Stand by Me - Helena Hunting - E-Book

Stand by Me E-Book

Helena Hunting

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Beschreibung

Die wahre Liebe hat immer eine zweite Chance verdient

Als Kailyn mit dem Jurastudium beginnt, hat sie nur ein Ziel: den Abschluss als Jahrgangsbeste zu schaffen. Doch an ihrem ersten Tag am College stolpert sie buchstäblich über ihren Teenie-Schwarm, den Schauspieler Daxton Hughes. Trotz dieses peinlichen Vorfalls entwickelt sich zwischen den beiden schnell eine freundschaftliche Rivalität - bis Dax ihr völlig unerwartet in den Rücken fällt. Als ihre Wege sich 8 Jahre später wieder kreuzen und Dax sie um Hilfe bittet, hat Kailyn ihm diesen Verrat zwar noch nicht verziehen, aber sie kann ihn in seiner Notsituation auch nicht einfach im Stich lassen. Und schon bald ist das Knistern zwischen ihnen heiß wie nie zuvor. Doch kann Kailyn ihr Herz einem Mann anvertrauen, der sie schon einmal so enttäuscht hat?

"Eine verflucht witzige und heiße Liebesgeschichte, in der für die Charaktere viel auf dem Spiel steht und die Emotionen hochkochen!" KIRKUS REVIEWS

Helena Hunting weiß, was die Leser:innen wollen: Herz, Humor und noch mehr Liebe!


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Seitenzahl: 469

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INHALT

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

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15

16

17

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19

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26

27

Epilog

Danksagung

Die Autorin

Die Romane von Helena Hunting bei LYX

Impressum

Helena Hunting

Stand By Me

Roman

Ins Deutsche übertragen von Barbara Först

ZU DIESEM BUCH

Als Kailyn mit dem Jurastudium beginnt, hat sie nur ein Ziel: den Abschluss als Jahrgangsbeste zu schaffen. Ihr ist klar, dass dies Disziplin und vollen Einsatz erfordert, doch bereits an ihrem ersten Tag am College wird ihre Konzentration vollkommen erschüttert. Denn sie stolpert – buchstäblich – über Daxton Hughes: attraktiver Schauspieler und Kailyns Schwarm aus Teenie-Zeiten. Blitzschnell verwandelt sich Kailyn von der fokussierten Studentin in ein aufgeregtes Fan-Girl (inklusive Geständnis ihrer unsterblichen Liebe), bevor sie sich wieder zusammenreißen kann. Zum Glück verschreckt sie Dax mit diesem kurzen Ausbruch nicht. Als die beiden auch noch die gleichen Kurse besuchen, entwickelt sich zwischen ihnen eine freundschaftliche Rivalität – bis Dax ihr unerwartet in den Rücken fällt. Kailyn hat ihm diesen Verrat auch Jahre später noch nicht verziehen, als Dax wieder vor ihr steht, um sie um einen professionellen Gefallen zu bitten. Trotz allem, was noch zwischen ihnen steht, bringt Kailyn es nicht übers Herz, ihn in seiner plötzlichen Notsituation im Stich zu lassen. Und schon bald ist das Knistern zwischen ihnen heiß wie nie zuvor. Doch kann Kailyn einem Mann vertrauen, der sie schon einmal so enttäuscht hat?

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält Elemente, die potenziell triggern können. Diese sind:

Beschreibungen des Todes von Familienangehörigen und der Trauer um sie.

Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.

Euer LYX-Verlag

PROLOG

Fangirl am Boden

Kailyn

Vor acht Jahren

»Visualisierung ist der Schlüssel zum Erfolg.« Meine ganze Konzentration gilt dieser wohltuenden Stimme, schon allein aus dem Grund, weil ich Ohrhörer trage und alle anderen Geräusche ausgeblendet sind. Ich fühle den Drang, erneut meinen Stundenplan zu checken, kann dem aber widerstehen. Denn ich weiß doch genau, wo sich der Hörsaal befindet – ich bin den Weg gestern schon mal probehalber abgelaufen. Also konzentriere ich mich wieder auf meinen Podcast. Es ist der erste Semestertag im Jurastudium, und ich will mich der Herausforderung mit klarem Kopf stellen. »Schließe die Augen, und stelle dir vor, wie dein Erfolg aussehen wird. Visualisiere den Erfolg.«

»Visualisiere den Erfolg«, murmele ich leise und laufe mit geschlossenen Augen über die Campuswiese. Das ist eine Abkürzung und außerdem der Ort, wo die Studierenden zwischen Kursen abhängen.

»Atme deine Angst aus«, haucht die motivierende Podcast-Frau in meine Ohren. »Und atme den Erfolg ein.« Und damit es auch jeder Depp versteht, atmet sie geräuschvoll ein.

»Atme den Erfolg ein.« Der frische Duft von Gras und Bäumen kitzelt mich in der Nase, und irgendwo in der Nähe hat anscheinend jemand einen angesagten Männerduft benutzt, denn auch den kann ich riechen.

Ich öffne ein Auge und schiele kurz auf den Weg, um nicht in die falsche Richtung zu laufen.

»Wie sieht dein Erfolg aus? Visualisiere ihn. Sprich mir nach …«

Beruhigt mache ich das Auge wieder zu und wiederhole, was die nette Frau mir vorsagt. Ich stelle mir Abschlussprüfungen und Promotion vor, ich sehe mich ein Super-Referendariat ergattern, die Bestnoten meines Jahrgangs und schließlich den höchstdotierten Job. Dieses Mantra wiederhole ich unaufhörlich, während ich über die Wiese laufe und meine Vorfreude auf die erste Vorlesung kaum noch bezähmen kann. Ich werde es ihnen zeigen! Ich werde alle meine Kommilitonen überrunden und die Spitze des Berges erklimmen. Wie der Mount Everest – nur eben nicht so gefährlich.

Ich bin gerade dabei, mir vorzustellen, wie ich meinen ersten Prozess vor Gericht gewinne, als ein lauter Warnruf mich aus meinen Träumen holt. Ich mache die Augen auf und sehe ein Frisbee auf mich zufliegen. Bedrohlicher als das Frisbee ist aber dieser Riese von Kerl, der gerade hochspringt, um es zu fangen – und ich meine: wirklich hoch. Außerdem befindet er sich bedauerlicherweise auf Kollisionskurs mit einem beweglichen Objekt, und dieses Objekt bin ich.

Mein Rucksack rutscht von der Schulter, und im Versuch, entweder dem Frisbee oder dem Kerl auszuweichen, verheddere ich mich in den Trägern. Die Ohrhörer rutschen heraus, und das Mantra in meinen Ohren verstummt.

»Pass auf!«, brüllt jemand.

Panisch fahre ich herum … und stoße natürlich mit dem Riesenkerl zusammen!

»Oh Shit!«, ruft er.

