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Ein alter Film aus den Siebzigerjahren bringt den vor Kurzem in den Ruhestand versetzten Kriminalkommissar Samuel Brettschneider auf einen lange zurückliegenden und nie aufgeklärten Fall. Elisabeth Behringer, eine der Darstellerinnen des Films, verschwand nach Abschluss der Dreharbeiten spurlos. Die schöne Dreiundzwanzigjährige sei von Menschenhändlern entführt worden, hieß es damals unter anderem. Die wilden Spekulationen der Presse rührten nicht zuletzt von den Sexfilmrollen der Schauspielerin her, die auch als Model arbeitete. Bei seinen eher aus Langeweile aufgenommenen Nachforschungen stößt der pensionierte Kommissar bald auf eine bis in die Gegenwart reichenden Serie von rituellen, auf Snuff Movies festgehaltenen Frauenmorden, die selbst den erfahrenen Polizisten zutiefst erschüttern.
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Seitenzahl: 227
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So bedanke ich mich bei meinen Lesern für ihr Verständnis. Sie mögen mir verzeihen, dass ich kein umfangreicheres Buch abgeliefert habe. Ich mag keine dicken Bücher, was wohl daran liegt, dass ich ein unruhiges Leben führte und nie viel Zeit zur Verfügung hatte. Eine Geschichte, ein Roman sollte ausführlich, aber trotzdem flüssig zu lesen sein. Ich halte beispielsweise nichts davon, an der grüngestreiften Jacke der Hauptfigur abzuzählen, wie viele Knöpfe geschlossen sind und wie viele offen stehen. Man sollte dem Leser auch etwas Raum für die eigene Fantasie zugestehen. Er hat ein Recht darauf.
Frau Heidenreich sagte am 11.10.2015 im TV-Sender SWR: »Ich mag dicke Bücher«, und zu Autor Franzens Unschuld: »300 Seiten hätten es auch getan.« Bravo!
Personen und Inhalt des Romans sind Fiktiv. Übereinstimmungen mit realen Personen oder Namen sind rein zufällig. Die beschriebenen Ereignisse einer Splattermovieszene könnten so oder so ähnlich geschehen sein. Da sind den menschlich-kriminellen Triebhaftigkeiten leider kaum Grenzen gesetzt.
Glücklicherweise sind reale Tötungsdelikte zur Herstellung von Splatter- und Snuffmovies ein in Europa eher unbekanntes Phänomen. Dennoch Vorsicht! Dieser Roman kann geeignet sein, Ihre Gefühle zu verletzen.
Ein schwäbisch-US-amerikanischer Thriller
Stuttgart – Baltimore – L.A.
Es könnte eine Krimikomödie sein, ein Schmunzelthriller.
Wären da nicht die bösen Seiten.
Teil 1
Kapitel 1
Kapitel 2
Später Nachmittag
22. Juli
23. Juli
29. Juli nach Dienstschluss
Kapitel 3
Rückblende
8. August: Ein Hinweis, der 40 Jahre lang im Verborgenen lag
Rückblende: Der Schrecken
Kapitel 4
11. August
Rückblende, 3.4.1972: Der Tag, an dem das Fotomodel und Filmsternchen Elisabeth Behringer von der Bildfläche verschwand.
Kapitel 5
Samuel im Wald
Rückblende, 3. April 1972
Kapitel 6
Samuel im Zoo
Dieter Faist: Herkunft und Aufstieg
Chronologie einer Wandlung
Kapitel 7
Die Party
Hommage an den Allerwertesten
Kapitel 8
Spurlos verschwunden
Kapitel 9
Juliane
Kapitel 10
Die Sünden des Gläubigen
Kapitel 11
Rückblende: Deckname Colonel
Rückblende: Wie wird man ein Star?
Kapitel 12
Julianes Ängste
Rückblende: Das Böse
Juliane
1. September
Kapitel 13
Am Abgrund
Kapitel 14
Der Einsatz
Kapitel 15
10. September
12. September
Kapitel 16
Der Keller
Rückblende: Elisabeth
16. September
Kapitel 17
3. Oktober
Teil 2: Die Quittung
Kapitel 1
Seraphim & Cherubim
Kapitel 2
Kapitel 3
Rückblende
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Downeys Tempel aus Feuer und Flammen
Kapitel 7
Gabrielles ganzes kleines Glück
Sammy blickt durch die Scheibe, die nur zur Hälfte von Gardinen verdeckt ist, nach draußen. Seine Gedanken schweifen zwischen der Morgenzeitung und diffusen Erinnerungen, die für ihn kaum noch fassbar sind, hin und her. Den Mann, der mit seiner kleinen Tochter an der Hand vorbeigeht, sieht er zwar, nimmt ihn aber nicht wahr. Die Kleine hüpft von einem Bein aufs andere. Hätte er sie nicht an der Hand, würde sie wie ein junges Fohlen kopflos hierhin und dorthin hüpfen. Sammys Kaffee wird gebracht, ein kurzes Nicken, ein leises Danke.
