren.« Das klingt nach einer kühnen Behauptung! Ich möchte zunächst den Zusammenhang nennen, aus dem diese Aussage stammt, und sie dann genauer erläutern.

Während einer Vortragsreihe über Pädagogik in der Schweiz wurde Rudolf Steiner in einer Aussprache nach religiöser Erziehung gefragt und auch, warum er für alle nicht konfessionell gebundenen Schüler der Freien Waldorfschule einen sogenannten »freien Religionsunterricht« eingerichtet habe und nicht Ethik. Steiner schildert daraufhin die Methodik für einen Religionsunterricht auf rein menschenkundlicher Grundlage und bemerkt dazu: »Wir müssen uns klar sein, dass wirklich das religiöse Element dem Menschen angeboren ist, zur Menschennatur gehört.« Und eine Anlage, die wir als Menschen mit in die Welt bringen, muss – und das ist Erziehung – altersstufengemäß aufgegriffen, gepflegt und zur Fähigkeit gebildet werden. Denn »das weglassen zu wollen, was zum Menschen gehört, das kann entspringen einem Fanatismus, aber niemals einer Pädagogik.«4

Ethik beschreibt moralisches Verhalten, was wir das Gute, das Wahre, die Grundideale des Menschseins nennen. Ethik beschäftigt sich mit den gesellschaftlichen und kulturellen Werten, Konventionen oder Verabredungen – was ja nichts Negatives ist. Blicken wir so auf die Ideale unseres menschlichen Zusammenlebens, fehlt aber etwas Wesentliches: Dass diese »Werte« geistige Realitäten sind, wesenhafte Kräfte, mit denen wir uns verbinden können. Wenn ethische Ideale nur auf menschengemachter Übereinkunft beruhten, hätten sie Bedeutung nur in der physischen Welt, es fehlte ihnen die im Geistig-Göttlichen gründende Verbindlichkeit. »Die göttlich-geistigen Wesen sind es, die diesen ethischen Impulsen, diesen sittlichen Kräften Realität geben. (...) Aber indem er (der Mensch) nicht mehr aufschauen kann zu der lebendig-göttlichen Geistigkeit, die den sittlichen Impulsen ihre Realität gibt”, ersterben diese Kräfte in Dogmen, Traditionen, Gewohnheiten und ihre Bedeutung endet mit dem Tod des Menschen.5

Das, was wir als Religiosität, als Moralität, als Gewissensbildung in uns tragen, was wir empfinden, wenn wir einem anderen Wesen gegenübertreten, einem Menschen, einem Tier, einer Pflanze, ruht tief in unserem (unbewussten) Willenswesen. Das müssen wir pflegen – und beim Kinde sicher nicht über den Verstand. Psychologen sagen z. B.: Das, was eine gewisse Tötungs- oder Aggressionshemmung im Menschen ist, ist fertig ausgebildet mit dem 9., 10. Lebensjahr. Das ist keine Frage der Intelligenz. Und insofern verwundert es auch nicht, wenn Rudolf Steiner darauf hinweist, dass in allem Unterricht immer »der ganze Mensch«, sein Denken, Fühlen und Wollen angesprochen und ergriffen werden soll. Steiners kürzeste Definition von Erziehung und Unterricht gibt er bei der Eröffnung der Waldorfschule 1919 vor 100 Jahren: »Lebendig werdende Wissenschaft! Lebendig werdende Kunst! Lebendig werdende Religion! Das ist schließlich Erziehung, das ist schließlich Unterricht!«6; also in lebendiger Weise das Denken, Fühlen und Wollen im Menschen anzuregen. Dass wir dem Denken das wissenschaftliche Element, dem Künstlerisch-Kreativen das Fühlen zuordnen, leuchtet meist spontan ein – aber das Lebendig-Religiöse dem Willensmenschen?

Unser Wille ist tätig, wo wir handeln, und wo ganz tief in uns verankert das Bedürfnis nach Beziehung lebt, der Impuls, Beziehung aufzunehmen zu anderen Menschen, zur Welt um uns. Noch schlafend für das Bewusstsein, lebt unser Ich in uns. Es ist willenshafter Natur, der Impulsgeber in uns. Beim Kinde wird immer der ganze Leib mitgenommen, es ist immer in Bewegung. Diese geistige Wesenheit erwacht erst langsam zu ihrem irdischen Ich-Bewusstsein. Erwacht ist wörtlich zu nehmen: denn der Säugling, der geboren wird, ist selbstverständlich eine Individualität. Wir haben deutlich zu unterscheiden zwischen diesem Ich, das wir sind, dieser geistig-göttlichen Entität, die aus einer Geistwelt stammt und dort immer beheimatet bleibt, die wir jede Nacht »besuchen«, und unserem Ich-Bewusstsein, dem Wissen von uns selbst, unserer Identität, wie sie in unserem Tagesbewusstsein lebt. Dieses Ich-Bewusstsein erwacht im Laufe der Kindheit und Jugend und bildet sich weiter aus und wird reicher ein Leben lang.

