Spuren im Schnee - Patricia St John - E-Book

Spuren im Schnee E-Book

Patricia St. John

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Beschreibung

Sieben Jahre ist Annette alt, als ihre Mutter stirbt. Nun muss sie auf dem kleinen Bergbauernhof in den Schweizer Alpen für ihren Vater und den kleinen Bruder Dani sorgen. Bei einem Streit mit dem Nachbarsjungen Lukas verunglückt Dani schwer. Annettes Hass kennt keine Grenzen. Sie scheut kein Mittel, um Lukas zu bestrafen – und wird dabei selbst unglücklich. Eines Tages erfährt Lukas von einer Möglichkeit, das Geschehene wiedergutzumachen. Er setzt sein Leben aufs Spiel, damit Dani wieder gesund werden kann. "Spuren im Schnee" ist ein zeitloser Klassiker und eins der erfolgreichsten Bücher von Patricia St. John, die deutsche Übersetzung ist inzwischen in der 25. Auflage erschienen und der Roman wurde auch schon verfilmt.

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Seitenzahl: 289

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Patricia St. John

Spuren im Schnee

Impressum

Originaltitel: »Treasures of the Snow«

Erschienen bei: Scripture Union (Bibellesebund), London

© 1950 by Patricia St. John

 

Deutsch von Elisabeth I. Aebi

© 1952 der deutschsprachigen Ausgabe: Verlag Bibellesebund, Winterthur

27. Auflage 2018

© 2019 der E-Book-Ausgabe

Bibellesebund Verlag, Marienheide

https://shop.bibellesebund.de/

 

Coverillustration: Jana Parel

Covergestaltung:Georg Design, Münster

ISBN 978-3-95568-322-1

 

Hinweise des Verlags

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise - nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des Textes kommen.

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Inhalt

Titel

Impressum

Vorwort der Autorin

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

Vorwort der Autorin

Als ich ein Kind von sieben Jahren war, lebte ich in der Schweiz.

Ich wohnte in einem Chalet in den Bergen, etwas oberhalb der Ortschaft, in der ich die Geschichte von Annette, Dani und Lukas spielen lasse. Auch ich fuhr, wie die Kinder in meiner Geschichte, im Mondschein mit dem Schlitten ins Dorf hinunter. Auch ich half im Sommer beim Heumachen. Ich begleitete die Kühe auf die Alm und schlief im Heuschober. Am Weihnachtsabend ging ich in die Dorfkirche und bestaunte den Christbaum mit seinen Apfelsinen und Lebkuchenbären. Auch ich wurde zum Arzt in die kleine Nachbarstadt gebracht. Mein kleiner Bruder fuhr im Karren des Milchmanns spazieren, gezogen von einem großen Bernhardinerhund. Und Schneeweißchen war mein eigenes Kätzchen.

Doch all das liegt viele Jahre zurück und ich bin seither nur noch als Gast in der Schweiz gewesen. Vieles hat sich inzwischen sehr verändert. So ist es heute gewiss undenkbar, dass ein Kind jahrelang der Schule fernbleibt. Auch ist das Gesundheitswesen verbessert worden und wahrscheinlich hat nun jede Ortschaft ihren eigenen Arzt – ich weiß es nicht.

Eines aber weiß ich gewiss: dass das kleine Schulhaus und die Kirche noch am selben Ort stehen; dass der Klang der Herdenglocken noch immer von allen Wiesen und Weiden herab zu hören ist; und dass in jedem neuen Frühling der Duft der Narzissenfelder das Tal erfüllt. Ich hoffe, dass die Kinder noch immer ihre Weihnachtslieder singen und dass sie ebenso große Freude an ihren Lebkuchenbären haben, wie ich sie damals hatte.

Ich habe den Namen des Dorfes absichtlich nicht genannt, denn einige Einzelheiten entsprechen nicht der Wirklichkeit. So gibt es z.B. keine Ortschaft in der Nähe, die nur auf dem Weg über den Pass erreicht werden könnte. Doch habe ich versucht, ein getreues Bild des Lebens, wie es sich hier abspielte, zu geben.

Solltest du einmal in diese Gegend kommen, so nimm in Montreux die elektrische Bergbahn und fahre bis zu einer kleinen Station, wo die Wiesen an den Bahnsteig grenzen und wo grüne, mit Chalets übersäte Hänge ringsum ansteigen.

Rechts vom Bahngleis neigt sich der Hang bis zum schäumenden, tosenden Fluss hinunter, an dessen jenseitigem Ufer der Berg wieder ansteigt. Und dort oben, zwischen einer steil abfallenden grünen Halde und einem spitzen Felsen, liegt der Pass. Wenn du überdies nicht weit vom Bahnhof entfernt das niedrige, weiße Schulhaus entdeckst und hinter einem kleinen Hügel die hölzerne Kirchturmspitze hervorgucken siehst, dann wisse: Das ist das Dorf, in dem diese Erzählung ihren Ursprung nahm.

Patricia St. John

1. Kapitel

Es war Weihnachtsabend. Drei Gestalten, deren Schatten sich im Mondlicht auf dem weißen Schnee abzeichneten, kletterten den steilen Bergpfad hinauf. Eine Frau in einem langen, weiten Rock und mit einem schwarzen Schal über den Schultern hielt einen dunkelhaarigen, etwa sechsjährigen Jungen an der Hand, der mit vollem Mund unaufhörlich vor sich hin schmatzte. Neben den beiden, die Augen zu den Sternen erhoben, stapfte ein etwa siebenjähriges Mädchen. Es hielt die Hände über der Brust gekreuzt und drückte einen honigfarbenen Lebkuchenbären mit weißen Zuckeraugen fest an sein Herz.

