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»Ich bin 163 Jahre alt. Zumindest ist das die Anzahl der Morde, an die ich mich erinnere. Für jedes Jahr ein Menschenleben.« An den Ufern der Spree macht ein heimtückischer Serienmörder Jagd auf Frauen. Die Entführungen werden nicht beobachtet, die Leichen seiner Opfer nie gefunden. Als die Enddreißigerin Ana am Alexanderplatz auf eine der Vermisstenanzeigen stößt, die überall in der Stadt zu finden sind, wird sie von einem geheimnisvollen Mann angesprochen. Jan scheint mehr über das Mysterium der verschwundenen Frauen zu wissen, als er zugeben will … Da ist etwas … und es lässt sich ungern stören! »Ein Thriller der anderen Art. Meine Überlegungen und Ideen fuhren Achterbahn.« nellsche auf Lovelybooks »Spannender Mystery-Thriller, der auf ganzer Linie überzeugt.« Annie »Nichts für schwache Nerven … die Geschichte entwickelte einen solchen Sog, dem ich mich kaum entziehen konnte.« Langew. »… eine ganz außergewöhnliche Mischung aus Thriller und Mystery.« hopeandlive auf Lovelybooks »Man sieht sich schon beim ersten Kapitel um, obwohl man am helllichten Tag im Garten liest!« Sylvie »… ein intensiver Thriller … mit dem Touch des Besonderen ...« Mike76 »Durch die atemberaubende und packende Erzählweise des Autors wurde ich förmlich in die Geschichte hineingezogen …« Vampir989 »Ich habe selten ein so spannendes und gruseliges Buch gelesen.« rewareni auf Lovelybooks »Man fühlt, fiebert und leidet mit den Protagonisten.« Stups »Du wirst die Welt danach mit anderen Augen sehen.« voeglein auf Lovelybooks »Spannend, überraschend und schaurig.« kabalida »Gruselig, schaurig und einfühlsam geschrieben.« Amazon-Kunde »Perfekte Grusel-Lektüre.« Bookstar »Mit einem packenden Schreibstil und einigen überraschenden Wendungen treibt der Autor seine Geschichte mit hohem Tempo und ohne große Schnörkel voran und steuert zielsicher auf die überzeugende Auflösung zu.« ech »… eine wilde Jagd durch Berlin und dessen dunkle Ecken …« Bettina H. »Spannend von der ersten bis zur letzten Seite.« Gartenfee007 auf Lovelybooks »Nichts ist vorhersehbar. Und in dem Stil, in dem der Autor Karsten Krepinsky schreibt, hält beim Lesen ganz langsam – immer mehr und mehr – das Geheimnisvolle und das Grauen den Einzug in den Köpfen der Leser.« Wagner »Ein Thriller wie ein Horrorfilm.« classique auf Lovelybooks (Lesermeinungen)
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KARSTEN KREPINSKY
Spreeblut
An den Ufern der Spree macht ein heimtückischer Serienmörder Jagd auf Frauen. Die Entführungen werden nicht beobachtet, die Leichen seiner Opfer nie gefunden.
Als die Enddreißigerin Ana am Alexanderplatz auf eine der Vermisstenanzeigen stößt, die überall in der Stadt zu finden sind, wird sie von einem geheimnisvollen Mann angesprochen. Jan scheint mehr über das Mysterium der verschwundenen Frauen zu wissen, als er zugeben will …
Ein Mystery-Thriller
Spreeblut
(c) 2017 Dr. Karsten Krepinsky
Originalausgabe, Juli 2017
Alle Rechte vorbehalten
Nachdruck und Vervielfältigung aller Art (auch in Auszügen) nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors
Umschlaggestaltung: Die Typonauten
Veröffentlicht von Dr. Karsten Krepinsky, Berlin
www.nichtdiewelt.de
Eingeritzt auf einer Bank in der Nähe der Zitadelle Spandau
Ich bin 163 Jahre alt. Zumindest ist das die Anzahl der Morde, an die ich mich erinnere. Für jedes Jahr ein Menschenleben. Ich habe keine Mutter und keinen Vater, die mir erzählen können, wann ich geboren wurde; keine Großeltern, die mir sagen, woher ich komme. Kein Familienporzellan, das ich weitergeben kann. Kein einziges Erbstück. Nichts. Ich definiere mich einzig und allein über die wundervollen Menschen, deren Leben ich geraubt habe.