Ich halte mich an seinen Schultern fest, während ich über meinen blöden Rucksack stolpere, und ziehe den Kerl mit zu Boden, wo wir mit einem dumpfen Schmerzenslaut auftreffen. Immer noch in sein T-Shirt verkrallt, überlege ich, wie das bloß passieren konnte – und denke, dass ich mir so etwas ganz bestimmt nicht unter Erfolg vorgestellt habe.

»Es tut mir so leid. Alles in Ordnung mit dir?« Er stemmt die Hände in den Boden und drückt sich hoch; es sieht fast so aus, als würde er über mir die Plank-Position trainieren. Und das wäre ziemlich beeindruckend, wenn es nicht so furchtbar peinlich wäre.

»Die Leute sollten besser aufpassen, wo sie hinlaufen«, brumme ich, während ich versuche, meine Extremitäten von seinen zu lösen, ohne dass wir dabei zu Schaden kommen. Er liegt quer auf meinem Bein, deshalb sind hastige Bewegungen überhaupt nicht angesagt, sonst würde nämlich mein Knie unsanft in seine edlen Teile treffen. Mir fällt auf, dass er nach sauberer Wäsche, Deo und einem Hauch Rasierwasser riecht, hinzu kommt ein Kaugummi mit Wassermelonengeschmack.

Sein Gesicht schwebt gerade mal fünfzehn Zentimeter über meinem, also gilt sein Stirnrunzeln zweifellos mir. »Du bist doch mitten durch unser Spiel gelaufen!«

Ich linse zu den anderen Frisbee-Spielern hin und sehe, dass er recht hat. Ich war so sehr mit meinem zukünftigen Erfolg beschäftigt, dass ich ihr Spiel gestört habe.

»Tut mir echt leid. Ich hatte mir gerade einen Podca–« Wieder schaue ich zu ihm hoch, und die Erklärung bleibt mir im Hals stecken. Denn jetzt erst sehe ich ihn richtig.

Das Gesicht dieses Mannes hat in den Fantasien meiner Teenagerjahre die Hauptrolle gespielt. In den Jahren danach übrigens auch. Eigentlich muss ich gestehen, dass ich letzte Woche noch von ihm geträumt habe.

Sein leicht angesäuerter Gesichtsausdruck verwandelt sich in Belustigung, während ich offenen Mundes zu ihm hochstarre. Immer noch kralle ich mich in sein Shirt. Immer noch stützt er sich über mir liegend ab. Daxton Hughes’ Schenkel befindet sich zwischen meinen Beinen.

»Ach du heilige Scheiße!« Meine Stimme klingt viel zu hoch – und viel zu laut, wenn man bedenkt, dass mein Gesicht keine fünfzehn Zentimeter von seinem entfernt ist. Tatsächlich kreische ich wie das elfjährige Fangirl von einst. »Du bist Daxton Hughes! Ich liebe dich!« Dann vergesse ich mich völlig und schlinge die Arme um ihn, worauf er das Gleichgewicht verliert und schwer – sehr schwer – auf mir landet. Das ist mir aber egal, weil unsere Körper sich nun komplett aneinanderschmiegen. Diesen Moment werde ich niemals vergessen: Daxton Hughes liegt auf mir! Zu dumm, dass wir uns nicht am Strand befinden und Badesachen anhaben. Oder zusammen im Bett. Mit nichts an.

Ich klammere mich an Daxton, während er mich in eine sitzende Position hievt. Das ist superpeinlich, denn unsere Knie befinden sich gefährlich nahe am Schritt des anderen. Mir fällt auch auf, dass er ziemlich reserviert wirkt. Erst jetzt wird mir klar, was ich gerade eben lautstark von mir gegeben habe und was ich gerade tue. Wir sitzen mitten auf einer Wiese und um uns herum sind jede Menge Leute.

Erschrocken lasse ich Daxton los und bewege mich im Krebsgang rückwärts, wobei ich ihm zu allem Überfluss beinahe noch das Knie zwischen die Beine gerammt hätte. Taumelnd komme ich auf die Füße und weiche einen Schritt zurück, während er sich erhebt und zu seiner vollen Größe aufrichtet. Meine Güte: Er ist größer, als ich gedacht hätte, und breitschultrig noch dazu! Aber ich schätze mal, dass er, seit er in meiner Lieblingsserie spielte, so einiges an Muckis zugelegt hat. Meine Hände wedeln herum. Warum wedeln meine Hände so dämlich? Ich muss meinem Körper verbieten, diese seltsamen Sachen zu machen, aber ich kann mich einfach nicht beherrschen und bin total nervös, deshalb benehme ich mich oberpeinlich. Und das alles vor Zeugen.

Seine grünblauen Augen von der Farbe eines Tropenmeeres sind weit aufgerissen, und sein noch vor Kurzem so hinreißendes Lächeln erlischt. Was ich gut verstehen kann, denn ich bin jetzt so eine. Was ich nie bin. Außer in diesem Augenblick.

Ich gewinne einigermaßen die Kontrolle über meine Hände zurück und schwäche das Wedeln zu einem unkoordinierten Hinundherdrehen ab, im vergeblichen Versuch, meine Worte ungesagt zu machen. Leider ist es dazu längst zu spät. Ich scheine auch zu nichts anderem fähig zu sein, als ihn mit einem neuerlichen Schwall peinlichen Schwachsinns zu überschütten. »Ich meine, ich habe deine Serie geliebt. Also, total, echt. Es war meine ewige Lieblingsserie. Ich habe sie jahrelang geguckt, jeden Dienstag, während der ganzen Junior High. Und später gab’s dann diese It’s My Life-Wochenend-Marathons, und meine Freundinnen haben bei mir gepennt, und wir haben die ganz Nacht durch die Folgen angesehen. Du warst fantastisch als Dustin! Ich glaube, Staffel drei hab ich am meisten gemocht, oder vielleicht Staffel vier. Oh mein Gott, ich glaub’s einfach nicht, dass du jetzt vor mir stehst! Ich fass es nicht, dass ich dich getroffen habe.« Ich fasse es nicht, dass mein Mund nicht aufhört, diesen Unsinn von sich zu geben.

Bei jedem meiner überlauten Geständnisse zuckt sein Kiefer – ich weiß nicht, ob vor Scham oder Wut. Vielleicht beides. Ich wünschte, jemand würde mir eins über den Schädel geben, damit diese furchtbare Katastrophe endlich ein Ende nimmt. Ich habe einen hundertprozentigen Fan-Moment, und obwohl ich weiß, dass ich mich komplett zum Narren mache, kann ich nicht aufhören.