Der kleine Junge hatte auch einen solchen Bären gehabt. Aber der war bereits verzehrt. Bloß die Hinterbeine waren übrig geblieben! Der Junge warf einen verschmitzten Blick auf das Mädchen. »Meiner war größer als deiner«, erklärte er.

»Ich möchte nicht tauschen«, erwiderte die Kleine ruhig und ohne den Kopf zu wenden. Zärtlich blickte sie auf den prächtigen Bären in ihrer Hand. Wie süß er roch und wie er im Mondschein glänzte! Nie, nie wollte sie ihn anbeißen! Achtzig Dorfkinder hatten heute einen Lebkuchenbären erhalten, aber ihrer war bestimmt der allerschönste!

Ja, sie wollte ihn als Andenken aufbewahren. Jedes Mal, wenn sie ihn anschaute, würde er sie an diesen Weihnachtsabend erinnern: an den kalten, dunkelblauen Himmel, an den warmen Schein der festlich erhellten Kirche, an den mit Silbersternen geschmückten Baum, an die Lieder, die Krippe und die schöne, traurige Weihnachtsgeschichte. Es kamen ihr fast die Tränen, wenn sie an die Herberge dachte, in der es keinen Raum fürs Christkind gab. Sie hätte ihre Tür weit aufgemacht und die müden Reisenden freudig aufgenommen!

Lukas, der Junge, ärgerte sich über ihre Schweigsamkeit. »Ich habe meinen fast aufgegessen«, schmollte er; »lass mich deinen probieren, Annette, du hast ihn ja noch nicht einmal angefangen!«

Doch Annette schüttelte den Kopf und drückte ihren Bären fester an sich. »Ich werde ihn nie aufessen«, sagte sie. »Ich will ihn immer und ewig behalten.«

Inzwischen waren die drei bei einer Stelle angekommen, wo der Weg mit seinen Schlittenspuren sich teilte. Der Pfad zur Rechten führte zu einer Gruppe von Chalets mit hell erleuchteten Fenstern. Dahinter standen dunkle Ställe und Scheunen. Annette war beinahe zu Hause.

Frau Matter schien zu zögern. »Können wir dich allein heimgehen lassen, Annette?«, fragte sie. »Oder sollen wir dich bis vor die Haustür begleiten?«

»O nein, ich gehe lieber allein«, erwiderte Annette. »Vielen Dank, dass Sie mich mitgenommen haben. Gute Nacht, Frau Matter, gute Nacht, Lukas!«

Und damit eilte sie davon. Hoffentlich überlegte Frau Matter es sich nicht anders und bestand darauf, sie heimzubegleiten, wo sie doch so sehnlich wünschte, allein zu sein! Sie wartete ja nur darauf, Lukas’ Geschwätz loszuwerden. Wie sollte sie nachdenken und die Sterne betrachten können, solange sie Frau Matter und Lukas höfliche Antworten geben musste?

Annette war nie zuvor bei Nacht allein draußen gewesen, und auch heute geschah es nur durch eine Art Zufall. Sie hätte mit Vater und Mutter auf dem Schlitten zur Kirche fahren sollen. Seit Wochen hatten sie davon gesprochen und sich darauf gefreut. An diesem Morgen aber war Mutter plötzlich erkrankt und Vater war mit dem Mittagszug in die Stadt hinuntergefahren, um einen Arzt zu holen. Dieser war etwa um vier Uhr gekommen, aber er hatte Mutter nicht rechtzeitig gesund machen können, um zur Kirche zu gehen, wie Annette gehofft hatte. So hatte sie zu ihrer großen Enttäuschung stattdessen mit Frau Matter gehen müssen, deren Chalet etwas weiter oben am Berg stand. Als sie dann aber die Kirche betreten hatten, war es dort so wunderschön gewesen, dass Annette alles Übrige vergessen hatte.

Noch hielt der Zauber dieses Abends an. Und als sie nun ganz allein im Schnee unter den Sternen stand, schien es ihr jammerschade, sogleich ins Haus zu gehen und den Zauber zu brechen. Am Fuß der Treppe, die zum Balkon und zur Wohnstube hinaufführte, blieb Annette stehen und schaute sich um. Gegenüber war der Kuhstall; sie konnte hören, wie die Tiere sich bewegten und Heu aus der Krippe fraßen. Da kam ihr ein großartiger Gedanke. Sie sprang über die Schlittenspuren hinweg und hob den Riegel der Stalltür. Ein heimeliger, warmer Geruch von Vieh, Milch und Heu umfing sie. Sie schlängelte sich an den Beinen einer braunen Kuh vorbei und kletterte auf die Krippe. Die Kuh war eifrig mit Fressen beschäftigt. Annette schlang die Arme um ihren Hals und ließ sie ruhig weiterkauen. Genauso musste es gewesen sein, als Maria mit ihrem neugeborenen Kindlein in den Armen bei den Tieren saß!