Meine ersten Erinnerungen gehen zurück auf den Frühling 1836. Die Strahlen der Sonne ließen die Maiglöckchen erwachen, erhellten das zarte Grün der Wiesen. Die Knospen sprossen, und auch ich erwachte aus meinem Schlaf. Entlang eines unbedeutendes Feldweges, irgendwo in Böhmen. Damals, zu einer anderen Zeit, als Napoleon aus den Deutschen Landen geworfen und die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn den Südosten Europas beherrschte. Es war ein Wanderer, der mein Erwachen einläutete. Ein Habenichts. Beileibe kein vornehmer Herr mit Zylinder. Einen Rucksack hatte er sich umgeschnallt, die Hose war von Flecken übersät. Unbekümmert schien er zu sein und voller Tatendrang. In diesem unbändigen Verlangen, das Leben als ein Versprechen wahrzunehmen. Gierig, jede Sekunde seines Daseins aufzusaugen. Ich kenne nicht den Namen dieses jungen Mannes, der in meine Fänge geriet. Vielleicht war es ein Vagabund auf Wanderschaft. Er war athletisch und jung. Eigenschaften, die mir nützlich waren und immer noch sind. Denn trotz meines biblischen Alters erfreue ich mich bester Gesundheit. Abgesehen von ein paar Dutzend Virusinfektionen und einem äußerst lästigen Pilzbefall in meiner Jugend war ich niemals krank. In meinen Vierzigern und Fünfzigern hatte ich die eine oder andere Schwächeperiode zu überwinden, wenn ich mich recht erinnere, aber spätestens seit den Achtzigern scheint mein Körper eine vollkommene Resistenz gegenüber den Keimen, Viren und sonstigen Parasiten entwickelt zu haben. Ein mit der Zeit optimiertes Abwehrsystem, das mit den Gefahren, die das Leben mit sich bringt, umzugehen vermag.
Die Frühlinge kommen und gehen, Jahrzehnte schmelzen zu Augenblicken zusammen. Rastlos bin ich auf der Suche danach, mich zu perfektionieren. Wir schreiben das Jahr 1999 und wieder steht ein Umzug an. Nach Berlin, in diese wunderbare, pulsierende Stadt, in der ich zuletzt in den Dreißiger Jahren lebte. Wie ein Teenager, der in sich die Zeit der Veränderung spürt, fühle auch ich, dass das Ende des Jahrtausends einen Wandel einläutet. Ich bin so voller Tatendrang, da es zu meinem Leidwesen immer noch Dinge gibt, die mir nach all den Jahren der Entwicklung fremd geblieben sind. Eigenschaften, die ich noch in mir aufnehmen muss. So bin ich nicht dazu in der Lage, die großartigste aller menschlichen Emotionen zu spüren: die Liebe. Welche Männer wie Frauen zumindest für eine kurze Zeit so glücklich werden lässt. Auf dass sie erstrahlen und alles um sich herum vergessen. Wohl ist mir bewusst, wann es angebracht ist zu lachen oder zu weinen, doch tief in meinem Inneren verstehe ich auch diese Gefühlsregungen nicht. Ich kann lediglich versuchen, sie nachzuspielen. Vortäuschen, auch wenn ich innerlich kalt bleibe. Mein Verlangen, nach über einhundertsechzig Jahren Liebe zu empfinden, mit dem Kosmos vereint zu sein, wie ich es einmal gelesen habe, ist unendlich groß. Die Liebe ist der Schlüssel zu allen anderen Gefühlen – das steht zweifelsfrei fest. Und ich werde dieses zuckersüße Geschenk von denen rauben, die dieses Gefühl im Überfluss in sich tragen: den Frauen. Nachdem ich die Kraft und die Stärke von den Männern gestohlen habe, werde ich die Liebe aus ihnen herauslösen. Frauen werden im neuen Jahrtausend meine Opfer sein.
Berlin, 22. März 2014, U-Bahnebene am Alexanderplatz, 0:40 Uhr.