Nach Politik, Weltgeschehen und Sport ist er beim Kulturteil der Morgenzeitung angelangt. Nicht dass ihn die Kultur mehr als anderes interessiert hätte, eine Gewohnheit, mehr nicht. Sammy liest Überschriften, fängt Beiträge an zu lesen und bricht nach wenigen Sätzen wieder ab. Sein Blick kehrt wiederholt zu dem Bild einer jungen Frau zurück, die ihn an irgendetwas erinnert, was lange in der Vergangenheit lieg. Ihr Name Elisabeth Behringer sagt ihm zwar nichts, aber er kommt nicht drauf, an was ihn dieses Bild erinnert.
Der Text zum Bild behandelt das Thema der Anfänge der Sexfilmindustrie der sechziger und siebziger Jahre. Sammy würde diesen Artikel gar nicht beachten, wenn da nicht dieses Foto dieser schönen, jungen Frau wäre. Er liest den Artikel erneut durch. Das Sexfilmgewerbe der frühen Jahre. Dänemark, Schweden, das prüde Nachkriegsdeutschland. Wo die kurze Zurschaustellung eines kleinen, mädchenhaften Busens der jungen Hildegard (Hilde) Knef in dem mittelmäßigen Film Die Sünderin geistliche Herren, biedere Hausfrauen und Politiker auf die Straßen trieb, um gegen diesen Sittenverfall zu wettern. Das Volk war aufgebracht. In der damaligen Zeit waren auf den Titelseiten der Zeitschriften und in deren Inhalten nackte Brüste und so manche anderen Körperteile durch schwarze Balken verdeckt. Die Leute mussten vor sich selbst in Schutz genommen werden.
Der Artikel, ein typischer Sommerlochbeitrag. Die Seiten der Zeitungen müssen ja irgendwie gefüllt werden. Der Beitrag wurde wohl angeregt aufgrund eines alten, erotisch aufgeladenen Pseudoabenteuerfilmes aus italienischer Produktion, der spätnachts über einen kommerziellen TV-Sender ausgestrahlt wird. Der Redakteur hat recherchiert und herausgefunden, dass eine der Darstellerinnen damals spurlos verschwunden ist. Der Fall wurde nie aufgeklärt. Es hieß, die schöne einundzwanzigjährige Frau sei von Menschenhändlern entführt worden, zu einer Zeit, als in Deutschland so etwas noch gar nicht vorkam.
Die Fantasien der Menschen wurden wohl durch Abenteuerfilme und seltsame Krimis getrieben. In den Kinos der damaligen Zeit wurde nicht selten die hübsche Hauptdarstellerin entführt und gefesselt gefangen gehalten. Der böse Frauenfänger, ein hässlicher, verschwitzter Typ, versuchte die arme Schöne zum Küssen zu zwingen. Die daraufhin angeekelt ihr Gesicht nach links, nach rechts und wieder nach links abwendete. Aber dann, zum Glück und zur Erleichterung aller Zuschauer im Kinosaal, kommt der junge Held gerade noch rechtzeitig aufs Set, um einen schmierigen Kuss oder noch Schlimmeres zu verhindern. Die Menschen gingen glücklich nach Hause oder in die nächste Kneipe, um die ausgestandenen Schrecken erst einmal mit Alkohol zu verarbeiten.
Aus einem unbestimmten Gefühl heraus beschließt Sammy – oder besser Samuel, das hört er lieber, denn ein Sammy ist er schon lange nicht mehr –, den alten Abenteuerstreifen anzusehen.
Um drei Uhr morgens, zu einer Zeit, zu der viele Sender den miesesten Trash ausstrahlen, wacht Samuel Brettschneider unvermittelt auf. Sein körpereigener Weckdienst, die innere Uhr funktioniert auch nach dem Ausscheiden aus dem Polizeidienst immer noch recht gut. Nur weiß er nicht, was ihn in dem Augenblick geweckt hat. Es dauert eine Minute, bis ihm das Bild der jungen Frau und der Zeitungsartikel wieder einfallen.
