Stahlhart - Volkmar Joswig - E-Book

Stahlhart E-Book

Volkmar Joswig

4,3

Beschreibung

Der Bremer Gerichtsreporter Rainer West wird durch seine Scheidung in eine emotionale und finanzielle Krise gestürzt. Alles ändert sich, als er Britta Kern kennenlernt. Die neue Beziehung gibt ihm Kraft und auch beruflich geht es wieder aufwärts. Doch plötzlich wird er verdächtigt, an einer Serie brutaler Banküberfälle beteiligt zu sein und auch Brittas Bruder gerät in das Visier der Ermittler. Rainer West macht sich auf die Suche nach der Wahrheit - und bringt damit nicht nur sich selbst in größte Gefahr …

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Ähnliche


Henning von Melle / Volkmar Joswig

Stahlhart

Kriminalroman

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2011 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Christoph Neubert

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Fotos von: 106313 / photocase.com und

»Die hier beschriebenen Orte kenne ich alle – allerdings nicht als Kulisse für Mord und Todschlag. Zentren sind das alte Stadt- und Polizeiamt, die Redaktionsräume der großen Bremer Tageszeitung und die Stahlwerke Bremen.

Die Hauptpersonen sind Bremer Zeitungsredakteure und Kriminalbeamte. Sie jagen sich gegenseitig und lassen in Bremen und umzu jede Menge unschuldiger Menschen sterben.

Wer Action Stories mag, findet hier Futter. Wer sich nicht lange mit Milieu-Studien und Charakter-Differenzierungen aufhalten lassen will, sondern auf das Ende der Story heiß ist, der ist hier richtig.«

Dr. Henning Scherf, ehem. Bürgermeister von Bremen

»Stahlhart – nein, so kannte ich Bremen bisher nicht. Weder durch Eltern und Großeltern, die lange in der Hansestadt lebten, noch aufgrund eigener Erfahrungen aus Schulzeit und Theaterjahren.

Stahlhart – nein, ich bin auch kein Krimileser. Nach der Lektüre von ›Stahlhart‹ könnte ich es werden.«

Rolf Becker, Schauspieler und Synchronsprecher

»In ›Stahlhart‹ fand ich alles, was ich von einem guten Krimi erwarte: Spannung, stahlharte Abläufe, Logik, das Mitnehmen des Lesers durch die Geschichte und Emotionen pur. Der Leser erkennt die realen Orte des Geschehens wieder und lernt touristische Höhepunkte Bremens und umzu kennen. Schön fand ich die Romantik, die sich zwischen den Protagonisten Rainer und Britta entwickelt und die die Story um noch eine weitere Facette bereichert. ›Stahlhart‹ hat mir wirklich gut gefallen.«

1

Rainer West trat aus dem Gerichtsgebäude.

Gerade hatte er eine deftige Ohrfeige erhalten. Obwohl das Gebäude praktisch sein zweites Zuhause war, erschien es jetzt auch als Ort der bittersten Niederlage. Er war gerade von seiner Frau geschieden worden, mit üblen Nebenwirkungen, die sein weiteres Leben erschwerten. Rainer musste erst einmal tief Luft holen und ließ sie lautstark wieder entweichen.

Langsam stiefelte er vom Amtsgericht über die Domsheide, am Dom vorbei, in Richtung des historischen Bremer Rathauses. Unter den Arkaden des Rathauses setzte er sich auf eine der Steinbänke, die noch frei war. Um ihn herum schnatterte es in diversen Sprachen, ein untrügliches Zeichen, dass wieder viele ausländische Besucher den Weg nach Bremen gefunden hatten.