»Gibst du mir ein Autogramm? Kannst du meinen Stundenplan signieren? Oder den Campus-Plan? Oh! Jetzt weiß ich’s! Du kannst mich signieren!« Ich hebe meinen Rucksack auf und ebenso mein Smartphone samt Ohrhörern und stopfe es in meine Jeans. Dann versenke ich meine Hand in die Vordertasche meines Rucksacks und suche nach einem Stift. Ein ganzes Stiftsammelsurium kommt zum Vorschein, darunter ein Highlighter in Hot Pink. »Glaubst du, dass man die Farbe auf der Haut überhaupt sieht? Oh! Wie wär’s mit meinem T-Shirt? Ich meine, Pink passt jetzt nicht so unbedingt, aber ist ja eh egal, stimmt’s?«

Er legt seine Hand auf meine. Wieder eine Berührung. Und mit Absicht! Sein Blick sucht die Umgebung ab, dann beugt er sich zu mir herunter. »Ich signiere dir, was du nur willst, und ich finde deine Begeisterung wirklich toll. Aber ich versuche hier nicht aufzufallen, und du hast eine Lunge wie ein Cheerleader.« Er spricht sehr viel leiser als ich, und mir wird klar, dass er mich dazu bringen will, meine Aufregung zu dämpfen.

Ich lege eine Hand vor den Mund – aber die Worte quellen weiter hervor. »Stimmt. Sorry. Oh mein Gott. Tut mir ja so leid. Das ist sooo peinlich. Ich bin bloß … du hast ja keine Ahnung. Oder vielleicht doch. Ich hab überhaupt nicht gewusst, dass du so groß bist. Und von Nahem siehst du sogar noch besser aus. Ich hab immer gedacht, dass du Kontaktlinsen trägst. Du hast so hübsche Augen.« Auf das Stichwort hin kneife ich meine fest zu. »Ich muss jetzt wirklich die Klappe halten.«

Daxton gluckst leise. »Du hast auch hübsche Augen.«

Ich traue mich, ein Auge einen Spalt aufzumachen. Er grinst schief, nimmt mir einen Edding aus der Hand und kritzelt sein Autogramm auf meinen Rucksack. Nie im Leben werde ich diesen Rucksack wegwerfen.

»Hughes, wir müssen dann mal …!«, ruft jemand.

Daxton hebt einen Finger zum Zeichen, dass er es gehört hat, dann stülpt er die Kappe auf den Stift und gibt ihn mir zurück. »Ich muss jetzt in die Vorlesung, aber vielleicht sehen wir uns irgendwann.« Er zwinkert mir zu und geht davon, verfällt in Laufschritt, als er einem seiner Freunde die Tasche abnimmt.

»Ich bin Daxton Hughes begegnet, und er hat gesagt, dass ich hübsche Augen habe«, singe ich vor mich hin, während ich den Collegehof überquere. Ein paar Mädels, die unter einem Baum sitzen, schauen mich fragend an, aber das ist mir egal. Das ist überhaupt der allerbeste erste Tag, den es in einem Jurastudium geben kann. Wie peinlich ich mich benommen habe, wird mir erst bewusst, als ich in den Waschraum gehe, um mich vor meiner ersten Vorlesung ein wenig zu beruhigen. Ich habe Daxton Hughes dermaßen angehimmelt, und er war so nett zu mir! Er hat mich sogar berührt.

Ich hatte mir immer vorgestellt, dass ich total cool und lässig bleiben würde, wenn ich einen meiner Lieblingsstars träfe, dass ich sie wie ganz normale Menschen behandeln würde. Das war offenkundig ein Irrtum.

Ich bleibe viel zu lange im Waschraum, um mich wieder halbwegs präsentabel zu machen, und muss daher zum Hörsaalgebäude joggen. Als ich ankomme, bleiben nur noch zwei Minuten bis Vorlesungsbeginn. Das war’s dann wohl mit dem guten Platz. Aber ist schon okay. Visualisiere den Erfolg.

Ich betrete den Hörsaal durch die Hintertür, damit ich nicht am Prof vorbei muss. Schwitzend und in reichlich derangiertem Zustand sehe ich mich im Saal um. Nur noch wenige Plätze sind frei. Entschuldigungen murmelnd zwänge ich mich durch eine Reihe, und die Leute müssen ihre Füße und Taschen aus dem Weg räumen. Während ich dem letzten freien Platz immer näherkomme, stoße ich gegen ein ausgestrecktes Beinpaar und murmele ein weiteres Mal »Verzeihung«. Mein großartiges Erlebnis hat mich dermaßen beflügelt, dass ich den Gurt der Messenger-Bag völlig übersehe. Ich stolpere noch einmal und finde mich quer auf den ausgestreckten Beinen wieder.

»Was zum –« Ein Coffee-to-go-Becher landet auf dem Boden, die enthaltene Flüssigkeit spritzt mir ins Gesicht und aufs T-Shirt, und unter dem Platz, den ich anvisiert habe, bildet sich eine Pfütze.

Ich versuche, mich wieder aufzurichten, ohne die Hand in die Kaffeepfütze zu stemmen. »Oh mein Gott, es tut mir ja so –« Zum zweiten Mal innerhalb von zwanzig Minuten schaue ich in diese meerblauen Augen. »Das ist ja genau wie diese Szene aus der zweiten Staffel!« Ich passe auf, dass meine Stimme diesmal leiser klingt.

Daxton feixt, vielleicht erinnert er sich an die Szene, die ich meine: Wo das Mädchen stolpert und auf seinem Schoß landet, was schließlich dazu führt, dass sie in den nächsten drei Staffeln miteinander ausgehen.

Bevor er etwas sagen kann, meldet sich der Typ neben ihm zu Wort. »Mensch, Hughes, mit dir kann man auch nirgendwo hingehen. Immer kommt so ein Fangirl an und wirft sich dir an den Hals.«

Alle brechen in Gelächter aus. Daxton verdreht die Augen. »Sei nicht so ein Arsch, McQueen, und räum deine verdammte Tasche aus dem Weg. Ist deine Schuld, dass sie gestolpert ist.«

Er sortiert seine langen Beine und hilft mir hoch. Ich sinke auf den Platz neben ihm. Meine Kehle ist zugeschnürt, und meine Wangen brennen dank der zartfühlenden Kommentare seiner Freunde. Es ist zu spät, um einen anderen Platz zu suchen, und ich habe ohnehin schon zu viel Aufmerksamkeit erregt. Die Leute starren zu uns her und kichern. Ich muss meine Füße ausstrecken und meinen Rucksack auf dem Schoß halten, damit er nicht in der Kaffeepfütze versinkt. Zum Glück trage ich meine Haare offen und kann mein Gesicht dahinter verstecken, das so rot geworden ist wie ein Feuermelder.

»Sollen wir ’ne Wette darauf abschließen, wie viele Kontaktverbote du dieses Jahr einreichen musst?«, fragt ein Kumpel unüberhörbar.

Mein Magen dreht sich um, meine Haut fühlt sich heiß und feucht an. Um nicht in Tränen auszubrechen, bohre ich mir die Nägel in die Handteller. Die Sache auf der Wiese war ja schon peinlich genug, aber hier ist es noch schlimmer, denn ich werde in der nächsten Stunde nicht wegkönnen.

