Staatsjugendorganisationen – Ein Traum der Herrschenden - Anne Neunzig - E-Book

Staatsjugendorganisationen – Ein Traum der Herrschenden E-Book

Anne Neunzig

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Beschreibung

Hitlerjugend und Freie Deutsche Jugend - staatlich organisierte Jugendorganisationen unter zwei diktatorisch orientierten Systemen. Nicht nur historisch sondern unter Einbeziehung von Pädagogik, Soziologie und kultureller Entwicklung wird von einer Autorin der neuen Generation die schwierige Problematik des Versuchs der ideologisch beeinflussten Einheitserziehung der Jugendlichen in der NS-Zeit und im Komplex der DDR interessant und erkenntnisreich dargestellt und untersucht. Denn nichts darf vergessen werden, damit nicht neuer Missbrauch irgendwann wiederkehre!

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Anne Neunzig

Staatsjugendorganisationen– Ein Traum der Herrschenden

Hitlerjugend/​Bund Deutscher Mädchen und Freie Deutsche Jugend im Vergleich

Engelsdorfer Verlag Leipzig 2014

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.

ISBN 9783954885916

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Abkürzungsverzeichnis

1. Herausbildung der Jugendverbände vor 1933

1.1 Jugendverbände im Kaiserreich

1.2 Jugendverbände in der Weimarer Republik

2. Abriss über die historische Entwicklung der Gesamt-Hitlerjugend - im Zeitstrahl

3. Die Staatsparteidoktrin des 'Dritten Reiches'

3.1 Die Ideologie des Staatssystems

3.2 Die Grundsätze der Anthropologie

3.3 Bild der Frauen im Nationalsozialismus

3.4 Bild der Männer im Nationalsozialismus

3.5 Bild der Mädchen im Nationalsozialismus

3.6 Bild der Jungen im Nationalsozialismus

4. Struktureller Aufbau der Hitlerjugend und des Bundes Deutscher Mädchen

4.1 Aufbau und Gliederung

4.2 Die Hierarchie, Struktur und das Führungsprinzip der Gesamt-Hitlerjugend als zentralistisches Prinzip des Machtsystems

5. Erziehung in der Staatsjugendorganisation

5.1 Erziehungsziele im 'Dritten Reich'

5.2 Erziehungsziele im Bund Deutscher Mädchen

5.3 Erziehungsziele in der Hitlerjugend

5.4 Weltanschauliche Schulung und Heimabende

5.5 Kulturarbeit

Kurzer Exkurs: Kunst im Nationalsozialismus

5.6 Feste und Feierlichkeiten

5.7 Fahrten und Lager

5.8 Körperliche Ertüchtigung/Sport

5.9 Die Funktion der Medien

5.10 Sonder- und kriegsunterstützende Dienste in der Hitlerjugend und dem Bund Deutscher Mädchen

5.11 Bundestracht/Uniformierung und Symbolik

5.12 Die Leitung der Jugendgruppen durch die HJ- und BDM-Führer/innen

5.13 Totalitätsanspruch

6. Reichsarbeitsdienst und Landjahr

6.1 Der Reichsarbeitsdienst

6.2 Das Landjahr, Pflichtjahr und der Landdienst

7. Widerstand und oppositionelle Jugendgruppen im National sozialismus

7.1 Gesellschaftliche Tendenzen bezüglich der Entwicklung und Entstehung des Jugendwiderstands

7.2 Arten des Widerstandes

7.3 Staatliche Reaktionen auf die Jugendopposition

7.4 Sozialistische und kommunistische Arbeiterjugendverbände

7.5 Konfessionell gebundene Jugendgruppen

7.6 Bündische Jugend

7.7 Wilde Jugendgruppen

7.8 Edelweißpiraten

7.9 Swing-Jugend

7.10 Weiße Rose

8. Das Ende der Hitlerjugend gemeinsam mit dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft

9. Abriss der historischen Entwicklung der Freien Deutschen Jugend - im Zeitstrahl

10. Die Staatsparteidoktrin der DDR

10.1 Die Ideologie des Staatssystems

10.2 Die Anthropologie des Marxismus-Leninismus

10.3 Frauen- und Männerbild in Sozialismus

10.4 Bild des Kindes im Marxismus- Leninismus in der DDR

11. Struktureller Aufbau der Freien Deutschen Jugend

11.1 Aufbau und Gliederung

11.2 Die Hierarchie und Struktur der Freien Deutschen Jugend

12. Erziehung in der Freien Deutschen Jugend

12.1 Die Erziehungsziele der DDR und ihre Umsetzung in der Staatsjugendorganisation

12.2 Die FDJ in Schulen, Universitäten und Betrieben

12.3 Jugendbrigaden und Jugendobjekte

12.4 Die FDJ im Freizeitbereich

12.5 Sportbereich

12.6 Feriengestaltung und Touristik

12.7 Die Jugendweihe als Akt ritueller Bindung

12.8 Kultureller Bereich

Kurzer Exkurs zum 11. Plenum des ZK der SED

12.9 Feste und Feierlichkeiten

12.10 Die Funktion der Medien

12.11 Uniformierung und Symbolik

12.12 Militarisierung in der FDJ

12.13 Die Leitung der Jugendgruppen der FDJ durch Funktionäre

12.14 Der Totalitätsanspruch

13. DDR-Jugend auf der Suche nach einem selbstbestimmten Leben

13.1 Einführende Betrachtung

13.2 Der Werwolf

13.3 Der Demokratie Verpflichtete

13.4 Junge Gemeinden

13.5 Jazz

13.6 Rock’n’Roll und Beat

13.7 Die Tramper und Blueser

13.8 Disco und Punk

13.9 Punk et cetera

13.10 Proteste gegen die Niederschlagung des 'Prager Frühlings' 1968

13.11 Boheme & Diktatur

13.12 Von Hausbesetzern zu Landkommunarden

13.13 Die Krishnas als Beispiel religiösen Suchens außerhalb der europäischen Kulturen – und andere Gruppen

13.14 Wehrdienstverweigerer

13.15 Die staatlich unabhängige Friedensbewegung

14. Das Ende der staatlichen Illusionen, der Weg zu einem Anfang

15. Gegenüberstellung der Staatsjugendorganisationen beider Regime

15.1 Die Schwierigkeiten einer Gegenüberstellung

15.2 Die Bedeutung der Staatsjugendorganisation in den jeweiligen Systemen

15.3 Staatsparteidoktrin (Ideologie und Anthropologie)

15.4 Organisationsstruktur

15.5 Erziehungsziele

15.6 Erziehungsarbeit

15.7 Leitung der Jugendorganisationen

15.8 Totalitätsanspruch

15.9 Jugendlicher Widerstand und/oder die Suche nach einem jugendlichen Eigenleben

Nachwort

Quellenverzeichnis

Literatur

Internetquellen

Personenregister

Über die Autorin

Danksagung

Anmerkungen

Vorwort

Gegenstand vorliegender Arbeit ist die vergleichende Darstellung der Erziehungsmodelle in den Staatsjugendorganisationen des 'Dritten Reiches' und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR)1. Dabei wird dem Aspekt der Vermittlung der jeweiligen Staatsideologie an die heranwachsenden Generationen besonderer Raum zugestanden, bildeten doch die politischen Doktrinen der staatsführenden Parteien die Grundlagen für Erziehungsprogramme und Statuten beider Jugendorganisationen. Eine Erziehung im humanistischen Sinne, mit dem Ziel einer freien individuellen Persönlichkeitsentfaltung eines jeden Menschen, war in beiden Systemen nicht erwünscht. Ohne Rücksicht auf Individualität wurden die Kinder und Jugendlichen durch eine staatlich gelenkte Fremdbestimmung weitgehend zu Objekten ihres eigenen Entwicklungsverlaufs degradiert. Durch diese Indoktrination der Heranwachsenden sollte langfristig der totalitäre Herrschaftsanspruch beider Systeme und ihrer führenden Parteien gesichert werden. Im Folgenden wird darum der Frage nachgegangen, ob es trotz stark differierender Ideologien im Nationalsozialismus und Sozialismus Übereinstimmungen in den Strukturen und Programmen beider Jugendorganisationen gab und ob es einem von beiden Systemen effektiver gelang, ihre Jugend zur Staatskonformität zu erziehen.

Aufgrund der recht umfangreichen Thematik erfolgt in vorliegender Untersuchung eine Eingrenzung auf bestimmte Altersgruppen. Für die Hitlerjugend2 und den Bund Deutscher Mädchen liegt der Schwerpunkt auf den 14 bis 18 -Jährigen. Da die Mitgliedschaft der FDJ im Allgemeinen erst im Alter von 25Jahren endete, wird in jenem Bereich die untersuchte Altersgruppe weiter gefasst. Allerdings muss erwähnt werden, dass ohnehin ein Großteil der jungen Erwachsenen bereits früher aus dieser Organisation austrat.

Des Weiteren beschränkt sich die Abhandlung zur HJ und zum BDM im Großteil auf die Zeit zwischen 1933 und 1941, da sich die Praxisarbeit innerhalb der Verbände während desII. Weltkriegs gravierend änderte und eine gesonderte Darstellung benötigte.