Nervös drehte sich die junge Frau um, als sie mit der Rolltreppe zum Bahnsteig der U-Bahnlinie U5 hinabfuhr. Zu ihrer Erleichterung war aber niemand hinter ihr. Nur Sekunden später gelangte sie in die großzügig angelegte unterirdische Wartehalle, die von Jugendstillampen an der Decke hell erleuchtet wurde. Glänzende grüne Kacheln an den Wänden, war der Haltebereich der U-Bahn sauber und aufgeräumt. Zu ihrem Leidwesen ließ sich jedoch das Sicherheitspersonal der Berliner Verkehrsbetriebe nicht blicken. Auch der Kiosk auf dem Bahnsteig hatte zu dieser späten Stunde längst zugemacht. U-Bahnhöfe waren in der Nacht kein Ort für eine Frau Ende zwanzig, die alleine unterwegs war. Dessen war sich Claudia Junghans bewusst. Sie ertastete mit den Fingern die kalte Dose des Pfeffersprays, das sie immer in ihrer Handtasche griffbereit bei sich trug. Nur keine Angst zeigen. Claudia tröstete sich damit, dass es nicht die U8 war, die sie nach Hause bringen würde. Hauptsache nicht nach Kreuzberg fahren, dachte sie. Nicht um diese Zeit. Von den Gruppen von jungen Männern, die am Bahnsteig herumlungerten, mit verächtlichen Blicken bedacht zu werden, um ab und an ein zischendes Bitch an den Kopf geworfen zu bekommen. Wenn man Glück hatte, und es bei derartigen Beleidigungen blieb, erschauderte sie. Letzte Woche war es zu einer Gruppenvergewaltigung direkt am Hermannplatz gekommen. Die Männer hatten die Frau am Ausgang des U-Bahnhofs überwältigt und in einen Hinterhof geschleppt. Niemand war ihr zu Hilfe geeilt, als die Täter fast eine Stunde lang immer wieder über sie herfielen. Claudia lief ein kalter Schauer über den Rücken. Sie passierte schnellen Schrittes den Engpass, an dem die Treppe auf den Bahnsteig der U-Bahnlinie 5 führte. Normalerweise musste sie nicht am Alexanderplatz umsteigen, diesem von ihr so verhassten Verkehrsknotenpunkt, doch die oberirdische Stadtbahn war wegen einer Baustelle am Ostbahnhof unterbrochen. Da sie am Treptower Park wohnte, blieb ihr nichts anderes übrig, als mit der U5 bis zur Frankfurter Allee zu fahren, bevor sie dort in die Ringbahn umstieg. Vielleicht hätte sie das Angebot ihres Freundes nicht ausschlagen sollen, der sie von der Orchesterprobe mit dem Auto abholen wollte. Aber nach dem Streit von gestern hatte sie einfach keine Lust darauf, ihn zu sehen. Claudia bereute es wieder einmal, selbst keinen Führerschein zu besitzen, schnaufte tief durch und zog die Gurte des Geigenkastens enger, den sie auf dem Rücken trug. Ende zwanzig war kein Zeitpunkt, sich endgültig zu binden. Ihre biologische Uhr tickte nicht. Noch nicht. So genoss sie es unendlich, unabhängig zu sein und sich mit ihrer Mitbewohnerin eine eigene Wohnung zu teilen. Jenni konnte sie aber jetzt auch nicht anrufen. Die war zu einer Theatertour quer durch Deutschland aufgebrochen. Claudia war auf sich allein gestellt. Wie so oft in ihrem Leben. Sie musterte neidisch ein Pärchen, das, ineinander verschlungen, vor einer der grün gestrichenen Metallsäulen stand. Die beiden waren frisch verliebt, wie ihre heftigen Liebesbekundungen bezeugten. Beäugt wurden sie nicht nur von ihr, sondern auch von mehreren jungen Männern. Die begafften die beiden Turtelnden geradezu. Halbleere Sternburger Pils in den Händen, wie es in Berlin im öffentlichen Nahverkehr geduldet wurde. Vielleicht einer der wenigen Orte weltweit, wo man zu vorgerückter Stunde eher auffiel, wenn man keine Bierflasche dabei hatte. Berlin war anders. Anarchistischer als der Rest der Republik. Verbote wurden hier umgangen. Dafür liebte Claudia diese Stadt. Es war einer der Gründe, warum sie vor vier Jahren aus der