Zum Glück bittet der Professor um Ruhe, und das Lachen neben mir verstummt. Am Ende der Vorlesung starre ich stur auf meinen Rucksack, während ich die Bücher darin verstaue. Ein gefalteter Zettel fällt auf mein Pult.

»Bis nächste Woche.« Daxton grinst wieder so schief und schultert seinen Rucksack, dann trottet er seinen Freunden hinterher.

Ich warte, bis alle fort sind, dann entfalte ich den Zettel.

Genau wie in Staffel zwei. ;-)

Wie eine liebestrunkene Idiotin trage ich den Zettel das ganze Jahr bei mir und vergrabe ihn später in meiner Wäscheschublade, damit er nur ja nicht verloren geht. Jedes Mal, wenn Daxton mich grüßt, falle ich fast in Ohnmacht. Wenn er später als ich in die Vorlesung kommt, setzt er sich hinter mich, und wenn wir uns auf dem Campus begegnen, lächelt er mich an. Als wir im Seminar mit den Scheinprozessen beginnen, nimmt er stets die Position meines Antagonisten ein. Es fühlt sich im Grunde an wie ein Flirt.

Doch so freundlich diese Konkurrenz auch erscheint – wenn es hart auf hart kommt, ist sich jeder selbst der Nächste. Und als ich Daxton im Abschlussjahr um Hilfe bitte, muss ich zu meiner Bestürzung erfahren, dass er ein falsches Spiel mit mir treibt, um das zu bekommen, wofür ich so hart gearbeitet habe.

Womit bewiesen wäre, dass die ganze Sache mit Visualisierung und Erfolg am Ende umsonst gewesen ist.

1

Überraschung aus der Vergangenheit

Kailyn

Gegenwart

Das Problem mit einer Vertretung ist, dass sie die Regeln nicht kennt. Zum Beispiel Regel Nummer eins: Bevor du einen Termin ausmachst, lass dir den Namen des Klienten geben. Meine Assistentin Cara ist im Urlaub, und ich vermisse sie schon jetzt. Über meinen geheimnisvollen Klienten weiß ich nur, dass es sich um ein Ehepaar handelt, das einen Fonds für seine Tochter auflegen will. Ziemlich umfassendes Vorhaben. Und ich hatte null Zeit, um mich darauf vorzubereiten.

Mein Becher befindet sich auf halbem Weg zum Mund, als Caras Vertretung schwungvoll die Bürotür aufreißt. »Ihre Klienten sind da!«

Eine halbe Sekunde später führt sie ein Paar von Mitte bis Ende fünfzig herein. Wenige Schritte dahinter folgt ein sehr viel jüngerer Mann. Ein Mann, den ich kenne.

Es ist der Mann, dessen Teenager-Konterfei auf meinem It’s My Life-Becher prangt. Das Bild ist nicht unbedingt schmeichelhaft, da Daxton in Tränen aufgelöst und unter seinem Gesicht der Hashtag #mondayforever zu lesen ist.

Ich bin so erschrocken, dass ich fast meinen Becher fallen lasse. Es schwappt über den Rand und läuft mir über die Hände. Zum Glück ist es nur Wasser … Ja, ich trinke Wasser aus einem Henkelbecher. Ich mag Tassen mit Henkeln. Hastig stelle ich den Becher ab und reibe meine Hände am Rock trocken.

Das Geheimnis um die neuen Klienten ist also gelüftet. »Mr und Mrs Hughes, sehr erfreut, Sie kennenzulernen!« Mist. Ich habe meine Stimme nicht in der Gewalt.

Beim Händeschütteln stellen sie sich als Craig und Evelyn vor. Dann wende ich mich Daxton zu, der mich kaum beachtet und auf seinem Handy herumtippt. Plant wahrscheinlich, wieder mal einen Freund reinzulegen.

Er ist nach wie vor lächerlich gut aussehend, eigentlich ist er fast noch attraktiver als vor fünf Jahren. Die Schlaksigkeit seiner frühen Twen-Jahre ist einem beeindruckend gut gebauten Körper gewichen, den er sicherlich mehrmals in der Woche im Spiegel bewundert, wenn er Gewichte stemmt.

Abgesehen von seinem guten Aussehen hat Daxton diese magnetische Ausstrahlung, die viele Schauspieler besitzen. Das macht ihn zu einem perfekten Anwalt. Sein schönes Gesicht und seine alles beherrschende Präsenz schreien förmlich: Vertrau mir. Ich weiß es jedoch besser.

Ich verabscheue mich dafür, dass ich sein gutes Aussehen registriere. Mit einem verhaltenen Anwaltslächeln reiche ich ihm die Hand, obwohl ihn zu berühren das Letzte ist, was ich mir wünsche – okay, das war jetzt gelogen, denn in meinem Magen flattern eine Menge Schmetterlinge auf. Es macht mich rasend.

Während Daxtons Blick langsam über mich gleitet, warte ich darauf, dass er mich wiedererkennt. Seine Augen bleiben kurz an meinen Beinen hängen, wahrscheinlich an meinen auffällig gemusterten Nylons, mit denen ich das steife Business-Outfit aufpeppe. Als sein Blick endlich zu meinem Gesicht zurückkehrt, runzelt er beim Händedruck die Stirn. »Daxton Hughes. Nett, Sie kennenzulernen.« Dann sieht er den Becher auf meinem Schreibtisch und verzieht feixend das Gesicht. Arschloch. Er erinnert sich überhaupt nicht mehr an mich.

Ich ziehe meine Hand zurück und ärgere mich, weil seine Berührung wie ein Stromstoß durch meinen Arm und von dort weiter in einige unpassende Körperstellen gefahren ist. »Warum nehmen Sie nicht Platz?«, frage ich ein wenig atemlos.

Die Hughes lassen sich in die Sitzgruppe um den Couchtisch sinken. Ich wünschte nur, ich könnte diese verdammte Tasse irgendwie unauffällig machen, aber das Bild prangt unübersehbar auf beiden Seiten.

Daxton streckt seine langen Beine aus und steckt das Handy in die Tasche, worauf das ständige Summen eintreffender Nachrichten nur noch gedämpft zu hören ist.

»Meine Assistentin Laura hat angedeutet, dass Sie auf der Suche nach einem geeigneten Fonds für Ihre Tochter sind.« Ich klappe meinen Laptop auf … und sogleich erklingt die Titelmelodie von It’s My Life! Das Timing könnte nicht schlechter sein. Meine beste Freundin Holly schickt mir regelmäßig Meme und Videoclips zur Serie. Normalerweise ist das relativ egal, nur eben dann nicht, wenn mir zufällig der Star der Serie mit seinen Eltern gegenübersitzt.