Bestimmte Themenbereiche, wie die der oppositionellen Jugendgruppen, die sich in beiden Systemen illegal als Gegenpositionen zur Staatsjugendorganisation formierten und eigene Interessen vertraten, wie auch die Suche vieler Jugendlicher nach einem selbstbestimmten Leben, werden in dieser Arbeit in einem gesonderten Kapitel betrachtet, können jedoch in diesem Rahmen nur angerissen, nicht aber in ihrer ganzen Dimension abgehandelt werden.

Abschließend noch ein paar Bemerkungen zum Forschungsstand. Sowohl in der älteren, als auch der jüngeren Literatur sind die jeweiligen Jugendorganisationen unter dem Anspruch der Objektivität oft verallgemeinernd und idealisiert dargestellt. Die Wirklichkeit aber, die strukturellen und regionalen Unterschieden unterworfen war, im zeitlichen Wandel starke Veränderungen erfuhr und subjektiv von den einzelnen Betroffenen wahrgenommen wurde, wich in vielerlei Hinsicht davon ab. Es werden darum in einzelnen Fällen Berichte von Zeitzeugen und Auszüge aus Interviews eingeflochten, um die Vielschichtigkeit der Thematik andeuten zu können.

Das vorliegende Buch entstand auf der Grundlage der im Jahr 2011 gefertigten Diplomarbeit „'Jugend für den Staat erzogen' - Erziehung in den Staatsjugendorganisationen des 'Dritten Reiches' und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) im Hinblick auf die Umsetzung der jeweiligen Staatsparteidoktrin“ an der Universität zu Köln, unter der Betreuung von Prof.Dr.Hans-Joachim Roth.

Abkürzungsverzeichnis

AO

-

Abteilungsorganisation

AWA

-

Anstalt zur Wahrung der Aufführungs- und Vervielfältigungsrechte auf dem Gebiet der Musik (DDR)

BDM

-

Bund Deutscher Mädchen

BSG

-

Betriebssportgemeinschaft/​en

BStU

-

Die Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik

DFD

-

Demokratischer Frauenbund Deutschlands

DDR

-

Deutsche Demokratische Republik

DT 64

-

Deutschlandradio 64

DTSB

-

Deutscher Turn- und Sportbund

EOS

-

Erweiterte Oberschule, (mit Abiturabschluss), vgl. POS

FDGB

-

Freier Deutscher Gewerkschaftsbund

FDJ

-

Freie Deutsche Jugend

GEMA

-

Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte (BRD)

GO

-

Grundorganisation

GST

-

Gesellschaft für Sport und Technik

HJ

-

Hitlerjugend

1.Gesamtverband aller weiblichen und männlichen Mitglieder

2.Organisation der 14–18jährigen männlichen Jugend

ISKON

-

International Society For Krishna Consciousness

JM

-

Jungmädel

JV

-

Jungvolk

KHD

-

Kriegshilfsdienst

KJVD

-

Kommunistischer Jugendverband (Deutschlands)

KSZE

-

Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

KvU

-

Kirche von Unten

LDPD

-

Liberal-Demokratische Partei Deutschlands

MfS

-

Ministerium für Staatssicherheit

MMM

-

Messe der Meister von Morgen

ML

-

Marxismus-Leninismus

ND

-

Neues Deutschland (Tageszeitung der SED)

N.P.E.A.

-

National-Politische-Erziehungs-Anstalt (volkstümlich auch NAPOLA)

NS

-

Nationalsozialismus/​nationalsozialistisch/​e

NSDAP

-

Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei

NSV

-

Nationalsozialistische Volkswohlfahrt

NVA

-

Nationale Volksarme (der DDR)

POS

-

Polytechnische Oberschule (der DDR), zehnklassig

RAD

-

Reichsarbeitsdienst

RADmJ

-

Reichsarbeitsdienst der männlichen Jugend

RADwJ

-

Reichsarbeitsdienst der weiblichen Jugend

RIAS

-

Rundfunk im amerikanischen Sektor (Radiosender)

RJF

-

Reichsjugendführung, Reichsjugendführer

SA

-

Sturmabteilung

SAJ

-

Sozialistische Arbeiterjugend (Deutschlands)

SBZ

-

Sowjetische Besatzungszone

SED

-

Sozialistische Einheitspartei Deutschlands

SFB

-

Sender Freies Berlin (Radiosender)

SFP

-

Sender Freies Paunsdorf (Radiosender)

SMAD

-

Sowjetische Militäradministration (in der SBZ)

SPU

-

Schallplattenunterhalter

SS

-

Schutzstaffel

Stasi

-

Staatssicherheitsdienst, Staatssicherheit

SU

-

Sowjetunion

WHW

-

Winterhilfswerk

ZK

-

Zentralkomitee

ZR

-

Zentralrat

1.Herausbildung der Jugendverbände vor 1933

1.1Jugendverbände im Kaiserreich

Die historische Entwicklung der Jugendverbände und Jugendbewegung reicht weit in die Geschichte des 19.Jahrhunderts zurück und damit in eine Zeit, als auf Grund veränderter Arbeits- und Lebensbedingungen erstmals überhaupt die Lebensphasen von 'Kindheit' und 'Jugend' ins gesellschaftliche Bewusstsein gerückt waren. 1839 wurde per Gesetz in Preußen die Arbeitszeit für Jugendliche unter 16Jahren auf 10Stunden begrenzt, Kinderarbeit unter 9Jahren gänzlich verboten. Damit erhielten Kinder und Jugendliche erstmals einen gewissen Freiraum, der in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts zur verstärkten pädagogischen Wahrnehmung dieser entscheidenden Lebensphase führte und „[…] entsprechende Institutionalisierungsformen nach sich zog.“3

Neben der amtlichen 'Jugendpflege', deren Anliegen darin bestand, die Jugend zu „einer frohen, körperlich leistungsfähigen, sittlich tüchtigen, von Gemeinsinn und Gottesfurcht, Heimat- und Vaterlandsliebe erfüllten“4 Generation zu erziehen, entwickelten sich in kurzer Zeit im Wilhelminischen Kaiserreich eine Vielzahl an Jugendverbänden, die sich in drei Bereiche unterscheiden lassen: christlich geprägte Vereinigungen, bürgerlich-nationale Jugendgruppen und Arbeiterjugendvereine.5 Daneben entwickelte sich als Antwort auf die zunehmende Industrialisierung des beginnenden 20.Jahrhunderts, die einherging mit einer rasanten Verstädterung und „Modernisierung des Lebens“6, eine eigenständige Jugendbewegung. Besonders in bürgerlichen Kreisen lehnten sich die Jugendlichen vermehrt gegen Gehorsam und Drill und somit gegen verkrusteten autoritäre Strukturen in Elternhaus und Schule auf und nutzen die Chancen der Umbruchszeit für das Aufbrechen überkommener Erziehungsmethoden. Studenten und Gymnasiasten fanden in Gruppen zusammen und wanderten gemeinsam an den Wochenenden in die Natur hinaus. Das romantisierende Naturerlebnis, die Rückkehr zum einfachen, asketischen Leben unterwegs auf dem Lande, orientiert an den Wanderungen zunftständiger Handwerksburschen, stand dabei bewusst einer zunehmenden Einbindung des Menschen in das Räderwerk einer die Umwelt dominierenden Industrialisierung entgegen.

Aus dieser anfänglich sporadischen Wanderbewegung gründete sich 1901 in Berlin– Steglitz der erste Wandervogelverein, der sich vor dem ersten Weltkrieg in ganz Deutschland ausbreitete und in viele verschiedene Gruppierungen aufsplitterte.7 Ab 1907 etablierten sich neben dem Wandervogel weitere, meist studentische Gruppierungen wie die Studentischen Akademischen Freischaren und die Akademische Freideutsche Jugend.8

Ein Novum dieser studentischen Jugendbewegungen war ihr struktureller Aufbau aus eigenen Reihen. Die einzelnen Gruppierungen kamen meistens ohne erwachsene Leitungspersonen aus und blieben weitgehend unpolitisch. Auf dem 'Ersten Freideutschen Jugendtag' – einem Treffen verschiedener Bünde am Hohen Meißner bei Kassel im Oktober 1913 - wollten die verschiedenen Gruppierungen eine gemeinsame „Plattform und organisatorische Formen der Zusammenarbeit“9 schaffen. Doch diese Pläne gelangten durch den Ausbruch des 1.Weltkrieges nicht mehr zur Umsetzung.

Unter den offiziellen Verbänden stellten in der Vorkriegszeit die christlichen Vereinigungen, schon auf Grund ihrer hohen Mitgliederzahlen, die gewichtigsten Bündnisse dar. 1912 existierten „katholische Jünglingsvereine, Gesellenvereine, Burschenvereine und Jungfrauen-Kongregationen“10, daneben Evangelische Jünglingsvereine sowie Christliche Vereine junger Männer. In den folgenden Jahren entstanden auch christliche Vereinigungen, die unabhängiger von kirchlichen Institutionen arbeiteten als die erwähnten.