Annette schaute auf die Krippe hinab und ihrer angeregten Phantasie kam es vor, als läge das himmlische Kind auf dem Heu und die Kühe ständen still und andächtig rundherum. Durch eine Lücke im Dach konnte sie einen einzelnen funkelnden Stern erblicken und sie musste daran denken, wie der Stern über Bethlehem gestanden und die Weisen zur Stätte geführt hatte, wo das Jesuskind lag. Sie konnte sich gut vorstellen, wie die Weisen auf ihren schaukelnden Kamelen das Tal heraufgeritten kamen. Und jetzt würde wohl jeden Augenblick die Tür aufgehen und die Hirten kämen hereingeschlüpft, kleine Lämmer auf den Armen, und würden das Kind mit weichen Schaffellen zudecken wollen! Tiefes Mitgefühl ergriff Annette beim Gedanken an das heimatlose Kindlein, dem alle Türen verschlossen geblieben waren.

»In unserem Chalet wäre Platz genug gewesen«, murmelte sie. »Und doch: Hier ist’s wohl am allerschönsten. Das Heu ist sauber und weich und der Atem der Braunen warm und gut. Gott hat doch die beste Wiege für sein Kind gewählt! «

Wer weiß, ob Annette nicht in dieser Weise die halbe Nacht verträumt hätte, wäre nicht plötzlich der Schein einer Laterne durch die angelehnte Tür gedrungen, während gleichzeitig feste Schritte über den knirschenden Schnee kamen. Dann hörte Annette ihren Vater rufen. Sie glitt von der Krippe herunter, wich geschickt dem Schwanz der Braunen aus und lief mit ausgebreiteten Armen auf ihren Vater zu.

»Ich wollte den Kühen einen Weihnachtsbesuch machen«, lachte sie. »Hast du mich gesucht?«

»Ja«, erwiderte der Vater. Aber er lachte nicht. Sein Gesicht war bleich und ernst. Er fasste Annette bei der Hand und zog sie die Treppe hinauf. »Du hättest sofort heimkommen sollen, wo doch Mutter so krank ist«, sagte er. »Sie fragt seit einer halben Stunde beständig nach dir.«

Annettes Herz begann heftig zu schlagen. Wie hatte sie nur ihre geliebte Mutter vergessen können! Sie machte sich von der Hand ihres Vaters los und eilte schuldbewusst die hölzerne Treppe hinauf.

Weder der Arzt noch die Gemeindeschwester bemerkten sie, bis sie nahe am Bett der Kranken stand, denn sie war ein kleines, leichtfüßiges Ding, das sich lautlos wie ein Schatten bewegen konnte. Aber die Mutter erblickte sie sogleich und streckte mühsam die Arme nach ihr aus. Wortlos rannte Annette hinzu und legte das Gesicht an Mutters Schulter. Sie begann leise zu weinen, denn Mutters Gesicht erschreckte sie: Es war beinahe so weiß wie das Kissen. Wie leid tat es ihr nun, dass sie so lange weggeblieben war!

»Annette«, flüsterte die Mutter, »hör auf zu weinen. Ich habe ein Geschenk für dich.«

Annette war sofort still. Ein Geschenk? Natürlich, es war ja Weihnachten. Da gab ihr die Mutter immer ein Geschenk. Was mochte es wohl sein? Erwartungsvoll blickte sie um sich.

Die Mutter wandte sich an die Gemeindeschwester. »Geben Sie es ihr«, flüsterte sie.

Da schlug die Schwester die Decke zurück und zog ein Bündel hervor, das in ein weißes Wolltuch eingewickelt war. Sie trat zu Annette und hielt es ihr entgegen.

»Dein Brüderchen«, erklärte sie. »Komm, wir wollen es unten beim Feuer in die Wiege legen, dann darfst du es schaukeln. Wir müssen deine Mutter jetzt schlafen lassen. Sag ihr ›Gute Nacht‹.«

»Dein Brüderchen«, wiederholte Mutters matte Stimme.

»Es gehört zu dir, Annette. Zieh es auf und hab es lieb und sorge gut für es – an meiner Stelle. Ich vertraue es dir an.«

Die Stimme versagte ihr und sie schloss die Augen.

Annette war wie betäubt und folgte willenlos der Schwester. Sie setzte sich auf einen Schemel ans Herdfeuer, vor sich die Wiege, in der ihr Weihnachtsgeschenk lag.

Lange saß sie regungslos und schaute unverwandt auf das Bündel herab, das ihr Brüderchen sein sollte. Der Schnee warf ein seltsames Licht auf die Wände und der Widerschein der glühenden Holzstücke tanzte an der Zimmerdecke. Es war sehr still im Haus und dort, ja dort schien der Weihnachtsstern durchs Fenster herein! So hatte er im Stall von Bethlehem auf jenes andere Kind herabgeschienen. Und so wie sie, Annette, hier am Feuer saß und über ihren Bruder wachte, so hatte Maria dagesessen und über Gottes kleinen Sohn gewacht.

Mit ehrfürchtigen Fingern berührte Annette den samtigen kleinen Haarschopf. Dann legte sie mit einem müden Seufzer den Kopf auf die Decke und ließ ihre Gedanken wandern, wohin sie wollten: Sterne, Herden, neugeborene Kindlein, verschlossene Türen, weise Männer und Lebkuchenbären – hinter ihrer Stirn gerieten sie alle durcheinander, und sie selbst glitt allmählich zu Boden.

Hier fand sie ihr Vater eine Stunde später, friedlich schlafend wie ihr Brüderlein, den blonden Kopf an die Wiege gelehnt.

»Arme mutterlose Kinder«, klagte er, während er sich bückte und seine kleine Tochter in die Arme nahm, »wie soll ich euch bloß aufziehen ohne sie?«

Denn Gott hatte Annettes Mutter zu sich gerufen; sie durfte Weihnachten mit den Engeln feiern.

