Stadt ohne Nacht - Silke Katharina Weiler - E-Book

Stadt ohne Nacht E-Book

Silke Katharina Weiler

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Beschreibung

»Solltest du je versuchen, nach Hause zurückzukehren, wird es dein Tod sein ... Wie eine giftige Schlange kroch der Satz durch meinen Kopf.« Ala hat seit fast fünfzehn Jahren keinen Fuß mehr in ihre Heimatstadt Realtaris gesetzt und das aus gutem Grund - bis sie an den abgehalfterten Dexter gerät, der sie genau dorthin verschleppt. Mit ihrer Hilfe hofft er, die Frau, die er liebt, zu retten. Nach anfänglichem Widerstand sichert Ala ihm ihre Unterstützung zu. Dadurch erregt sie die Aufmerksamkeit des fanatischen Ordens, der in der »Stadt ohne Nacht« die Fäden zieht. Denn Ala ist kein gewöhnlicher Mensch und schon bald in großer Gefahr.

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Stadt ohne Nacht

TitelWidmungKarte1.2.3.4.5.6.7.8.9.10.11.12.13.14.15.16.17.18.19.20.21.22.23.24.25.26.27.28.DankeWichtige Personen und BegriffeContent NotesImpressum

Titel

Silke Katharina Weiler

Stadt ohne Nacht

Widmung

Der Freundschaft gewidmet

Karte

1.

Ala

Illendrea-Minen am Fuße des Fern-Massivs

Ein Schwall glühend heißen Dampfes schlug mir aus dem Topf entgegen. Instinktiv fuhr ich zurück und ließ den Deckel fallen, der scheppernd auf dem Steinboden aufkam. Neben mir machte Ellin einen Satz und schrie auf. Die Karotten entglitten ihm und er wollte schon in Deckung gehen, da begriff er, dass nur mein Missgeschick der Grund für den Lärm gewesen war. Der Arme hatte eindeutig zu viele Unfälle in der Mine miterlebt.

»Kannst du nicht aufpassen, Ala?«, keifte Skeldri aus einer anderen Ecke der Küche und tastete nach dem Messer, das ihm heruntergefallen war.

»Halt dein Maul!«, blaffte Ellin. »Ist doch kein Wunder, dass das arme Kind so durcheinander ist.«

»Tut mir leid«, gab Skeldri zurück, »Mitleid ist aus. Sie sollte sich langsam dran gewöhnen, dass er nicht mehr auftaucht.«

Ellin brummelte etwas Unverständliches und bückte sich nach dem Deckel, der ihm vor die Füße geeiert war. »Hast dich hoffentlich nicht verbrüht?«, erkundigte er sich. Seine Augen waren voller Mitgefühl. Mit den hängenden Lidern erinnerte er mich an einen greisen Jagdhund, dabei war er nur ein Drittel so alt, wie er aussah. Die fehlenden Jahre hatte ihm die Mine geraubt.

»Nichts passiert.« Für Ellin rang ich mir ein Lächeln ab. Ich nahm den Deckel entgegen und stülpte ihn über das brodelnde Wasser. Eine Wolke aus Dampf löste sich und stieg zur Decke hinauf. In der Küche war es unerträglich heiß. Ich wischte mir Schweiß von der Stirn und versuchte, mich daran zu erinnern, was ich als Nächstes hatte tun wollen. Aber immer wieder kehrten meine Gedanken zu Stennis zurück.

Ich hatte ihn im Waisenhaus kennengelernt. Fünf Jahre alt war ich da gewesen. Unmittelbar nach meiner Ankunft hatte ich mich schluchzend und völlig verstört in einer Ecke verkrochen. Keines der anderen Kinder nahm Notiz von mir und für Madam Blass, die Leiterin, war ich ohnehin nur ein weiteres Maul, von dem sie nicht wusste, wie sie es stopfen sollte. Da saß auf einmal Stennis vor mir, ein langnasiger Rotschopf mit Augen so blau wie der Bergsee in der Nähe meines Heimatdorfes.

»Mein Hund ist gerade an dir vorbeigerannt. Hast du gesehen, wo er hingelaufen ist?«

Ich konnte mich nicht entscheiden, was mich mehr verwirrte: Der Inhalt oder dass er überhaupt etwas gesagt hatte. Aber die Frage lenkte mich kurz von meinem Elend ab.

»Wie sieht dein Hund denn aus?«, schniefte ich.

Er zuckte die Schultern. »Weiß nicht. Ich glaube, dabei musst du mir auch helfen. Wenn du einen Hund hättest, wie sollte der aussehen?«

In diesem Augenblick lernte ich das typische Stennis-Grinsen kennen. Und gleich darauf waren wir in einer lebhaften Diskussion darüber verstrickt, wie unser jeweiliger Lieblings-Hund beschaffen sein musste. Erst später verriet er mir, dass er die Hundehaare an meinem Mantel entdeckt und gehofft hatte, mich darüber in ein Gespräch verwickeln zu können.

Stennis teilte sein Brot mit mir, funkelte jeden böse an, der mir zu nahe trat, weckte mich, wenn ich nachts im Traum meinen Vater anflehte, mich nicht wegzuschicken, ich hätte doch nur das Kalb gesund machen wollen. Nur er wusste, warum ich im Waisenhaus gelandet war, obwohl meine Eltern sich bester Gesundheit erfreuten.

»Darüber darfst du mit niemandem sprechen«, hatte er mir eingeschärft, nachdem ich es ihm erzählt hatte. »Du wurdest von links bedacht, das verstehen viele nicht. Ich habe von einem Ort gehört«, er hatte die Stimme gesenkt, »da bringen sie dich dafür zum Prüfer, der treibt dir die Fähigkeiten aus!« Der Prüfer ‒ der Begriff kam mir vage vertraut vor. Stennis hatte ihn so unheilschwanger betont, dass ich nicht wagte, nachzufragen, wer der »Prüfer« sei und was genau er mit einem anstellte. Erst ein paar Jahre später erfuhr ich, dass der Ort, von dem Stennis gesprochen hatte, meine Heimatstadt war.

Stennis ‒ ich hatte geglaubt, wir beide würden immer füreinander da sein. Doch nun wurde er seit einer Explosion vor gut einer Woche vermisst, zusammen mit vier anderen.

Die Dampfwolke hatte längst die Decke erreicht und zerstreute sich, als die Tür aufgestoßen wurde und gegen die Wand prallte. Ellin fuhr erneut auf. Abermals fielen die Karotten, die er gerade erst aufgeklaubt hatte, zu Boden und zerbrachen diesmal in ungleich lange Stücke.

Ich erkannte den Mann auf der Schwelle nicht. Das gleißende Licht der Mittagssonne, das sich an ihm vorbeidrängte, blendete mich zu sehr. Aber seine Worte, die gruben sich mir in den Magen, Worte, die ich seit einigen Tagen ersehnt wie gefürchtet hatte:

»Sie haben deinen Bruder gefunden! Sie haben Stennis!«

Er lag neben dem Ausgang des Schachts, aus dem sie ihn gezogen hatten. Normalerweise war es nicht Gunder Hrains Art, verschüttete Arbeiter zu bergen. Allerdings war Stennis sein bester Mann und mit ihm und seinen Kollegen die Fördermenge an Sigmantin und Fernalit einer ganzen Woche begraben worden, sodass sich für den Minenpächter eine doppelte Notwendigkeit ergeben hatte, Suchtrupps auszusenden.

Die Sonne brannte unbarmherzig auf ihn herab. »Warum spannt keiner einen Baldachin auf?«, rief ich und sank neben ihm auf die Knie. Niemand reagierte. Alle schauten betreten unter sich.

Stennis roch nach Eisen und geborstenem Stein. Ich hatte nicht gewusst, dass Gestein einen Geruch besaß. Er roch nach verdorbenem Fleisch. Der Tod fraß sich bereits durch seine Eingeweide.

Verstohlen öffnete ich meine Hände. Die Hände, die mich meine Familie, mein Zuhause gekostet hatten. Waren sie ausnahmsweise sauber, wirkten die Handflächen viel heller als die restliche Haut an meinem Körper. Je nachdem wie man sie gegen das Licht hielt, schimmerten sie silbrig.

Meine Finger zitterten. Verdammte Hände! Hinterhältige Verräter! Bei Tag völlig unbrauchbar und gewöhnlich. Was hatte mir meine Gabe bisher denn gebracht? Vielleicht war sie auch längst herausgewachsen. Seit jener Nacht hatte ich sie nie wieder benutzt.

Stennis’ Gesicht bedeckte eine dunkelgraue Mischung aus Schweiß, Blut und Gesteinsstaub. Mühsam verzog er die verdorrten Lippen zu einer Ahnung seines alten Lächelns. »Hat etwas länger gedauert, tut mir leid. Fürchte nur, ich kann nicht bleiben.« Seine Stimme klang dünn und gepresst. Er atmete flach in den Bauch. »Ala.« Die rechte Hand tastete nach einer der meinen. Kaum hatten sie sich getroffen, spürte ich, wie er etwas Längliches, Hartes hineinpresste. »Trag es ab heute immer bei dir«, raunte er. Für einen Moment verzog er das Gesicht vor Schmerz, gleich darauf fixierte er mich wieder. Der Ausdruck in seinen Augen wurde eindringlicher. »Immer, Ala, hörst du?«

Ich lugte unter seine Hand und erkannte Stennis’ Messer. Schnell ließ ich es in meinem Ärmel verschwinden. Etwas kitzelte auf meiner Wange. Ich wischte es weg und sah verwundert, dass mein Daumenballen davon nass war.

Stennis gab mir ein Zeichen, ich solle mich zu ihm herabbeugen. Sobald mein Ohr nah genug an seinem Mund war, flüsterte er: »Das andere musst du unbedingt für dich behalten. Erzähl es niemandem. Und nimm dich vor Gunder in acht. Geh ihm aus dem Weg. Halt dich an Ellin und Skeldri, das sind gute Jungs.«

Ich wollte etwas zu ihm sagen, doch meine Zunge klebte mir am Gaumen fest. Stennis runzelte die Stirn. Ein Ruck ging durch seinen Körper. Er hustete schwach und schnappte nach Luft. »Ala …« Nur ein Krächzen. Ein weiterer Ruck, schwächer, mehr ein Zucken. Ein letztes gequältes Einatmen, schon kippte sein Kopf zur Seite.

»Stennis?« Endlich hatte sich meine Zunge vom Gaumen gelöst. Ich strich ihm eine verklebte Haarsträhne aus der Stirn. Sein Blick blieb leer. »Stennis?« Warum hörte er mich nicht?