Im bürgerlich-nationalen Spektrum lag ein deutlicher Schwerpunkt auf der körperlichen Ertüchtigung der jungen, wehrfähigen männlichen Jugend, so dass sich hier zahlreiche wehrsportliche Gruppierungen zusammenfanden, die ab 1899 durch den „Ausschuss zur Förderung der Wehrkraft durch Erziehung“11vertreten wurden. Zu den vom „wilhelminischen Militarismus“12 geprägten Verbänden gehörten die Deutsche Turnerschaft, die Berliner Jugendwehr und das Deutsche Späherkorps. Auch die in Deutschland nach Baden Powells Vorbild 1911 gegründeten Pfadfinderbünde wurden oft von Offizieren geleitet.

Neben diesen wehrsportlichen Gruppierungen zählten aber auch autonome, sogenannte 'wilde' Jugendvereine zu den bürgerlichen Jugendgruppen, ebenso Vereine mit nationaler und patriotischer oder sozialer Gesinnung, wie beispielsweise der Deutschnationale Handlungsgehilfenverband und der Deutsche Verband der Jugendgruppen und Gruppen für soziale Hilfsarbeit.13

Ab 1903 etablierten sich in Deutschland erstmals Arbeiterjugendvereine. 1906 gründete sich der Verband junger Arbeiter Deutschlands.14 Weitere proletarische Jugendvereine entstanden mit dem Vorsatz des „Arbeitsschutz[es] und [der] Weiterbildung“15 ihrer Mitglieder. Anfangs distanziert, begannen die Sozialdemokraten um 1908 ihr Interesse an den proletarischen Jugendorganisationen zu bekunden, die sich infolge dessen größtenteils auflösten und mit den Parteien kooperierten. Während die bürgerlichen Jugendorganisationen vom Staat finanziell unterstützt wurden, erhielten die proletarischen Vereine keine diesbezüglichen Subventionen.

1.2Jugendverbände in der Weimarer Republik

In der Weimarer Republik hielt der Jugendmythos Einzug in die Gesellschaft. Durch ihren neuen sozialen Status nach dem Krieg erhielt die junge Generation die „rechtlichen und materiellen Möglichkeiten, ihre Interessen und Bedürfnisse öffentlich zu definieren und Organisationsformen dafür zu suchen“16. Der Jugendpflege-Erlass des Jahres 1919 anerkannte alle Jugendverbände gleichwertig und rief sie zur Zusammenarbeit auf.17 „Niemals zuvor (und auch später nie wieder, wenn man von der Zwangsmitgliedschaft der Hitler-Jugend absieht) konnten Jugendverbände einen so hohen Organisationsgrad der Jugendlichen verbuchen wie in der Weimarer Zeit: Fast die Hälfte aller Jugendlichen (ca. 40%) waren Mitglieder einer Jugendorganisation.“18

Zeitgleich prägte aber gerade in jenen Jahren zunehmend eine große Unsicherheit und Aussichtslosigkeit die heranwachsende Generation, was auf eine rapide Zunahme der Arbeitslosigkeit zurückzuführen war.19

Infolge der politischen Polarisierung dieser Zeit zerbrach um 1923 der Freideutsche Bund. Er hatte sich vor dem ersten Weltkrieg gegründet und bestand aus ehemaligen Mitgliedern der Wandervogelbewegung und anderer Jugendbünde.20 Auch der Wandervogel hatte in seiner ursprünglichen Form keinen weiteren Bestand. Es etablierten sich in der Folgezeit vermehrt bündische Jugendgruppen, die sich an bestimmten völkischen Werten und Normen orientierten. Wie schon zu Beginn der Jugendbewegung waren ihre Mitglieder größtenteils Gymnasiasten und Studenten. Die Mitgliederzahlen schwankten zwischen 12 bis 60.000Jugendlichen.21 Bünde, die schon vor dem ersten Weltkrieg bestanden, hatten meistens jugendliche Führer oder kamen ohne Führungsposition aus. Die in der Weimarer Republik neu etablierten Bünde standen hingegen oftmals unter der Führung ehemaliger Wandervogelmitglieder, wodurch sich schnell ein Führer-Gefolgschafts-Gefälle ergab. Viele hatten eine antidemokratische Grundhaltung, basierend auf dem Wunsch nach einer „ständig organisierten Volksgemeinschaft“22. Auch eine als rechtsradikal zuzuordnende Einstellung war bei vielen der Bünde zu finden, so bei den 1924 gegründeten Artamanen, „[…] eine Bewegung junger Männer und Frauen, die sich entschlossen, eine vaterländische Pflicht zu erfüllen […] nach den Grundsätzen von 'Blut und Boden'.“23 Ihnen war später das Interesse der Nationalsozialisten sicher.

Neben den vielen bestehenden Jugendverbänden, die bereits seit dem Kaiserreich existierten, entstanden in der Weimarer Republik erstmals auch innerhalb der Parteien Jugendgruppen. Dabei ging es vorrangig um eine Rekrutierung des Nachwuchses, zugleich aber auch um den frühestmöglichen Aufbau einer festen Wählerschaft. Zu den neu gegründeten Gruppierungen zählten unter anderem „die Hindenburgjugend der BVP […], Bismarckbund der DNVP […], kommunistischer Jugendverband […], Hitlerjugend […], Windhorstbünde des Zentrums […]“24 sowie die Jungsozialisten. Gerade gegen Ende der Weimarer Republik kam es zu einer „massenhaften Politisierung“25 der Jugend, mit einer starken Polarisierung nach 'rechts' oder 'links'. Viele der Jugendvereine der Weimarer Republik befanden sich im 'Reichsausschuss der deutschen Jugendverbände', der 1926 ins Leben gerufen wurde.

Die Etablierung einer neuen nationalistisch geprägten Ideologie im 'Dritten Reich', gekoppelt an totalitäre staatliche Strukturen, bereitete der pluralistischen Entwicklung der Jugendverbände ein abruptes Ende. Das Menschenbild der Nationalsozialisten samt deren Bildungsideologie und ihr absoluter Herrschaftsanspruch ließen sich nicht mit den vielfältigen Anschauungen innerhalb der Jugendbewegung vereinbaren. Fortan wurde Konformität propagiert und die bloße Erfüllung ideologischer Vorgaben eingefordert.

2.Abriss über die historische Entwicklung der Gesamt-Hitlerjugend - im Zeitstrahl

1922/​1923

Ein erster Vorläufer der Gesamt-Hitlerjugend wird 1922 in München unter dem Namen Jugendbund der NSDAP ins Leben gerufen. Bereits im folgenden Jahr steigt die Zahl der Ortsgruppen stark an, sodass Adolf Hitler (1889-1945), Adolf Lenk (1903-1987) mit dem Aufbau einer Reichsorganisation beauftragt.26 Der missglückte Hitler-Ludendorff-Putsch vom 08./​09.November des Jahres 1923 und die nachfolgende Auflösung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) beenden zunächst diesen Prozess. Der Vorläufer der Gesamt-Hitlerjugend kommt in seiner Entwicklung nicht über das Anfangsstadium hinaus.27

1925

Nach der erneuten Gründung der NSDAP, infolge der Entlassung Hitlers aus der Festungshaft am 27.Februar, formieren sich die Jugendgruppen neu. Die Initiative dazu geht von einzelnen Parteimitgliedern wie Kurt Gruber (1904-1943) aus. Gruber führte nach dem Verbot eine kleine Ortsgruppe des Jugendbunds illegal in Plauen/​Vogtland weiter,28 Gerhard Roßbach (1893-1967) leitet den Wehrjugendverband Schill. Es folgen interne Machtkämpfe.

1926

Gruber setzt sich durch und vereinigt einige Gruppen zur Großdeutschen Jugendbewegung.29 Auf dem Parteitag der NSDAP im Juni in Weimar erfolgt deren offizielle Anerkennung als Jugendgruppe der NSDAP und die offizielle Umbenennung in Hitlerjugend, Bund deutscher Arbeiterjugend (HJ). Das parteiamtliche Gründungsdatum wird auf den 04.Juli festgelegt. Gruber wird zum Reichsführer der Organisation ernannt und als Referent für Jugendfragen in die Reichsleitung der Partei berufen.30

Offiziell wird die HJ der obersten SA-Führung unterstellt. Die Mitgliedschaft der männlichen Jugend in der HJ erstreckt sich vom 14.-18.Lebensjahr. Der daran anschließende Übertritt in die NSDAP, ab 1927 in die SA, wird obligatorisch.

Die Mitgliederzahl der HJ bleibt in diesem wie auch in den kommenden Jahren noch relativ gering gegenüber den ca. 3,6Millionen Jugendlichen in den politischen, religiösen, bündischen und anderen, im Reichsauschuss der deutschen Jugendverbände zusammengefassten Jugendgruppen.31

1927

Beginn des innerorganisatorischen Aufbaus der HJ, Gründung erster Schülergruppen der NSDAP.

1928/​1929

Neben bereits existierenden Jungmädelgruppen des Deutschen Frauenordens entstehen erste Schwesternschaften der HJ als Organisationsform für Mädchen.32

1929

Zusammenfassung der Schülergruppen zum NS-Schülerbund unter der Reichsleitung von Theodor Adrian von Renteln (1897-1946).33 4.Reichsparteitag vom 01.-04.August 1929 in Nürnberg. Vorbeimarsch zahlreicher Hitlerjungen an Adolf Hitler.