Eine Zeit lang beobachtete Rainer eine Gruppe von Touristen, die vor dem Denkmal des Rolands einer Stadtführerin lauschten. Als Rainer merkte, dass ihn das fröhliche Gewimmel mehr störte als ablenkte, brach er wieder auf. Ihn zog es an die Weser. Er wählte die Teerhofbrücke, lehnte sich an das Brückengeländer und starrte in den ruhig dahin zuckelnden Fluss. In ihm kochte es, verbunden mit Resignation, Leere und Aufruhr gegen den Urteilsspruch. Seine Exfrau hatte ihn klassisch aufs Kreuz gelegt und reichlich zur Kasse gebeten. Unruhe trieb ihn nach einer Weile weiter. Er setzte sich, in Gedanken versunken, in sein Bremer Stammlokal an der Schlachte, in dem er fast regelmäßig hockte, und maulte vor sich hin. Einige, für ihn düstere, Vorgänge beschäftigten ihn. Eine Scheidung an sich war schon eine üble Sache, zumal er nicht derjenige gewesen war, der das Ende der Partnerschaft eingeleitet hatte.

Natürlich litt die Arbeit unter der seelischen Anspannung und der gedanklichen Beschäftigung. Rainer West war Gerichts- und Polizeireporter beim Bremer ›Weser Boten‹. Durch die wahrzunehmenden privaten Termine versäumte er schon mal einen beruflichen, und seine Leistungen wurden immer schlechter. Es hatte bereits Gespräche mit seinem Chefredakteur Dr. Kurt Koschnick gegeben. Da dieser aber die Situation kannte, brachte er Rainer ein gewisses Verständnis entgegen. Inzwischen war allerdings ein Punkt erreicht, wo es schwierig wurde, Rainer den Rücken freizuhalten. In dieser Situation saß Rainer West nun auf seinem Stuhl und ließ den Kopf hängen. Sein leerer Blick wanderte hin und her. Bisweilen streifte sein Auge eine hübsche Frau, die ihm, allein, schräg gegenübersaß und in ihrem Cappuccino rührte. Rainer bemerkte nicht, dass sie versuchte, seinen Blick zu fangen und festzuhalten. Dafür war er zu abwesend.

Solche Situationen hatte es schon oft gegeben, denn Rainer war immerhin ein gut aussehender Mann, schwarzhaarig, schlank, von 1,80 Meter Größe, mit wohlklingender Stimme. Rainer legte viel Wert darauf, körperlich gepflegt und adrett bis schick gekleidet zu sein. Er trug fast ausschließlich Anzug, oft Schlips. Er galt als charmant, smart. So stellte er eine ansehnliche Erscheinung dar und war Ziel vieler begehrlicher Blicke.

Hier und heute stellte er für sich aber fest, dass ihm die Anwesenheit im Lokal nichts brachte, also stand er auf und zahlte.

Vielleicht war es besser, zu Hause seinen Gedanken nachzuhängen. Schließlich konnte es sein, dass er gesehen wurde, wie er hilflos, mit düsterem Blick rumhing. Das konnte sich schlecht auf seine Tätigkeit auswirken. Also zog er die Einsamkeit seiner Behausung der öffentlichen Zurschaustellung vor. Er saß schon lange an seiner Tasse Kaffee, bereits ständig präsent, dass es da noch den Nebeneffekt der Scheidung gab, er ziemlich blank war und das würde wahrscheinlich zum Dauerzustand werden, da er Unterhaltszahlungen leisten musste.

Rainer Wests berufliche Aufgabe war es, einerseits von Prozessen, die für die Öffentlichkeit interessant waren, zu berichten, andererseits Polizeiarbeit zu begleiten und darüber zu schreiben, wenn gerade eine Tat geschehen war. Er hatte sich gute Kontakte aufgebaut und war sogar zum gern gesehenen Kollegen geworden. Durch seinen Charme, aber auch Scharfsinn hatte er den Beamten manch wertvollen Tipp oder diese oder jene neue Sichtweise vermitteln können. So hatte er sich in Polizeikreisen Freunde geschaffen, die bereit waren, ihm manchen Hinweis zukommen oder einen Vorsprung vor seinen Kollegen erreichen zu lassen. Das wiederum führte dazu, dass er innerhalb der Zeitung seinen sicheren Platz hatte. Nun lief er Gefahr, diesen Platz aufs Spiel zu setzen.