Samuel geht in sein innenarchitektonisch leicht überaltertes Wohnzimmer und schaltet das TV-Gerät und den Rekorder ein. Das Gerät am Abend zu programmieren hatte er schlicht vergessen. Er macht sich noch einen Tee in der Küche. Sorge, jemanden zu wecken, muss er sich nicht machen, wurde er doch immer wieder verlassen in seinem Leben. Und jetzt empfindet er es als Restzeitverschwendung, nochmals irgendeine Art von engerer Beziehung einzugehen. Basta!
Als Sammy aufwacht, liegt er krumm in seinem Sessel. Das Fernsehgerät zeigt die Vorzüge eines Staubsaugervorsatzes zum reinigen von Fenstervorhängen und Wohntextilien aller Art. Sammy schaltet die Geräte ab und nippt an seinem kalten Tee. Den kann er wegschütten, kalt schmeckt das Kräutergebräu überhaupt nicht.
Während er sich nun alternativ Kaffee kocht, fällt ihm ein, was seine unterbewusste Hirntätigkeit über Nacht für ihn herausgefunden hat. Genau, er kann sich jetzt daran erinnern. Das Bild der jungen Frau aus der Zeitung ist ein Ausschnitt, Teil eines Suchplakates von Anfang der siebziger Jahre. Die Polizei wandte sich damit an die Bevölkerung, um irgendwelche Anhaltspunkte über das verschwinden der Frau zu erhalten. Damals verliefen alle Bemühungen, das Schicksal der Frau zu klären im Sande. Also erledigt.
Sammy sieht sich den aufgezeichneten Film dennoch an. Es ist nicht die übliche Juxfilmware der Siebziger, wo noch in Lederhosen gejodelt wurde. Die Streifen aus italienischer Produktion waren deutlich schärfer als deutsche Hausmannskost. Beispielsweise wurden Hexen, laut Kinoplakat, bis aufs Blut gequält. Mondo Cane zeigte, wie Menschenfresser im Urwald Menschen fressen.
In der Einleitung wird schon einiges klar. Ein böswilliger, unausstehlicher Adeliger im ausgehenden Mittelalter, wie der Film glauben machen will, begehrt die hübsche, unschuldige Tochter Sylvia des braven Dorfschmiedes der benachbarten Grafschaft. Einen Antrag des fremden Grafen lehnt der treue Dorfschmied ab: »Kommt überhaupt nicht infrage.«
Damit wäre das Problem für den Betrachter umrissen. Der Conte will nicht verzichten, zu sehr hatte er sich während eines Ausrittes in die Dorfschönheit verguckt. Der Conte instruiert seine Häscher, nach der Schönen Ausschau zu halten, sie bei günstiger Gelegenheit zu entführen und unbeschädigt in seine düstere Burg zu bringen.
Nach wenigen Augenblicken erkennt Sammy, dass Sylvia, die Tochter des Schmieds, identisch mit der Frau auf dem Vermisstenplakat ist.
Szenenwechsel. Sylvia sitzt am Bach, singt leise ein einfaches Lied, während sie ein in einen Rahmen eingespanntes Stück Stoff bestickt. Sie schaut auf, zuerst erstaunt, dann erkennend, dass die Fremden ihr nichts Gutes wollen. Sylvia springt auf und läuft weg. Die Häscher hinterher.
Nun wird auch offensichtlich, dass die kleine Sylvia sehr gut bestückt ist. Während sie den finsteren Männern zu entwischen versucht, dokumentiert die Kameraführung ordentlich Bewegung in der Bluse der schönen Maid. Man erkennt nun auch, worin die wahre Größe und Begabung dieser Nachwuchsdarstellerin besteht.
Samuel beginnt sich langsam einen Reim zu machen. Vielleicht liegen Fiktion und Wirklichkeit gar nicht so weit auseinander? Aufdringliche Verehrer, neudeutsch Stalker genannt, gab es ja schon immer. Es hätte natürlich auch sein können, dass Elisabeth Behringer während oder nach den Dreharbeiten so sehr Gefallen an Italien gefunden hatte, dass sie einfach – ja, so könnte man sagen, dass sie einfach abgehauen ist. Soll ja nicht ganz so selten vorkommen, und so manche Vermissten tauchen Jahrzehnte später wieder auf.
Auf dem Bildschirm wehrt Sylvia inzwischen die Aufdringlichkeiten des Conte ab. Sie ist überhaupt nicht gewillt, ihre Unschuld an so einen ekeligen Typen zu verschwenden. Der Conte wird immer missgelaunter. Er weist seinen Kellermeister, der nebenbei auch als Kerkermeister tätig ist, an, die Unwillige im hintersten Verlies anzuketten. Da kauert sie nun, die Handgelenke hinter ihrem Rüchen mit Metallmanschetten zusammengeschmiedet, auf gestreutem Stroh. Das wird sie schon gefügig machen, verspricht sich der Conte, das wäre ja gelacht.