verschlafenen hessischen Provinz umgezogen war. Nur um diese Uhrzeit konnte sie dem Moloch Berlin nichts mehr abgewinnen. Nicht ohne männliche Begleitung. Claudia betrachtete mitleidig einen Betrunkenen, der ungelenk in einen Döner biss. Der Rotkohl und das Dönerfleisch rieselten zu Boden, und fast verlor er das Gleichgewicht. Besoffene pöbelten häufig, stellten aber meist keine Gefahr dar, stufte sie blitzschnell die Lage ein. Üblicherweise überschätzten sich Männer, besonders dann, wenn sie tranken. Irgendetwas hielt sie aber meistens zurück, Frauen zu begrapschen. Zumindest in dieser nüchternen Umgebung mit dem grellen Licht. Vielleicht wussten diese benebelten Testosteronbomben dann instinktiv, welch kläglichen Anblick sie boten. Claudia stellte sich in die Mitte des Bahnsteigs und zog ein Buch aus der Umhängetasche. »Sakrileg« von Dan Brown. Seit sie eines Tages in der S-Bahn von einem Studenten bei ihrer Lektüre von »Siddhartha« von Hermann Hesse – also jenen Autor, den sie über alle Maßen schätzte – in ein Gespräch verwickelt wurde, war sie auf eher unverfängliche Bestsellerliteratur umgestiegen. Ohnehin las sie den Roman nicht, auch wenn die Seiten zerfleddert waren und den Eindruck erwecken mochten, dass das Taschenbuch bereits durch viele Hände gegangen war. Nur keinen Augenkontakt mit Männern um diese Zeit riskieren. Darum ging es. Während sie vorgab, sich für die Aufdeckung einer vatikanischen Verschwörung zu interessieren, musterte sie aus den Augenwinkeln weiterhin aufmerksam ihr Umfeld. Die eng anliegende schwarze Hose aus Kunstleder, die ihre Figur über Gebühr betonte, verbarg sie geschickt unter einem langen Mantel. Weit und tief war der, wie er von Magersüchtigen getragen wurde, um ihre skelettartige Figur zu verbergen – oder das in ihren Augen abscheulich korpulente Wesen. Derartige Probleme mit dem eigenen Körper kannte Claudia nicht. Sie war mit sich selbst im Reinen. Hatte sich mit den ersten Falten abgefunden, dass alles nicht mehr so straff saß wie früher und die Tränensäcken immer ausgeprägter wurden, mit denen sie schon als Teenagerin zu kämpfen hatte. Das Rauchen forderte nun einmal seinen Tribut. Mit ein bisschen Schminke ließ sich das mit Leichtigkeit kaschieren. Und wenn sie dreißig wurde? Wie sah es dann aus? Was kümmerte sie das jetzt? Sechs Monate waren eine lange Zeit. Da konnte so viel passieren. Wichtiger war im Augenblick ohnehin, dass sie es sicher bis nach Hause schaffte. Um diese Zeit. Weit nach Geschäftsschluss, wenn die Shopper längst nach Hause geeilt waren. Sich die hübschen Asiatinnen mit ihren funkelnden, aufwendig verzierten Smartphones und die unbekümmerten Bubble-Tea-Trinker in die eigenen vier Wände zurückgezogen hatten, die stolzen »Zara«-Taschen-Träger wussten, was sie tags darauf umtauschen würden und die Kaufsüchtigen mit ihren »Primark«-Tüten aus Pappe ihrer Einwegkleidung wieder überdrüssig waren. Warum war es nur dermaßen spät geworden? Diese verdammte Party, ärgerte sich Claudia. Sie hatte mit Dirk geflirtet, der die erste Geige spielte. Dirk, dem Flachleger mit seinem schlechten Eau de Toilette und dem noch schlechteren Atem. Claudia hatte es zunächst genossen, doch als Dirk sie küssen wollte, hatte sie ihm eine runtergehauen. Sie war eine Frau, die sich zu wehren wusste, wenn Männer allzu aufdringlich wurden. Nicht so wie die beiden Teenagerinnen, die auf der Wartebank saßen, laut kichernd die Köpfe über ein Smartphone zusammensteckten und nicht merkten, dass sie längst von einer Gruppe junger Halbstarker gemustert wurden. Dumme, gackernde Hühner, dachte Claudia, als die U-Bahn in den Bahnhof einfuhr.