Das andere, worauf ich hinweisen möchte bei der oben genannten Wendung Steiners ist, dass es nicht heißt: »Die Religion ist dem Menschen angeboren«, sondern: »das religiöse Element«. Das ist ein großer Unterschied! »Religionen« geben Inhalte, oft Gebote, bestimmte Formen der Glaubensausübung, sie bilden immer Gemeinschaften, Zugehörigkeiten, prägen Kulturen. Über die Welt hin haben wir einen unendlichen Reichtum an verschiedenen Religionen mit ihren Riten und kulturellen Gegebenheiten, die gepflegt werden und verschiedene Wege zu dieser unsichtbaren Wesenswelt weisen, die wir das Geistig-Göttliche nennen. Heute erleben wir sie oft als etwas Trennendes, u. U. sogar als etwas, das uns Angst macht. Das »Religiöse«, das wir als Anlage ins Leben mitbringen, ist ein Allgemein-Menschliches auf der ganzen Welt Gemeinsames. Stellen wir uns ein Neugeborenes vor, vielleicht noch etwas verschrumpelt, hilflos, und doch liegt da ein Wesen, mit dem plötzlich im Raum anwesend ist ein ganzer Schicksalszusammenhang, die Kraft für ein ganzes Menschenleben! Dabei ist das Kind reine Hingabe an uns und die Welt, alleine nicht lebensfähig. Aber es bringt als Allerwichtigstes mit einen tiefen Willensimpuls: Ich will ein Mensch werden! Und um ein Mensch zu werden, braucht es Menschen, Vorbilder, die ihm zeigen, wie man ein Mensch wird. Dazu bedarf es der menschlichen Beziehung.

Wir bringen diesen Impuls mit, Beziehung aufzunehmen, wir sind Beziehungswesen. Da liegt das Kind – als wenn es sagen wollte: Hier liege ich, und wer bist du? Sein erstes Lächeln zeigt uns etwas, was urmenschlich ist: Allein der Mensch vermag im Lächeln seine Seele dem anderen entgegenzutragen. Dann knüpft sich diese Beziehung und es will in die Aufrichte, es will in die Bewegung, es ergreift seine Gliedmaßen, es lernt Gehen, es lernt Sprechen, es lernt Denken nur am Vorbild des Menschen und gar nirgends sonst; das kann man nicht künstlich erzeugen. Dieser enorme Willensimpuls, den wir Nachahmung nennen, ist schon ein individueller. Wenn wir Geschwister beobachten, fällt auf, dass keineswegs identisch ist, was sie nachahmen; sie haben dieselben Vorbilder, aber sie wählen aus. In der Nachahmung zeigt sich immer schon etwas Persönliches, dass ein Kind dieses ganz intensiv nachahmt und ein anderes lässt es liegen. Es sucht sich das, was es selber zur Menschwerdung braucht.

Dieser Ur-Gestus, zur Welt und allen Wesen – sichtbaren wie unsichtbaren – Beziehung aufzunehmen, ist ein religiöses Element, das ist eigentlich das, was wir im Kindergarten, in der Schule, dann in der Oberstufe in Metamorphosen zu ernähren und zu pflegen. Was sind solche Beziehung stiftenden Ur-Gesten des Religiösen? Hingabe, Ehrfurcht, Verehrung, Andacht, Dankbarkeit, Staunen, Liebe, Empathie, Mitleidsfähigkeit, Achtsamkeit, Liebe zu den Wesen der Natur, zu Menschen, zu sich selbst, zu den Geheimnissen des Lebens, zu einer göttlich-geistigen Welt, Vertrauen – man kann das weiter ausbreiten.