Ellin trat hinter mich. Ich fühlte seine Hand auf meiner Schulter. Er drückte sie sanft. Ich blickte zu ihm auf.

»Er ist tot, Ala.«

Was redete er da für einen Unsinn?

»Tut mir leid«, murmelte er.

Ich öffnete den Mund, um ihm zu sagen, dass er damit aufhören sollte. Doch da kam nur ein Schluchzen.

»Ist ein feiner Kerl gewesen.« Diesmal kitzelte es nicht nur, es brannte. Ellin half mir auf und führte mich zu meiner Baracke, wo ich weinte, bis mir die Rotze übers Gesicht lief. Es dauerte weitere sieben Tage und die Lore voll mit Sigmantin und Fernalit, die Suchtrupps unbeschadet in einem Hohlraum entdeckt hatten, war geborgen. Ich nahm an, Gunder fiel ein ganzes Geröllfeld vom Herzen. Die beiden Mineralien kamen im Fern-Massiv in einer Reinheit vor, die ihresgleichen suchte. Der Verlust einer ganzen Woche, noch dazu in der Menge, die Stennis aufgestöbert hatte, wäre einer Katastrophe gleichgekommen. Nachdem diese abgewandt worden war, widmete Gunder sich endlich den Dingen, die er nach der Explosion hatte schleifen lassen müssen. Dazu gehörte auch, meine Situation neu zu bewerten, wie ich von Ellin erfahren durfte, der eines Mittags heftig an meine Tür pochte.

Ellin war ein Mensch, der sich schnell sorgte. Doch so aufgewühlt hatte ich ihn noch nie erlebt. Er sicherte nach allen Seiten wie ein furchtsames Tier, bevor er eintrat. Drinnen sprudelte es ohne Umschweife aus ihm heraus: »Ich muss dringend mit dir reden.« Er nestelte an einem Zipfel seines ausgeblichenen Arbeitskittels. »Du … du musst hier weg!«

Verwundert starrte ich ihn an. »Was soll das heißen, ich muss hier weg?«

Ellin räusperte sich. »Gunder. Ich glaube, er hat ein Auge auf dich geworfen.« Ich prustete leicht, doch Ellins Miene blieb unverändert ernst. »Glaub mir, ich bilde mir das nicht ein. Ich ...«, Ellin errötete bis unter die Haarwurzeln, »... ich habe ihn belauscht.«

»Du hast Gunder belauscht?«, echote ich beeindruckt.

»Ja. Er hat mit Clavin und Sassen die Köpfe zusammengesteckt. Dein Name ist mehrmals gefallen.«

Mich schauderte. Clavin und Sassen waren Fleischberge auf zwei Beinen, viel zu groß, um in den Stollen und Schächten der Mine zu schuften. Sie erledigten für Gunder die anfallende Drecksarbeit. Kamen sie ins Spiel, war das kein gutes Zeichen.

»Er plant etwas. Ala, ich will dir wirklich keine Angst machen, aber ich glaube, du solltest verschwinden. Ich habe ein mieses Gefühl.«

»Und wo soll ich hin?«

Ellins Augen blickten unglücklicher denn je. »Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht.«

Damit war mir nicht geholfen. Stennis’ Warnung wisperte mir durch den Kopf: … nimm dich vor Gunder in acht! Und plötzlich wurde die Baracke um mich ganz klein.

Den ganzen Tag schaute ich aus dem Fenster, beobachtete die Sonne, wie sie über die ockerfarbene Landschaft wanderte. Stein, wo man auch hinsah. Dazwischen Felsformationen wie Säulen zerfallener Tempel und hartes Gestrüpp mit ungenießbaren Beeren. Erdlöcher, in denen Schattenvipern hausten. Gallkäfer, die bei Gefahr ein betäubendes Sekret versprühten. So ein weites Land. Das sich wie eine Falle anfühlte.

Das Fern-Massiv bildete eine gewaltige Wetterscheide. Auf unserer Seite war es trocken und warm. Beständiger Wind dörrte die Landschaft aus. Wie sollte ich all das Wasser transportieren, das ich brauchte, um nicht bereits am ersten Tag zu verdursten? Wie sah es mit Nahrung aus? Wo sollte ich schlafen? Wohin sollte ich überhaupt gehen?

Und wenn Ellin nur Gespenster sah? Noch nie hatte sich mir einer der Minenarbeiter genähert. Wenn ich an mir herabschaute, erkannte ich keinen Unterschied zu allen anderen hier. Ich trug die gleiche Arbeitskluft aus grobem Stoff. Alle zwei Monate wurde eine Garnitur, bestehend aus Hose, Hemd und Jacke, in einen Bottich mit Lauge geschmissen und einmal umgerührt. In den Wochen dazwischen konnte man zusehen, wie sich die Farbe von bleichem Knochengrau zu dunklem Schmutzgrau veränderte. Meine Füße steckten in den gleichen derben Stiefeln, vielleicht ein oder zwei Nummern zu groß. Seit fast zehn Jahren schuftete ich zusammen mit Ellin und Skeldri in der Küche. Zwei Mahlzeiten, eine morgens, eine abends, für zweihundert Mann. Ich war eine von ihnen!

Nach Einbruch der Dämmerung stellte sich jedoch heraus, dass Ellins Befürchtungen keine Einbildung waren. Clavin und Sassen standen vor meiner Tür. Sie eskortierten mich zu Gunders Baracke. Er saß gerade bei Tisch, der für zwei Personen gedeckt war. Auf Gunders Teller häuften sich bereits die Bohnen, die ich morgens mit Ellin geputzt hatte, daneben wellten sich mehrere Scheiben Speck. Eine dicke Scheibe Brot vervollständigte die Mahlzeit. Ich setzte mich ihm gegenüber, rührte die Schüsseln aber nicht an. Mein Magen war auf Sandkorngröße geschrumpft, ich würde nie wieder etwas essen können.

Ich schaute Gunder beim Kauen zu, beobachtete, wie seine rosigen Lippen sich krümmten, mal in die eine, mal in die andere Richtung. Alles andere an ihm war farblos, angefangen bei den Augen über das hellblonde Haar bis zur fahlen Haut. Zum ersten Mal fragte ich mich, ob er nicht in Wahrheit ein Wesen war, das in einer der nachtschwarzen Höhlen im Berg gehaust hatte, bis die Minenarbeiter mit ihren Stollen und Schächten zu ihm vorgedrungen waren.

»Ich erinnere mich so gut an den Tag, an dem ich deinen Bruder unter meine Fittiche genommen habe«, begann er seufzend und tupfte sich mit einer Serviette Fett von den Lippen.

Unter deine Fittiche genommen? Dass ich nicht lache, dachte ich. Du warst in Salgant auf der Suche nach billigen Arbeitern. Hast dich im Waisenhaus wie auf dem Viehmarkt umgeschaut und ihn bei Madam Blass gegen drei Flaschen Sakiri eingetauscht. Danach hat sie es vermutlich tagelang nicht aus ihrer Kammer geschafft.

»Was für eine Verschwendung … Stennis war mein bester Mann. Er hatte ein Näschen für den Bergbau, besonders für das Fernalit. Ich hätte solch einen Glücksgriff damals nie für möglich gehalten, auch …«, an dieser Stelle lachte er, dass sein Bauchansatz wippte, »… auch nicht, dass bei unserer Ankunft in der Mine seine kleine Schwester unter dem Fuhrwerk hervorkrabbeln würde. Du hattest dich irgendwo festgebunden, nicht wahr?«

Ich nickte. Diese Fahrt würde ich mein Lebtag nicht vergessen. Das Fuhrwerk, das Stennis vom Waisenhaus zum Bergwerk gebracht hatte, musste einen Fluss überqueren. Ich wäre dabei fast ertrunken. Aber ich hätte nicht einen Tag ohne ihn bei Madam Blass ausgehalten. Dann lieber bei dem Versuch sterben, in seiner Nähe zu bleiben.

»Nicht wenige schaffen es in so kurzer Zeit zum Vorarbeiter«, sinnierte Gunder. »Er wurde von allen respektiert.«

Wieder nickte ich. Stennis mochte seine Arbeit. Das lag an seinem Wesen, er konnte allem etwas Gutes abgewinnen. Es hätte mich nicht gewundert, wäre ihm das auch im Tod gelungen.

»Möchtest du nichts essen?« Eine weitere Gabel voll Bohnen verschwand in seinem Mund.

»Nein, ich … ähm … ich habe keinen Hunger. Es ist alles sehr schwierig. Er … nun … er fehlt mir.«

Gunder sah mich lange still an, dann griff er nach einem Becher Wein und hielt ihn mir hin.

»Danke.« Ich nahm mir vor, noch nicht einmal daran zu nippen.

»Ala, wie alt bist du jetzt?«

»Neunzehn.«

»Neunzehn …« Gunder griff nach seinem eigenen Pokal. Er schwenkte ihn ein wenig, als helfe ihm die Kreisbewegung beim Nachdenken. Als er weitersprach, hatte seine Stimme einen Unterton, der mir nicht gefiel. »Und wie soll es jetzt mit dir weitergehen? Hast du dir das mal überlegt?«

Was wollte er von mir hören?

»Ala, du brauchst mir nichts mehr vorzumachen. Ich weiß, Stennis und du, ihr wart keine Geschwister.«

Ich musste schlucken.

»Ihr hattet überhaupt keine Ähnlichkeit miteinander«, fuhr Gunder fort. »Ich meine, sieh dich doch einmal an: dein dunkles Haar, die braune Haut.«

»Wir hatten verschiedene Väter«, log ich.

Gunder lachte auf. »Ja, das war auch immer Stennis’ Ausrede gewesen. Weißt du, was ich glaube? Du kommst aus dieser Gegend. Vielleicht aus einem der Dörfer im Fern-Massiv. Stennis kam aus dem Norden. Von Madam Blass weiß ich, dass seine Eltern und seine jüngere Schwester bei der Überfahrt von den Inseln ums Leben gekommen sind. Wie ihr beiden auch zueinander gestanden habt, verwandt wart ihr jedenfalls nicht.«

Seine jüngere Schwester. In meiner Kehle ballte sich ein dicker, warmer Kloß. Deswegen hat er sich so um mich gekümmert. Wir waren einander ein kleiner Ersatz für die Familien, die wir verloren hatten.

Ala, du fängst vor Gunder nicht an zu flennen!