Samuel macht sich einen zweiten Kaffee, so spannend ist die Handlung ja nun auch wieder nicht. Erst als der Nachspann durchläuft, weckt das sein Interesse. Er hält das Bild mehrmals an um sich die Namen der Akteure vor und hinter der Kamera zu notieren. Und er fragt sich, was er da eigentlich tut, denn immerhin liegen zwischen den damaligen Geschehnissen und heute 40 Jahre. Er gibt sich in Gedanken auch gleich die Antwort auf die selbst gestellte Frage: Das neue Rentnerdasein und die damit einhergehende Tatenlosigkeit behagt Samuel überhaupt nicht. Die Vorstellung, im Stadtpark zu sitzen und fette Tauben noch fetter zu füttern, macht ihm Angst. Da kann er sich gleich hinlegen und sterben. Dieser Gedanke ist weit weniger unbehaglich für ihn.
Samuel beendet die immer gleiche Frühstückszeremonie damit, Tasse und Teller auf dem Spültisch abzustellen, neben dem Geschirr von gestern und vorgestern. Morgen wird er dann alles abspülen. Sein Haushalt ist durchorganisiert. Samuel ist nicht übergründlich, aber was getan werden muss, muss eben getan werden, mal früher, mal später.
Die Radiosprecherin verspricht angenehme Temperaturen für den ganzen Tag. Samuel wühlt in seinen Schubladen, da ist sie, ich wusste doch, dass sie hier irgendwo sein muss, Karl Reinerts Nummer. Charlie, ein Filmfreak und Sammler, mit Samuel befreundet, nun ja, früher hatten sie noch öfter Kontakt miteinander. Samuel geht ja schon lange nicht mehr ins Kino. Die neuen Filme speziell aus Hollywoodproduktion sind an Unrealismus kaum noch zu übertreffen.
»Samuel, Samuel – wer?«
»Sammy!«
»Sag’s doch gleich. Wieso rufscht du denn jetzt auf einmal an?«
»Wir haben uns ja schon ewig nicht mehr gesehen.«
»Ja schon, aber wieso rufscht denn wirklich an?«
»Ich brauche deine Fachkompetenz.«
»Du willscht ’en Brunne bohre lasse?«
Sein alter Freund Charlie ist Inhaber eines kleinen Tiefbohrunternehmens. Da bleibt ihm genügend Zeit für seine Leidenschaft rund um Film und Kino. Inzwischen wird Karl Reinert als anerkannter Filmexperte geschätzt und um Rat gefragt.
»Nein, nein. Ich muss einige Dinge über eine Schauspielerin herausfinden.«
»Ja gut, dann komm halt gschwind vorbei.«
»Wann?«
»Ha, jetzt , morgen, wie de willscht!«
»Heute noch, hast du Zeit?«
»Klar i bin daheum.«
Samuel war schon früher immer wieder beeindruckt, mit welchem Ehrgeiz Charlie alle Winkel seiner Wohnung mit Kassetten, DVDs und vor allem Bücher und Fachzeitschriften zustapelt. Und nichts von all dem ist wirklich überflüssig. Samuel zieht den Zeitungsausschnitt aus seinem Jackett. Charlie kommt mit Tee aus der Küche. Er ist kein Kaffeetyp, hat noch nicht mal eine einfache Kaffeemaschine.
»Elisabeth Behringer«, sagt Charlie, nach einem kurzen Blick auf das Bild der Vermissten.
»Du hast es gelesen?«
»Nein, aber es währe echt komisch, wenn ich nicht wüsste, wer das ist. Ist der Tee okay?«
»Wie? Ja. Also, ich habe da ein paar Namen notiert. Was mich interessiert, wo finde ich diese Leute?«
»Lass mal sehen. Also, ja. Tot – dement – auch tot. Der hier, der lebt irgendwo in der Pampa auf Sizilien. Die hier war eine der italienischen Bedarfsdarstellerinnen, die steht in keinem Verzeichnis. Das ist ja auch schon alles so lange her. Tot, tot, nein warte mal. Hier, die müsste jetzt so um die sechzig sein. Paula Maier, lebt hier in Stuttgart, in Zuffenhausen. sie war damals Tänzerin, also Schönheitstänzerin, so nannte man das oder so ähnlich. Wurde wegen ihrer tollen Figur gerne für kleine Sexfilmrollen oder Nacktfotos gebucht.« Und nach einer kurzen, nachdenklichen Pause: »Und wie man sieht, sogar bis nach Italien hat sie es gebracht, fast schon ein internationaler Star.«
Samuel stellt immer wieder erstaunt fest, dass sein alter Freund Charlie problemlos ins Schriftdeutsche wechselt, wenn er aus seinem Fachgebiet referiert.