Zwei bis drei Minuten stand die Bahn in der Endhaltestelle Alexanderplatz, bevor der Zugführer die Fahrt fortsetzte. Die Wagen waren neu, durchgängig von vorne bis hinten und daher gut einsehbar. Leider fuhren immer noch unterteilte Wagen der älteren Baureihe auf der Linie. Dann musste Claudia immer darauf achten, dass sie nicht alleine in einen Wagen einstieg. Auf dass sich an einer Haltestelle ein oder zwei Männer dazugesellten und man ihnen ausgesetzt war, bis der Zug wieder hielt. Sowohl auf den Bahnhöfen als auch in den Zügen gab es zwar neuerdings Videoüberwachung, aber eine Vergewaltigung verhindern konnte man dadurch auch nicht. Es erleichterte nur die Aufklärung eines Verbrechens. Claudia stieg in die U-Bahn ein, setzte sich in die Mitte einer Sitzbank, klappte das Buch auf und senkte den Kopf. Sie hielt es mit der rechten Hand, einen Ehering gut sichtbar präsentierend. Das vermeintliche Zeichen der ewigen Bindung an einen Mann trug sie häufig, um Verehrer abzuhalten. Zumindest einige schreckte das ab. Andere ließen sich auch davon nicht beirren, ihr Balzverhalten fortzuführen. »Zurückbleiben, bitte«, dröhnte es aus den Lautsprechern der Bahn, wobei man das »Bitte« nur erahnen konnte, da es einem schroffen Pusten des Zugführers in das Mikrofon gleichkam. Ein Warnton erklang, rote Lichter blinkten auf und die Türen schoben sich langsam zu. Die Halbstarken blieben wie die beiden blutjungen Frauen auf dem Bahnsteig zurück. Claudia hatte ein schlechtes Gewissen. Vielleicht hätte sie die unerfahrenen Teenager warnen sollen. Andererseits musste sich jede Frau früher oder später selbst in einer von Männern dominierten Welt zurechtfinden, glaubte sie.
Bis zur Frankfurter Allee blieb die U-Bahn recht leer; ein paar spanische Nachtschwärmer, vielleicht Anfang zwanzig, stiegen am Strausberger Platz zu. Vergnügungssüchtige, die nach Berlin kamen, um die Vorzüge einer Stadt zu genießen, die keine Sperrstunde kannte. Berlin war weltweit in Mode. Eine Metropole, in der sich die globale Jugend amüsierte. Es gab nur das Jetzt. Nur das Vergnügen.
Den Übergang von der U-Bahn zur S-Bahn hasste Claudia. Das Ring-Center, ein Einkaufszentrum, das sich auf beiden Seiten der S-Bahntrasse erstreckte, hatte seine Pforten längst geschlossen und der einzige Weg zur Hochbahn führte eine schmale Gasse entlang. Ein Bauzaun auf der einen Seite und die kalte, fensterlose Rückwand des Einkaufspalastes auf der anderen Seite boten gerade genug Platz, dass man sich in beiden Richtungen im Gänsemarsch drängen konnte. Früher standen hier aufgereiht Imbisse und Kioske, über die sich die Nachtschwärmer mit Nachschub versorgten, doch solange es die Baustelle gab, war es nur ein beängstigender Engpass auf ihrem Weg nach Hause. Claudia stöhnte innerlich auf. Ganz Berlin erschien ihr manchmal wie ein riesiger Buddelplatz zu sein, der beständig umgegraben wurde. Die Dinge waren einem permanenten Wandel unterworfen, Konstanten gab es so gut wie keine. Bis auf die spärliche Beleuchtung auf den Straßen vielleicht. Den Blick nach unten gerichtet, folgte Claudia den ausgelassenen Spaniern und huschte in den Eingangsbereich der S-Bahnstation Frankfurter Allee, während ihr Geleitschutz weiter zur Rigaer Straße zog.
Die Anzeige im Eingangsbereich wies darauf hin, dass die Ringbahn gerade eingefahren war. Claudia rannte die Treppe nach oben und drückte sich gerade noch rechtzeitig gegen die verschwitzten Körper von Vergnügungssüchtigen, die den ersten Wagen komplett füllten. Junge Männer, die mit ihren Freundinnen unterwegs waren, Studenten und heiteres Partyvolk, das am Ostkreuz ausstieg, um weiter zur Simon-Dach-Straße zu ziehen oder in den Clubs an der Spree zu feiern. Auch wenn die Luft stickig war, konnte Claudia aufatmen.
An der Station Treptower Park war die Bahn fast leer. Claudia stieg als Einzige aus und eilte über den verwaisten Bahnsteig. Sie hastete die Treppe nach unten, zündete sich eine Zigarette an und inhalierte den Rauch so gierig, als wäre es der letzte Glimmstängel, den sie rauchen würde. Um keine Zeit zu verlieren, wenn sie vor der Haustür stand, holte sie ihren Wohnungsschlüssel schon jetzt aus der Tasche. In der Unterführung der S-Bahnstation horchte sie plötzlich auf. Claudia war sich sicher, ein Geräusch vernommen zu haben. War das etwa ...? Adrenalin flutete ihren Blutkreislauf, die Muskeln spannten sich und ließen ihren Körper erstarren.