Gunder sprach weiter. »Ich habe lange überlegt und beschlossen, dass du einen Vormund brauchst. Jemanden, der sich um dich kümmert, jetzt, wo Stennis nicht mehr unter uns weilt. Du wohnst ab heute bei mir. Ich habe Clavin und Sassen angewiesen, deine Sachen aus der Baracke zu holen und zu mir zu bringen. Sie müssen jeden Moment hier sein.«

Panik stieg in mir auf. Sie war eiskalt wie das Schmelzwasser, das im Frühling, vom weißen Gipfel des Fern in vielen kleinen Rinnsalen herabfließend, die Bäche anschwellen ließ.

»Ich kann bei Ellin und Skeldri wohnen«, wagte ich einzuwenden. »Seit Lorencs Tod ist dort ein Bett frei.«

»Mädchen, du kennst doch das ungeschriebene Gesetz der Mine, oder nicht?«

Was für eine Frage, natürlich kannte ich es: Keiner durfte den Besitz eines anderen zu dessen Lebzeiten antasten. Dieses Gesetz war ein Ehrenkodex unter den Minenarbeitern. Ausnahmslos jeder hielt sich daran, wer dagegen verstieß, dem drohte der Tod. Ganz langsam dämmerte mir, worauf Gunder hinauswollte.

»Stennis ist tot. Somit wird sein Besitz neu aufgeteilt: Godrey bekommt die Stiefel, Raffler die Arbeitskleidung, Lessert die Lampe und ich«, seine Augen blitzten vor Schadenfreude, »ich bekomme dich.«

»Ich bin kein Eigentum!«

Gunder lächelte milde. »Du solltest nicht so viel widersprechen. Aber das bringe ich dir schon noch bei.« Er winkte mich zu sich. »Und jetzt komm! Ich will dich ein wenig betrachten.«

Ich wusste nicht, was genau er mit »betrachten« meinte, hatte aber eine Ahnung, die mir nicht gefiel. »Ich gehe jetzt! Clavin und Sassen können meine Sachen zu Ellin bringen. Dort werde ich wohnen, nicht hier.« Mich wunderte, wie fest meine Stimme klang. In Wahrheit füllte das Schmelzwasser bereits mein Inneres aus und stieg mir den Hals empor. Trotzdem schob ich den Becher Wein von mir und stand auf.

Gunder tat es mir gleich. Noch war seine Stimme ruhig, aber seine winzigen schwarzen Pupillen, das einzig Markante in diesem Gesicht, durchbohrten mich. »Ich wiederhole mich nicht noch einmal: Du kommst zu mir herüber! Ich möchte dich ansehen.« Sein Blick flackerte zum Bett hinüber. »Wenn du mitmachst, wird es auch für dich angenehm. Schließlich werden wir beide künftig sehr viel Zeit miteinander verbringen. Und ich möchte beim ersten Mal ungern Gewalt anwenden.«

Ohnmacht lähmte mich. Wie damals, als Vater mich morgens auf einen Karren verfrachtet hatte, um mich wegzubringen. Erneut musste ich dabei zusehen, wie mein Leben sich vor meinen Augen zu etwas Wirrem und Groteskem verknotete. Das konnte nicht wirklich sein. Dennoch fiel mir nur ein einziges Wort ein, das mir der Situation angemessen erschien. Und es tat richtig gut. »Nein!«

Gunders Lippen wurden schmal. Geschmeidig glitt er um den Tisch herum und war schon auf meiner Seite, da dachte ich erst daran, mich zu bewegen. Er packte meine Handgelenke, warf meinen Stuhl um und zerrte mich Richtung Bett. Ich schrie auf und versuchte, mich ihm zu entwinden. Gunders Griff war zu fest. Er zog mich an sich heran und bog mir die Arme auf den Rücken. Mit dem Gesicht klatschte ich gegen seine weiße, weiche Wange. Er umfasste beide Handgelenke mit einer Hand. Die frei gewordene kroch derweil über meinen Körper, seine Lippen klebten wie Nacktschnecken an meiner Haut. Vor Ekel wimmerte ich gegen seinen Hals. Gegen seinen Hals … Der Kragen des Hemdes war verrutscht und entblößte die Haut fast bis zur Schulter. Ich zögerte, nur einen kleinen Moment ‒ und biss zu. Sofort hatte ich den Mund voll Kupfergeschmack.

Gunder kreischte, dass es mir in den Ohren klingelte. Er stieß mich von sich. Dabei stolperte ich über den umgefallenen Stuhl.

»Du hast mich gebissen! Du hast mich gebissen!« Diese Feststellung war so erstaunlich, dass er sie wiederholen musste.

Ich war auf den Hinterkopf gefallen und blickte leicht benommen auf. Verschwommen sah ich, wie er den Hals verrenkte, um seine Schulter zu betrachten. Ein Blutfleck breitete sich über Gunders Ärmel aus. Zwischen meinen Zähnen hingen undefinierbare, zähe Fetzen. Ich hatte doch nicht etwa …

»Du hast von mir abgebissen!« Seine Stimme klang hell und schrill.

Ich hatte tatsächlich! Noch im selben Moment kotzte ich Gunder Hrain vor die Füße.

Wie er sich auf mich stürzte, glich Gunder keinem menschlichen Wesen mehr, so sehr verzerrte Hass seine Züge. Reflexhaft rollte ich seitwärts weg und entkam nur knapp seinem Stiefel. Dabei nahm ich am Rande wahr, dass sich etwas Hartes gegen mein Bein drückte. Stennis’ Messer! Seit seinem Tod trug ich es bei mir, wie er es verlangt hatte, selbst nachts. Ich hatte es völlig vergessen. Gunder griff in mein Haar und riss heftig daran. Meine Kopfhaut brannte. Ich war so schnell auf den Beinen, dass wir beide strauchelten. Diesmal kippte Gunder um und zog mich mit sich. Im Fall versenkte ich die rechte Hand in meiner Hose und packte Stennis’ Messer. Ich krachte mit der Nase gegen Gunders Kinn. Vor meinen Augen flimmerte es. Gunders Hände wanderten zu meinem Hals und umfassten ihn. Er wollte sich auf mich rollen. Kaum hatte er eine Viertel Drehung geschafft, schwang ich mein Messer durch die Luft. Ich erwischte Gunders Hintern, rammte es ihm mitten in die linke Backe. Gunder quiekte lauter als ausgehungerte Schweine an einem frisch befüllten Trog und ließ mich augenblicklich los.

»… verschissene Nomadenbrut …«

Ich wollte nicht wissen, was ihm noch alles zu mir einfiel. So schnell ich konnte, robbte ich zur Tür, kam aber nicht weit. Mein linkes Bein hing irgendwo fest. Als ich den Kopf wandte, sah ich, dass Gunder den Knöchel umklammerte. Er fletschte die Zähne. Ich drehte mich ein wenig zur Seite, um mehr Bewegungsfreiheit zu haben, und trat zu. Sofort war mein Fuß frei. Ich sprang auf und sprintete so schnell aus der Baracke hinaus, dass ich vor der Tür ausrutschte und hart zu Boden ging. Egal, um meine Schrammen würde ich mich später kümmern. Hauptsache weg, bevor Clavin und Sassen eintrudelten. Doch keine zehn Schritte weiter prallte ich zwischen zwei Gebäuden mit jemandem zusammen. Ich hätte fast laut aufgeschrien und ballte die Fäuste, bereit zum Kampf.

»Ala?« ‒ »Ellin?«

Anstatt ihn zu boxen, schlang ich die Arme um seine schmalen Schultern. »Ellin!«, schluchzte ich erleichtert auf.

Seine Hände strichen über mein Haar. »Was ist denn passiert? Du bist ja klatschnass geschwitzt!«

»Gunder … er hat mich … er wollte mich … in seiner Baracke … er wollte …«

»Ganz ruhig. Atme tief durch! Und jetzt sag mir, was passiert ist.«

Ich atmete tief durch. »Ich glaube, ich habe ihm die Nase ge­brochen«, stieß ich hervor.

Ellin schob mich von sich weg. »Du hast … was?«

»Die Nase gebrochen«, wiederholte ich folgsam. »Und Stennis’ Messer steckt in seinem Hintern.«

Ein beinah tierisches Winseln ertönte. Das musste Gunder sein. Ihm antworteten raues Grunzen und Gefluche. Keinen Augenblick später näherten sich schwere, malmende Schritte.

»Clavin und Sassen«, wisperte ich.

Ellin konnte die Augen nicht noch weiter aufreißen, die Situation erfasste er jedoch sofort. Geistesgegenwärtig schubste er mich in einen Haufen alter Säcke, die hinter einer Baracke gelagert wurden. Ich schaffte es eben, Oberkörper und Beine zu bedecken, da hatten uns Gunders Handlanger erreicht. Ganz langsam schloss ich die Augen und hoffte, in dem wenigen Licht würde mein Kopf zwischen dem braunen Sackleinen nicht auffallen. Dann sah ich die Laterne, die Sassen trug. Ich hatte noch nie gebetet, aber nun flehte ich innerlich um Beistand, schrie ihn in Gedanken in die Nacht hinaus. Irgendein Gott musste mich doch hören.

»Ellin!«, stellte Clavin mit seiner tiefen Stimme fest. »Du weißt nicht zufällig, wo Ala sich verkrochen hat?«

»N-n-n-nein.« Ich kannte Ellin gut, er starb gerade vor Angst.

Ich lag ganz still, öffnete die Augen nur einen Spalt breit. Zwischen den Wimpern hindurch sah ich Clavins riesige Silhouette nach Ellins dürrem Hals greifen.

»Wo ist Ala?«, fragte er geduldig. »Wo ist sie hin?«

»Ich … ich …«

Der Umfang von Clavins Faust verringerte sich ein wenig.

»Da lang!«, würgte Ellin, streckte heftig den Arm aus und wies in die Richtung, in die ich ursprünglich hatte fliehen wollen.

»Geht doch!« Clavin löste die Hand von Ellin und setzte sich in Bewegung,

»Halt!«, rief Sassen. Mir blieb das Herz stehen. Ich kniff die Augen zu. »Dieser Ellin ist doch ein Freund von Ala.« Man konnte förmlich hören, wie sehr Sassen mit seinem zähen Gedankenstrom zu kämpfen hatte.

»Ja und?«, raunzte Clavin.

»Ich wette mit dir, sie ist in die andere Richtung gelaufen.«

Ein Fuchs! Wer hätte das gedacht? Ich blinzelte. Clavin hatte Ellin wieder an der Gurgel gepackt. »Stimmt das?«, dröhnte er.

»Ja«, piepste Ellin kläglich.