»Kennst du diese Paula Maier?«
»Nicht direkt. Ich habe sie ein paar Mal auf Branchenveranstaltungen gesehen. Vielleicht mal ein paar Worte mit ihr gewechselt, aber frag mich nicht, worüber wir damals gesprochen haben. Ach ja, sie hatte mir ein Autogramm gegeben. Das Interesse der Leute an ihr machte sie richtig stolz.«
»Hm, interessant. Und Elisabeth Behringer, kanntest du die auch?«
»Weniger, die war etwas zurückhaltender. Lass mich mal überlegen ... nein, ich weiß nur, dass die beiden oft zusammen gearbeitet haben. Es waren ja auch keine richtigen Schauspielerinnen, die zwei hatten selten Text. Manchmal mussten sie kreischend weglaufen. So etwas muss man ja auch überzeugend bringen. Man sah sie meist als Tänzerinnen oder als Statistinnen im Hintergrund. Da gab es Szenen in italienischen Filmen ... also mindestens in einem Film, wo 30 oder 40 hübsche junge Frauen an Pfähle angebunden standen, als Geiseln oder als Druckmittel zwischen verfeindeten Städten oder Völkern. Für solche Einstellungen wurden gerne hellblonde oder dunkelblonde deutsche Mädchen verwendet. So waren nun mal die simplen Filmkonzepte. Die hübschen Damen gerieten in Gefahr und wurden am Ende doch noch gerettet. Meistens jedenfalls. Auch der Held musste zuvor Demütigung und Schmerzen erleiden, bevor er sich aus dem Staube erhob, um gegen die Feinde zu kämpfen und am Ende glorreich zu siegen. Dagegen hatte der deutsche Heimatfilm eher etwas mit Naturkunde und bäuerlicher Leitungsschau zu tun. Und am Ende wurde nach schier unglaublichen Verwicklungen stets und glücklich geheiratet. Das Kinopublikum war zufrieden. Also, wo diese Paula Maier in Zuffenhausen genau wohnt, kann ich dir auch nicht sagen. Vielleicht ist sie weggezogen. Aber du bist ja Polizist, dass dürfte für dich also keine Schwierigkeit sein, die Adresse herauszufinden.«
»Die Maier werde ich schon finden. Aber ich bin nicht mehr im Dienst, weißt du, ich bin jetzt im Ruhestand.«
»So, aha, na jetzt weiß ich das auch. Das heißt, du ermittelst als freier Mitarbeiter, falls es bei der Stuttgarter Polizei so etwas überhaupt gibt.«
»Nun ja, ich bin einfach an dem Schicksal der Frau als ungelösten Fall interessiert. Von ihr fehlt bis heute jede Spur.«
»Und da hast du dich quasi selbst beauftragt, die Suche wieder aufzunehmen. Dir ist es langweilig!«
»Ich fühle mich einfach nicht wie ein Pensionär, ich muss was tun.«
»Kann ich gut verstehen, wenn man so vor dem Nichts steht. Du hast ja auch kein Filmarchiv zu verwalten.«
»Ja, ich hatte immer nur meine Arbeit, und Zuhause herumzusitzen, das ist nicht mein Ding.«
»Na dann viel Erfolg, mein Lieber. Du wirst mich aber schon informieren, sobald du etwas über die Frau in Erfahrung gebracht hast?«
»Mach ich, auf jeden Fall, ich melde mich.«
»Na dann.« Charlie bringt Samuel zur Tür. »Mach’s gut!
»Du auch.«
Paula Maier. Steht da neben dem Klingelknopf. Ein einfaches, schmuckloses Mietshaus. Vor dem Eingang sollte mal gekehrt werden.
»Wer ist da?«
»Samuel Brettschneider.«
»Und was wollen Sie?«
»Ich hätte da ein paar Fragen zu ihrer früheren Kollegin Elisabeth Behringer.«
Daraufhin ist es erst einmal einige Augenblicke lang ruhig in der Gegensprechanlage.
»Hallo!?«
»Kommen Sie rauf – in den dritten Stock.«
Der Türöffner verrichtet hörbar seine Arbeit. Ein Aufzug ist nicht vorhanden, also nimmt Samuel die Treppe. Während seiner Dienstzeit ist er unzählige Treppen auf- und abgestiegen. Das stählt den Körper mehr als jedes Fitnessstudio oder dreimal täglich Yoga.