2. Kapitel

So kam es, dass der kleine Daniel Brunner schon drei Stunden nach seiner Geburt nicht wie andere Kinder eine erwachsene Frau zur Mutter hatte, sondern seine siebenjährige Schwester Annette. Zwar blieb die freundliche Gemeindeschwester noch eine Zeit lang im Haus, um den Kleinen zu versorgen, und als sie ging, stellte der Vater eine Frau aus dem Dorf an, um ihn zu pflegen. Aber er gehörte zu Annette und niemand nannte ihn je anders als »Annettes Kleiner«.

Als nämlich der erste große Schmerz vorüber war, holte Annette aus der Tiefe ihres einsamen, traurigen Herzens den ganzen Reichtum ihrer Liebe herauf und schüttete ihn über ihren kleinen Bruder aus. Sie hielt ihm das Fläschchen, wenn er trank, und saß stundenlang neben seiner Wiege, für den Fall, dass er aufwachen und nach ihr verlangen möchte. Sie war es, die nachts zu ihm lief, wenn er aufwachte oder im Schlaf wimmerte. Sie war es, die ihn um die Mittagszeit auf den Balkon hinaustrug. Und in dieser Atmosphäre sonniger Liebe gedieh der Kleine, sodass bald im ganzen Tal kein fröhlicheres, kräftigeres Kind zu finden war. Er schlief und erwachte und lachte und aß und strampelte und schlief wieder ein. Er verursachte nie auch nur einen Augenblick der Sorge.

»Er ist unter einem guten Stern geboren«, behauptete die Frau vom Dorf und betrachtete ihn gedankenvoll.

»Er ist unter einem Weihnachtsstern geboren«, erwiderte Annette ernsthaft. »Ich glaube, er wird immer zufrieden und glücklich sein.«

Und wie er wuchs! Als die Sonne die Schneemassen zu schmelzen begann und in den gelblichen Wiesen die Krokusse ans Licht lockte, musste er größere Kleider haben. Und gleich, nachdem die Kühe zur Alm hinaufgezogen waren, brach sein erstes Zähnchen durch. Da Annette nichts von ersten Zähnen wusste und keine Beschwerden erwartete, vergaß der Kleine selbst, dass es eine beschwerliche Sache sein sollte. Anstatt zu jammern und zu schreien, kicherte und lachte er und lutschte an seiner Faust.

Als dann die Buchenblätter wie goldene Fackeln unter den dunklen Tannen leuchteten und die ersten Herbststürme über die Berge fegten, wurde die Wiege zu klein für Dani, der nun auf dem Boden herumzurutschen begann. Vom Ofen bis zur Balkontreppe wollte er alles erforschen, sodass Annette einige aufregende Wochen erlebte und ihn aus allen möglichen Gefahren erretten musste. Schließlich fand sie, sie könne die Spannung nicht länger ertragen, und band ihm den einen rosigen Fuß am Küchentisch fest. Nun konnte er im Kreis herum Entdeckungsreisen unternehmen und das Leben wurde wieder ruhiger.

Eines Abends, nachdem sie Dani zu Bett gebracht hatte, kam Annette in die Wohnstube herunter und fand ihren Vater beim Ofen sitzen, den Kopf in die Hände gestützt. Er sah alt und müde aus. Das war zwar öfter der Fall, seit Mutter gestorben war; aber heute sah er noch schlechter aus als sonst. Annette, die sich alle Mühe gab, die Lücke auszufüllen, die ihre Mutter hinterlassen hatte, kletterte auf seine Knie und legte ihre weiche Wange an die knochige, braune ihres Vaters.

»Was ist los, Papa?«, fragte sie. »Bist du heute besonders müde? Soll ich dir eine Tasse Kaffee kochen?«

Forschend blickte der Vater auf seine Tochter herab. Sie sah so klein und zierlich aus wie eine Elfe mit goldenem Haar. Und dabei war sie so vernünftig und mütterlich! Er wusste nicht, wie es gekommen war, aber im vergangenen Jahr hatte er es sich angewöhnt, seine Schwierigkeiten mit ihr zu teilen und sich sogar ihre ernsthaften Ratschläge anzuhören. So drückte er jetzt ihren Kopf an seine Schulter und erzählte ihr alles.

»Wir werden eine Kuh verkaufen müssen, Annette«, erklärte er traurig. »Wir müssen mehr Geld haben, sonst gibt’s keine Winterschuhe für dich.«

Annette hob den Kopf und starrte ihn entsetzt an. Sie hatten bloß sechs Kühe und an jeder einzelnen hingen sie wie an einem persönlichen Freund. Welche auch gehen müsste, sie würde ihnen schrecklich fehlen. Nein, sie musste einen besseren Weg ausfindig machen, um Geld zu verdienen!

»Schau«, fuhr der Vater fort, »in anderen Familien ist eine Mutter da, um für die Kinder zu sorgen; ich aber muss eine Hilfe bezahlen, um Dani zu pflegen. Das ist teuer. Und doch muss jemand ihn versorgen, den armen kleinen Kerl.«

Da richtete sich Annette sehr gerade auf und warf energisch die Zöpfe zurück. Sie sah ihren Weg ganz klar vor sich. Nun musste sie nur ihren Vater dazu bringen, ihn auch zu sehen.