Das weiche Licht der Laterne schmeichelte Clavins Gesicht überraschend wenig, als er sich mit einem dämonischen Grinsen zu seinem Kumpan umdrehte. »Greifen wir uns das Mistluder!« Er stieß Ellin in den Dreck und gemeinsam stampften sie davon.

Ich strampelte die Säcke von mir und kroch zu Ellin herüber. Er saß auf dem Hosenboden und starrte ins Leere. Ich umarmte ihn fest. »Du hast mir gerade das Leben gerettet.«

»Ich kann mich nicht mehr bewegen.«

»Das nennt man ›starr vor Angst‹.«

Wir fingen an, völlig hysterisch zu kichern. Ellin beruhigte sich schnell, löste meine Arme und umfasste mein Gesicht. Seines konnte ich kaum noch erkennen. Die meisten Fackeln brannten auf dem Hauptweg, jenseits des Gebäudes, neben dem wir kauerten.

»Pass auf dich auf«, flüsterte er und drückte mir einen Kuss auf die Stirn. Danach kramte er in seiner Hosentasche und steckte mir etwas zu. »Solange Stennis’ Messer in Gunders Arschbacke steckt, nimm lieber das hier.«

»Danke.«

»Und jetzt verschwinde endlich!«

Wir halfen einander auf. In einem Moment hielt er noch meine Hand, im nächsten hatte er losgelassen. Mich durchzuckte die Erkenntnis, dass ich ihn nie wiedersehen würde. Wortlos drehte er sich um und kehrte auf den beleuchteten Weg zurück. In der anderen Richtung wartete nur Dunkelheit. Das tiefschwarze Fern-Massiv, das den nachtblauen Himmel fraß. Und sonst? Vielleicht gar nichts mehr. Aber wenn ich die Wahl hatte zwischen Geiern und Gunder, war mir das Federvieh lieber.

Irgendwo im Lager wurden Stimmen laut, Rufen und Grölen. Clavin und Sassen hatten sich wohl Verstärkung rekrutiert.

Ich rannte los.

2.

Dexter

Realtaris, ein heruntergekommenes Viertel

Das Klopfen erlöste mich von meiner Schlaflosigkeit, wenngleich die Nachricht, die mir mein Besucher überbrachte, einen galligen Geschmack in meinem Mund hervorrief. »Bolten will dich sehen«, mehr nicht. Der Bote, nur ein schattenhafter Umriss vor der Tür, war keinen Moment später wieder verschwunden. Ich kratzte mich am Kopf, gähnte und zuckte zusammen. Am Abend zuvor hatte ich in Iddrells Käfig gekämpft. Das hatte mir neben zweihundertsiebenundsechzig Kubecks eine Prellung an der Schulter und zwei angeknackste Rippen eingebracht. Doch all das war unwichtig, denn Bolten wollte mich sehen.

Konnte um diese Nachtzeit nur bedeuten, dass er auf meine Anwesenheit bei einem Gottesdienst Wert legte. Hoffentlich keine Reinigung. Ich beschloss, besser gleich aufzubrechen, bis zur Zitadelle war es ein gutes Stück. Mit schwerem Kopf und schmerzenden Gliedern schlurfte ich zu einer Schüssel mit Wasser und wusch mich. Ich konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern, wann ich es zuletzt gewechselt hatte, und nahm mir vor, am Nachmittag zum Brunnen zu gehen. Wahrscheinlich hatte ich mir das schon gestern vorgenommen. Oder vorgestern. Bei Gottesdiensten waren zwar keine Waffen erlaubt, trotzdem schob ich zwei Messer in meine Stiefelschäfte.

Sorgfältig verschloss ich die Tür zu meiner Kammer, die ich im Dachgeschoss einer heruntergekommenen Absteige angemietet hatte, und schlich die Stiegen hinab, um meine Hauswirtin nicht zu wecken. Ich hegte schon lange den Verdacht, dass sie während meiner Abwesenheit versuchte, sich Zugang zu meinen Habseligkeiten zu verschaffen. Warum ihr unnötig Zeit schenken?

Obwohl der Morgen noch fern war, erglühte der Himmel in kränklichem Licht, als würde die ganze Stadt im Feuer des Wahnsinns verbrennen. Wann hatte ich zuletzt Sterne gesehen? Oder den Mond mit seinen Narben und Schrunden?

Auf dem Festungsberg, dem Herzen der Stadt, thronte Sijj Boltens Zitadelle, Sitz des Ordens der Faaraah. Von dort spuckte der Orden aus einem von Arkaden gesäumten Innenhof Faaraahs Licht in den Himmel; ein gleißendes Lichtbündel, das zitternd aus einem tiefen Schacht schoss und sich weit oben in den Wolken zerstreute. Selbst hier in der Peripherie, im fünften Bezirk, machte es sich bemerkbar. Nie wurde es in dieser Stadt ohne Nacht wirklich dunkel. Wollte man schlafen, musste man die Fenster verhängen, jeden Ritzen zustopfen, was die Schlafstube im Sommer in ein stickiges Loch verwandelte.

Ich schritt über leere Plätze und durch enge Gassen, vorbei an der schlierigen Drecksbrühe, die in der Gosse stand. Es stank nach faulem Kohl und gammeligem Fleisch. Ratten balgten sich fiepend um undefinierbare Brocken. Mir drehte sich der Magen um. Hatte ich bei meinem Aufbruch noch gedacht, ich hätte etwas essen sollen, war ich nun froh, dass ich es nicht getan hatte.

Ratten und Katzen blieben lange die einzigen Lebewesen, die mir begegneten, alle anderen schienen gegen Ende der Nacht in erschöpften Schlaf gefallen. Erst in der Nähe des Festungsberges bekam ich Gesellschaft, schweigende Gestalten, die den gleichen Weg wie ich einschlugen. Inzwischen hatte ich den weiten Marktplatz erreicht, der sich erst bei Tagesanbruch mit Menschen füllen würde. Von dort führte eine steile, in den Felsen gehauene Treppe zur Zitadelle hinauf. Weit über mir sah ich andere Gläubige bei ihrem beschwerlichen Aufstieg über die ungleich hohen Stufen schwanken. Ich schloss mich dem Menschenrinnsal an. Also keine Reinigung, sonst wären mehr auf den Beinen.

Niemand sprach ein Wort. Die wenigsten erschienen freiwillig oder gar gerne bei den regelmäßigen Zusammenkünften und die, die es doch taten, waren längst oben und harrten bereits in fiebriger Erwartung vor Faaraahs Licht aus. Wir passierten das verwaiste Anwesen der Fürsten von Realta, das sich wie ein geprügelter Hund zu Füßen seines Herrn weit unterhalb der Zitadelle an eine Bergflanke drückte. Das Adelsgeschlecht war gut zwei Generationen zuvor vom Orden der Faaraah, der seitdem die Geschicke in Realtaris lenkte, entmachtet worden. Der letzte männliche Nachfahre hatte erst vor ein paar Jahren bei einer Reinigung sein Leben gelassen. Ursprünglich hatte sich das Volk von Realtaris mit Hilfe der Glaubensgemeinschaft seines Despoten entledigen wollen. Dass man lediglich ein Übel gegen ein anderes ausgetauscht hatte, stellte sich schleichend, über viele Jahrzehnte hinweg, heraus.

Der Innenhof, in dem der Gottesdienst abgehalten wurde, war halbvoll. Er fasste, die Galerie nicht mitgerechnet, fünfhundert Menschen. In der Mitte des Hofes stieg aus einer mannshohen, gemauerten Einfassung Faaraahs flirrendes Licht in den Himmel. Fünf Schritte davon entfernt stand ein steinernes Rednerpult, von dem aus der Hohepriester gleich zu uns sprechen würde. Etwa fünfzig Anhänger Sijj Boltens machten einander die besten Plätze streitig, der Rest verteilte sich lose, in unauffälligem Abstand, nicht zu nah, aber auch nicht zu weit weg vom Pult.

Gerade war ich in die zweite Reihe vorgerückt, da tauchte er auf, so plötzlich, als sei er direkt aus dem Licht getreten: Sijj Bolten. Ich kannte den Trick, wäre aber nie auf die Idee gekommen, ihn zu verraten. Ein Auge konnte ein Mann entbehren, schließlich hatte er zwei davon, meine Zunge wollte ich behalten. Als er mich erkannte, nickte er kaum merklich. Ich erwiderte die Geste ebenso knapp. Mehr Begeisterung konnte er nicht von mir erwarten.

Sijj Bolten hob die Hände. Auf dieses Signal hin ging ein kleiner Ruck durch die Gläubigen vor mir, die ihm fast gleichzeitig die Köpfe zuwandten. Den harten Kern hatte er wirklich im Griff, dressiert wie die kleinen schmutzig-weißen Hündchen, die auf Jahrmärkten Kunststückchen vorführten.

Kaum zu glauben, dass ich einmal zu ihnen gehört hatte. Auch wenn ich zugeben musste, dass Sijj Bolten eine beeindruckende Erscheinung abgab. Er war ein Mann, der andere mitreißen konnte, so voller Leidenschaft, dass er manchmal wie Faaraahs Licht zu flirren schien. Groß und schlank ragte er über unseren Köpfen auf, einen ernsten Ausdruck auf dem seltsam alterslosen Gesicht. Niemand, noch nicht einmal ich, wusste, wie alt Sijj Bolten war.

»In der letzten Stunde dieser Nacht lasst uns Faaraah danken, dass sie einem Leuchtturm gleich inmitten der Dunkelheit unseres Lebens über uns wacht.«

Wie Blätterrauschen in einem Windstoß ging es durch die Gemeinde: »Faaraah ist Reinheit, Faaraah ist Vollkommenheit, mögen alle Makel verbrennen in ihrem Licht.«

»Reinheit und Vollkommenheit sind Worte mit einem Gewicht, das uns schier untragbar erscheint. Manch einer von euch wird sich fragen, welch schwere Aufgabe uns Faaraah da aufgebürdet hat. Sind Reinheit und Vollkommenheit denn nicht die Merkmale einer Göttin? Wie kann ein einfacher Mensch den weiten Weg dorthin bewältigen? Es erscheint uns unmöglich, doch dürfen wir deswegen verzagen und auf der Stelle verharren, nur weil wir das Ziel in unerreichbarer Ferne vermuten?«

Gespannt blickte Sijj Bolten die Menge an.

Allenthalben wurde ein »Nein« gemurmelt, manche schüttelten nur verschämt den gesenkten Kopf.