1930

Im Juni 1930 gründet sich der Bund Deutscher Mädchen (BDM), gefolgt vom Deutschen Jungvolk (JV) im August.

1931

Im März wird das Jungvolk als Unterorganisation in die Gesamt-HJ eingegliedert.34

Kurt Gruber tritt, wohl gezwungenermaßen, von seinem Posten als Reichsführer der Gesamt-HJ zurück. Er wird in den Jugendausschuss der Reichsleitung der NSDAP berufen. Für kurze Zeit übernimmt Theodor Adrian von Renteln die Position des Reichsführers der Gesamt-HJ.35

Am 30.Oktober wird Baldur von Schirach (1907-1974) auf den neu geschaffenen Posten des Reichsjugendführers der NDSAP berufen.36 In seinen Zuständigkeitsbereich fallen fortan die Gesamt-Hitlerjugend, der NS-Schülerbund sowie der NS-Studentenbund.

Der Sitz der Gesamt-HJ wird von Plauen nach München verlegt.37 Neue Richtlinien unterstellen den BDM auf der Ebene der Gaugliederung der HJ, gewähren jedoch auf den Gliederungsebenen der Bezirks- und Ortsgruppen relative Selbstständigkeit.38

1932

Elisabeth Greiff-Walden wird am 15.März 1932Referentin für Mädelfragen in der Reichsleitung der HJ.39

Verbot der SA, SS und der Gesamt-Hitlerjugend am 13.April. Trotzdem arbeiten alle Organisationsformen illegal weiter und es entsteht die „Nationalsozialistische Jugendbewegung, die NAJB. Ohne Uniform, ohne Abzeichen“40.

Laut Schirach steigt in der Verbotszeit die Mitgliederzahl auf 35.000 an. Mit Aufhebung des Verbotes der SA im Juni 1932 wird Baldur von Schirach durch Hitler zum Reichsleiter der NSDAP ernannt und erhält nach dem Rücktritt von Rentelns die Gesamtleitung der NS-Jugendarbeit übertragen.41 Im Juli wird der BDM zur offiziellen Mädchenorganisation der NSDAP erklärt, infolge dessen deren andere Mädchenorganisationen aufgelöst oder vom BDM übernommen werden. Referentin für Mädelfragen in der NS-Jugendbewegung in München wird Lydia Gottschewski (1906-1989).42 Es kommt zur Gründung von NS-Jugendbetriebszellen unter der Leitung von Artur Axmann (1913-1996).

Das Jahr prägen intensive Zentralisierungsarbeiten und politische Propagandaaktionen der Gesamt-HJ. Es gibt „zahllose Kundgebungen, Märsche, […] Straßendemonstrationen, Versammlungskampagnen usw.“43

1933

Als Adolf Hitler am 30.Januar zum Reichskanzler ernannt wird und die NSDAP die Macht übernimmt, hat die Gesamt-Hitlerjugend ca. eine Million Mitglieder.

Am 28.Februar erlässt Paul von Hindenburg (1847-1934) die Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat. Damit ist u.a. die juristische Grundlage für eine zentralisierte Gleichschaltung sowie Auflösung aller politischen, kirchlichen und bündischen Jugendorganisationen gelegt.44 Die Gesamt-Hitlerjugend ist zu jenem Zeitpunkt noch nicht die größte und einflussreichste Jugendorganisation, gewinnt aber durch die neuen innerstaatlichen Machtstrukturen an enormen Einfluss.45 „Wie die NSDAP nunmehr die einzige Partei ist, so muß die HJ die einzige Jugendorganisation sein.“46 Im April des Jahres 1933 okkupiert Schirach die Geschäftsstelle des Reichsausschusses der deutschen Jugendverbände47 und übernimmt deren Vorsitz. Kurz nach der Übernahme beginnt er, die jüdischen und die parteigebundenen Jugendorganisationen aus dem Verband auszuschließen bzw. wie im Falle der rechtsorientierten Jugendorganisationen in die Gesamt-Hitlerjugend zu integrieren. Die NS-Jugendbetriebszellen und der Reichsverband der deutschen Jugendherbergen werden der HJ eingegliedert.48

Am 8.April Zusammenschluss der bündischen Jugendorganisationen zum Großdeutschen Jugendbund, zwecks Abwehr der zunehmenden Macht der Gesamt-HJ. Nach der Ernennung Schirachs am 17.Juni zum Jugendführer des Deutschen Reiches, beginnt er sofort mit der Zerschlagung des Großdeutschen Jugendbunds. Viele der Bünde lösen sich in den folgenden Tagen und Wochen selbst auf, integrieren sich in die Gesamt-HJ oder werden durch die Gesamt-HJ verboten.49

Die Eingliederungskampagne in die HJ betrifft auch die konfessionellen Jugendgruppen. Trotz des Reichskonkordats vom 20.Juli mit dem Vatikan, das den katholischen Verbänden eine eingeschränkte Jugendarbeit zugesteht, wird noch im gleichen Monat die parallele Mitgliedschaft in der Gesamt-HJ und in einer kirchlichen Jugendorganisation verboten.50

Die evangelischen Jugendorganisationen werden durch ein Abkommen zwischen Schirach und dem Reichsbischof Ludwig Müller (1883-1945) Ende 1933 in die Gesamt-HJ eingegliedert.

Es folgt die Ausgliederung von HJ und BDM aus dem Verantwortungsbereich der SA.

Die gesamte Jugendorganisation wird Mitte des Jahres, veranlasst auch durch die vielen neuen Mitglieder, neu strukturiert. Ab jetzt sind innerhalb der Gesamt-Hitlerjugend die 10- bis 14-jährigen Jungen dem Deutschen Jungvolk, die 14- bis 18-jährigen Jungen der Hitlerjugend, die 10- bis 14-jährigen Mädchen dem Jungmädelbund (JM) und die 14- bis 18-jährigen Mädchen dem Bund deutscher Mädel zugeordnet.51

Der BDM wird in seiner Arbeit unabhängiger, richtet sich nicht mehr alleinig an den Bedürfnissen der HJ aus. Er wird nun als „Kampf-, Arbeits- und Lebensgemeinschaft“52 beschrieben, die ihren Beitrag innerhalb der Gesellschaft zu leisten hat.

Im Sommer übernimmt Lydia Gottschewski als Bundesführerin die Leitung des BDM. Durch das Verbot der anderen Organisationen steigen die Mitgliedszahlen deutlich an.

1934 ('Jahr der Schulung und inneren Ausrichtung'53)

Am 15.Juni Ernennung der Gauverbandsführerin Trude Mohr (Bürkner) (1902-1989) zur Reichsreferentin des BDM.54 Sie untersteht direkt der Reichsjugendführung (RJF).

Im selben Monat wird der Sonnabend als 'Staatsjugendtag' ausgerufen. Er ist ausschließlich dem HJ- und BDM-Dienst vorbehalten und stellt die Mitglieder der Jugendorganisation von der Schule frei.

Im Juli beginnt der HJ-Streifendienst seine Arbeit. Er übernimmt Polizeiaufgaben innerhalb der HJ und versucht oppositionelle Jugendgruppen auszumachen.55

Durch die Übernahme der 'Artamanen' wird auch der landwirtschaftliche Bereich in die Gesamt-HJ integriert und es entsteht der 'Landdienst'. Einführung eines 'Hauswirtschaftlichen Jahres' für BDM-Mädchen als Beitrag zum Aufbau des 'Dritten Reiches'.56

Artur Axmann ruft den Reichsberufswettkampf ins Leben, der zu einer bestehenden, faktisch verpflichtenden Instanz für Jungen und Mädchen wird.57 Die letzte bedeutende Maßnahme der HJ im Jahr 1934 ist ihre Abkopplung und Distanzierung von der SA, der sie laut Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat vom 1.Dezember 1933 noch immer unterstellt ist. Fortan werden die 18-jährigen Jungen nach ihrer Entlassung aus der HJ nicht mehr in die SA, sondern direkt in die NSDAP übernommen.58

1935 ('Jahr der Ertüchtigung')

Der Reichssportwettkampf findet zum ersten Mal statt. Seine Teilnehmerzahl steigt in den kommenden Jahren stark an.

Wiedereinführung der allgemeine Wehrpflicht und der Arbeitsdienstpflicht im Juni. Die vormilitärische Ausbildung in der HJ rückt in den Vordergrund.59 Es entstehen verschiedene Sondereinheiten der Hitlerjugend, wie beispielsweise die Marine-HJ, die Motor-HJ, die Fliegereinheiten und die Nachrichten-HJ.

1936 ('Jahr des deutschen Jungvolkes')

Ab diesem Jahr erfolgt die Aufnahme der Jungen und Mädchen in das Jungvolk und den Jungmädelbund mit wenigen Ausnahmen in geschlossenen Jahrgängen jeweils zum 20.April eines Jahres, dem Datum des Führergeburtstages.60

Im April Vereidigung von 190.000Führern und Führerinnen der HJ und des BDM.