»Papa«, sagte sie langsam und deutlich, »du brauchst Frau Hauser nicht mehr. Ich bin jetzt achteinhalb und ich kann Dani ebenso gut versorgen wie irgendwer. Mir brauchst du keinen Rappen zu zahlen und dann können wir die Kühe behalten. Denk doch, Papa, wie traurig sie wären, wenn sie von uns wegmüssten! Ich glaube wahrhaftig, Bless würde weinen.«

»Aber du musst doch zur Schule«, widersprach der Vater. »Es wäre nicht recht, dich zu Hause zu behalten. Und überhaupt, es ist gegen das Gesetz. Der Lehrer würde fragen, warum du nicht kommst, er müsste es der Schulbehörde melden, und was dann?«

»Es ist aber viel wichtiger, für Dani zu sorgen«, entgegnete Annette und runzelte die Stirn. »Wenn du es dem Lehrer erklärst, begreift er das sicher. Er ist ein freundlicher Mann und sogar ein Schulfreund von dir. Wir wollen es doch versuchen und sehen, wie’s geht. Weißt du, Papa, ich mache dann jeden Morgen Schularbeiten und Dani kann währenddessen am Boden spielen. Es ist ja bloß für vier Jahre! Wenn Dani fünf ist, kann er in den Kindergarten; dann nehme ich ihn mit ins Dorf hinunter und gehe selber wieder zur Schule.«

Der Vater schaute sie immer noch gedankenvoll an. Es war schon so: Sie verstand es ebenso gut wie eine Frau, mit dem Kind umzugehen, und im Haushalt war sie wunderbar geschickt. Aber sie konnte trotzdem noch nicht kochen und Strümpfe stricken oder schwere Arbeiten verrichten und außerdem sollte sie doch einigermaßen unterrichtet werden. Ganze fünf Minuten saß der Vater schweigend da. Dann kam ihm ein rettender Einfall.

»Ich frage mich, ob Großmutter wohl zu uns käme?«, sagte er. »Sie ist alt und leidet an Rheuma, auch sieht sie nicht mehr gut. Aber sie könnte vielleicht das Kochen und Flicken übernehmen und dir am Abend bei den Schularbeiten helfen. Sie würde dir auch Gesellschaft leisten, wenn ich auf der Alm bin. Du bist zu jung, um den ganzen Tag allein zu bleiben. Vielleicht behält der Lehrer die Sache für sich, wenn ich ihm schreibe, dass die Großmutter dich unterrichtet, so gut sie kann. Vielleicht kannst du auch ein Jahr oder zwei eher wieder zur Schule, wenn die Großmutter hier ist. Dani wird doch mit der Zeit auch vernünftiger!«

Behände rutschte Annette von den Knien ihres Vaters herunter und holte zwei Bogen Schreibpapier, Feder und Tinte aus dem Schrank.

»Schreib den beiden gleich!«, bat sie. »Ich werfe die Briefe morgen früh ein, wenn ich Brot holen gehe. Dann haben wir die Antwort ganz schnell.«

Annette sollte recht behalten: Schon in den nächsten Tagen erhielten sie Antwort auf beide Briefe. Die erste Antwort kam in Gestalt der Großmutter, die mit der Eisenbahn anreiste, begleitet von einer hölzernen Truhe, die zur Sicherheit fest mit einem Strick umwickelt war. Da sie einen Tag vorher ihre Ankunft angekündigt hatte, ging Annette zum Bahnhof, um sie abzuholen. Sie sah zu, wie die kleine elektrische Bahn zwischen den Heuwiesen das Tal heraufkroch. Der Zug hatte ziemlich Verspätung und der Zugführer erklärte ärgerlich, eine Kuh sei daran schuld, denn sie habe sich aufs Gleis verlaufen. Deshalb fuhr er nun so schnell wieder ab, dass die arme Großmutter, gebeugt und verkrüppelt, wie sie war, kaum Zeit hatte auszusteigen. Ihre Truhe wurde unsanft auf den Bahnsteig gestellt, als der Zug schon wieder in Bewegung war.

Großmutter jedoch regte sich nicht auf. Sie lehnte sich schwer auf ihren Stock. Wie sollte sie auf den Berg hinaufkommen? Annette, die nichts von Rheuma wusste, schlug vor, dass sie gehen sollten. Aber die Großmutter sagte bloß: »Unsinn, Kind!«

Schließlich nahm ein Fuhrwerk sie mit. Der Fuhrmann hatte Käse zur Bahn gebracht und fuhr nun wieder bergauf. Die Straße war holperig, die Räder aus Holz, und das Maultier hatte einen unregelmäßigen Gang. Es war deshalb kein Wunder, dass die Großmutter die Fahrt viel weniger genoss als ihre Enkelin. Aber die alte Frau biss die Zähne zusammen und ließ keine Klage laut werden. Erst als sie sicher in der Sofaecke beim Ofen saß, ein Kissen im schmerzenden Rücken, und Annette geschäftig umherlief, um ihr eine Tasse Kaffee zuzubereiten, da stieß die gute Großmutter einen einzigen, langen Seufzer der Erleichterung aus.

Unter dem Tisch hervor guckte Dani, der wie immer auf dem Boden herumrutschte. Er streckte zwei Finger in den Mund und strahlte die Großmutter an, die ihre Brille aufsetzte, um ihn besser betrachten zu können. Ein paar Augenblicke lang musterten sie sich gegenseitig, die trüben alten Augen und die vergissmeinnichtblauen, dann warf Dani den Kopf zurück und lachte.