Rainer West fuhr nach Hause, setzte sich vor den Fernseher und ließ die Sendungen an sich vorbeirauschen. Angesichts seiner Zukunft machte er sich keine Illusionen. Deprimiert gab er sich einigen Flaschen Becks Bier hin und schlief dann auf dem Sofa ein.

Günther Voss saß in seinem schmucken Haus am Weidedamm III vor dem Fernseher und sah sich die Tagesschau an. Seine Frau Martina werkelte in der Küche und bereitete das Abendbrot vor. Es war später als sonst geworden, weil ihr Mann, als Filialleiter der Commerzbank Bremen-Findorff, spät nach Hause gekommen war. Am nächsten Tag stand für ihn eine Betriebsprüfung an.

Die 16-jährige Tochter Emma saß oben in ihrem Zimmer am Computer. Es klingelte.

»Erwartest du noch jemanden?«, rief Günther Voss seiner Frau in der Küche zu. »Heute Abend kann ich wirklich niemanden gebrauchen.«

»Nein, Schatz, für mich kann das nicht sein. Vielleicht ist es ein Nachbar, sieh einfach nach«, antwortete Martina Voss.

Widerwillig rappelte sich Herr Voss hoch und schlurfte zur Haustür. Falls es Vertreter oder Zeugen Jehovas sein sollten, würden sie ihn kennenlernen. Ein fremder Mann stand draußen.

»Guten Abend, Herr Voss«, begann der Fremde.

»Ich brauche nichts, schon gar keine Störung. Außerdem ist es …« Weiter kam er nicht. Der Fremde drängte ihn in den Flur.

»Was soll das?«, erstaunt blickte Günther Voss auf den Fremden, der im gleichen Moment eine Pistole, Marke Heckler & Koch P 2000, aus seinem Hosenbund zog und mit fließender Bewegung gegen die Stirn des Herrn Voss presste. Der Fremde legte den Zeigefinger seiner anderen Hand auf die Lippen, als Zeichen für Stille. Dann packte der Mann Günther Voss an dessen rechter Schulter, drehte ihn und gab ihm einen Stoß in Richtung Wohnzimmer.

»Wer war es denn?«, erscholl die Stimme von Martina Voss aus der Küche.

Der Fremde entschied um und fragte mit leise gesprochener Stimme: »Küche?«

»Ja.«

»Gehen Sie hin!«

Martina Voss hörte den schlurfenden Schritt ihres Mannes, drehte sich vom Herd um und sah ihren Mann, hinter dem ein anderer stand, der ihrem Günther eine Pistole an die Schläfe hielt. Mit gedrosselter Stimme fragte der Fremde: »Ist sonst noch jemand im Haus?« Einen kurzen Augenblick zögerte die Hausherrin und dachte an ihre Tochter oben.

»N-nn-nein«, erklärte sie in der Hoffnung, Emma würde nicht erscheinen, bevor sie zum Essen rief.

»Ins Wohnzimmer!«, befahl der Fremde.

Dort angekommen, stieß der Mann Günther Voss in Richtung Sofa, bellte kurz »Hinsetzen« und in Richtung Frau Voss »Du auch«. Verängstigt, verschreckt, mit weit aufgerissenen Augen saß das Ehepaar Voss nebeneinander auf der Couch.

»Was wollen Sie? Sie bekommen alles Bargeld, das ich im Haus habe, sogar den PIN meiner Scheckkarte, nur tun Sie uns nichts«, begann Günther Voss nach einer Schrecksekunde und nachdem er etwas Mut gefasst hatte. Der Täter hatte sie nicht sofort umgebracht. Das sollte ein gutes Zeichen sein.