Abb.1: Das Gesetz über die Hitlerjugend

Es folgt eine Neugliederung der Gesamt-HJ „nach Jahrgängen und Wohnbezirken“61. Zu dieser Zeit waren bereits sechs Millionen Jungen und Mädchen Mitglied der Hitlerjugend.62

Baldur von Schirach wird zum Staatssekretär berufen.

Ende des Jahres erlässt Adolf Hitler das Gesetz über die Hitler-Jugend. Die darin enthaltene 1. und 2.Durchführungsverordnung schreibt die Mitgliedschaft alle Kinder und Jugendlichen in der Gesamt-Hitlerjugend als Dienstpflicht fest. Mit diesem Gesetz endet die Entwicklung der Gesamt-Hitlerjugend, die „von einer 'Kampfjugend' über die 'Volksjugend' zu einer 'Staatsjugend' geworden war.“63

1937 ('Jahr der Heimbeschaffung')

Das Jahr 1937 ist gekennzeichnet durch den Aufbau von HJ- und BDM-Heimen und Adolf-Hitler-Schulen, die als Vorschulen der NS-Ordensburgen dienen. Der Aufbau der Reichsführerschule in Potsdam und der Akademie der Jugendführung dienen dazu, die Ausbildung und Karriere zukünftiger Führer und Vorsitzenden der Hitlerjugend zu verbessern.64

In diesem und im folgenden Jahr werden die letzten, oft illegal bestehenden Jugendverbände ausgeschaltet.

Dr.Jutta Rüdiger (1910-2001) übernimmt im November das Amt von Trude Mohr. Sie trägt fortan die Bezeichnung Reichsreferentin für den BDM beim Reichsjugendführer.65

Verstärkte hauswirtschaftliche und kulturelle Tätigkeiten sollen den Vermännlichungstendenzen im BDM entgegenwirken.

1938 ('Jahr der Verständigung')

Die Organisation Glaube und Schönheit für die 17- bis 21-jährigen Mädchen sowie BDM-Haushaltsschulen werden gegründet. Für die jungen Frauen wird ein 'Pflichtjahr' eingeführt.

Im April wird das Gesetz über Kinderarbeit und die Arbeitszeit der Jugendlichen verabschiedet, welches die Situation der Kinder und Jugendlichen stark verbessert.66

Bedeutendes Ereignis dieses Jahres ist das Zusammentreffen aller HJ- und BDM-Führer/​innen am 24.Mai zum Reichsführerlager. Im Hinblick auf einen möglichen Krieg finden folgende Bereiche Einzug in die HJ- und BDM-Arbeit: „steigende Gesundheitsvorsorge, die Anstrengung um den Erhalt der jugendlichen Leistungsfähigkeit sowie die Luftschutzausbildung – und natürlich die seit 1938 forcierte militärische Ertüchtigung der Jugend“67.

Der HJ-Streifendienst wird eine Sonderformation für den SS- und Polizeinachwuchs.68

Nach der Besetzung des Sudetenlandes und dem Anschluss Österreichs an das 'Dritte Reich' werden deren Jugendorganisationen in die Hitlerjugend integriert.69

1939 ('Jahr der Gesundheitspflicht')

Die körperliche Gesundheit wird propagiertes Ziel dieses Jahres. Um in der Zukunft gesunde Nachkommen zu zeugen, wird besonders die Jugend angehalten, durch Sport, Körperpflege und Lebenshaltung den eigenen Körper gesund und kräftig zu halten.70

Im September Einmarsch der Deutschen Wehrmacht in Polen. Beginn des 2.Weltkriegs.

Im November Erlass der 3.Durchführungsverordnung zum Gesetz über die Hitlerjugend vom 01.12.1936, der die praktische Umsetzung regelt. Fortan werden alle Kinder und Jugendlichen per Gesetz automatisch in die HJ integriert. Der Jugendführer darf fortan die Staatsorgane für die Durchsetzung seiner Ziele zu Hilfe nehmen.71

Die Hitlerjugend wird in diesem Jahr in eine 'Stamm-HJ' und in eine 'Allgemeine HJ' aufgeteilt. Mitglieder der 'Stamm-HJ' sind alle vor 1939 aufgenommenen Mitglieder der Jugendorganisation oder ehemalige Mitglieder der 'Allgemeinen HJ', die sich nach einem Jahr bewährt hatten.72

Abb.2: Erste Durchführungsverordnung zum Gesetz über die Hitler-Jugend

Mit Kriegsbeginn erhält die Staatsjugendorganisation neue Aufgaben. Die HJ übernimmt fortan „Partei-Einsätze (Kurier-, Wach-, Propaganda-Dienst); Einsatz für Staat und Kommunen (Meldedienst, Luftschutz, Feuerwehrdienst; sogenannte Technische Nothilfe; Hilfsdienst bei der Post, der Bahn, Einsatz bei der Wehrmacht (Kurier- und Verladedienst, Verpflegungsausgabe, Telefondienst u.a.m.); Einsatz in Wirtschaftsbetrieben und Arbeitskommandos; Sammlungen von Altmaterial, Kleidungsstücken u.ä.; Land- und Ernteeinsätze, NSV-Dienst und 'kulturelle Betreuung'“73

Der BDM übernimmt fortan auch Aufgabenbereiche, in denen die Männer aufgrund des Krieges fehlen. Ihm obliegt auch die Versorgung Verwundeter und Kranker.

Ab 1940 ('Jahr der Bewährung')

1940 tritt Baldur von Schirach als Reichsjugendführer und Jugendführer des deutschen Reiches74 zurück und übergibt seine Position an Artur Axmann. Neben seiner Tätigkeit als Reichsleiter für die Jugendführung der NSDAP erfolgt seine Ernennung zum Reichsstatthalter und Gauleiter von Wien.75

Um die Dienstpflichtverordnung nicht zu gefährden, wird die „Disziplinarordnung der HJ in eine Dienststrafordnung umgewandelt, die ein Verfahren bei Nichterfüllung der Dienstpflicht […][vorsah] und Verstöße gegen die HJ-Disziplin, 'Gefährdung des öffentlichen Ansehens der HJ' und ähnliches mehr verfolgt[…].“76

Im März Einberufung des vollständigen Jahrgangs 1923 zur Jugenddienstpflicht.

Beginn der 'Kinderlandverschickung' mit der Evakuierung von Schulkindern aus kriegsgefährdeten Regionen.77

1941 ('Unser Leben, ein Weg zum Führer')

Die Mitgliedszahlen der Gesamt-HJ steigen während des Krieges weiter an, da die Jugendorganisationen der eroberten Gebiete häufig in die Gesamt-Hitlerjugend integriert werden.78

Abb.3: Dienststrafordnung der HJ.

1942 ('Osteinsatz und Landdienst')

Schirach und Axmann gründen den Europäischen Jugendverband. Er schließt sich aus faschistischen Jugendorganisationen Österreichs, Italiens und einiger anderer Länder, die mit dem Deutschen Reich sympathisieren, zusammen.79

1943 ('Kriegseinsatz der deutschen Jugend')

Die Kriegseinsätze der HJ werden intensiviert, ab Januar werden selbst Schüler als HJ-Luftwaffenhelfer eingezogen.

Der Widerstand vieler Jugendlicher gegen die Gesamt-HJ, vor allem gegen die HJ-Dienstpflicht, wächst. Dem begegnet die Staatsjugendorganisation mit „stärkeren Disziplinarmitteln, Ausweitung des Jugend-Arrests, Verschärfung der Kontrollen des Streifendienstes, Forcierung des militärähnlichen Drills und Zuhilfenahme der Staatsorgane und ihrer Mittel“80.

Die gesamte Hitlerjugend entwickelte sich während des Krieges zu einer „Kriegshilfsdienstorganisation“81. Kriegsbedingte Themen bestimmen in zunehmenden Maß den Inhalt der Arbeit. Der BDM beteiligt sich z.B. an der Gesundheitsversorgung in den Lazaretten, bereitetet Essen für Bedürftige zu, fertigt und flickt Soldatenkleidung, stellt Spielzeug für die Kinder her, hilft in Betrieben, Fabriken und Bauernhöfen.

Im Sommer 1943 zeigen sich erste Zerfallserscheinungen der Gesamt-HJ.

1944 („Jahr der Kriegsfreiwilligen“)

Die Jugend wird zu einem „sinnlosen Widerstand“82

3.Die Staatsparteidoktrin des 'Dritten Reiches'

3.1Die Ideologie des Staatssystems

Als einzige Partei im totalitären nationalsozialistischen Staat zugelassen, erhielt die NSDAP die Monopolstellung als Staatspartei. Ihre programmatischen Grundsätze wurden als Doktrin erklärt und erhielten absolute Gültigkeit für alle Bürger des Staates.84 Systemkritische Einstellungen und Meinungen wurden verboten und durften somit in keiner Form bekundet werden. Zuwiderhandlungen wurden mit Strafverfolgung geahndet.