»Das Kind scheuert seinen Hosenboden durch«, stellte die Großmutter fest und nahm sich Brot, Butter und Kirschenmarmelade. »Es sollte krabbeln lernen.«

Sie sagte nichts mehr, bis sie ihre Mahlzeit beendet hatte. Dann schüttelte sie die Krümel von ihrem schwarzen Kleid und erhob sich, indem sie sich mühsam auf ihren Stock stützte.

»So«, sprach sie, »da wäre ich also. Was ich tun kann, das will ich tun. Was ich nicht schaffe, musst du tun, Annette. Komm, dreh den Kleinen auf die richtige Seite und zeig mir die Küche.«

Von diesem Augenblick an tat Großmutter, was sie konnte, Annette tat das Übrige, und alles lief wie am Schnürchen. Nur Dani kümmerte sich nicht um Großmutters Ansicht: Er rutschte quietschvergnügt weiter auf seinem Hosenboden rings um das Tischbein herum. Nach ein paar Tagen musste Annette deshalb zum Krämerladen laufen und einen halben Meter dicken schwarzen Filz kaufen. Davon setzte Großmutter große runde Flicken auf Danis sämtliche Hosen. Es sah ein bisschen ungewöhnlich aus, aber der Zweck war erfüllt. Schließlich waren ja die Hosenböden nicht oft sichtbar, denn sie waren meistens unten.

Die zweite Antwort kam in Gestalt des Dorfschullehrers, der sich an einem Samstagnachmittag vom Tal heraufbemühte, um mit Vater Brunner zu sprechen. Dieser war eben mit Melken beschäftigt, als er durchs Stallfenster den Lehrer kommen sah. Er eilte unverzüglich zur Hintertür hinaus und versteckte sich auf dem Heuboden. Er war kein redegewandter Mann und fürchtete, bei der unvermeidlichen Auseinandersetzung den Kürzeren zu ziehen. Annette, die gerade in diesem Augenblick zum Stubenfenster hinausschaute, sah die Beine ihres Vaters oben auf der Leiter verschwinden, als der Lehrer um die Ecke bog. Da wusste sie genau, was man von ihr erwartete.

Sie öffnete die Tür, bat den Lehrer einzutreten und bot ihm höflich den besten Stuhl an. Der Lehrer mochte Annette sehr gern und sie ihn, aber heute waren sie beide ein wenig scheu voreinander. Großmutter faltete die Hände und richtete sich auf wie ein altes Schlachtross, das den Kampf wittert.

»Ich bin gekommen, um mit deinem Vater zu sprechen«, begann der Lehrer und hustete nervös. »Es ist wegen des Briefes über dein Wegbleiben von der Schule. Ich muss sagen, ich finde es nicht richtig für ein Kind in deinem Alter. Und überhaupt, es ist gegen das Gesetz!«

»Die Hüter des Gesetzes werden nichts über Annette hören, wenn Sie es ihnen nicht zu Ohren bringen«, unterbrach die Großmutter. »Außerdem werde ich das Kind selbst unterrichten. Es darf doch nicht sein, dass ein kleines Kind in Danis Alter ohne die Aufsicht seiner Schwester bleibt!«

»Können Sie denn nicht nach ihm sehen?«, schlug der Lehrer freundlich vor.

»Nein, wahrhaftig nicht! Meine Augen sind so schlecht, dass ich nicht sehe, wo er hingeht, und meine Arme so rheumatisch, dass ich ihn nicht aufheben kann, wenn er umfällt. Und übrigens: Er saust ja drauflos wie ein Eilzug, ich aber bin fast achtzig Jahre alt. Sie wissen nicht, was Sie sagen!«

Der Lehrer schaute nachdenklich auf Dani herab, der mit dem Gesicht nach unten im Holzstoß lag und Holzspäne knabberte. Außer den schwarzen Filzflicken und zwei rundlichen braunen Beinen war nicht viel von ihm zu sehen.

Der arme Lehrer befand sich in ziemlicher Verlegenheit. Ob sein alter Freund vernünftiger wäre? Er wandte sich an Annette und fragte: »Wann wird dein Vater zurück sein?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Annette. »Er kommt wahrscheinlich eine ganze Weile nicht zurück. Es lohnt sich bestimmt nicht zu warten, Herr Lehrer.« Sie wusste wohl: Ihr Vater würde sich erst im Haus zeigen, wenn der Schulmeister um die Wegbiegung verschwunden war.

Nachdenklich saß der Lehrer da. Er war ein guter Mensch, der sich aufrichtig um Annette und seine Pflichten ihr gegenüber kümmerte. Aber er wollte seinen alten Freund gern davor bewahren, mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten, zumal das Kind ganz offensichtlich zu Hause nötig war. Endlich fiel ihm eine Lösung ein. Es war zwar keine besonders gute, aber sie war besser als gar keine.

»Ich will die Sache auf sich beruhen lassen«, sagte er, »jedoch unter einer Bedingung: Jeden Samstagnachmittag, wenn Annette ins Dorf herunterkommt, um einzukaufen, soll sie mich zu Hause aufsuchen und ich werde sie prüfen. Finde ich, dass sie Fortschritte macht, so will ich schweigen, stelle ich aber fest, dass sie nichts lernt, so muss ich darauf bestehen, dass sie zur Schule kommt wie alle übrigen Kinder.«

Er gab sich Mühe, streng aufzutreten. Aber Annette strahlte ihn an und Dani, der wohl spürte, dass ein Familiensieg in der Luft lag, richtete sich plötzlich in die Höhe und krähte wie ein Hahn. Der Lehrer betrachtete die beiden mutterlosen Kinder, lächelte liebevoll und verabschiedete sich. Und kaum war er außer Sehweite, rannte Annette zur Tür und rief ihren Vater vom Heuboden herab, damit er die allgemeine Freude teilen könnte.