»Hilfe«, schien eine zarte Stimme zu wimmern. Sie hatte sich nicht geirrt. Und wieder: »Hiilfe …« Mitleidserregend und erbärmlich. Claudia blickte die Unterführung der S-Bahntrasse entlang in Richtung des Treptower Parks. Da mussten die Hilferufe herkommen. Unwillig, sich um diese Uhrzeit um die Angelegenheiten anderer zu kümmern, ging sie zwei Schritte in die entgegengesetzte Richtung. Dort lag ihre Wohnung, direkt neben den Treptowers – gläsernen Bürotürmen, die immer noch erleuchtet waren. Die Sicherheit der eigenen Wohnung wartete auf sie. Nur dreihundert Meter entfernt.
»Hilfe«, war wieder dieser flehentliche Ruf zu vernehmen.
Claudia ging zwei Schritte weiter. War das etwa ein Kind? Mit einem Schulterblick sah sie sich um. »Hallo?«, rief sie durch den Tunnel in die Dunkelheit der Nacht. »Hallo? Kleines? Was ist?«
»Hiiiiiiilfe«, flehte diese zarte Stimme unverändert leise.
Sollte Claudia die Rufe ignorieren? Was ging es sie an, wer sich um diese Uhrzeit noch im dunklen Park herumtrieb? Sie zögerte. »Ich lass dich nicht allein! So bin ich nicht!«, sprach sie dann entschlossen vor sich hin, ließ die Zigarette fallen, zog ihr Handy aus der Tasche und wählte »110«. Die Warteschleife der Berliner Polizei war zu hören mit der Bitte, noch etwas Geduld zu haben. Nach einigen Augenblicken brach die Verbindung unvermittelt ab. Claudia beäugte kritisch den Empfangsstatus auf dem Display. Ein Balken deutete darauf hin, dass die Verbindung im Tunnel der Unterführung nicht stabil war.
»Hilfe!« Erbärmliches, flehentliches Wimmern. Claudia erkannte in der Dunkelheit des Parks die Konturen eines Gebüschs. Daher schienen die Rufe zu kommen. Viel zu finster war es da draußen, als dass sie es wagen konnte, die Sicherheit der S-Bahnstation zu verlassen. »Ich hole Hilfe!«, schrie Claudia, rannte die Treppe der S-Bahnstation nach oben und betätigte an der Notrufsäule die Alarmtaste. Das Freizeichen erklang, ohne dass jemand den Notruf annahm. Es tutete fünfmal, dann brach die Verbindung ab. Sie winkte in die Überwachungskamera, um auf sich aufmerksam zu machen. »Hilfe«, formulierten ihre Lippen, ohne dass sie es rief. Sie betätigte noch einmal die Notruftaste. Dieses Mal erhielt sie nicht einmal ein Freizeichen, sondern nur Signaltöne in dichter Abfolge. Besetzt. Claudia sah auf. »Der Zugverkehr ist wegen eines Notarzteinsatzes unregelmäßig«, lief über die Anzeige. Der nächste Zug kam frühestens in zwanzig Minuten. Auf den beiden Bahnsteigen der Station wartete niemand. Wie ausgestorben war es. Nicht einmal einer der Obdachlosen, die an der Station für gewöhnlich rumlungerten, trieb sich noch hier herum. Claudia rannte die Treppe wieder nach unten in den Tunnel und zog das Pfefferspray aus der Tasche. Dann hielt sie inne und lauschte. Es war nichts mehr zu hören. Überhaupt nichts. Totenstille. Zögerlich tastete sie sich zur Parkseite der Unterführung vor, vergewisserte sich nach jedem Schritt, ob irgendwelche Geräusche auf die Anwesenheit eines Fremden schließen ließen. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte sie das Tunnelende. »Hallo? Kleines? Bist du noch da?«, fragte sie in die Nacht, das Pfefferspray zur Verteidigung in der rechten Hand. Die feingeästelten Zweige des Busches zeichneten sich nun im diffusen Restlicht der Bahnsteigbeleuchtung ab. Dahinter lag der Treptower Park, in unergründlicher, unheilvoller Dunkelheit, als würde die Grünanlage das Licht der Umgebung wie ein schwarzes Loch aufsaugen.