Frau Maier, die in den harmlosen Anfangszeiten in unschuldigen Sexkomödien und hanebüchenen italienischen Sandalenfilmen mitgespielt hatte, sieht mit ihren zirka sechzig Jahren noch ganz proper und attraktiv aus. Man sieht heute noch, warum die Frau früher gerne als Modell gebucht wurde. Um dies zu untermauern, hängen etliche alte Studiofotos an den Wänden. Samuel ist beeindruckt von den Bildern, eine wirklich schöne Frau.
»Sie wollen etwas über Elisabeth Behringer wissen. Warum kommt nach so langer Zeit jetzt die Polizei zu mir?«
»Ich bin kein Polizist, das heißt, ich bin kein Kommissar mehr, ich bin seit Kurzem im Ruhestand. Und, äh, sieht man mir den Polizisten tatsächlich so sehr an?«
»Ich denk, Sie sind mir schon mal aufgefallen, früher, in irgendeiner Bar. Damals ging die Polizei in den Bars ja noch ein und aus. Sie waren mal richtig schnuckelig, habe ich recht?«
Als schnuckelig, also nett und süß, hat sich Samuel selbst noch nie wahrgenommen, aber er nimmt es als Kompliment.
»Setzen Sie sich doch, möchten Sie etwas trinken?«
»Nein danke, ich denke, es wird nicht lange dauern. Frau Maier, Sie haben zusammen mit Elisabeth Behringer in einigen Filmen mitgespielt. Vielleicht können Sie sich noch erinnern, zu welchen Leuten Frau Behringer zu der Zeit Kontakt hatte?«
»Setzen Sie sich trotzdem, bitte. Die Elisabeth«, sinnierte Sie nachdenklich. »Wir waren richtig gute Freundinnen damals. Eine engere Beziehung hatte aber keine von uns, das brachte die Arbeit so mit sich. Zwei Jahre lang waren wir selten lange an einem Ort. Es war eine aufregende Zeit, müssen Sie wissen. Nicht lange nach Elisabeths verschwinden wurde es dann auch um mich ruhiger. Neue Gesichter! Das bringt der Beruf so mit sich. Man ist für kurze Zeit gefragt und schwimmt ganz oben mit, und plötzlich verlangt das Publikum etwas Neues, wie es in der Branche so schön heißt. Das stimmt natürlich nicht. Das Publikum bekommt stets das, was man ihm vorsetzt.«
»Klingt, so wie Sie das sagen, etwas wehmütig, oder?«
»Nein, nein, glücklicherweise habe ich kurz darauf meinen Mann kennengelernt. Ich war ganz froh, als der Rummel um uns langsam weniger wurde. Aber Sie wollten doch über die Elisabeth etwas in Erfahrung bringen, aus dem Grunde sind sie ja zu mir gekommen?«
»Ja, das wäre gut, wenn Sie mir irgendwie weiterhelfen könnten.«
»Wie ich schon sagte, wir waren sehr gut befreundet. Da wir oft zusammengearbeitet haben und man an fremden Orten sonst niemanden kennt, verbindet das fast zwangsläufig. Wir teilten uns das Hotelzimmer, gingen abends oft zusammen aus. Von ihrem Verschwinden hatte ich erst Wochen später erfahren, als ich von einem Dreh aus Italien zurückkam. Da war der Fall schon nicht mehr aktuell, bei den Akten, ein Fall von vielen. Sie sind der erste Polizist, der mich dazu befragt. Leider kann ich Ihnen heute wie damals nicht weiterhelfen. Hätte ich damals irgendeine Idee oder einen Verdacht gehabt, wäre ich zur Polizei gegangen. Ich habe mir sehr lange den Kopf zerbrochen, dass können Sie mir glauben. Paula Maier holt eine Fotografie aus einer Schublade. Das waren wir beide.«
Samuel sieht sich das Bild an. Wie alle jungen Frauen im Nachkriegsdeutschland waren sie schlank und hübsch. Die Frauen hatten noch richtige Frisuren, mit Haarspray in Form gehalten, nicht wie die jungen Frauen heutzutage, deren Haare wie Schnürbänder von den Köpfen hängen.