»Natürlich nicht!« Sijj Bolten brüllte es mit geballter Faust. Seine Stimme hallte über den Innenhof und stieg wie Faaraahs Licht in den beginnenden Morgen. »Diesen Weg nicht zu gehen heißt, vor unseren Makeln zu kapitulieren. Sie gewähren zu lassen. Sie eitern zu lassen wie Wunden, bis sie sich ganz in uns heineingefressen haben. Sie wuchern zu lassen wie Geschwüre, bis wir uns selbst der Rettung versagt haben, weil das faule Fleisch bereits unsere Seele vergiftet hat.« Er rieb sich über das Gesicht wie ein Feldherr, der sich mit einer Übermacht konfrontiert sah. »Faaraah befreit euch von euren Makeln, wenn ihr nur den Mut aufbringt, sie zu erkennen. Ihre Namen laut hinauszuschreien, damit sie wie Funken verglühen. Tut es jetzt! Schreit eure Makel hinaus. Zögert nicht länger und spürt, wie die Last von euch fällt.«

Einen Moment lang war es still. Die Erde um mich schien zu erzittern, weil es wie einen Schauer durch jeden Mann, jede Frau ging, als sie ihrer eigenen Unzulänglichkeiten gewahr wurden. Plötzlich reckte einer vor mir den Kopf und fuhr herum. »Prahlsucht!«, brüllte er inbrünstig. »Prahlsucht!« Seine Stimme überschlug sich. Der Glanz in seinen Augen ähnelte dem eines Kranken, kurz bevor er am Wundbrand starb. Und dann brach das Getöse los. Boltens Anhänger machten es vor, alle anderen fielen rasch ein. »Geiz!« »Gier!« »Neid!« »Unzucht!« »Feigheit!« »Fresssucht!«, schrie eine Frau, stellvertretend für ihren beleibten Mann, der neben ihr stand und blass wurde. Ich hatte das Gefühl, ein jeder wollte den anderen mit dem eigenen Makel übertreffen. Irgendwann überlagerten sich die Stimmen zu einer unerträglichen Kakophonie. Je lauter die Menschen wurden, desto banaler klangen ihre Sünden. Als würde ihnen allmählich das Material ausgehen. Noch vor einigen Jahren war ich wie sie gewesen: begierig, Bolten zufriedenzustellen. Ihm meine Makel zu beichten, meine Seele vor ihm bloßzulegen.

Wieder hob Sijj Bolten die Hände. Sofort war es totenstill. Die Menge um mich atmete schwer, Sijj Bolten selbst stand der Schweiß auf der Stirn. »Seht ihr, wie einfach es ist?«, rief er mit rauer Stimme. »Spürt ihr, wie leicht euch nun ums Herz ist?«

Zustimmendes Keuchen.

»Jeder dieser Makel ist ein dunkler Fleck auf eurer Seele. Tilgen wir diese Flecken, damit eure Seele in Faaraahs Glanz erstrahlen kann. Auf dass ihr dereinst in ihr Licht eingeht ‒ und nicht in die Schatten hinabsteigt.«

»Die Schatten«, flüsterte die Reihe vor mir furchtsam. Ich verdrehte das Auge.

»Die Schatten«, griff Bolten das Gewisper auf. »Wie graue Falter im Schutz der Nacht den Rüssel in faulende Früchte versenken und sich von deren Verfall ernähren, so laben sich die Schatten an euren Makeln, gedeihen und breiten sich aus. Gebären Geschöpfe, die wie Menschen daherkommen, mit seltsamen Fähigkeiten, wie nur ein Dämon sie haben kann. Lasst euch nicht verführen von den Abgesandten der Schatten. Haltet die Augen auf, achtet aufeinander. Scheut euch nicht, mit dem Finger auf diese anderen zu zeigen, sie aus der Heimlichkeit ihres Tuns ans helle Licht zu zerren, denn sie haben nur eines im Sinn: Eure Seele zu schwärzen, bis ihr selbst zu einem Schatten werdet.«

Die Gläubigen vor mir gruselte merklich bei dieser Aussicht. Einer blickte sich verstohlen um, als hätten sich Abgesandte der Schatten frech unter die Gemeinde gemischt.

»Es ist ein immerwährender Kampf, meine Freunde, gegen die Dunkelheit in und um uns. Wir können nur dann als Sieger hervorgehen, wenn wir treu sind. Wenn wir unverdrossen sind. Wenn wir uns nicht täuschen und nicht bezirzen lassen. Dann ist euch die Heimkehr in Faaraahs Licht gewiss, wenn euer eigenes erloschen ist.«

Ein weiteres Mal erhob er die Hände. »Faaraah ist Reinheit, Faaraah ist Vollkommenheit.«

»Mögen alle Makel verbrennen in ihrem Licht.« Mit Sonnenaufgang endete die Versammlung. Faaraahs Licht verlor an Kraft, verblasste zu einer beinah unwirklich anmutenden Säule ohne erkennbares Ende. Ich wartete, bis die Gemeinde sich zerstreut hatte, und huschte durch einen Arkadengang zu Sijj Boltens Räumlichkeiten. Ein rangniederer Mönch half ihm soeben dabei, sich umzukleiden. In einer Ecke hing Boltens Zeremonienmantel über einem mit Samt verkleideten Torso, der von einem hölzernen Gestell getragen wurde. In den schweren, dunkelblauen Stoff waren handtellergroße, runde Spiegel eingenäht, über und über. Zwei Mönche wurden benötigt, Bolten den Mantel überzustreifen. Er trug ihn nur zu Reinigungen, und wenn ein Mensch bei dieser Zeremonie dem Licht übergeben wurde, spiegelte der Mantel den Augenblick des Todes dutzendfach wieder.

»Du scheinst keine Makel mehr offenlegen zu müssen, Dexter«, unterbrach Bolten meine Gedanken. »Ich habe dich bei den letzten Zusammenkünften vermisst.«

»Ihr kennt bereits all meine Schwächen«, antwortete ich und verneigte mich leicht. »Sie würden sich nur wiederholen, warum Euch damit langweilen. Außerdem erfordert Euer Auftrag, Lendowan zu beschatten, meine volle Aufmerksamkeit.«

Boltens graue Augen tasteten mein Gesicht ab. Sie blieben kurz an der schwarzen Klappe hängen, die meine leere rechte Augenhöhle bedeckte, bevor sie ihre Erkundung fortsetzten. »Dennoch hast du nichts über ihn zu berichten. Woran liegt das? An seiner Gerissenheit oder deinem Unvermögen?«

»Weder noch«, erwiderte ich unbeeindruckt. »Eher daran, dass dieser Mann tatsächlich nichts zu verbergen hat.«

»Ach? Milton behauptet steif und fest, er habe ihn dabei beobachtet, wie er Wasser zum Kochen brachte, einfach indem er den Zeigefinger hineintauchte.«

»Zweifelt Ihr an meinem Urteil, Hohepriester? Außerdem kennt Ihr meine Meinung über Milton. Er sollte auf Götter-Salbei verzichten, dann hören auch die Halluzinationen irgendwann auf.«

Boltens Blick flackerte. Er leckte sich über die Lippen und lächelte. »Dein Urteil … wann hattest du denn den letzten Erfolg vorzuweisen, Dexter? Wann, sag es mir!«

»Das … ist schon eine Weile her.«

»Ein Jahr, um genau zu sein. Zumal er uns durch dein Zögern beinah durch die Lappen gegangen wäre.«

»Ich wollte mir lediglich sicher sein. Immerhin ist die Reinigung nicht mehr rückgängig zu machen.«

»Wie darf ich das verstehen?«

»Faaraahs Licht ist ein Instrument göttlichen Willens. Ich gehe einer Beschuldigung nicht nach, wenn ich annehmen muss, dass einem nur die Nase des Nachbarn nicht gefällt.«

Bolten trat einen Schritt auf mich zu. »Du erinnerst dich daran, dass wir eine Vereinbarung haben?«

»Selbstverständlich.«

»Ich erinnere mich aber nicht daran, dich gebeten zu haben, dabei abzuwägen. Dexter, ich glaube, du hast vergessen, in welchem Maße ich dir damals entgegengekommen bin.«

Ich schloss das Auge. »Ich weiß, was ich Euch schulde, Hohepriester.«

»Und welche Konsequenzen wirst du daraus ziehen?«

»Dass ich jeden Hinweis umgehend prüfen werde. Verzeiht mir meine Anmaßung, Hohepriester.«

»Gut, Dexter. Sehr gut. Aber nun zu etwas anderem. Ich habe einen neuen Auftrag für dich. Mir ist zu Ohren gekommen, dass es in der Mine einen Unfall gegeben hat. Du sollst sicherstellen, dass ich mein Fernalit rechtzeitig bekomme.«

»Ihr wollt, dass ich zu den Illendrea-Minen reise?«

Bolten zog eine Augenbraue hoch. »Von hier aus wirst du schwerlich etwas bewirken können. Ich kenne Gunder Hrain. Er ist schon lange auf der Suche nach einem Grund, den Preis neu zu verhandeln. Mach ihm klar, dass sich an den Bedingungen unseres Vertrages nichts geändert hat, weder was die Bezahlung noch was die Lieferzeiten betrifft. Und wenn ihm der halbe Berg auf den Kopf fällt.«

»Mir wäre es lieber, Ihr würdet einen anderen dafür auswählen.«

»Ich kann im Moment keinen Mann entbehren. Und hatten wir nicht ebenfalls vereinbart, dass du mir für kleinere Gefälligkeiten stets zu Verfügung stehst?«

»Das ist mehr als eine kleinere Gefälligkeit.«

Bolten schwieg. »Wie geht es eigentlich deiner Hure?«

Ich stockte. »Unverändert«, antwortete ich gepresst.

»Anzeichen dafür, dass sie sich erinnert?«

»Nein«, antwortete ich hastig. »Sie erkennt mich nicht. Sie kann sich kaum merken, was sie am Morgen gegessen hat.«

Bolten nickte. »Das deckt sich mit Istreldas Berichten. Trotzdem besuchst du sie einmal die Woche, zuverlässig wie ein Himmelskörper, der seine Bahn zieht.«

Ich nickte.

»Du scheinst auf die Gesellschaft dieser Hure mehr Wert zu legen als darauf, deinen Pflichten mir gegenüber nachzukommen.«

Ich schwieg. Wenn die Rede auf Gilla kam, war es besser, Bolten nicht zu reizen.