So kam es, dass Annette jeden Samstag an die Tür des großen weißen Hauses klopfte, in dem der Lehrer wohnte. Auf dem Rücken trug sie den großen Tragkorb und in der Hand ein altes Schulbuch und immer empfing sie der Lehrer mit großer Freundlichkeit. Im Winter saßen sie am warmen Ofen und verspeisten Apfelkuchen mit heißer Schokolade und im Sommer setzten sie sich auf den Balkon und aßen Kirschen oder tranken süßen Saft. Danach begann die Prüfung.

Zuerst kam stets das Rechnen an die Reihe. Aber Annette war in diesem Fach nicht besonders gut, und weil sie nur selten die Antworten wusste, fand der Lehrer jedes Mal nach einigen Minuten, dass es bloß Zeitverschwendung sei, weiterzufragen, und sie gingen zur Geschichte über. Da brauchte Annette nicht ausgefragt zu werden! Sie beugte sich vor, faltete die Hände um ihre Knie und erzählte: wie Wilhelm Tell für die Freiheit der Schweiz gekämpft hatte und wie sein mutiger kleiner Junge ruhig dastand, als der Apfel auf seinem Kopf von dem sausenden Pfeil getroffen wurde. Sie berichtete von dem tapferen Gefangenen in Schloss Chillon am See unten, der so lange in seinem Verlies auf- und abgegangen war, dass die harten Pflastersteine des Fußbodens von seinen Schritten abgenutzt wurden. Auch von den Kämpfen der Kantone wusste sie zu berichten.

Und dann erzählte sie die Legende von der lieblichen Lucy, die ihre Kühe auf die Weide getrieben hatte und vom Schlossherrn von Gruyere entführt wurde. In ihrem steinernen Kerker verzehrte sie sich in Sehnsucht nach den Wäldern, Weiden und Bergen ihrer Heimat, bis sie schließlich an einem gebrochenen Herzen starb.

Darauf wiederholten sie die Geschichte der Waldenser Märtyrer, die um ihres Glaubens willen verfolgt wurden und Psalmen singend in den Tod gingen. Ihre Körper wurden in den Abgrund hinabgestürzt, aber ihr Glaube und ihre Liebe lebten weiter und ihr Geist entfloh zu ihrem Gott. Annette und ihr Lehrer blickten sich jeweils mit leuchtenden Augen an, denn sie hielten beide große Stücke auf Mut und Beherztheit. Und schließlich gingen sie zur biblischen Geschichte über. Annette hatte die Bibel schon recht gut kennengelernt, seit sie der Großmutter jeden Abend daraus vorlesen musste.

Wenn sie so weit gekommen waren, hatte der Lehrer regelmäßig vergessen, dass er Annette für ihren Mangel an Eifer im Rechnen tadeln wollte. Stattdessen gab er ihr neue Bücher zu lesen und steckte ihr heimlich allerlei Backwerk in den Korb. Dann nahmen sie sehr herzlich Abschied voneinander und er blieb an der Haustür stehen und sah ihr nach, bis sie den Waldrand erreichte. Dort drehte sie sich nämlich jedes Mal um und winkte nochmals zurück.

Vor Jahren hatte dieser Lehrer eine blonde junge Frau lieb gehabt, die hoch oben am Berg wohnte. Für sie hatte er sein weißes Haus gekauft und es wohnlich eingerichtet. Aber sie war Blumen pflücken gegangen und eine unerwartete, späte Lawine hatte sie mit in die Tiefe gerissen. Seitdem war der Lehrer einsam geblieben. In seinen Träumen aber war »sie« immer bei ihm und auch ein Töchterchen mit weizengelben Flechten und enzianblauen Augen, das auf einem Schemel zu seinen Füßen saß. Dieser Teil seines Traumes wurde nun an den Samstagnachmittagen Wirklichkeit.

3. Kapitel

Fünf Jahre waren vergangen. Wieder schrieb man den 24. Dezember. Der Tag war bedeutungsvoll gewesen für Dani, der heute fünf Jahre alt geworden war, denn zum ersten Mal in seinem Leben hatte man ihn für groß genug gehalten, um mit Annette zur Kirche zu fahren und den Christbaum zu sehen.

Jetzt saß er in seinem Bett und löffelte ein Schüsselchen Kartoffelsuppe. Sein blonder Haarschopf reichte nur knapp über sein weißes Federbett hinaus, das fast ebenso hoch wie breit war. Annette saß neben ihm, einen glänzenden Lebkuchenbären in der Hand.