»Hilfe«, stöhnte diese zarte Stimme wie aus dem Nichts. Claudia Puls raste, und der hohe Blutdruck ließ die Halsarterien anschwellen. Ihre Knie zitterten, doch ihre Entschlossenheit, einem wehrlosen Opfer beizustehen, wuchs mit jeder Sekunde. Sie atmete zweimal tief durch, während sie die Unterführung verließ.
Die wenigen Lampen im Park funktionierten nicht. Bauzäune deuteten darauf hin, dass auch hier etwas Neues entstehen sollte. Tagsüber war der Park wunderschön, bot einen Zugang zum Hafen an der Spree, wo die Ausflugsboote im Sommer ablegten, doch nachts schien es wie eine andere Welt zu sein. So unübersichtlich und fremd. Die unbeschwerte Leichtigkeit des Tages, das Vogelgezwitscher, verflogen. Sie merkte, wie ihre schwitzigen Hände das Metall der Pfefferspraydose erhitzt hatten. Ihr Zeigefinger klebte am Auslöser.
»Hiiiiiilfe …«
Das Mädchen war nicht hinter dem Gebüsch direkt am Ausgang, wie Claudia zunächst geglaubt hatte. Die Rufe kamen aus Richtung des Gebäudes der Stern- und Kreis-Schifffahrt, das gut neunzig Meter entfernt, unweit der Spree lag. In der einen Hand das Mobiltelefon, in der anderen das Pfefferspray schritt Claudia ganz langsam auf den eingeschossigen Bau der Reederei zu. Angespannt bis zum Äußersten schaltete sie die Taschenlampe ihres Handys an. Der eng begrenzte Lichtkegel der Lampe konnte der Umgebung keine Gestalt verleihen. Die Schwärze der Nacht ließ sich mit der Beleuchtung eines Smartphones nicht durchdringen. Claudia wählte die Nummer ihres Freundes, aktivierte den Lautsprecher und ließ die Hand mit dem Handy sinken. »Hallo? Kleines? Bist du noch da?«, wollte sie in die Dunkelheit rufen – doch es war nur ein Flüstern.
»Was ist denn?«, fragte eine verärgerte Stimme. Claudia schrak zusammen und ließ ihr Smartphone fallen. Das Mobiltelefon fiel auf die Vorderseite, und das Licht der Taschenlampe bohrte sich in den sandigen Grund.
»Was willst du jetzt noch? Kann das nicht bis morgen warten?«, war der Ärger ihres Freundes aus dem Lautsprecher des Handys deutlich zu vernehmen. Aber Claudia hörte nicht mehr, was er ihr sagen mochte. Wie erstarrt stand sie vor der großen Platane, die neben dem Gebäude der Reederei wuchs, und versuchte, das zu verarbeiten, was ihre Augen gerade wahrnahmen. Das Entsetzen zu unterdrücken, das sie ganz und gar erfasste. Und den Instinkt zu beherrschen, der ihren Vorfahren vor Urzeiten signalisierte, dass sie die Beute eines Raubtieres werden sollten. Die Wahrheit war nicht zu leugnen. Wenn man es sich auch noch so sehr wünschte. Nicht als alptraumhaftes Gebilde zusammenbrechen und sie in der Sicherheit eines kuscheligen Bettes aufwachen lassen. Wie sie es so oft als Kind erlebt hatte. Schrecklich war das Hier und Jetzt. Unmittelbar und kalt. Weder Fantasie, noch Urangst. Hinter dem Baum bewegte sich etwas. Ein kalter Schauer lief Claudia über den Rücken und sie verstand schlagartig, dass es etwas abgrundtief Böses war. Es war der Feind, der sie in eine Falle gelockt hatte.