Wenn man sich fragt: Was haben alle diese religiösen Seelengesten, seelischen Fähigkeiten gemeinsam? dann ist es dieser Gestus: Weg von mir, eine Beziehung knüpfen zu etwas Anderem. Mich öffnen, zuwenden können, helfen, interessieren, angeregt, angespornt werden usw. Diese Empfindungen sind unserem Willen nahe. Für den Erwachsenen formuliert Rudolf Steiner für den Beginn des Schulungsweges im ersten Kapitel seines Buches Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? das so: »Wenn wir nicht das tiefgründige Gefühl in uns entwickeln, dass es etwas Höheres gibt als wir sind, werden wir nie in uns die Kraft finden, uns zu einem Höheren hinauf zu entwickeln.«7

In dem Nachahmungstrieb des Säuglings und des kleinen Kindes und auch noch des Schulkindes lebt der unbedingte Aufblick zu einem Höheren, wohin wir uns ein Leben lang weiterentwickeln können. Der Mensch kann im Gegensatz zu Tier und Pflanze bis zum letzten Atemzug lernen, immer weiter Mensch werden. Ein Werdender zu sein ist sozusagen unser Beruf! Je vielfältiger und reicher wir die Wunder der Natur erleben dürfen, noch belebt und durchsichtig für das, was nicht oben irgendwo, nicht hinter, sondern als Göttliches, Wesenhaftes in den Dingen lebt, umso sinnhafter erscheint uns das Leben. Daraus erblüht Achtung und Verantwortungsbewusstsein für diese Welt und ihre Wesen. Früher malten die Künstler einen Goldhintergrund auf ihre Bilder; Kinder können das noch ganz besonders gut, da hindurchzuschauen, nicht nur die Oberfläche zu sehen. Das ist eigentlich Religion, in voller Umfänglichkeit unser innerstes individuelles Wesen in Beziehung zu setzen zum Wesenhaften, Sinn tragenden, Gott durchdrungenen in allen Menschen und der Welt – und zu unserem eigenen höheren Selbst.

Man spürt: Rudolf Steiner hat hier für die Erziehung einen Begriff des Religiösen geprägt, der nichts mit Inhalten, nichts mit Theologie, nichts mit irgendeiner Konfession oder bestimmten Religionsgemeinschaften zu tun hat, sondern diese Grundfähigkeit meint, die gepflegt werden muss. Das lateinische Verb »religare« heißt auf Deutsch: zwei Dinge verknüpfen, verbinden. Die gängige Ansicht ist, dass unser Wort »Religion« davon abstammt und so viel heißt wie eine Verbindung zu Gott herstellen, eine Beziehung zur geistigen Welt knüpfen oder immer wieder dafür sorgen, dass sie nicht abreißt. Denn wir werden mit dieser »Nabelschnur« – Steiner nennt es einmal einen »Telefonanschluss in die geistige Welt« – geboren.8

Ein Autor, dessen gelehrte Erklärung ich kürzlich las, vertrat vehement, das sei völlig falsch; er leitete das Wort Religion von Lateinisch »religere« ab, das heißt: eine Sache immer wieder in sich bewegen, besinnen, und religere ist – und das gefiel mir – verwandt und abgeleitet von dem griechischen Wort »logos«. Dieses hat in der griechischen Logos-Lehre eine umfassende Bedeutung und ist aufgegriffen worden von dem Evangelisten Johannes, der am Anfang seines Evangeliums schreibt: »Im Urbeginne war der Logos, und der Logos war bei Gott und ein Göttliches war der Logos ... Alles ist durch ihn geworden, und außer durch ihn ist nichts von dem Entstandenen geworden...« Und dieser Sohnes-Logos, der da bei dem Vatergöttlichen war und ist, durch den alles in der Welt entstand, auch der Mensch, lebt in der Evolution weiter als die schöpferische Kraft, und auch der Mensch trägt diese Evolutionskraft, diesen Impuls, sich immer weiter zu entwickeln, diesen Impuls des Werdens, der Kreativität in sich.