Bolten seufzte. »Ich weiß bis heute nicht, was mich dazu gebracht hat, auf dein Gewinsel einzugehen. Und wie dankst du es mir?« Er schob die rechte Hand in den weiten Ärmel seines fließenden Gewandes. »Lassen wir das und kommen wir zu meinem Auftrag zurück. Du wirst gleich aufbrechen. Ich habe einen Wagen vorbereiten lassen. Außerdem möchte ich, dass du das hier trägst.« Die Hand tauchte wieder auf und hielt etwas umklammert: Kugeln vom Durchmesser einer Schlehe, auf einer silbernen Kette wie Perlen aufgereiht. »Ich verabscheue solche Maßnahmen, das musst du mir glauben, aber es geht hier um Fernalit im Wert von fünftausend Kubecks. Die Kette ist ein Anreiz, nach getaner Arbeit wieder heimzukehren.«

»Ich habe sicher kein Interesse an dem Fernalit.«

»An dem Fernalit nicht, an den fünftausend Kubecks schon.« Ungeduldig strich er sich das kinnlange, graue Haar aus dem Gesicht. »Du warst gestern wieder in Iddrells Käfig, wie ich gehört habe.«

Informationen verbreiteten sich also unverändert schnell.

»Genau so regelmäßig wie bei der Hure tauchst du im Käfig auf. Von Istrelda weiß ich, dass du sie seit einiger Zeit dafür bezahlst, dass die Hure nicht mehr anschaffen muss. Ein kostspieliges Unterfangen, zumal es sicher nicht wenige gibt, für die es einen gewissen Reiz darstellt, eine Einbeinige zu besteigen. Bedeutet, du hast Geld bitter nötig. Das dürfte meine Sorgen hinreichend erklären. Und nun, wenn ich bitten darf, mach den Hals frei.«

Widerstrebend gehorchte ich. Blut pulsierte in meinem Kopf und mit aller Kraft widerstand ich dem Drang, ihm die Kette aus den Fingern zu reißen und in den Schlund zu stopfen. Ich überflog die Anzahl der Kugeln. »Vierzehn? Ist das nicht etwas knapp kalkuliert?«

»Unsinn! Die Illendrea-Minen liegen fünf bis sechs Tagesritte südöstlich von Realtaris. Außerdem ist zunehmender Mond, du wirst somit auch nachts reiten können. Und brauchst du wirklich vier Tage, Gunder davon zu überzeugen, dass er mein Fernalit freigibt?« Der Verschluss der Kette schnappte zu. Ein leises Klicken, das mich bis ins Mark erschütterte.

»Ihr habt recht. Vierzehn sollten reichen.«

»Meine ich auch. Falls nicht, hast du ein Problem, Dexter.«

Bolten hatte offenbar alles gesagt. Er wandte sich ab, doch da ich einfach stehen blieb, ohne mich zu rühren, drehte er sich wieder zu mir um. »Ist noch etwas?«

»Kann ich Istrelda wenigstens das Geld im Voraus bringen. Ich habe eine Vereinbarung mit ihr, die eine wöchentliche-«

»Nein«, unterbrach er mich. »Warum auch? Die Hure wird Herrenbesuch ohnehin gleich vergessen, was macht es also für einen Unterschied?« Damit rauschte er hinaus.

Ohne weitere Verzögerung brachte mich einer von Boltens Männern zum Stadttor. Wie angekündigt, war alles für meine Abreise vorbereitet. Mich erwarteten ein Gespann bestehend aus zwei robusten, graubraunen Pferden, die ich in der Mine gegen frische Tiere austauschen würde, ausreichend Proviant, Brennholz, sowie die Metallkisten, in denen das Fernalit transportiert werden musste, damit es nicht nach und nach verdampfte, sobald es Luft und Licht ausgesetzt war. Zu meinem zusätzlichen Verdruss erkannte ich von Weitem Warrens unangenehm vertraute Gestalt am Tor. Auf den ersten Blick erinnerte er mich immer an einen Geier, der in einen Felsvorsprung gekrallt geduldig darauf wartete, dass irgendwo etwas erschöpft zusammenbrach.

»Darfst du heute den Laufburschen spielen?«, griente er, als ich ihn erreicht hatte.

Ich gab keine Antwort.

Er musterte die Kette um meinen Hals und sein Grinsen wurde so breit, dass ich sein vollständiges Gebiss vor mir sah. Die Versuchung, es zu zertrümmern, wurde schier übermächtig.

»Na, dann hoffe ich mal, dass dich nichts aufhält und du wohlbehalten innerhalb der Frist zurückkehrst.« Er winkte den Wachen zum Zeichen, dass ich passieren konnte. Die beiden mit Lanzen bewaffneten Männer gaben den Weg frei, und ohne Warren eines Blickes zu würdigen, verließ ich die Stadt durch den Torbogen. Meine Gedanken jedoch blieben in Realtaris zurück ‒ bei ihr. Meine Abwesenheit würde ihr gar nicht auffallen. Bei jeder Begegnung, jeder Begrüßung war ich aufs Neue ein Fremder für sie. Noch im Moment des Abschieds vergaß sie sowohl mein Gesicht als auch meinen Namen. Sie wusste nicht mehr, dass ich existierte. Aber ich wusste, dass sie existierte.

Je eher ich mit dem Fernalit zurückkehrte, desto besser.

3.

Dexter

Bald nachdem ich die Stadt verlassen hatte, dünnte das Land merklich aus. Ich beschloss, das Beste aus meinem ungeplanten Ausflug zu machen und die karge Landschaft zu genießen. Pistazienhaine und Wacholderheiden wichen allmählich vor einer Steppe zurück, deren Einsamkeit und Weite das genaue Gegenteil zu Realtaris’ verwinkelten Gassen bildeten. Neben den vielen Menschen dort vermisste ich am wenigsten den allgegenwärtigen Gestank. Eine alte Handelsstraße führte über den steiniger werdenden Boden zwischen kümmerlichen Sträuchern und dürrem Gras Richtung Fern-Massiv, allerdings war sie nicht sehr beliebt. Folgte man ihr dennoch, so wie ich, erreichte man nach etwa zwei Tagen einen Pass, der über einen schmalen südöstlichen Ausläufer des Gebirges führte. Hatte man den überquert, war es, als hätte eine riesige Hand auch die allerletzten Reste von Vegetation weggewischt ‒ Steinwüste, so weit das Auge reichte. Spätestens ab hier war man gut beraten, in Gesellschaft eines Führers zu sein.

Wo Wasser durch Ritzen und Spalten an die Oberfläche sickerte, bestand die Gefahr, dass es giftige Mineralien aus dem Stein gewaschen hatte. Erfrischte man sich an der falschen Wasserstelle, konnten einem wenige Tage später Haare und Zähne ausfallen. Oder man erblindete. Mit den Führern war es allerdings auch so eine Sache. Zuverlässige Leute zu finden, die es nicht auf Hab und Gut derer abgesehen hatten, die ihrer Hilfe bedurften, war schwer. Da lobte ich mir die Fässer auf der Ladefläche, in denen leise Wasser schwappte.

Das Fern-Massiv lag bereits in Sichtweite, die höchsten, schneebedeckten Gipfel hinter milchigem Dunst verborgen. Seltsam, obwohl ich schon seit Jahren mit nur einem Auge klarkam, gab es immer wieder Momente, in denen ich bemerkte, wie sehr der Welt seit dem Verlust des zweiten die Tiefe fehlte. Als bestünde sie aus Gemälden, die unsichtbare Hände für mich übereinander oder näher an mich heranschoben. Mit der Abenddämmerung schlug ich mein Lager auf. Die erste wirkliche Nacht seit Langem ‒ ich würde sie nicht vergeuden, indem ich weiterritt. Nein, ich hängte den Pferden einen Beutel Hafer um, machte ein kleines Feuer, setzte mich leise ächzend daneben, weil meine Rippen noch immer schmerzten, und wartete ab. In der Richtung, aus der ich gekommen war, erglühte der Himmel in goldenem Rot. Die Sonne schoss einige Strahlen über den Horizont hinweg, eine flammende Hand, die nach Halt suchte. Von Osten jedoch zog jemand behutsam eine tiefblaue Decke über die Welt. Ein einsamer Stern flirrte wie ein Wächter am Firmament. Weitere gesellten sich zu ihm, als würden sie sich erst jetzt aus der Deckung wagen. Ich fing an, sie zu zählen, einfach so, nur zum Spaß, und gab es bald auf, denn dort, wo ich eben noch einen Stern gezählt hatte, funkelten mit fortschreitender Dunkelheit etliche Nachbarn. Ob es einen Unterschied machen würde, könnte ich den Himmel mit zwei Augen betrachten? Ich glaubte, es einmal gewusst zu haben, aber das war schon lange her.

Was Gilla in diesem Moment wohl tat? Ich stellte mir vor, wie sie in ihrem Zimmer am Fenster saß, den Rock über dem Holzbein zurechtgezupft, und den Himmel betrachtete. Den gleichen zu dem ich nun aufsah, dennoch würden für sie die Sterne niemals funkeln, da Faaraahs Licht alles andere da oben überstrahlte.

Irgendwann würde ich Realtaris mit ihr verlassen, diesen Traum konnte und wollte ich nicht aufgeben. Ursprünglich war das der Grund gewesen, warum ich angefangen hatte, mich auf die Kämpfe in Iddrells Käfig einzulassen. Die Siegesprämien sollten eine Rücklage für die Zukunft bilden, inzwischen versuchte ich damit nur noch zu verhindern, dass mir die Gegenwart völlig entglitt. Es war zum-

Ein markerschütterndes Kreischen durchschnitt die Nachtluft und ging in wahnsinniges Keckern über. Mein Herz überschlug sich in der Brust. Ein besonders nachdrücklicher Schlag katapultierte mich auf die Füße und ich zückte vorsorglich meine Messer. Ein zweiter Schrei, aus einer anderen Richtung kommend, antwortete dem ersten. Ich fuhr herum. Dabei fiel mein Blick auf die Pferde. Beide hatten sie zwar die Ohren aufgerichtet, wirkten sonst aber völlig entspannt. Beim dritten Mal schien das Kreischen weiter weg, und als es diesmal in einem herausfordernden Gekläff mündete, musste ich über meine eigene Dummheit lachen. Steppenfüchse! War wohl Paarungszeit und die Männchen kämpften um ihre Reviere. Ich Idiot hatte mich ins Bockshorn jagen lassen. Noch immer etwas zittrig in den Knien legte ich mich neben das Feuer und sah noch ein Weilchen dem Mond dabei zu, wie er über den Himmel kroch. Dann schloss ich das Auge. Nur die Messer hielt ich umklammert. Man konnte ja nie wissen.