Im Gegensatz zu anderen Ideologien besaß die nationalsozialistische Weltanschauung nie ein stringentes System. Sie bestand aus einem „Ideenkonglomerat“, „das Vorstellungen, Leitbilder und Ressentiments des deutschen nationalen Bürgertums vereinigte.“85 Hitlers Weltanschauung, erörtert in seinem Buch 'Mein Kampf', kreiste im Kern um die aus der Ariosophie aufgenommene und verschärfte Anthropologie der „Erkenntnis von der Ungleichheit der Menschen“86. Rassismus und Antisemitismus, die Hervorhebung der 'arischen' Rasse über die nicht-arischen Völker und das damit verbundene Elitedenken wurden somit grundlegend für alle weiteren ideologischen Vorstellungen der Nationalsozialisten.87 Der Standpunkt des einzelnen Menschen wurde „durch sein Blut und durch seine Rasse“ definiert.88

Innerhalb der nationalsozialistischen Ideologie war das Führerprinzip von wesentlicher Bedeutung. Es griff das vermutete germanische Prinzip von 'Führer und Gefolgschaft' auf, in dem der Führer allen Menschen des Volkes hierarchisch übergeordnet war und seitens der Untertanen bedingungsloser Gehorsam gegenüber dem Staatsoberhaupt verlangt wurde.89 Damit erfolgte zugleich die Negierung des Einzelnen zugunsten der Volksgemeinschaft im Sinne der Parole: 'Du bist nichts – Dein Volk ist alles'90 als integrativer Bestandteil der nationalsozialistischen Ideologie. Sie entlehnte dafür Gedankengut aus der Zeit des 1.Weltkriegs, als sich der einzelne Soldat angeblich für die Gemeinschaft opferte. Aus nationalsozialistischer Sicht versprach „das mystische Erlebnis der Volksgemeinschaft […] dem Einzelnen Geborgenheit und Selbstgewissheit, erlöste ihn von der Kontingenz seines Daseins, indem er sich als Teil eines übergeordneten Ganzen, als organischer Bestandteil der Volksgemeinschaft, als treuen und ergebenen Gefolgsmann Hitlers interpretieren konnte.“91 Damit einher ging die Ablehnung aller geistigen und intellektuellen Fähigkeiten der Menschen zugunsten einer starken Betonung des Körperkultes. Das Heranzüchten gesunder und starker Körper war vielfach gepriesenes Ziel. Hingegen war die geistige Entwicklung der Menschen für die Nationalsozialisten nur im Hinblick auf die Ausbildung von Charakter- und Willensstärke von Bedeutung.92 Damit kam der Militarisierung der Gesellschaft, die zunehmend in alle Lebensbereiche hineinspielte, eine wichtige Rolle zu. Durch das Tragen der Uniform und durch das Befolgen der Regeln sollte eine Gleichheit und Einheitlichkeit in allen organisierten Bereichen erwirkt werden.

Das Fernziel nationalsozialistischer Ideologie basierte auf Hitlers imperialistischen Eroberungsbestrebungen. Nach denen sollte der Lebensraum Richtung Osten hin erweitert werden, entsprechend der „Bevölkerungszahl und dem 'Machtwillen' des 'deutschen Volkes'“93. Dieser angestrebte Großstaat sollte wiederum von den herangezüchteten 'Herrenmenschen' geführt und gelenkt werden.

3.2Die Grundsätze der Anthropologie

Grundlage für die Herausbildung dieser 'neuen Menschen' war Hitlers Rassenideologie, die rein wissenschaftlich betrachtet keine eigene neue Ideologie war. Hitler griff bereits in 'Mein Kampf' nur rudimentäres Gedankengut aus der Ariosophie und der britischen Rassenlehre des Kolonialismus auf - vernommen in seiner Wiener Jugendzeit - und mischte jene Aspekte mit der 'Eugenik' von Dr.Eugen Fischer (1874-1967). Er unterschied zwischen „Kulturbegründer, Kulturträger und Kulturzerstörer“94, wodurch sich eine „Rangordnung der Rassen“95 mit den 'arischen' Rassen an der Spitze ergab. Mithilfe des Sozialdarwinismus definierte er die 'arische' Rasse in ihrer Beschaffenheit und ihren Eigenschaften als höherwertig. Er leitete aus dieser angenommenen Überlegenheit das natürliche Recht ab, andere, niedere Rassen, u.a. die Juden, zu beherrschen.96 Da nach seinem Geschichtsverständnis die Herrschaft der 'Arier' in der Vergangenheit durch das Judentum bedroht war, sagte er „dem rassischen Gegner den Kampf auf Leben und Tod“97 an.

Die Dominanz der 'Arier' fand er in den menschlichen Eigenschaften ihrer Rasse begründet. So hob er ihre „Willens- und Charakterstärke, sowie körperliche Robustheit“98 hervor, negierte aber, wie bereits oben angeführt, intellektuelle und geistige Fähigkeiten der Menschen. Wert erzielte in seinen Augen der einzelne Mensch allein durch sein Machtstreben. Je mehr Macht der Mensch besitzt, desto höher solle er aufsteigen. Hitler unterteilte die arischen Menschen in die breite Masse und in die Elite, den sogenannten „nordischen Rassekern“99. Letzterer Gruppe sprach er die besten Eigenschaften und die höchstentwickeltsten Fähigkeiten zu, was sie dazu berechtigte, die „beherrschende Stellung in Volk und Staat“100 einzunehmen.

Für seinen angestrebten neuen Staat wollte Hitler einen „neuen Menschen“101, rassisch homogen, entstehen lassen. Das Ziel bestand darin, den „nordischen Helden“102 zu züchten, mit den Eigenschaften der „rassische[n] Gesundheit als Basis für Willen, Härte, Disziplin und Kampfgeist, für Leistung und Opferbereitschaft, aber auch für große Kulturschöpfungen aus 'arischem' Geist“.103 Im 'Klugen Alphabet' von 1935 wurde unter dem Begriff Rasse definiert, dass durch „Rückkreuzungen und weiteren Standardkreuzungen durch Ausmendeln, Entmischungen, also Ausmerzung bestimmter Rasseelemente“104 Menschen entstehen können, die alle diese Eigenschaften verkörperten. Dieses Verfahren sollte in ihrer Vollendung zum 'Herrenvolk' führen, welches den anderen Völkern in oben genannten Aspekten weit überlegen sei.

Pädagogische Aspekte der humanistischen Bildungstradition fanden keinen Eingang in diese Anthropologie, denn es ging nicht mehr darum, durch Erziehung den individuellen Menschen in seiner Selbstverwirklichung zu fördern. Vielmehr sollten, mit Hilfe von biologischer sowie seelisch-geistiger 'Zucht' und 'Dressur', Menschen gestaltet werden, die sich selbst im Sinne des Nationalsozialismus (NS) für die Allgemeinheit aufgaben.105

3.3Bild der Frauen im Nationalsozialismus

Der Nationalsozialismus wurde als eine Bewegung der Männer gesehen, in der Frauen nur eine untergeordnete Rolle in der Familie, Gesellschaft und im Berufsleben einnahmen.

Äußerungen Hitlers dazu auf dem Nürnberger Parteitag im Jahr 1934 vermitteln anschaulich diese propagierten Rollenbilder: „Wenn man sagt, die Welt des Mannes ist der Staat, die Welt des Mannes ist sein Ringen, die Einsatzbereitschaft für die Gemeinschaft, so könnte man vielleicht sagen, dass die Welt der Frau eine kleine sei. Denn ihre Welt ist der Mann, ihre Familie, ihre Kinder und ihr Haus. Wo aber wäre die größere Welt, wenn niemand die kleine Welt betreuen möchte?“106

Gemäß dieser Rollenzuordnung wurden die Arbeitsbereiche von Mann und Frau im Nationalsozialismus der Vorkriegszeit zumeist getrennt. Während der Mann in der patriarchalisch orientierten Gesellschaft einem Beruf nachging und damit für den finanziellen Familienerhalt sorgte, übernahm die Frau den Haushalt und die Kinderbetreuung.