Mit den Worten: »Hier nimm das Klebeband und fessele deine Frau. Mach es stramm und richtig, ich kontrolliere es. Sitzt es nicht richtig, töte ich sie!«, warf der Fremde eine Rolle Paketklebeband in den Schoß von Günther Voss.

»Los Arme nach vorn!«, ordnete der Täter in Richtung Frau Voss an. »Und du umwickelst sie«, zeigte der Fremde, indem er mit einer Handbewegung die Waffe als Hilfsmittel einsetzte. Nachdem Martina Voss verschnürt war, kontrollierte der Fremde die Fesselung. Sie saß fest. Er nahm im Sessel Platz.«Wir fahren gleich zu deiner Bank. Dort will ich Geld, alles, was verfügbar ist.«

»Da ist nichts«, erklärte verschreckt Günther Voss. »Das ist alles im Safe, und da kann ich nicht allein ran. Ich brauche den Schlüssel meiner Stellvertreterin.«

»Gut. Dann rufst du sie an und bestellst sie her, mit Schlüssel!«

Günther Voss zögerte. Er wollte nicht auch noch seine Kollegin gefährden. Natürlich hatte er ein Seminar über Krisenmanagement in solchen Situationen absolviert.

»Los! Ruf an, sonst stirbt deine Frau. Und lass dir nicht einfallen, etwas Verräterisches loszulassen. Das hat den gleichen Erfolg!«

Günther Voss ergab sich in sein Schicksal. Er wählte die Nummer seiner Kollegin Gabi Dressler und bat sie unter dem Vorwand, er müsse wegen der Betriebsprüfung noch mal in die Bank und sie solle mitkommen, zu sich. Sie könne ihn doch bitte abholen. Die Stellvertretende Filialleiterin versprach umgehend zu kommen.

Emma Voss, die Tochter des Hauses, beendete ihr Spiel am Computer. Sie hatte Hunger, aber der Ruf ihrer Mutter war bisher ausgeblieben. Sie musste wohl etwas Druck machen, schließlich befand sie sich im Wachstum und brauchte ihre Mahlzeiten. Auf Strümpfen schritt sie Richtung Treppe, die nach unten führte. Sie hörte Stimmen. Das war wohl der Grund für die Verspätung des Abendessens: Die Eltern hatten Besuch. In diesem Moment verstand sie die Worte: »… sonst stirbt deine Frau!« Sofort hielt sie inne. Lief doch nur der Fernseher?, fragte sie sich.

An der Tür klingelte es. Es müsste die Kollegin sein, dachte Günther Voss.

»Geh hin und sieh nach. Wenn es deine Kollegin ist, bring sie hierher. Wenn es jemand anderes ist, schick ihn weg. Ich bleibe bei deiner Frau.« Mit diesen Worten setzte sich der Täter neben Martina Voss und drückte ihr die Pistole an die Schläfe. Ihre ängstlichen Augen weiteten sich über das Normale hinaus. Viel Weiß war zu sehen, ihr Atem stockte.

»Los, geh!«, befahl der Fremde.

Günther Voss erhob sich und warf einen Blick, von dem er hoffte, dass der Martina beruhigen würde, auf seine Frau. Dann ging er zur Eingangstür. Im Flur, auf der Mitte der gebogen nach oben führenden Treppe, sah er Emma. Erschreckt versuchte Günther Voss durch die Bewegung seiner Augen in Verbindung mit einer kaum wahrnehmbaren Kopfbewegung seiner Tochter zu signalisieren, sie solle verschwinden. Emma nickte kurz und tastete sich dann still zurück in ihr Zimmer.

Vor der Haustür stand die Kollegin Gabi Dressler.

»Was gibt es denn noch?«, begann sie.

»Danke für Ihr Kommen, Frau Dressler. Kommen Sie doch erst rein, wir besprechen das drinnen«, antwortete Günther Voss und machte den Weg frei.