»Hilfe!«, war wieder das leise Flehen aus dem Gebüsch zu vernehmen. Weit weg. Es war ein anderes Opfer. Und sie war auserwählt, das nächste zu sein. Hier das Opfer, dort der Jäger. Mitten in einer Großstadt. Mitten in Berlin. Wie hypnotisiert starrte Claudia auf das Gesicht, das hinter dem Stamm hervorkam, angestrahlt wie der Mond von der Sonne. Langsam, ganz langsam bewegte es sich. Grausam unaufgeregt. Als gäbe es keine Eile. Maskenhaft, fahl und bleich stellte es sich dar, ohne die feinen Konturen eines menschlichen Antlitzes zu besitzen. Mit zittrigen Händen hielt Claudia das Pfefferspray in der Hand. Unfähig, sich zu verteidigen, war sie nicht in der Lage, das augenreizende Pulvergemisch einzusetzen. Claudia spürte einen stechenden Schmerz im Arm. Ihr wurde schwindelig, sie torkelte und fiel zu Boden. Hatte sie etwas getroffen? Etwas Spitzes? Wie gelähmt musste sie tatenlos dabei zusehen, wie sich diese Maske unaufhaltsam näherte. Die Bewegungen fast tanzend in der Luft, losgelöst vom Boden, als gäbe es keinen Körper, zu dem sie sich zugehörig fühlte.
»Hilfe!«, erklang erneut ein Wimmern. Doch diesmal stammte der Klagelaut nicht von einem Kind. Dieses Mal kam das verzweifelte Flehen von ihr. Claudia stöhnte ein letztes Mal auf, bevor sich ihre Kehle zuschnürte und sie den Kopf auf den Boden sinken ließ. Ohne noch Kontrolle über ihre Muskeln zu besitzen, starrte sie mit leeren Augen in den Nachthimmel. Als sich die weiße Maske in ihrer gesamten Fremdheit über ihr Gesicht schob und sich etwas Scharfes dutzendfach in Arme und Beine bohrte, fühlte Claudia schon längst keinen Schmerz mehr.
Drei Tage später. Berlin, Strausberger Platz. 25. März 2014, 12:00 Uhr.
»Schatz?« Ana wischte mit dem Zeigefinger über das brandneue Tablet, das sie von ihrem Mann geschenkt bekommen hatte. Der Artikel in der »Berliner Zeitung« über einen Einbruch in der Juwelierabteilung des KaDeWe hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. »Schatz? Hast du das gelesen?« Ihr Mann François war längst an der Arbeit, doch Ana tat so, als würde er weiterhin mit am Tisch sitzen in dieser teuren Penthousewohnung mit dem fantastischen Blick über die Karl-Marx-Allee bis hin zum Fernsehturm. Anas Ritual war es, die Onlineausgaben der Zeitungen nach ungelösten Kriminalfällen zu durchforsten. Allemal besser, wie sie fand, als ein neuerliches Sudoku-Feld auszufüllen. Am Ende standen die Zahlen von eins bis neun doch immer wieder in den Reihen unter- und nebeneinander, bevölkerten das gerasterte Quadrat in bekannter Regelmäßigkeit. Was hatte das für einen Sinn?
Die achtunddreißigjährige Ana und ihr fast zehn Jahre älterer Mann François lebten seit Jahren aneinander vorbei. Zusammengehalten wurde die Ehe einzig durch die tägliche Routine, die Risse gekittet durch den Alltag, der ihnen ein Nebeneinander in der gemeinsamen Wohnung auftrug. Da Ana nicht arbeiten ging, war ihr Tag vollgepackt mit Beschäftigungen, die ausschließlich der Befriedigung ihrer Eitelkeit dienten. Nach einem über einstündigen Schminkritual, das der angegriffenen Haut in ihrem hübschen Gesicht eine millimeterdicke Hülle verpasste, standen Besuche in der Pediküre und im Fitnessstudio an, ein Zwischenstopp im Solarium, um wieder eine Bikinibräune für den Osterurlaub zu erhalten, und nachmittags ausgiebiges Shopping im KaDeWe.
Manchmal, wenn die Tage dunkel waren und das Wetter wolkenverhangen, hing Ana, deren Leben erfüllt war von einer tiefen Leere, melancholischen Gedanken nach. Auch sie hatte Träume gehabt, auch sie kam nicht schon desillusioniert auf die Welt. Sie wäre gerne Lehrerin geworden. Für Deutsch und Sport. Wenn nicht an der Grundschule, dann zumindest in der Sekundarstufe 1. Sie liebte Kinder. Doch ihr Mann bestand darauf, dass sie zu Hause blieb. Er hatte sich nicht unbedacht eine Frau aus Osteuropa ausgesucht, prahlte er immer vor seinen Freunden. Wenn es einmal Liebe zwischen ihnen gegeben hatte, war diese längst in Hass umgeschlagen. Unterwürfig und geduldig sollte sie sein. Nicht so unwirsch und zickig wie die deutschen Frauen, trug François ihr auf.