Blind suche ich auf dem Keyboard nach der Mute-Taste, drehe jedoch lediglich die Lautstärke höher, was ein paar peinliche Sekunden lang dauert. »Entschuldigen Sie bitte vielmals.«

Daxton trägt ein amüsiertes Lächeln zur Schau. Vielleicht ist es sogar von Vorteil, dass er sich nicht mehr an mich erinnert. Ich falte die Hände auf dem Schreibtisch und wende mich an seine Eltern. Mein Nacken ist verschwitzt und mein Gesicht feuerrot. »Der Fonds, den Sie für Ihre Tochter auflegen wollen … Wie kann ich Ihnen dabei behilflich sein?«

Mrs Hughes hat ein freundliches Lächeln, ihr ergrauendes Haar ist zu einem stylishen Bob geschnitten. Sie trägt nur wenig und sorgfältig appliziertes Make-up. Keine topmodische, aber eine gut gekleidete Frau. Sie sieht einfach nett aus. Zu schade, dass sie so ein Arschloch zur Welt bringen musste. Ich hoffe, dass ihre Tochter netter ist.

»Wir möchten Emmes Ersparnisse sicher anlegen, und Daxton wollte gerne mitkommen.« Sie tätschelt seine Hand.

Daxton grinst seine Mutter an. »Ich hielt es für eine gute Idee, weil der Anwalt unserer Kanzlei, der sich um Fondsanlagen kümmert, im Urlaub ist, und sie nicht warten wollten.«

»Whitman & Flood ist eine der besten Kanzleien der Stadt. Sie sind hier in guten Händen«, verkünde ich stolz.

Evelyn nickt mit vollstem Einverständnis. »Irgendwie sehe ich sie immer noch als Kind, aber bald wird sie dreizehn, und dann lauern hinter der nächsten Ecke schon die achtzehn, und eh man sich’s versieht, sind sie ausgezogen.« Liebevoll schaut sie auf ihren Sohn. »Für Daxton haben wir keinen Fonds aufgelegt, als er in Emmes Alter war, aber das wäre wahrscheinlich für alle Beteiligten besser gewesen.«

»Daxton ist mit seinem Geld immer sehr verantwortungsbewusst umgegangen, abgesehen von diesem ersten Jahr am College«, wirft Mr Hughes ein.

»Dafür kann man ihm doch kaum einen Vorwurf machen. Daxton hat, als er in Emmes Alter war, bereits in einer Fernsehserie gespielt.« Unwillkürlich schielt sie auf meine Henkeltasse.

Daxton errötet leicht. »Mom, wir sind doch nicht hergekommen, um über meine Karr–«

»Ich bin sicher, Miss Flowers kennt sich mit stolzen Eltern bestens aus«, unterbricht ihn Mr Hughes.

Ich lächele zwar, aber seine Bemerkung schneidet mir ins Herz. Es ist ziemlich lange her, seit jemand auf meine Leistungen stolz war. Und ausgerechnet der Mann, der meine größte Leistung gestohlen hat, sitzt hier, in meinem Büro, und erinnert sich nicht mal mehr daran, wie er mich ausgenutzt hat.

»Bitte nennen Sie mich Kailyn«, sage ich mit starrem Lächeln.

Daxton runzelt die Stirn und legt den Kopf schief, während er mich betrachtet.

»Wo haben Sie studiert, Kailyn?«, fragt Evelyn.

»An der UCLA.«

»Ach, tatsächlich? Daxton war auch dort! In welchem Jahr haben Sie Ihren Abschluss gemacht? Lange kann es nicht her sein, Sie sind ja noch so jung.«

Ich muss mich sehr beherrschen, damit meine Hände sich nicht vom Schreibtisch erheben und wild durch die Gegend flattern. »Vor fünf Jahren.«

»Ach, du meine Güte! Daxton!« Sie fasst seinen Arm. »Da warst du auch dort! Habt ihr euch gekannt?«

»Wir sind uns möglicherweise ein- oder zweimal auf dem Campus begegnet.« Ich schaue Daxton an in der Erwartung, dass er meine Aussage bestätigt, dass er sich erinnert. Warte auf ein Zeichen dafür, dass er vielleicht ein wenig Reue zeigt ob der Unverschämtheit, die er sich geleistet hat. Es stimmt schon: Wir waren keine richtigen Freunde, aber wir haben in freundschaftlicher Konkurrenz zueinander gestanden. Wir haben uns im Seminar derart heftige Wortgefechte geliefert, dass der Prof bisweilen ein Machtwort sprechen musste. Damals hat sich das wie eine Art verbales Vorspiel angefühlt. Wir hatten unseren Spaß – so jedenfalls habe ich es gesehen.

Daxton zieht mit einem Mal die Augenbrauen hoch. »Ach du heilige Scheiße!«

»Daxton!« Ein mahnender mütterlicher Klaps auf den Arm.

»Wow. Kailyn. Ich hab dich zuerst gar nicht erkannt.« Er streicht mit dem Finger über seine Unterlippe, während er mich auf eine Weise mustert, die mich stark an damals erinnert. »Du siehst so anders aus. Gut, meine ich. Du siehst toll aus.«

Ich lächele verhalten und rücke meine Brille zurecht, während ich mir wünsche, ich hätte heute die Kontaktlinsen eingesetzt. »Tja, T-Shirts und Jeans haben im Business nichts zu suchen, wie du ja sicher weißt.«

Sein Blick gleitet an mir herab. »Du hast mir gefallen in Jeans und T-Shirt.«

»Hattet ihr Seminare zusammen? Ward ihr befreundet?« Seiner Mutter scheint die Spannung, die zwischen uns herrscht, vollkommen zu entgehen.

»Wir hatten ’ne Menge Seminare zusammen«, erwidert Daxton, während sich unsere Blicke ineinander bohren.

Warum ist es hier auf einmal so heiß? »Aber Freunde waren wir eigentlich nicht.« Ich nehme einen Kugelschreiber zur Hand, damit ich nicht an meinem Blusenkragen herumzerre, der mir plötzlich zu eng vorkommt.

Dax legt den Kopf zur Seite und mustert mich neugierig. »Wir waren freundschaftliche Rivalen, oder etwa nicht? Du hast mich stets auf Trab gehalten, du warst den anderen, also auch mir, immer zwei Schritte voraus. War schon heftig, gegen Schönheit und Verstand anzutreten.«

Ich stoße ein freudloses Lachen aus. Einst hatte ich fast geglaubt, dass wir Freunde seien, aber da hat mich Daxton rasch eines Besseren belehrt. »Wir waren Rivalen und sonst gar nichts. Freunde tricksen sich am Allgemeinen nicht aus, indem sie einem den Spitzenplatz stehlen, nicht wahr?«

»Was hab ich dir gestohlen?« Sein Blick ist finster geworden. »Ich hab mir für diese Position den Arsch aufgerissen. Nach fünf Jahren kannst du doch nicht mehr sauer auf mich sein!«

Das kann ich sehr wohl, besonders weil er so tut, als hätte er besagte Position mit fairen Mitteln ergattert. Während wir unser Duell ausfechten, keimt kurz in mir der Wunsch auf, ich hätte mich nach dem Studium auf Strafrecht gestürzt statt auf Anlagerecht. Dann wüsste ich jetzt, wie ich mit einem Mord durchkommen kann.