Frau Dressler betrat den Flur und blickte in das schwarze Loch einer Pistolenmündung. Angst stieg sofort in ihr hoch, denn sie begriff, in welcher Situation sie sich befand.

»Tut mir leid. Er hat mich dazu gezwungen. Meine Frau sitzt gefesselt im Wohnzimmer«, konnte Günther Voss schnell noch loswerden, bevor der Fremde wieder das Kommando übernahm: »Los, alle ins Wohnzimmer!« Dort angekommen saßen die drei Geiseln auf dem Sofa, während der Fremde in einem Sessel Platz nahm.

»Um es deutlich zu machen, es muss niemandem etwas passieren, wenn ihr kooperiert. Wir fahren gleich zur Bank, holen etwas Geld. Dann verschwinde ich, und allen geht es gut. Kommt ihr auf krumme Gedanken und aktiviert in der Bank den Alarm, gibt es Tote. Habt ihr das verstanden?«

Die Geiseln nickten eingeschüchtert. In dem kurzen Moment der Stille, die folgte, hörten die vier ein schwaches Gemurmel.

»Was ist das?«, fragte der Fremde.

»Ich höre nichts«, erklärte Günther Voss sofort. Der Fremde erhob sich gelassen, machte zwei Schritte auf ihn zu und schlug ansatzlos mit dem Lauf der Pistole zu. Haut platzte auf.

»Das ist eine Warnung. Beim nächsten Mal wird es tödlich. Woher wusstest du, dass ich auf das Geräusch anspielte? Ich frage noch mal: Ist noch jemand im Haus?« Dabei zeigte der Täter mit dem Pistolenlauf auf den Kopf von Martina Voss.

»Meine Tochter ist oben. Sie spielt am Computer. Dabei vergisst sie die Welt. Sie hat bestimmt noch nichts mitbekommen. Bitte, lassen Sie sie. Sie ist doch noch ein Kind.«

»Hol sie runter. Wir bleiben hier. Du hast 20 Sekunden. Dauert es länger, passiert etwas.«

Günther Voss holte seine Tochter. Nun saßen vier Personen auf dem Sofa.

»Was hast du oben gemacht?«, fragte der Fremde.

Emma, natürlich unerfahren in solcher Situation, fühlte sich stark und vor allem sicher: »Ich habe die Polizei angerufen. Sie wird gleich hier sein.«

Der Fremde stand langsam auf.

Ein Bremer Sondereinsatzkommando raste in Formation zu der angegebenen Adresse. Dort angekommen, wusste jedes SEK-Mitglied, was es zu tun hatte. Sofort schwärmte eine Anzahl Männer aus, umstellte das Haus des Günther Voss. Scharfschützen gingen in Stellung. Kurze, einsilbige Meldungen erreichten den Wagen des Einsatzleiters, die zeigten, dass die jeweiligen Stellungen eingenommen waren. Der Einsatzleiter nahm das Handy und wählte die Nummer der Familie Voss.

In dem Moment, als der Fremde die Tochter erreicht hatte, klingelte das Telefon.

Überrascht drehte sich der Täter zum Geräusch hin um.

»Geh ran!«, herrschte er Günther Voss an. Der nahm das Gespräch entgegen, reichte aber den Hörer an den Fremden weiter: »Für Sie.«

Der Fremde lauschte den Worten des SEK Einsatzleiters. Der erklärte die Situation und fragte nach Forderungen.

»Verschwinden Sie, ich will keine Polizei sehen. Wir werden das Haus verlassen. Erkenne ich einen Polizisten, erschieße ich eine Geisel. Keine weitere Störung mehr!« Damit beendete der Fremde kurzerhand das Gespräch.

»So, Mädel, da hast du aber schweren Schaden angerichtet. Brauchte ich dich nicht als Geisel, hätte ich dich jetzt getötet und deine Eltern dazu. Ist dir das klar? Ich gehe nicht in den Knast!«

Verängstigt nickte die Jugendliche. An Günther Voss gerichtet: »Hat deine Garage eine Verbindung zum Haus?«

»Ja«, bestätigte der Filialleiter.