»Tut mir leid, Dani«, erklärte sie bestimmt, »aber du kannst ihn unmöglich bei dir im Bett behalten. Am Morgen hättest du bloß noch Krümel und keinen Bären mehr. Schau, ich stelle ihn hier auf den Schrank; so scheint der Mond darauf und du kannst ihn gut sehen!«

Dani öffnete den Mund zum Widerspruch, überlegte es sich dann aber anders und füllte ihn mit Kartoffelsuppe. Es war nicht nett von seiner Schwester, dass sie ihm nicht erlaubte, den Bären die ganze Nacht in den Armen zu halten. Aber schließlich gab es eine Menge anderer Dinge, über die er sich freuen konnte. Dani war immer glücklich; vom Augenblick an, da er morgens die Augen aufschlug, bis zum Augenblick, wo er sie abends schloss. Heute war er ganz besonders glücklich, weil er die Glocken gehört und den glitzernden Christbaum gesehen hatte und beim Licht der Sterne draußen im Schnee gewesen war. Er reichte Annette die leere Schale und schlüpfte mit Wohlbehagen unter seine warme Decke.

»Glaubst du«, fragte er vertraulich, »dass der Weihnachtsmann kommt, wenn ich einen Pantoffel aufs Fensterbrett lege?«

Annette schaute ihn überrascht an. Woher kamen ihm solche Gedanken? Sie hatte ihm nie vom Weihnachtsmann erzählt, den sie selbst nur aus Büchern kannte. In ihrem Bergtal hatte man diesen Brauch nicht. Doch Dani fuhr fort: »Sie sagen, dass er auf einem Schlitten kommt, den ein Rentier zieht, und dass er den braven Kindern Geschenke in die Pantoffeln steckt. Bin ich ein braves Kind, Annette?«

»Ja«, erwiderte Annette und küsste ihn, »das bist du. Aber du bekommst trotzdem kein Geschenk vom Weihnachtsmann. Der geht bloß zu reichen kleinen Jungen.«

»Bin ich kein reicher kleiner Junge?«, fragte Dani, dem es nicht so schien, als ob das Leben irgendetwas zu wünschen übrig ließe.

»Nein«, entgegnete Annette bestimmt, »das bist du nicht. Wir sind arm, Papa muss hart arbeiten und Großmutter und ich müssen deine Kleider immer und immer wieder flicken, weil wir keine neuen kaufen können.«

Dani kicherte. »Es ist mir egal, dass wir arm sind. Es gefällt mir. Und jetzt erzähl mir eine Geschichte, Annette. Erzähl mir von Weihnachten und vom Kindlein und den Kühen und dem großen, funkelnden Stern.«

Da erzählte Annette, und Dani hörte mit weit geöffneten Augen zu.

»Mir hätte es besser gefallen, im Heu zu schlafen als in der Herberge«, sagte er, als sie fertig war. »Ich möchte gern mit Bless schlafen. Das wäre doch lustig.«

Annette schüttelte den Kopf. »Nein, nein, das würde dir gar nicht gefallen, wenigstens nicht im Winter ohne Federbett. Du würdest frieren und unglücklich sein und dich nach deinem warmen Bett sehnen. Es war grausam von den Leuten, dass sie dem neugeborenen Kindlein keinen Platz geben wollten. Sie hätten bestimmt irgendwie Platz machen können.«

Die Kuckucksuhr im Treppenhaus schlug neunmal. Annette sprang auf.

»Jetzt musst du aber einschlafen, Dani, und ich muss hinunter und Kaffee kochen für Papa.«

Sie umarmte ihn, deckte ihn gut zu, machte das Licht aus und ließ ihn allein. Aber Dani schlief nicht ein. Er starrte in die Dunkelheit und dachte angestrengt nach.

Er war kein gieriger Junge, aber es schien ihm jammerschade, nicht bereit zu sein für den Fall, dass der Weihnachtsmann doch an ihrem Haus vorbeikäme. Wohl war er ein armes Kind, aber wer weiß? Vielleicht kam der Weihnachtsmann trotzdem? Und schließlich konnte es nicht schaden, einen kleinen Pantoffel hinzustellen, auch wenn am Morgen nichts drin wäre. Die Frage war, wohin! Er konnte ihn nicht aufs Fensterbrett legen, weil er die schweren Fensterläden nicht allein aufbekam. Er konnte ihn nicht vor die Haustür legen, weil die ganze Familie noch in der Wohnstube versammelt war. Die einzige Möglichkeit war, dass er ihn vor die Küchentür stellte, auf den schmalen Streifen Schnee, der die Küche vom Heuschober trennte. Es war allerdings fraglich, ob der Weihnachtsmann den Pantoffel dort sehen würde, aber man konnte es ja versuchen!

Dani kroch aus dem Bett und huschte auf den Zehenspitzen durchs Schlafzimmer und die Treppe hinunter. Er ging barfuß, damit ihn niemand hörte. In der Hand hielt er einen kleinen, roten, mit Hasenfell gefütterten Pantoffel. Vater hatte den Hasen geschossen und Annette hatte die Pantoffeln genäht. Dani hatte den Eindruck, der Pantoffel müsste dem Weihnachtsmann in die Augen stechen: Er war ganz anders als andere Pantoffeln!

Es war eine mühsame Arbeit, bis der schwere Holzriegel der Küchentür zur Seite geschoben war. Dani musste sich dazu auf einen Schemel stellen. Er hatte einen sekundenlangen Eindruck von Schnee- und Sterneflimmern, dann schlug ihm die winterkalte Nachtluft schneidend entgegen und nahm ihm fast den Atem. Er warf den Pantoffel vor die Tür und schloss sie, so schnell er konnte.

Leichten Herzens trippelte Dani zu seinem Bett zurück, rollte sich zu einem Ball zusammen und grub die Nase ins Kissen. Er hatte sein Abendgebet schon vorher mit Annette gesprochen, aber jetzt hatte er ein Extrastück hinzuzufügen.