Als ich ein Räuspern vernehme, wird mir plötzlich bewusst, dass ich mich total unprofessionell verhalte, und dass dieser kindische Schlagabtausch vor den Augen meiner potenziellen Klienten stattfindet, die zufälligerweise Daxtons Hughes’ Eltern sind.

»Also, ihr beide seid schon ein paar Hitzköpfe, was?« Seine Mutter kichert in sich hinein.

Ich will eigentlich nicht zurückstecken. Wenn ich aber so weitermache, könnte es in einer schrecklichen Blamage enden. Außerdem gönne ich Daxton die Genugtuung nicht, dass er merkt, wie sehr er mich aufwühlt. Immer noch. Andererseits wäre dies die erste Gelegenheit seit fünf Jahren, ihn zur Rede zu stellen … Mit einer gewaltigen Anstrengung bezwinge ich meine Wut und setze ein Lächeln auf. »Daxton und ich haben immer um die Spitzenposition im Seminar konkurriert. Am Ende war ich dann die Zweite. Aber Sie sind ja nicht hier, um über unser Studium zu sprechen. Lassen Sie uns über den Fonds für Emme reden und wie Sie ihn aufteilen wollen. Ich bin sicher, wir können einen tollen Plan entwerfen, der es ihrer Tochter ermöglichen wird, ihr Geld während der nächsten Jahre vernünftig zu verwalten.«

In der nächsten Stunde gehe ich die Wahnsinnssummen durch, die dieses knapp dreizehnjährige Mädchen in sechs Jahren beim Werbefilm verdient hat. Ganz, ganz kurz wünsche ich mir, meine Eltern hätten sich mehr in Richtung Hollywood orientiert. Und dann schaue ich Daxton an und weiß wieder, warum es nicht guttut, in diese Falle zu tappen, die dich glauben lässt, du seist über jeden Tadel erhaben. So sehr, dass er völlig davon überzeugt ist, sich alles, was er mir gestohlen hat, aus eigener Kraft erarbeitet zu haben.

Sobald die Eckdaten geklärt sind, teile ich seinen Eltern mit, dass ich ihnen in einigen Wochen die Verträge vorlegen kann.

Auf dem Weg zur Tür nimmt Dax eine meiner Visitenkarten vom Tisch. »Sieht aus, als hättest du dich hier prächtig arrangiert.« Er schaut sich in meinem Büro um.

»Ist eben eine klasse Kanzlei.« Spuren meiner Persönlichkeit lassen sich lediglich an den kuriosen Erinnerungsstücken ablesen, die auf meinem Schreibtisch herumstehen und die Wände verzieren.

»War wirklich nett, dich mal wiederzusehen, Kailyn«, sagt er und schaut dabei nicht die Wände an. Wieder einmal gleitet sein Blick an meinen Beinen herab, an meiner gemusterten Strumpfhose.

»Ebenso«, gebe ich zurück, aber es klingt eher nach: Verpiss dich.

Daxton besitzt die Frechheit, mir zuzuzwinkern, während er meine Karte in die Brusttasche schiebt und seinen Eltern folgt. Sobald er fort ist, zeige ich der Wand den Stinkefinger und fluche, was das Zeug hält. Ziemlich unreifes Verhalten. Dieser Mann bringt meine schlechtesten Eigenschaften zum Vorschein. Ich wünschte nur, ich könnte fünf Minuten mit ihm allein verbringen und ihn richtig zur Rede stellen, ihm den Arsch aufreißen für das, was er mir angetan hat.

Dann schaue ich auf die Uhr und muss feststellen, dass ich zu spät zum Lunch dran bin. Normalerweise wäre das kein Problem, da ich meistens nicht auswärts esse, sondern saure Gummibärchen oder irgendwelchen anderen Naschkram aus meiner Schublade in mich hineinstopfe – was natürlich nicht sonderlich gesundheitsbewusst ist, meine Energiereserven jedoch wieder auflädt, wenn ich keine Lust auf Lunch habe.

Heute treffe ich meine beste Freundin in einem angesagten Bistro, und am Nachmittag habe ich einen Termin nach dem anderen; wenn ich mich verspäte, bleibt mir weniger Zeit mit ihr, und nach dem Meeting mit den Hughes muss ich dringend Dampf ablassen. Ich texte ihr also, dass ich auf dem Weg bin. Holly sitzt schon im Patio, als ich ankomme. Sie drückt sich vom Stuhl hoch und zieht mich an sich. »Schön, dass du Zeit hast.«

Holly fühlt immer den Drang, einen zu umarmen. Obwohl ich das weiß, dauert es einen kleinen Moment, bis ich die Geste erwidere. »Na klar. Für dich doch immer.«

Holly und ich sind Freundinnen, seit ich im Alter von drei Jahren ihre Nachbarin wurde. Abgesehen von der Zeit, als sie in Santa Barbara studierte, haben wir immer in derselben Stadt gelebt.

»Du wirst nicht glauben, wer heute Morgen bei mir im Büro aufgetaucht ist«, sage ich und lasse mich in den anderen Stuhl fallen.

»Soll ich raten?« Holly schmunzelt verschmitzt und zieht fragend die Augenbrauen hoch.

»Du kannst es ja mal versuchen, aber ich glaub nicht, dass du Erfolg haben wirst.«

»Oho, jetzt bin ich aber wirklich gespannt! War es etwa der Typ von der Juristentagung im letzten Monat, der dir an die Anwaltswäsche wollte?«

Ich verdrehe die Augen. »Oh Gott, nein, und außerdem war das ein ganz schlechtes Wortspiel. Versuch’s noch mal.«

»Sag es doch einfach. Du bist so zappelig, dass es schon was Besonderes sein muss.« Sie deutet auf meine Hände.

Ich bin dabei, meine Serviette zu etwas zu falten, das starke Ähnlichkeit mit einem Schwert oder Messer hat.

Bevor ich etwas erwidern kann, tritt der Kellner an unseren Tisch. Keine von uns muss einen Blick in die Speisekarte werfen. Wir sind so oft hier, dass wir sie auswendig kennen.

Sobald der Kellner die Bestellung aufgenommen hat, bedeutet Holly mit einer Handbewegung, dass ich fortfahren soll. Erwartungsvoll stützt sie das Kinn auf die Faust.