»Gut. Dann gehen wir jetzt alle zum Wagen. Keine Mätzchen.«

Die Gruppe stiefelte los, an der Spitze Günther Voss. Als die fünf Personen die Tür zum Durchgang zur Garage erreichten und Günther Voss durchgegangen war, brach Emma flink nach links aus und sprintete zur Haustür. Der Schuss aus der Heckler & Koch schlug in ihren Rücken ein. Emma wurde durch die Wucht der Kugel gegen die Eingangstür geschleudert. Martina Voss schrie verzweifelt ein lang gezogenes »Neeeeeiiiiin«. Danach trommelte sie mit ihren Fäusten auf den Täter ein. Das »Warum?« konnte sie gerade noch zu Ende sprechen, bevor der Täter ihr in den Kopf schoss.

»Los, schnell durch«, befahl der Fremde den erstarrten Geiseln und stieß brutal Gabi Dressler an, die auf Günther Voss prallte. Das löste die innere Sperre. An der Eingangstür hörte man das Hämmern des SEK mit dem Türbrecher. Die Schüsse hatten jede Zurückhaltung aufgehoben. Gleichzeitig splitterte Glas, als andere SEK Mitglieder durch die Terrassentür kamen. Der Täter riss die Durchgangstür hinter sich zu. Das Garagentor wurde durch das SEK aufgebrochen. Der Fremde saß mit seinen zwei Geiseln im Durchgang zur Garage fest. Er sah sich um. Nur ein schmaler Durchgang, circa 1,50 Meter breit, gekalkte Wände. Keine Fluchtmöglichkeit, hinter sich das SEK, vor sich das SEK, das keine Rücksicht nehmen würde. Die hatten die Opfer gefunden und würden ohne jedes Zögern zum finalen Rettungsschuss ansetzen. Immer noch hielt er verzweifelt die Durchgangstür hinter sich zu, als wenn ihm das Sekunden bringen würde. Ihm war die Aussichtslosigkeit schlagartig bewusst. Zwar hatte die direkt davor liegende Tochter die Eingangstür blockiert, aber die Garage konnte er nicht mehr erreichen. Dort wartete das SEK. Bald würde hinter ihm die Tür aufgerissen, und er würde erschossen werden, die einzige Chance für die Geiseln. Aber selbst wenn die Polizei mit Rücksicht auf die Geiseln abwarten würde, aus dem Gang käme er nicht mehr raus. Spätestens in der Garage würde er erschossen werden. In dieser Ausweglosigkeit und aus Rache richtete der Fremde seine Pistole gegen den Hinterkopf von Gabi Dressler und drückte ab. Blut, Schädelteile und Gehirn spritzten an die Wände. Blut schoss aus Gabi Dressler, als sei ein Hahn geöffnet worden. Unmengen des roten Lebenssaftes bildeten in Sekundenschnelle eine riesige Pfütze auf dem Boden. In einem Sekundenbruchteil später schoss der Täter Günther Voss ins Herz. Der hatte sich gerade panisch umgedreht, um zu sehen, was passierte. Günther Voss hatte den Boden im Fallen noch nicht erreicht, als die Tür zur Garage aufflog, rote Zielpunkte der SEK-Waffen auf dem Gesicht des Täter aufleuchteten und die vier Geschosse des SEKs im Kopf und Gesicht des Fremden einschlugen. Für die Rettung vergebens.

Am nächsten Tag war Rainer verspätet in die Redaktion gekommen. Er hatte sich am Abend etwas dem Rotwein hingegeben. Dadurch hatte er das Zeitgefühl verloren und daraufhin verschlafen. In der Redaktion angekommen, war er sofort in das Büro seines Chefredakteurs beim ›Weser Boten‹ gerufen worden.