Unser schöpferisches Ich bedient sich unseres Denkens, Fühlens und Wollens. Wenn wir uns selbst beobachten, dann bemerken wir, dass unser Ich willenshafter Natur ist, denn aus ihm handeln wir, ergreifen wir Gedanken, verknüpfen sie, wirken wir auf unser Gefühlsleben usw. So sagt der französische Autor Jacques Lusseyran: »Das Ich hat bestimmte Wachstumsbedingungen: Es ernährt sich ausschließlich von den Bewegungen, die es selbst macht.«9 Es ist nur anwesend, wenn es selbst aktiv ist. Rudolf Steiner formuliert einmal sehr knapp: »Das Wort Religion bedeutet: Verbindung des Menschen mit seinem Göttlichen, mit der geistigen Welt.«10 Das beinhaltet eine Doppelheit: Religion bedeutet Verbindung des Menschen mit seinem eigenen höheren Wesen, seinem höheren Selbst und der geistigen Welt, nämlich allen anderen geistigen Wesen – den göttlichen und auch allen anderen Menschen! Und diese Verbindung zu pflegen ist Aufgabe religiöser Erziehung. Und er fährt fort: »Der Mensch sehnt sich nach dieser Verbindung, weil er fühlt, dass er diese Verbindung zu seinem eigenen Göttlichen und der Ursprungswelt, aus der er stammt, in der er in Wesensbeziehung stand und steht mit den göttlich-geistigen Wesen der Welt, nicht verlieren darf.« Wir könnten auch sagen: nicht vergessen darf. Denn dort urständet der Impuls, hier ein möglichst guter, wahrhaftiger Mensch werden und sein zu wollen. Der Menschwerde-Impuls. Dieser Drang, etwas besser zu machen, vollkommener.

Was wir als den Nachahmungsimpuls im ersten Jahrsiebt erleben, es metamorphosiert sich in das, was Lernwille ist in der Schule. Für das kleine Kind sind wir Erzieher Götter, in der Schule werden wir Halbgötter – Steiner nennt das dann auch »geliebte Autorität«, das Vorbild, dem die Schüler gerne folgen. Für den Erwachsenen bedeutet das, dass er bestrebt sein muss, nachahmenswert, ein Vorbild zu sein. Denn mit zunehmendem Alter lebt in dem Kinde die Frage: Und woher weißt du, was das Gute, Wahre, Schöne und Richtige ist?

Ich erinnere mich sehr bewusst an einen solchen Moment, als ich das erste Mal mich gefragt habe: Stimmt das, was da meine Klassenlehrerin erzählt? Ab dem 9./10. Lebensjahr fangen wir an, sozusagen hindurchzuschauen durch diese geliebten Autoritäten, die uns die Orientierung im Leben geben und es taucht die Frage auf: Und zu was blickst du auf? Wo nimmst du diese Sicherheit her zu wissen, was das Gute und das Wahre ist? Und mit der Pubertät stößt man dann das alles ab, befreit sich, will ganz sich selbst werden, sucht aber händeringend nach einem neuen Halt: An was orientiere ich mich, wenn ich jetzt endlich einmal nichts so machen will wie die Eltern und die Lehrer? An welchen Idealen, an welchen Werten kann ich mich so orientieren, dass ich mir sagen kann: Und die sind jetzt mein Eigen?

Das sind diese Metamorphosen und Werde-Stufen, auf die der Lehrplan und seine Methodik Rücksicht nehmen muss. Demgemäß weist Rudolf Steiner darauf hin: Beim Kind muss die Umgebung so sein, dass Ehrfurcht, Hingabe, Andachtskräfte ernährt werden und sich beleben; diese Hingabefähigkeit, die das kleine Kind ganz durchzieht, die die Nachahmung speist, nennt er »leibliche Religiosität«. Für das Schulkind ab dem 9./10. Jahr spricht er von der Metamorphose dieser Kräfte ins Seelische, von »seelischer Religiosität«, dass es »seelisches Bedürfnis« wird, etwas über diese Wesen der sichtbaren und unsichtbaren Welt und den Menschen zu erfahren; und für die Oberstufenschüler, insbesondere ab dem 16. Jahr von »spirituellem Bedürfnis« oder »geistiger Religiosität«.11 Da sehen wir, was aus der »religiösen Anlage« für Fähigkeiten werden: Was wird denn aus Andacht oder Hingabe wenn wir älter werden anderes als die Fähigkeit der Konzentration auf eine Sache? Sich hingeben können an etwas ist doch, sich mit einer Sache wirklich zu verbinden und zu beschäftigen, sich zu interessieren, was heute immer schwerer wird. Es dringt so viel auf uns ein, zieht so viel an uns vorbei, dass lange Konzentrationsphasen mühsamer werden – das merken wir auch an den Oberstufenschülern. Aus Ehrfurcht wird Achtsamkeit, Sorgfalt, Verantwortungsbewusstsein. Diese Fähigkeiten, den Willen an etwas zu binden, dran zu bleiben, die eigenen Empfindungen zu beherrschen, Interessen, Zusammenhänge, Ideale zu verfolgen, diese Fähigkeiten zu stärken, würde bedeuten: Wir brauchen ein Mehr an religiöser Erziehung und Pflege dieser Anlagen und nicht weniger.