Am nächsten Morgen begegnete mir ein Ziegenhirt, der seinen langen Stab fester packte, als er meiner ansichtig wurde, und seine kurz gelockten, sandfarbenen Tiere hastig weitertrieb. Er würde der einzige Mensch bleiben, der mir an diesem und den folgenden Tagen begegnete. Gegen Mittag verriet ein zartes Knistern, dass sich an der Kette um meinen Hals zwischen der ersten und der unmittelbar angrenzenden Kugel, die beide hohl waren, ein Kanal geöffnet hatte. Der leichten Wärme auf meiner Haut nach zu schließen, hatte sich ihr Inhalt schnell miteinander vermischt. Die Farbe der ersten Kugel wechselte daraufhin von Silber zu einem irisierenden Blau. So setzte es sich mit jedem Tag, der verstrich, fort, von Kugel zu Kugel. Die Substanzen darin vermengten sich und die Kugeln veränderten die Farbe, damit man auch wirklich begriff, wie schnell einem die Zeit davonlief. Diese Kette war Boltens Garantie, dass ich den Weg nach Realtaris zurückfinden würde, denn nur er konnte den Verschluss öffnen. Mit der Zutat der vierzehnten Kugel aber wäre die Rezeptur komplett: ein explosives Gemisch, das mir bei seiner Detonation den Kopf vom Hals fetzen würde.

Nichtsdestotrotz gelang es mir erstaunlich gut, das Ding um meinen Hals zu ignorieren. Meine Reise verlief ohne Zwischenfälle und ich wollte die Mine unbedingt innerhalb von fünf Tagen erreichen. Solange die Kisten leer waren, trieb ich die Pferde an, auch bei Nacht. Mit dem Gewicht einer Fuhre Fernalit würde sich der Rückweg weitaus beschwerlicher gestalten. Da war es ratsam, möglichst viele Kugeln in Reserve zu haben. Tatsächlich hatte ich den Pass am Ende des vierten Tages überquert. In dieser Nacht bewunderte ich keine Sterne und tat auch kein Auge zu. Im Licht des Vollmonds, der sich wie eine Blase am Himmel aufblähte, legte ich Meile um Meile zurück. Alles, was ich in der kühlen Nachtluft an Boden gutmachte, würde mir in der Hitze am kommenden Tag erspart bleiben. Erst mit der zarten Morgenröte, die sich ganz unschuldig im Osten reckte, gönnte ich den Pferden und mir eine kleine Pause. Und als sich die gleißende Sonne hinaufschwang, warfen unweit von mir die ersten Baracken der Minenarbeiter ihre Schatten unter dem erbarmungslosen Licht. Ich hatte Gunder erst einmal getroffen. Eine flüchtige Begegnung, die bereits viele Jahre zurücklag und mir nicht im Gedächtnis haften geblieben war. So hatte ich mir von ihm ein Bild gemacht, das größtenteils aus Hörensagen bestand. Und ich konnte beim besten Willen nicht behaupten, dass es ihm zum Vorteil gereicht hätte. Daher war ich überrascht, als ich einem blassen Mann mit dünnem, hellblondem Haar gegenüberstand, dessen Gesicht ein gewaltiges Veilchen, sowie eine blutverkrustete Nase von mitleiderregendem Umfang zierte. Dieses Häufchen Elend war Gunder Hrain? Sah aus, als hätte ihm jemand ins Gesicht getreten. Ob er mit gezinkten Karten an den Falschen geraten war? In diesem Fall waren die beiden menschlichen Felsbrocken, die sich mit verschränkten Armen neben dem Ausgang von Gunders Baracke postiert hatten und mich finster musterten, völlig fehlbesetzt. Oder sie übten ihre Aufgabe erst seit heute aus.

»Setz dich«, nuschelte Gunder und bot mir einen Stuhl an. Er nahm mir gegenüber Platz. Kaum berührte sein Hintern jedoch die Sitzfläche, verließ ein schmerzerfülltes Zischen seine Lippen. Er fuhr hoch und stützte sich auf der Tischplatte ab. Schweiß perlte von seiner Stirn.

»Alles in Ordnung?«, fragte ich arglos.

Gunder erwiderte nichts.

»Soll schneller verheilen, wenn man ein Stück Fleisch darauf legt.« Ich wies auf die Schwellung. Gunder bedachte mich mit einem Blick, als würde er überlegen, ob dieses Stück auch von mir stammen könnte.

Da er auf meine Ratschläge offenbar keinen Wert legte, kam ich zur Sache. »Sijj Bolten schickt mich.«

»Ich weiß«, knurrte Gunder. »Du bist einer seiner Terrier.«

Ich lächelte leicht. »Na, ich hoffe doch, dass ich es mindestens zum Pinscher gebracht habe.«

Seine Augen hefteten sich auf meine Augenklappe. »Was hat er sonst noch im Angebot? Zahnlose Dackel?«

Wenn mich die Kette nicht zerfetzte, wäre diese geistlose Unterhaltung mein Tod. Beides keine schönen Aussichten. »Er wartet auf sein Fernalit«, knüpfte ich an meinen vorletzten Satz an.

Es folgte ein schneller Blickwechsel zwischen Gunder und seinen beiden Leibwächtern. »Ich kann dir das Fernalit nicht mitgeben. Zumindest nicht so.«

Wie Bolten vermutet hatte. »Und warum nicht?«

»Es hat ein Explosion gegeben.« Aus irgendeinem Grund schien Gunder das Gespräch im Stehen führen zu wollen. »Die Fernalit-Ader wurde dabei zerstört. Eine neue zu erschließen kostet Zeit … und Geld. Mehr Geld als die lächerlichen einhundertvierzig Kubecks pro Kübel Erz, die Bolten mir zahlt.«

»Er hat nicht vor, dir mit dem Preis entgegenzukommen«, informierte ich ihn.

Gunder grinste schief. »Glaubst du, ich weiß nicht, was der Rosstäuscher mit dem Zeug veranstaltet? Wozu er es gebraucht? Er scheint nicht zu begreifen, wie abhängig er von mir ist. Höchste Zeit, es ihm klarzumachen.« Er spuckte aus und verzog das Gesicht. »Sag Bolten, ich will das Doppelte.« Sein Blick richtete sich auf die Kette. »Ich erwarte, dass er meine Arbeit wertschätzt. Sonst kann er sich seinen Zauber an einen Ort schieben, wo Faaraahs Licht sicher nicht hinkommt.«

»Du glaubst nicht, wo Faaraahs Licht überall hin vordringt«, sagte ich leichthin. Wie zum Aufbruch klatschte ich in die Hände und rieb die Handflächen gegeneinander. »Ich habe sechs Kisten dabei. Die sollten reichen, oder?«

Gunders unversehrtes Auge verengte sich ein wenig. »Hast du mich nicht verstanden? Ich gebe dir das Fernalit nicht mit.«

»Ich habe dich schon verstanden, ich kann nur nicht ernst nehmen, was du sagst.« Ich deutete mit dem Finger ein Oval in der Luft an, das Gunders Gesicht umrandete. »Und das liegt wirklich nicht daran, dass du aussiehst, als hätten dich deine beiden Freunde an der Tür als Fußabtreter benutzt. Es sind deine Worte. Jedes einzelne ist verständlich, kein Zweifel, die Kombination ergibt keinen Sinn.«

Gunder blieb einen Moment völlig unbewegt. Dann brach er in heiseres Lachen aus, das er, obwohl es ihm sichtlich Schmerzen bereitete, offenbar nicht unterdrücken konnte. Ich drehte mich zu seinen Leibwächtern um, die mit breitem Grinsen zwei Schritte nähergerückt waren. »Könnt ihr mich aufklären? Ihr scheint ja zu wissen, was gerade so lustig ist.«

»Du!«, keuchte Gunder und wischte sich Tränen aus dem unverletzten Auge. »Du bist lustig.«

»Inwiefern?«

Gunder stützte sich auf seine Unterarme, den Hintern wie eine Ente weggestreckt, und funkelte mich an. »Du trägst da eine hübsche Kette. Ich habe eben nachgezählt, vierzehn Perlen. Fünf haben sich bereits verfärbt. Bleiben noch neun Tage, bis dir das Ding um die Ohren fliegt.«

Ich bemühte mich um eine schockierte Miene.

»Mir kam da folgende Idee: Clavin und Sassen, die beiden Herren, die uns Gesellschaft leisten, geleiten dich zu einer leeren Baracke. Dort werde ich dich einsperren. Sagen wir sechs Tage. Was meint ihr, Jungs, sechs Tage?«

Zustimmendes Gemurmel hinter meinem Rücken.

»Dann lasse ich dich laufen. Wenn du Tag und Nacht durchrennst, kann man das Feuerwerk von Realtaris’ Stadtmauer aus bewundern.«

Ich schüttelte bedächtig den Kopf und meine rechte Hand tastete unauffällig an meinem Bein entlang. »Dieser Vorschlag funktioniert in mehrerlei Hinsicht nicht. Zunächst einmal ist die Explosion der Kette längst nicht so spektakulär, wie du glaubst. Sie geht mehr in die Breite denn in die Höhe. Die Sprengkraft ist relativ gering, schließlich geht es nur darum, den Hals zwischen Kopf und Körper zu entfernen. Von der Stadtmauer aus bekäme das kein Schwein mit. Was mir aber größere Kopfschmerzen bereitet, wie wollen mich Clavin und Sassen denn in diese Baracke geleiten?«

»Wie?«, dröhnte es hinter mir. »Indem ich mir dich unter den Arm klemme und wegtrage.«

Ich fühlte eine Pranke auf meiner linken Schulter. Das fehlende rechte Blickfeld versuchte ich mit meinem Gehör auszugleichen. Da es mir aus dieser Richtung noch keine Gefahr meldete, zog ich den Dolch aus meinem rechten Stiefelschaft und rammte ihn in den zur Pranke gehörenden Arm. Noch während der Kerl Luft holte, sprang ich auf und fuhr herum. Meine linke Handkante traf mit Schwung auf seinen Kehlkopf. Das tat mir erstaunlich weh, der Kerl war wirklich wie aus Stein gemeißelt, verfehlte seine Wirkung dennoch nicht. Clavin, es konnte auch Sassen gewesen sein, griff sich an den Hals und taumelte röchelnd rückwärts.