»Sie sehen tatsächlich wie Schwestern aus«, sagte Samuel, »nur ihre, nun ja ...«
»Weiß schon, was Sie sagen wollen. Elisabeth hatte richtig große, volle Brüste. Das machte sogar einige Mädels an. Zu der Zeit gab es unter den Mädchen weder Busenneid noch Rumgezicke, jedenfalls nicht in dem Ausmaß, wie es heute unter Models und im Musikgewebe üblich zu sein scheint. Wir hatten einfach Freude am Leben und unseren Spaß. Mit den heutigen Models möchte ich nicht tauschen. Im Grunde tun sie mir sogar etwas leid.«
Paula Maier hatte eine nette, unverblümte Art, die Dinge anzusprechen. Samuel geht noch einmal auf das Thema Elisabeth Behringer ein.
»Hatte Frau Behringer vor irgendjemanden Angst, einen sonderbaren Verehrer, jemand, der ihr nachstellte oder sie nicht in Ruhe ließ?«
»Das ist nicht leicht zu beantworten. Wir waren ja quicklebendig. Ständig wurden wir eingeladen und kamen uns damals richtig stark vor. Die Männer liefen uns ja hinterher wie die jungen Hunde. Ein paar Jahre lang bewegten wir uns ganz oben, in den besseren Kreisen und bei den Machern.«
Samuel sieht ihr an, wie sie die damaligen Zeiten vor ihrem inneren Auge Revue passieren ließ, er wartete geduldig ab. Nach einigen Augenblicken sagte sie:
»Da war so ein Fotograf, wenn die Sprache auf den kam, da wurde sie immer ganz still und einsilbig. Mir fiel das damals nicht auf, aber aus heutiger Sicht und wenn sie mich so direkt danach Fragen. Der war auch immer mittendrin in der Szene, die Elisabeth verhielt sich dann ganz anders, wenn der auftauchte. Vielleicht wollte er irgendwelche ekeligen Sachen mit ihr machen. Erzählt hat sie jedenfalls nichts.«
»Immerhin ein Anhaltspunkt. Wissen Sie noch, wer der Fotograf war?«
»Warten Sie mal.« Paula Maier ging zu einer anderen Schublade und nahm ein Schwarz-Weiß-Foto heraus. Sie gab Samuel das Bild. »Kein gestelltes Foto, sondern einfach aus dem Handgelenk heraus gemacht«, erklärte sie.
Wie damals üblich mit Rand und einem Prägestempel des Fotografen versehen. Samuel betrachtete Bild und Stempeldruck, klopfte mit der Karte auf seine Fingerspitzen.
»Können Sie mir die Fotografie für eine Weile überlassen?«
»Die können Sie sogar behalten. Bei mir hat sich so viel angesammelt, und vielleicht finden Sie doch noch etwas über Elisabeths Verschwinden heraus.«
»Hatte sie eigentlich Angehörige«, stellte Samuel eine letzte Frage.
»Ja, hatte sie, ihre Eltern, aber die hatten sie regelrecht verstoßen. Ihr Lebensstiel, können Sie sich ja denken. Die waren katholisch. Das ging aber mehr vom Vater aus, die Mutter war da toleranter. Sie hatten sich immer wieder mal heimlich getroffen. Ja, ich kann mich an die Zeit erinnern, diese Art Stress gab es in vielen Familien. Es war die Zeit der großen Generationskonflikte. Die Alten, noch vom großdeutschen Reich geprägt. Die Jugend dagegen wuchs mit Rock & Roll auf, fuhr mit Autos und Motorrädern durch die Gegend. Das gab es eine Generation zuvor alles nicht, und später noch die langen Haare, da rastete so mancher Vater aus.«
»Tja ich gehe dann mal. Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe«, Samuel wedelte dazu mit der Fotografie.
»Auf wiedersehen, Herr Brettschneider. Sie melden sich, falls Sie doch noch etwas herausfinden sollten.«
Wie erwartet war unter der Adresse des Stempeldrucks in der Calwerstraße kein Fotoladen mehr zu finden, sondern ein Italiener. Das passt, es war sowieso kurz vor Mittag. Samuel nahm an einem der kleinen Tische im Freien Platz und brauchte auch nicht lange auf den Kellner zu warten. Italiener sind flink und tüchtig. Spaghetti Bolognese, etwas Salat und ein Stuttgarter Hofbräu. Na ja, nur ein kleines. So ändern sich die Zeiten. So ein Damenbier zu bestellen wäre ihm früher nicht mal im Traum eingefallen. Aber da er ja seit, keine Ahnung, wie vielen Jahren nicht mehr träumt, ist das auch wieder stimmig.