»Rainer, so kann das nicht weitergehen. Was hast du gestern Abend denn für eine Scheiße gebaut?«

»Wieso?«, fragte Rainer nach.

»Wieso?«, der Chefredakteur konnte es nicht fassen.

»Die Familie Voss, ermordet, sagt dir das nichts? Nur die Tochter wird überleben, sie ist aber schwer verletzt. Wo warst du?«

»Ich weiß von nichts, hatte mich hingelegt.«

»Eben. Wir haben versucht, dich zu erreichen. Ohne Erfolg. Jens Goldstein musste hin und wird berichten. Wir hatten von der Geschichte über Polizeifunk erfahren, aber du warst nicht erreichbar. So geht das nicht! Du lässt dich gehen und gibst mir keine Perspektive, dich halten zu können. Mensch, Junge, wach endlich auf! Andere haben das Gleiche oder Ähnliches durchgemacht und haben sich nicht hängen lassen. Du bist nur noch hier, weil du einen guten Ruf hast und ich dich dadurch schützen konnte. Wir hatten sogar Pläne mit dir, wollten dich nach oben ziehen und dir einen Posten in der überregionalen Berichterstattung anbieten, die auch von anderen Zeitungen beachtet wird. Du hättest dir einen Namen machen können. Jetzt ist Schluss. Ehe ich mich durch dich auch in den Strudel ziehen lasse, muss ich dir sagen, du bist kurz vor der Zielflagge. Rainer, wach auf! Ich kann dich nicht mehr lange halten. Du bist ein fescher Bursche, charmant. Es kann doch nicht so schlimm sein. Such dir eine Freundin. Ich hab einen Vorschlag für dich: Nimm eine Woche Urlaub. Überdenke deine Situation und mach was daraus. Danach will ich dich hier in alter Frische sehen, oder wir müssen uns trennen. Du weißt, ein Rauswurf hat fatale Folgen und spricht sich in der Branche schnell rum. Dafür sorgen allein schon die Kollegen. Also stecke die dunkelgelbe Karte ein und fahr nach Hause. In einer Woche sehe ich dich wieder. Übrigens, Jens Goldstein lauert schon auf deinen Job.« Chefredakteur Dr. Koschnick hatte seine Ermahnung beendet.

»Danke, Chef, für Ihr Verständnis.«

»Schon gut. Wir haben dir auch was zu verdanken und du weißt, ich mag dich. Du hattest mal eine Nase. Hol sie dir zurück, und du bist wieder im Geschäft. Also rede nicht lange und hau ab.«

2

Rainer verließ die Redaktion. Obwohl die Kopfwäsche noch relativ glimpflich abgegangen war, hatte sie doch gesessen. Was sollte er tun?

Als Erstes fuhr er in sein Lokal an der Schlachte. Er brauchte dringend Kaffee. Den hatte er zwar auch zu Hause, aber da fiel ihm doch nur die Decke auf den Kopf. Nachdem ihm der Kaffee gebracht wurde, schaute er sich beim langsamen Umrühren im Lokal um. Ihm fiel sofort ins Auge, dass die Dame von gestern wieder da war und in seine Richtung blickte. Er erkannte wieder, wie attraktiv sie war. Das gesamte Erscheinungsbild stimmte, seinem eigenen recht ähnlich. Neben dem hübschen Gesicht konnte er eine Topfigur erkennen. Jedenfalls soweit sie zu erahnen war. Ihre Haltung war gerade und verriet einen gewissen Stolz. Die Kleidung sah apart und nach dem Allerfeinsten aus, obwohl man heute schnell getäuscht werden konnte. An ihren feingliedrigen Händen sah Rainer nur wenig Schmuck, aber der schien ausgewählt. Ein Ehering fehlte. Die ganze Erscheinung stand unter dem Motto ›schlicht, aber elegant‹ und versprühte Flair.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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