Der andere, Sassen, oder Clavin ‒ schade, dass Gunder uns nicht ordentlich bekannt gemacht hatte ‒ befand sich nun in meinem linken Augenwinkel. Ich sah ihn auf mich zustampfen. Rasch wandte ich mich um, packte ihn an Arm und Kragen und machte ein paar Schritte rückwärts. Notgedrungen musste mir der Kerl folgen, bis ich mit meinem Körper eine halbe Drehung vollführte und ihn über mein ausgestrecktes linkes Bein hebelte. Rad schlagend wie ein übermütiges Kind wirbelte er durch die Luft und zermalmte den Stuhl, auf dem ich gesessen hatte. Obwohl er sich hastig aufrappelte, verspürte ich das dringende Bedürfnis, mich umzusehen. Mein Instinkt hatte mich nicht getrogen. Da kam Gunder, die Arme hoch über den Kopf erhoben, und holte mit einer Art Pickel aus, einem Werkzeug, mit dessen Handhabung er als Bergmann sicher vertraut war. Trotzdem verfehlte er meinen Kopf und versenkte es stattdessen in der Schulter von Clavin oder Sassen, der wie ein Stier aufbrüllte. Gunder blickte einen Augenblick zu lange auf das, was er angerichtet hatte. Ich zog mein zweites Messer, presste ihm die Klinge an den Hals und knurrte: »Wir sollten jetzt das Fernalit verladen, findest du nicht auch?«

Halbherzig griff Gunder nach dem Arm, den ich um ihn geschlungen hatte. Clavin, oder Sassen, jedenfalls der Kerl, in dem mein Messer steckte, rieb sich noch immer den Hals und war rot angelaufen. Sein Kumpan wälzte sich jaulend auf dem Boden. Der Pickel, den er sich aus der Schulter gerissen hatte, lag blutverschmiert neben ihm.

»Gunder«, flüsterte ich, »ich weiß nicht, wer dir die Nase gebrochen hat, aber ich verspreche dir, ich werde sein Werk zu Ende führen, indem ich das Gleiche mit jedem einzelnen deiner Knochen anstelle, und mag er noch so klein sein.«

Der Griff um meinen Arm lockerte sich.

»Nach dir.« Ich schob ihn zur Tür.

Draußen waren einige Arbeiter zusammengelaufen, die uns mit entgeisterten Blicken empfingen. Kein Wunder bei dem Getöse, das Gunders Leibwächter veranstaltet hatten. Ich fixierte einen dürren, hohlwangigen Kerl, der wie ein gerupfter Reiher aussah.

»Wie heißt du?«, blaffte ich.

Der junge Mann zuckte zusammen und sah sich um, als wollte er sich vergewissern, dass ich wirklich ihn meinte.

»Ja, du! Schau dich nicht so blöd um, Hornochse. Hast du jetzt einen Namen?«

»Ellin.«

»Fein, Ellin. Hör zu, ich habe eine Aufgabe für dich: Du weißt, wo das Fernalit gelagert wird?«

Ein hastiges Nicken.

»Du suchst dir jetzt so viele Männer, wie du brauchst, um das Zeug in die Kisten dort hinten auf dem Fuhrwerk zu verladen. Weißt du, welches Fuhrwerk ich meine?«

Noch ein Nicken.

»Dort findest du auch eine Truhe mit fünftausend Kubecks. Nehmt euch ein kleines Trinkgeld für eure Umstände und gebt den Rest an Gunder weiter.« Ich verstärkte den Druck meines Dolches und grinste. »Ist sicher auch in deinem Sinne, nicht wahr, Gunder? … Gunder?«

»Ja«, krächzte er.

»Also hat Ellin deine Erlaubnis, meinen Auftrag auszuführen? Nicht dass du denkst, ich wollte deine Autorität untergraben …«

»Ja!«

Ellin rief sechs, sieben Männer zu sich und kommandierte sie zu einem Schuppen, aus dem sie mit Schaufeln bewaffnet wieder auftauchten. Kurze Zeit später trugen je zwei eine der Metallkisten zwischen sich und verschwanden, von Ellin angeführt, zwischen den Baracken.

Ich tätschelte Gunder aufmunternd die Schulter. »Na also. Und bevor ich deine Gastfreundschaft überstrapaziere, sollten wir wieder in deine Baracke zurück. Einer deiner Männer hat noch etwas, das mir gehört.« Ich bohrte ihm die Dolchspitze in die Haut. Mit nur einem Messer fühlte ich mich fast nackt. »Nach dir, Gunder. Bitte.«

4.

Ala

Ich fixierte das Wasser so lange, bis ich mir einbildete, es würde zurückstarren. Tatsächlich glotzte mir nur die Spiegelung meines eigenen Gesichts entgegen. Warum musste dieses Wasser auch so verdammt köstlich aussehen? So klar, ich konnte bis auf den Grund des Tümpels schauen.

Etwa zwei Jahre nach meiner Ankunft in der Mine hatte ich angefangen, mich zu fragen, warum die Baracken der Arbeiter nicht umzäunt waren. Manchmal schleppte Gunder nämlich Männer herbei, die noch nicht einmal ansatzweise den Eindruck erweckten, sie seien ihm freiwillig gefolgt. Eines Morgens war einer dieser Männer verschwunden, hatte sich mitten in der Nacht davongeschlichen. Gunder hatte nur gegrinst und abgewunken. Er hatte gefrühstückt, bis Mittag gewartet und war dann zusammen mit einigen Freiwilligen, darunter Stennis, aufgebrochen. Kurz vor Sonnenuntergang waren sie mit der Leiche des Mannes zurückgekommen. Er war bereits tot, als sie ihn gefunden hatten. Gunder hatte den Mann an einen Pfahl binden lassen und alle Arbeiter zusammengerufen.

»Schaut ihn euch genau an!«, hatte er gebrüllt, dem Toten ins Haar gegriffen und uns ein Gesicht präsentiert, das mich danach wochenlang im Schlaf verfolgt hatte. »So wie ihm ergeht es jedem, der allein ohne Wasser davonläuft und aus einem der Löcher da draußen säuft. Lasst euch das eine Warnung sein! Ihr kommt hier nicht weg.«

Selbst Krähen und Geier hatten einen Bogen um den Leichnam gemacht. Nach einigen Tagen hatte Gunder ihn abschneiden und in eine Mulde werfen lassen. Und ich hatte aufgehört, mich über die fehlenden Zäune zu wundern.

Immerhin, zwei Tage hatte ich überlebt. Nachdem ich aus der Mine geflohen war, hatte ich mich in der nächtlichen Wüste verkrochen, auf die Stimmen und Rufe von Gunders Meute lauschend. Mal erschienen sie näher, mal weiter weg, schließlich waren sie ganz verklungen. Bis zum Morgen war ich weitergelaufen. Mit Sonnenaufgang hatte ich mir ein Versteck gesucht und ein wenig geschlafen. Ich hatte gehofft, auf Menschen zu treffen, wenn ich nur weit genug nach Westen gelangen würde. Doch da waren nur Geier, die wie zufällig über mir kreisten. Nun saß ich mit rissigen Lippen und ausgetrockneter Kehle vor diesem Tümpel und konnte mich zu nichts durchringen. Trinken? Oder lieber weitergehen in der Hoffnung, doch noch jemandem zu begegnen?

Die still abwartende Oberfläche des Wassers begann mich zu hypnotisieren. Trink ruhig!, schien es zu flüstern. Trink! Seine Stimme klang einschmeichelnd, sanfter als die meiner Mutter, wenn sie mir Schlaflieder vorgesungen hatte. Lange hielt ich das nicht mehr aus!

So reglos saß ich da, dass unvermittelt eine kleine Springmaus neben mir auftauchte, die mich wohl als Deckung und Sonnenschutz betrachtete, ein Jungtier, noch nicht voll ausgewachsen. Hektisch witterte sie Richtung Wasserloch. Ich hielt die Luft an. Tiere hatten ihren eigenen Sinn für Gefahr. Wenn diese Maus trank, war das Wasser genießbar und ich gerettet.

Unruhig trippelte das kleine Wesen in meinem Schatten auf der Stelle, näherte sich vorsichtig der dunklen Grenze zwischen Wasser und Boden, um gleich wieder zurückzuschrecken. Schließlich preschte es vor und seine winzige Zunge schleckte in atemberaubender Geschwindigkeit Feuchtigkeit auf. Mir wurde noch heißer. Ich hielt den Blick starr auf die Maus geheftet, bis sie genug getrunken hatte und sich zu putzen begann. Das war meine Rettung! Und ich verdankte sie dieser kleinen Maus. Daher gönnte ich dem Tierchen seine Pause, bevor ich mich bewegen und es damit verscheuchen würde.

Da ging ein Ruck durch das Geschöpf und ich zuckte zusammen. Die Maus kippte zur Seite und spreizte die Beine ab. Furchtbare Krämpfe schüttelten den kleinen Körper. Ihr Köpfchen bog sich in den Nacken, sie riss das winzige Maul auf und stieß ein feines, aber entsetzlich durchdringendes Fiepen aus. Fassungslos beobachtete ich, wie die Maus sich vor Schmerz auf schier unmögliche Art verdrehte. Mir wurde schlecht, aber ich konnte den Blick nicht von dem Todeskampf des Tieres abwenden. Irgendwann löste sich meine Starre und ich sah mich nach einem Stein um, mit dem ich die Maus von ihren Qualen erlösen wollte. Da zuckte sie ein letztes Mal und es war vorbei. Mit verrenkten Gliedern lag das kleine Wesen vor mir und bewegte sich nicht mehr.

Ich versuchte zu schlucken, schaffte aber nur ein trockenes Würgen. Erschöpft kroch ich in den Schatten einer Felsformation, die sich wie ein riesiger, hohler Zahn vom übrigen Gestein abhob. Mann, Stennis hätte mir vielleicht heimgeholfen, wenn er mich so gesehen hätte.

Nach einer Weile erklang seine Stimme in meinem Kopf: »Weißt du noch, wie du unter dem Fuhrwerk gehangen hast?«

»Da gab es wenigstens Wasser«, murmelte ich.

»Dafür hast du es hier schön trocken und warm.«

Genau das hätte Stennis erwidert. Ich lächelte, ganz leicht nur, denn meine Lippen brannten dabei entsetzlich.

»Siehst du, Ala, solange du lächeln kannst, ist noch nichts verloren.«

»Pff …« Er war einfach unverbesserlich. »Wie ist es da, wo du bist?«, fragte ich.

»Langweilig ohne dich.«

»Ich habe Gunder die Nase gebrochen.«

»Da wäre ich gerne dabei gewesen.«

»Du fehlst mir, Stennis.«

»Du mir auch. Aber unser Wiedersehen schieben wir noch etwas auf.« Er machte eine Pause. Dann ertönte es wie ein Donnerschlag: »Und jetzt hoch mit dir!«

Ich fuhr auf und stieß mir den Kopf. Sternchen tanzten vor meinen Augen.