»Daxton Hughes.« Auf ihr verständnisloses Blinzeln setze ich hinzu: »Du weißt doch, der Kerl aus It’s My Life. Die Serie, die wir uns als Quasi-Religion jeden Dienstag reingezogen haben, jahrelang.«

»Oh, ich weiß durchaus, wer Daxton Hughes ist. Du hast ja praktisch nonstop von ihm gesprochen während deiner drei Jahre Jura – die zehn Jahre davor übrigens auch.«

»Na ja, und am Ende hat er sich als Arschloch erwiesen, nicht wahr?«, brumme ich. »Und daran hat sich in den vergangenen fünf Jahren nicht das Geringste geändert.«

»Oh? Worum ging’s denn? Warum ist er zu dir gekommen? Oooh, ich weiß! Hat er etwa ein illegitimes Kind der Liebe gezeugt, das er vor der Welt geheim halten will?«

Ich schaue mich nervös in dem Restaurant um und bedeute ihr mit einer Handbewegung, etwas leiser zu reden. Bei der Besprechung ist es nicht um Daxtons persönliche Belange gegangen, ich kann Holly also ruhig davon berichten – aber ich möchte es nicht unbedingt öffentlich ausrufen. »Nein, er war mit seinen Eltern da. Sie wollen einen Familienfonds einrichten.«

»Das ist allerdings sehr viel weniger aufregend als ein uneheliches Kind«, gibt Holly zu. »Aber irgendwie nett, dass er seinen Eltern dabei zur Seite steht.«

»Nenn Daxton Hughes bloß nicht nett! Er ist das Gegenteil von nett.«

Holly muss sich ein Grinsen verkneifen. »Lass es ruhig raus. Du weißt doch, dass du’s willst.«

Ich funkele sie wütend an, aber sie hat ja so recht. Und ich bin dermaßen in Rage. »Und weißt du, was noch schlimmer ist? Er hat mich zuerst nicht mal erkannt.« Ich fange an, mit den Armen zu rudern, wie ich es immer tue, wenn ich gereizt bin. »Wir haben drei Jahre lang zusammen Jura studiert.«

»Und das ist fünf Jahre her.«

»Trotzdem meine ich, dass er sich an den Menschen erinnern sollte, den er mit voller Absicht reingelegt hat.« Ich packe die Tischkante und beuge mich nach vorn. »Er wollte nicht glauben, dass ich immer noch wütend bin, weil er mir den Spitzenplatz weggenommen hat!«

Hollys Mundwinkel zuckt leicht belustigt. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass du den Spitzenplatz für ewigen Groll bekommen würdest.«

»Das ist nicht lustig! Du sollst Mitleid mit mir haben!«

»Ich habe Mitleid. Aber ihr beide wart, soweit ich mich entsinne, immer im Clinch.«

»Er hat meine Hausarbeit zu spät eingereicht!«

»Warum hast du sie nicht einfach per Mail geschickt?«

»Mein Prof war altmodisch und hatte mit moderner Technologie nichts am Hut. Wenn Daxton sie rechtzeitig eingereicht hätte, wie er es mir versprochen hatte, wären mir keine Punkte wegen Verspätung abgezogen worden, und mein Notendurchschnitt wäre höher gewesen als seiner. Ich habe deswegen sogar beim Prof vorgesprochen, aber er sagte, er könne nichts mehr daran ändern.« Ich lehne mich zurück, als die Speisen vor uns auf den Tisch gestellt werden. Dann wickele ich das Besteck aus und attackiere eine Süßkartoffel-Pommes.

»Weißt du, Kay, vielleicht solltest du dir eine von deinen It’s My Life-Daxton-Barbiepuppen vornehmen und mit ihr einen Voodoo-Zauber veranstalten. Dann geht’s dir vielleicht besser.«

Ich verdrehe die Augen. »Ich habe doch nicht gedacht, dass ich ihn jemals wiedersehe! Und er war so unverschämt und selbstgefällig und hat mich auch noch angeflirtet und … bäh! Und er sieht immer noch so heiß aus und hat nach wie vor alle seine Haare. Ich hasse ihn!«

»Soll das heißen, dass wir am Wochenende die It’s My Life-Wiederholung ausfallen lassen?«

Ich werfe Holly einen sengenden Blick zu. »Diese Serie wird im Leben nicht mehr geschaut. Ach ja, und vielen Dank für den Clip, den du mir heute Morgen geschickt hast. Er kam gerade in dem Moment an, als die Hughes mein Büro betraten.«

»Oh mein Gott! Wie wahrscheinlich ist das bitte, dass das gerade in dem Moment passiert ist?«

Meine Augen versenden Todesstrahlen. »Ich wäre beinahe vor Scham im Boden versunken.«

»Bist du dir sicher, dass du die Wiederholung nicht schauen willst? Könnte doch heilsam sein, wenn du ihn anschreist, und sei es auf dem Bildschirm.«

»Ha-ha-ha, Holly, ha-ha-ha.« Langsam lasse ich meinen Atem ausströmen und fahre mir mit den Händen über die Beine. Ich muss wirklich runterkommen. »Okay, ich glaube, jetzt hab ich genug Dampf abgelassen. Sorry. Dieser Mann macht mich einfach rasend. Themawechsel. Wie läuft’s bei der Arbeit? Was macht dein Adoptionsfall? Alles in Ordnung an der Front?«

Holly lächelt, doch es wirkt ein wenig traurig. »Körperlich geht es Hope besser.«

»Oh-oh. Das hört sich nach einem versteckten ›Aber‹ an.« Das ist jetzt genau das, was ich brauche: eine Ablenkung von Daxton Hughes, seinem hinreißenden Grinsen und seiner Arschloch-Attitüde.

»Leider hat sich die biologische Mutter anders besonnen, und nun gibt es ein Problem mit den Adoptionspapieren.«

Ich setze mich kerzengerade hin. Holly ist Sozialarbeiterin und häufig mit Sorgerechtsfällen befasst. »Was für ein Problem?«

»Der Anwalt, der die Verträge aufgesetzt hat, hat dabei so einiges übersehen, und die Adoptiveltern, die Lipsons, haben die Schlupflöcher nicht bemerkt. Es sieht ganz danach aus, als ob die biologische Mutter durchaus das Sorgerecht für Hope bekommen könnte.«

Das klingt gar nicht gut. Hopes Mutter ist eine ehemalige Drogenabhängige, und wenn sie auch während der Schwangerschaft abstinent geblieben ist, so neigt sie doch dazu, aufgrund ihrer langjährigen Sucht wieder in alte Verhaltensmuster zu fallen, wenn der Stress zu groß wird. Und leider, leider geht es ihr beim Sorgerecht für Hope vor allem um die monatliche Sozialhilfe. Das Kind allein aufzuziehen, dazu wird sie nicht in der Lage sein.