Die Ehe selbst wurde laut Hitler nicht als Selbstzweck aufgefasst, ihre vornehmliche Aufgabe lag in der Reproduktion des Nachwuchses. Dabei wurde die 'Mutterschaft' als eine Art Beruf(ung) angesehen, idealisiert und „parteipolitisch definiert und staatlich durchgesetzt“107. Es galt, eine möglichst große Anzahl rassischer und erbgesunder Kinder zu gebären, wobei Jungen besonders erwünscht waren. Der Begriff der Mutterschaft bezog sich dabei nicht nur auf den Bereich innerhalb der eigenen Familie. Durch die Reproduktion des Nachwuchses galten die Frauen als Bewahrerinnen der Volksgemeinschaft, denn durch ihre Nachkommen trugen sie zur Sicherung der deutschen Rasse bei. Aus dieser Bestimmung leitet Hitler die Wertschätzung, ja sogar eine Gleichberechtigung der Frau ab: „Auch die Frau hat ihr Schlachtfeld: Mit jedem Kind, das sie der Nation zur Welt bringt, kämpft sie ihren Kampf für die Nation.“108 Er verlangte „dass sie in den ihr von der Natur bestimmten Lebensgebieten jede Hochschätzung erfährt, die ihr zukommt“.109 Diese starke Idealisierung und Mythologisierung der Mutter ist ablesbar an vielen Veranstaltungen, die ihr zu Ehren zelebriert wurden wie beispielsweise der Muttertag, der zum festen Bestandteil im Jahreszyklus nationalsozialistischer Feiern avancierte. Zudem wurde Müttern ab einer bestimmten Kinderanzahl das Mutterkreuz verschiedener Stufen verliehen.110

Doch statt Gleichberechtigung im heutigen Sinne ergab sich für die Frau aus ihrer vorgegebenen Rolle als Mutter, Haus- und Ehefrau eine mehrfache Abhängigkeit. Neben dem Gebären und Kindergroßziehen gehörte es zu ihren Pflichten, ihren Mann im täglichen Leben unterstützend beizustehen. Darüber hinaus sollte sie ihr Leben der völkischen Gemeinschaft anbieten und unterordnen. So war es in den Anfangsjahren des Nationalsozialismus durchaus erwünscht, dass Frauen, in späteren Jahren auch unverheiratete junge Mädchen, einen Beruf ausübten, allerdings hauptsächlich in Bereichen mit sozialen Komponenten. Trude Bürkner-Mohr, damalige Reichsreferentin des Bundes Deutscher Mädel, propagierte dementsprechend die Aufnahme eines Berufes aus dem Sektor „Helfen, Heilen, Erziehen“111. Aus anderen Bereichen des öffentlichen Lebens, so auch der Politik, hatten sich Frauen vollständig herauszuhalten. Auf der ersten Generalversammlung der NSDAP wurden sie aus allen führenden Parteigremien ausgeschlossen. Fortan blieb Ihnen nur innerhalb des BDM die Möglichkeit, höhere Positionen einzunehmen, wobei auch hier die letztendliche Entscheidungsgewalt bei den Männern lag.

Auch wenn Hitler von der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau sprach, ergab sich für Letztere nach heutiger Sicht eine deutlich niedrigere Stellung innerhalb der Gesellschaft. Anstatt als Subjekt ihr Leben selbstständig, durch Eigenbestimmung und Eigeninitiative zu gestalten, verfiel die Frau in die Rolle des Objektes.

Wie sah nun das Verhältnis zwischen propagierten Rollenbild und tatsächlich gelebter Realität aus? Bezüglich des Zieles, möglichst viele Kinder zu gebären, bestand eine Übereinstimmung zwischen Ideologie und Wirklichkeit. Die Geburtenrate stieg in der Zeit des Nationalsozialismus an. Es ist anzunehmen, dass diese Entwicklung auf fördernde Kriterien, aber auch auf Zwangsmaßnahmen zurückzuführen ist. Zu Ersteren gehörte beispielsweise die Ermäßigung der Steuer für kinderreiche Familien, wie auch die Auszeichnung mit dem Mutterkreuz. Als Zwangsmaßnahme wurde gesetzlich ein Verbot über die Nutzung von Verhütungsmitteln erlassen, wie auch ein Verbot über die freiwillige Sterilisation.112

Hinsichtlich der Berufstätigkeit der Frauen stimmten Ideologie und Realität nicht überein. Zwar nahm in der Anfangszeit bis zum Jahr 1935 der Prozentsatz arbeitender Frauen kontinuierlich ab, doch ist diese Entwicklung mit Vorsicht zu betrachten, da zu gleicher Zeit fast ausschließlich Männer in die vorhandenen Berufe eingestellt wurden. Dadurch verringerte sich der Prozentsatz der Frauenarbeitsquote auf eine natürliche Art, ohne das weibliche Angestellte aus ihren Berufen entlassen wurden. Ab dem Jahr 1936 wich die Realität dann vollends von der postulierten Ideologie ab. Dies ist auf die florierende Wirtschaft und die forcierten Kriegsvorbereitungen zurückzuführen. Der Aufschwung und die damit dringend benötigte Arbeitskraft ließ nicht mehr zu, dass auf Frauen in vielen Bereichen des Arbeitslebens verzichtet wurde.113 Als mit Kriegsbeginn immer mehr Männer aus den Betrieben ausschieden, um an der Front zu kämpfen, nahm die Anzahl arbeitender Frauen noch einmal erheblich zu. Dieser Trend stieg durch den kriegsbedingten Verlust der männlichen Arbeitskräfte weiter an. Die in früheren Jahren propagierten spezifischen Frauenarbeitsstellen spielten zu dieser Zeit längst keine Rolle mehr.

3.4Bild der Männer im Nationalsozialismus

In einer Rede am 13.September 1935 sprach Hitler folgende Worte: „Frau und Mann repräsentieren zwei ganz verschiedene Wesenseigenschaften. Im Manne sei vorherrschend der Verstand. Stabiler sei aber das bei der Frau hervortretende Gefühl.“114

Während somit in der nationalsozialistischen Ideologie die Frau und ihre Welt als emotional, seelisch und sorgend klassifiziert wurde, galt der Mann als rational denkend und handelnd sowie kraftvoller physischer Mensch. Er wurde charakterlich als stark und rational definiert. Ihm gebührte es, die Rolle des politisch aktiven und herrschenden Menschen einzunehmen. Seinen Fähigkeiten entsprechend, sollte der Mann als Ernährer der Familie einer beruflichen Tätigkeit nachgehen und so das Familieneinkommen sichern, seine Familie versorgen, ernähren und mit der Waffe in der Hand beschützen.

Die beiden Welten von Mann und Frau sollten sowohl in der Ehe, als auch im gesellschaftlichen Leben und Arbeitsleben getrennt bleiben. Der Mann war dazu bestimmt, den Frauen ihre Rolle zuzuweisen.

3.5Bild der Mädchen im Nationalsozialismus

Das idealtypische Mädchen musste zu Zeiten des Nationalsozialismus einige grundlegende Voraussetzungen mitbringen. Es musste 'deutsch', 'arisch' und damit 'erbgesund' sein. Darüber hinaus sollte es ihr Leben zugunsten der Volksgemeinschaft einsetzen sowie die nationalsozialistischen Werte und Normen widerstandslos annehmen und nicht hinterfragen. Laut BDM-Leitung sollten folgende Eigenschaften das deutsche Mädchen ausmachen: Es „war sportlich, pflegte seinen Körper, achtete auf seine Gesundheit und war äußerlich sauber und ordentlich gekleidet; es war tüchtig und selbstständig in beruflicher, insbesondere in hauswirtschaftlicher Hinsicht.“115 Es sollte sich kulturell und musisch bilden und darüber hinaus auf ihre spätere Rolle als Mutter und den damit verbundenen Aufgaben vorbereiten. Wichtige damit verbundene Tugenden waren „Treue, Gradheit, Reinheit, Sauberkeit und Ehre“116.

Im BDM sollten sich die Mädchen nicht als Einzelpersönlichkeiten darstellen und entwickeln, bestimmend war das Wir-Gefühl, die Gemeinschaft. Die Persönlichkeitsentwicklung der Mädchen wurde im Selbstverständnis des BDM von „internen, erblichen, biologisch-rassischen Bedingungen“117 bestimmt und nur bedingt durch Erziehung beeinflusst. Damit wurden die Mädchen durch ihre Erbanlagen zu Objekten degradiert. Ihnen wurde nicht die Möglichkeit gegeben, eigene Interessen zu entwickeln, ihren individuellen Weg zu finden und zu eigenständigen Persönlichkeiten heranzureifen.

Nicht alle Mädchen ließen sich in dieses sehr enge und einschränkende Muster einfügen und es entstanden Gegenbilder zu diesem Typ Mädel, wie beispielsweise die „intellektuellen Blaustrümpfe“118 und die „politisierenden Dämchen“119.

3.6Bild der Jungen im Nationalsozialismus

Das wohl einprägsamste Bild des Jungen im Nationalsozialismus formulierte Hitler auf seiner Rede zum jährlichen Reichsparteitag der NSDAP in Nürnberg 1935.Er wollte eine männliche Jugend, die „Flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl“120 sei. Aus diesem Zitat wird ersichtlich, dass vor allem die körperliche Ertüchtigung und Aktivität den HJ-Jungen ausmachen sollte. In dem von der Reichsjugendführung veröffentlichten Buch „HJ. im Dienst“, wurde schon in der Einleitung formuliert: „Der Führer verlang von Dir, daß du Deine körperlichen Anlagen und Fähigkeiten bis zur äußersten Möglichkeit entwickelst.“121

Die intellektuelle Bildung fand keinen Eingang in das nationalsozialistische Jungenbild. Vielmehr ging es darum, sich an die Organisation zu binden und die Ideologie, die Normen und Werte unreflektiert zu übernehmen. Eigeninitiative der Jungen wurde zwar gewünscht, jedoch nur im Rahmen der bestehenden Normen. Befehle von Vorgesetzten sollten sie schnell und unhinterfragt ausführen, immer im Sinne der Gemeinschaft.122

Laut Hitler sollten die Jungen „friedfertig sein und mutig zugleich“123. Darüber hinaus sollten sie stark und hart sein und lernen, „Entbehrungen auf […] [sich] zu nehmen, ohne jemals zusammenzubrechen“124 Auch der Begriff der Ehre und des Stolzes wurde in diesem Zusammenhang angesprochen.