Samuel kennt die Stadt seit Kindertagen. Er schaut sich die Gasse an, wie sie sich heute präsentiert, und hat große Schwierigkeiten, sich gedanklich ein Bild von vor vierzig Jahren zu machen. An ein Fotolabor Faist kann er sich überhaupt nicht erinnern. Von den ehemaligen Bewohnern dieser Gasse wird er hier niemanden mehr finden, so viel steht fest. Damit steht für heute nur noch die Stuttgarter Zeitung auf dem Programm. Ob Lina Auperle noch vorne im Empfang sitzt, denkt er auf dem Weg dorthin.
»Grüß Gott, Herr Brettschneider. Sie waren ja schon lange nicht mehr bei uns.«
»Guten Tag Frau Auperle, gut sehen sie aus.«
»Sie schwätzet ja grad wia mein Arzt.«
»Das natürlich auch, Frau Auperle. Es freut mich, Sie bei bester Gesundheit anzutreffen.«
»Also, Herr Kommissar, was brauchen wie denn heute?«
»Ja, liebe Frau Auperle, ich bin jetzt außer Dienst, was ich möchte, wären die mikroverfilmten Zeitungen von 1971 und 1972, kein exaktes Datum. Ich arbeite an einem alten Fall.«
»Zuerst einmal, Mikrofilm gibt es heute nicht mehr, das wurde alles digitalisiert, wisset se! Des war a Saugschäft.«
»Kann ich mir denken.«
»Des glaub i net! Wir können die Daten an ihre Dienststelle schicken.«
»Das wäre wiederum ein Umweg, ich ermittele privat in einem Vermisstenfall, der vierzig Jahre zurückliegt.«
»Privat, aus persönlichem Interesse?«
»So in etwa.«
»Aha! Dann, Herr Brettschneider, bringen Sie mir einen USB-Stick, dann kann ich ihnen »privat« die Daten draufladen. Wer wurde denn vermisst?«
»Eine junge Frau, ist nie wieder aufgetaucht.«
»Da hilft man doch gerne, also bis dann, Herr Brettschneider.«
»Bis dann.«
Samuel macht sich auf die Suche nach dem nächsten Elektronikshop.
Da Samuel keine genauen Anhaltspunkte hat, außer dem Datum des Verschwindens der Frau, am 3.4.1972, fängt er bei diesem Datum an zu suchen. Wie erwartet sind die Informationen ziemlich dünn. Ein knapper Polizeibericht und ein kurzer Artikel der Lokalredaktion mit dem Tenor: Es handele sich bei der Vermissten um eine Tänzerin, die in einschlägigen Lokalen aufgetreten ist, sodass jeder Leser zwischen den Zeilen ein verruchtes Weibsbild vermuten kann und dass so eine selber schuld ist.
Die bekannte Vermisstenanzeige ist natürlich auch abgedruckt, mit dem Hinweis, dass die Frau von mehreren Zeugen zuletzt in oder in der Nähe der Calwerstraße gesehen wurde. Die Leute erinnerten sich an Elisabeth Behringer, weil die Frau hauptsächlich wegen der überwiegend Lokalen Werbekampanien doch einen gewissen Bekanntheitsgrad hatte. Sie hatte ja auch immer mal wieder für Werbeaufnahmen Model gestanden, und damit hatte ihr Gesicht einen hohen Wiedererkennungswert.
Nun denn! Frau Auperle hat die Zeitungsausgaben von 1970 bis 1973 auf den Stick geladen, sehr nett von ihr. Für Samuel begann nun eine mühselige Recherchearbeit mit viel Kaffee, müden Augen, Rückenverspannungen und der Frage, ob er sich da nicht doch zu viel aufgehalst hat. Samuel fängt mit der ersten Ausgabe von 1970 an, wenn er sie schon vorliegen hat, warum auch nicht. Er findet alle drei Monate eine Anzeige des Fotostudios Faist. »Weibliche Modelle für seriöse Erotikfotoaufnahmen und Webefotos gesucht.« Anschrift und Telefonnummer. Ab Mitte 1971 hörten die Anzeigen auf. Dieser Dieter Faist könnte also ein seriöser Erotikfotograf gewesen sein, ein kleines Ferkel oder eine große Drecksau. Man wird sehen. Man wird auch sehen, ob sich der gute alte Sammy so richtig auf dem Holzweg befindet.
Fast wie erwartet gab die Zeitungsrecherche nicht mehr viel her. Alles, was er herausfand, war, dass in den Jahren 71 bis 73 noch weitere junge Frauen als vermisst gemeldet worden sind, meist von Kolleginnen oder Freundinnen. Also Frauen, die weder von Familien oder Verwandten vermisst wurden. Doch es waren durchaus keine außergewöhnlich hohen Zahlen, sondern sie lagen über die Jahre gesehen im Rahmen des Üblichen.