Deutlich abzugrenzen hatten sich die Jungen von den „'romantischen' oder 'intellektualisiert-problematisch[en]' Jugendlichen früherer Jugendbünde[…]“125 und auch vom „'sozialrevolutionären' und politisch-aktiven Typ verschiedener Jugendorganisationen“126.

4.Struktureller Aufbau der Hitlerjugend und des Bundes Deutscher Mädchen

4.1Aufbau und Gliederung

Bereits von Beginn an war die Staatsjugendorganisation von der NSDAP vollständig politisch abhängig und galt als deren Nachwuchsorganisation. Wie auch die NSDAP war die Gesamt-Hitlerjugend hierarchisch und zentralistisch aufgebaut und zeigte in ihren einzelnen Sektionen eine analoge Struktur zur Partei.127 Obwohl formal freiwillig, wurden die 18-jährigen Männer oft nach Abschluss der HJ zunächst in die SA, später in die NSDAP übernommen. Die Frauen wurden aufgefordert, nach Abschluss des BDM oder ihrem Abschluss in der Organisation Glaube und Schönheit in die NS-Frauenschaft einzutreten. So wurde der Parteinachwuchs gesichert, der sich zudem bereits in den Strukturen und Funktionen der Organisation auskannte

Die Gesamt-HJ unterteilte sich in fünf Obergebiete: Ost, Nord, Mitte, Süd und West, die sich wiederum in jeweils vier bis fünf Gebiete und Obergaue aufgegliedert. Ab dort waren sie hierarchisch abgestuft in Bann, Stamm, Gefolgschaft, Schar und Kameradschaft, analog beim BDM untergliedert in Obergau, Untergau, Mädelring, -gruppe, -schar und -schaft.128 Der BDM, als Teil der Gesamt-HJ, war in seinem Aufbau der HJ angeglichen, es gab keine „eigens gestaltete weibliche oder mädchenspezifische Organisationsform.“129 Aus der getrennten Rollenverteilung von Mann und Frau im Nationalsozialismus ergaben sich allerdings bereits innerhalb der Staatsjugendorganisation zwei unterschiedliche Erziehungsschwerpunkte, so dass ab 1933 die Gesamt-HJ die Jungen und Mädchen nach Alter und Geschlecht in folgenden Organisationsformen zusammenfasste: Die Jungen von 10 bis 14 wurden zunächst im Jungvolk, gegründet 1931, organisiert. Anschließend wechselten sie für die nächsten vier Jahre in die HJ. Jene, bereits 1926 gegründet, war bis 1932 der Sturmabteilung (SA) unterstellt.130 Neben den Ortsgruppen gab es innerhalb der HJ Sondereinheiten, beispielsweise die „Nachrichten-, Marine-, Flieger- und Motor-HJ“131. In diesen Formationen erhielten die Jungen eine spezifische Ausbildung, welche ausschließlich ihnen vorbehalten war. Vergleichbare Einheiten für die Mädchen im BDM gab es nicht, jedoch konnten sie an Sonderausbildungen teilnehmen, wie beispielsweise am Gesundheitsdienst.132

Die weibliche Jugend wurde in die Jungmädel zwischen 10 und 14Jahren und in den BDM für die 14- bis 18-jährigen untergliedert. Neben dem bereits 1930 gegründeten BDM wurde 1938 die Organisation Glaube und Schönheit für die 17- bis 21-jährigen jungen Frauen ins Leben gerufen. Die Teilnahme darin war freiwillig.133

Jährlich am 20.April, dem Tag von Hitlers Geburtstag, wurden die Jungen und Mädchen in das JV bzw. die JM aufgenommen. Anfangs wurden die Mitglieder des Jungvolks, in Anlehnung an die Jungmitglieder diverser Bünde vor 1933, Pimpfe genannt. Ab Ende 1938 durfte der Begriff nicht mehr verwendet werden, da er als abwertend galt.134 Vermutlich entdeckte die Reichsjugendführung den etymologischen Ursprung des Wortes Pimpfe, der „(kleiner) Furz“135 bedeutete. Der Übertritt in HJ und BDM erfolgte ebenfalls an besagtem Tag.136

Obwohl lange Zeit das „Prinzip der Freiwilligkeit der Zugehörigkeit“137 zur Staatsjugendorganisation propagiert wurde, änderte sich das 1936 grundlegend durch das HJ-Gesetz. Ab diesem Zeitpunkt blieb jeder Junge und jedes Mädchen für eine Dauer von 8Jahren Mitglied der Staatsjugendorganisation. Mittels der 1939 eingeführten Durchführungsverordnung wurde die Teilnahme sogar zur Pflicht erklärt. Fernbleiben wurde nur in Ausnahmen gewährt, beispielsweise bei nachgewiesener Krankheit. Verweigerung wurde mit Strafverfolgung geahndet.

Während der 8Jahre wurden den Jungen und Mädchen aufeinander aufbauende nationalsozialistische Inhalte und Verfahrensweisen vermittelt, die jährlich mit einem bestimmten Ausbildungsziel abschlossen.138

Abb.5: Motor-HJ

Abb.6: Nachrichten-HJ

Abb.7: Flieger-HJ

Abb.8: Segelpilot Joachim Gittelbauer

Abb.9: Der Aufbau der Hitlerjugend nach Jahrgängen

4.2Die Hierarchie, Struktur und das Führungsprinzip der Gesamt-Hitlerjugend als zentralistisches Prinzip des Machtsystems

Der Aufbau der Gesamt-HJ war einfach und klar nach zentralistischen Machtstrukturen gegliedert. Nur die „oberste Spitze“139 traf die wichtigen Entscheidungen über Aufgaben und Inhalte der HJ und des BDM. Die Führer an der Basis, die der Jugend sehr nahe standen, hatten für deren Umsetzung zu sorgen.

An der Spitze der gesamten HJ stand die Reichsjugendführung in Berlin. Alle Ämter innerhalb dieser obersten Reichsbehörde, bei der sämtliche Befugnisse zusammenliefen, wurden ausschließlich von Männern bekleidet. Auch die Reichsreferentin des BDM war der Reichsjugendführung direkt unterstellt, sie hatte jedoch „weitgehende Vollmachten [,][…] die Führung des BDM zu bestimmen.“140 Innerhalb der Behörde waren alle Bereiche der nunmehr staatlich gelenkten Jugendpolitik, u.a. auch die Ämter für die Leibeserziehung und die HJ-Gerichtsbarkeit, zusammengeführt. Die Leitung über die verschiedenen Ämter lag beim Stabsführer der Reichsjugendführung.141

Dem Aufbau der NSDAP entsprechend, hatte jede der sieben Einheiten (HJ => Reichsjugendführung - Gebiet - Bann - Stamm - Gefolgschaft - Schar -Kameradschaft/​BDM => Reichsjugendführung - Obergau - Untergau -Mädelring - Mädelgruppe - Mädelschar - Mädelschaft) verschiedene Hauptabteilungen oder -stellen. So bestand z.B. ein Bann aus einer „Personalsstelle, Sozialstelle, Stelle für weltanschauliche Schulung, Presse- und Propagandastelle, Verwaltungsstelle“142. Diese Stellen gab es in ähnlicher Form auch auf den nächsthöheren und –tieferen Ebenen.

In jeder HJ- und BDM-Gruppe stand an der Spitze ein Junge oder ein Mädchen als Führer, die den Namen der Gruppe und der Klassifikation trugen, z.B. Bannführer oder Mädelgruppenführerin.143 Sie allein hatten die Verantwortung für ihre Gruppe und mussten sich vor der jeweils höheren Instanz verantworten. Ein Führer, anders als ein Vorgesetzter, verübte nach Schirach eine natürliche Autorität und war seiner „Gefolgschaft Vorbildlichkeit schuldig“144. Gemäß der nationalsozialistischen Idee des Führerprinzips waren die untergeordneten Jugendlichen ihrem Führer zu absolutem Gehorsam verpflichtet. Sie hatten die von ihm erteilten Regeln und Anweisungen uneingeschränkt und unhinterfragt auszuführen.

Die einzelnen Stellen und Positionen wurden von den „Personalsstellen bzw.

-abteilungen und dem Personalamt der RJF“145 zugeteilt. Neben dieser Berufung gab es keine Möglichkeit, sich auf eine Position wählen zu lassen. Die Stellungen der Bannführer/​innen und darüber liegende Positionen waren in der Regel hauptamtlich und damit besoldet.

Während die Männer für die einheitliche Ausrichtung der gesamten Arbeit verantwortlich waren, stand ihnen für die mädchenspezifischen Belange jeweils eine BDM-Amtsreferentin zur Seite.146

Generell war jedoch im Geschlechtervergleich das weibliche Geschlecht innerhalb der RJF „vollkommen unterrepräsentiert“147 und selbst in Mädchenangelegenheiten besaßen die Männer das Recht, die endgültigen Entscheidungen zu treffen.

Abb.10: Aufbau der Stäbe

Abb.11: Gliederung und Aufbau der Hitler-Jugend