Ich trommele auf die Tischkante, während ich die Optionen der Lipsons durchgehe. Da ich selbst im Alter von drei Jahren adoptiert worden bin und aus einer Ursprungsfamilie stamme, wo die Liebe allein dem monatlichen Scheck galt, empfand ich dieses Zerrbild elterlicher Zuneigung als reichlich bittere Pille. »Was, wenn ich den Fall kostenlos übernähme?«

Holly schüttelt den Kopf. »Du strebst doch an, Partner in deiner Kanzlei zu werden. Du hast keine Zeit, auch noch kostenlose Vertretungen zu übernehmen. Außerdem liegt es viel zu nah an den Erfahrungen, die du selber gemacht hast.«

»Was genau der Grund ist, warum ich den Fall übernehmen sollte. Wer wäre denn besser geeignet, die Adoptiveltern zu vertreten, als jemand, der die Lücken im System am eigenen Leib erfahren hat? Außerdem könnte ich mir damit auf lange Sicht die Partnerschaft ergattern. Ich werde mal mit Beverly reden, aber ich glaube schon, dass sie die Vorteile erkennt.«

»Bist du sicher? Ist eine Menge, die du dir da zusätzlich aufladen willst.« Aber Hollys hoffnungsvolle Miene bestärkt mich nur in meiner Entschlossenheit. Zwar habe ich in den letzten Jahren hauptsächlich in der Fondsberatung gearbeitet, dabei aber das Familienrecht nie aus den Augen verloren. Neben meiner Arbeit habe ich zahlreiche Adoptionsverträge und -fälle studiert. Es ist so eine Art Hobby, und das, wie ich mir eingestehen muss, ist ein wenig traurig, denn mein Leben scheint ohnehin nur aus Arbeit zu bestehen.

»Und wenn es bloß dazu führt, dass ein kleines Mädchen in einer liebevollen Familie bleiben kann, dann ist es meinen Einsatz wert. Ich muss nur alle meine Freitagabendverabredungen absagen.« Ich grinse unverschämt und hoffe, die Stimmung ein bisschen gehoben zu haben.

Jetzt ist die Reihe an Holly, ihre Augen zu verdrehen. »Das kannst du doch nicht machen! Dann werde ich total vereinsamen!«

Wir brechen in Lachen aus.

Holly pikt mit ihrem Strohhalm nach der Zitronenscheibe in ihrem Glas. »Aber jetzt mal ernsthaft: Wir sollten mal darüber nachdenken, uns irgendwann mit echten Männern zu verabreden.«

Ich schnaube verächtlich. »Die Typen sind doch viel zu anstrengend. Immer wollen sie etwas von einem, zum Beispiel deine Zeit und deine Energie.«

»Und Blowjobs, nicht zu vergessen.« Holly kichert vor sich hin.

»Ja, all das, was ich nicht übrighabe oder nicht freiwillig geben will. Außerdem bin ich Katzenbesitzerin. Die sind nicht so schwierig im Unterhalt.« Linus und Shirley sind meine beiden süßen Stubentiger. Sie werden nur problematisch, wenn ich Bacon brate, ansonsten benehmen sie sich vorbildlich.

Holly spießt eine Pommes auf und richtet sie auf mich. »Wenn du Daxton jemals wieder über den Weg laufen solltest, könntest du ihm doch ’ne Chance geben. Soweit ich gehört habe, soll das die beste Methode sein, um alter Wut den Garaus zu machen.«

»Da ich nicht vorhabe, ihm jemals wieder über den Weg zu laufen, sieht es so aus, als könnte ich an meiner Wut festhalten.«

2

Waisen

Daxton

Sechs Monate später

Ich starre auf ein dämliches Meme – von mir. Das Bild ist über fünfzehn Jahre alt, kursiert aber immer noch in den Tiefen des Internets. Es ist eines von diesen »Ich hasse Montage«-Memes und zeigt mein flennendes Gesicht, das ziemlich hässlich ist.

Mein Kollege – und enger Freund – hat es mir in aller Frühe geschickt, weshalb es die erste Mail ist, die ich geöffnet habe. Felix McQueen, Strafverteidiger bei Freeman & Partner, sendet mir mindestens einmal im Monat so eine E-Mail, die er mit dem Betreff Wichtig tarnt. Wir sind seit der Studienzeit dick befreundet, deshalb lasse ich mir seinen Unsinn gefallen.

Außerdem schickt er wirklich oft wichtige Mails. Felix hält sich für verdammt witzig, doch so eine Mail ist für mich stets eine Mahnung, dass ich meiner Zeit als TV-Kinderstar niemals entkommen werde, egal, was ich seitdem erreicht habe.

Es klopft an meiner Bürotür. Hastig schließe ich die Mail. Nicht, dass es irgendetwas bringen würde. Jeder in der Kanzlei hat das verdammte Meme schon einmal irgendwann gesehen. Felix hat einen Kaffeebecher mit meinem Konterfei bedrucken lassen und trinkt bevorzugt bei Meetings aus dem Ding. Weil er nämlich ein Arsch ist. Aber egal, immerhin bringt mir diese Schmach nach wie vor lukrative Vorteile. Und ich bin gegen diese Art Mobbing immun. Meistens jedenfalls.

Ich grüße Felix, der seinen Kopf zur Tür hereinsteckt, mit dem Stinkefinger. »Danke, dass du so ein Arschloch bist, Arschloch.«

Er zieht ein Gesicht, das ich nicht so recht deuten kann. »Tut mir leid wegen der blöden Mail. Hätte sie gar nicht erst geschickt, wenn ich’s gewusst hätte.«

»Wenn du was gewusst hättest?«

Er murmelt etwas Unverständliches, seine Miene ist ernst, beinahe schon überzeugend in ihrer Reue. »Ich muss mit dir reden.«

Ich lehne mich zurück und verschränke die Arme vor der Brust. Sorge macht sich in meinem Magen breit, die ich mir nicht erklären kann. Ich versuche, diese Empfindung mit Sarkasmus abzutun. »Ich weiß schon, dass ein Wochenende mit einem Vierundzwanzig-Stunden-Marathon von It’s My Life bevorsteht. Und nein, bau bloß nicht drauf, dass ich ihn mit dir angucke.«

Felix schließt die Tür und nestelt an seiner Krawatte. So ruhelos kenne ich ihn gar nicht.

»Was ist los? Hast du den Fall Kent verloren?« Die Jury berät sich schon seit zwei Tagen. Bald werden sie eine Entscheidung fällen, aber der Ausgang ist noch völlig offen.

Felix schüttelt den Kopf. Er tritt zu mir hinter den Schreibtisch, wobei er es vermeidet, mir in die Augen zu schauen. »Es geht nicht um einen Fall.«

»Na, um was denn dann? Was soll das?« Ich sehe forschend zu ihm hoch.

Er kratzt sich am Kinn und lässt seinen angehaltenen Atem ausströmen. »Deine Eltern hatten einen Autounfall.«

Unglaube prickelt unter meiner Haut, aber Wut gewinnt die Oberhand über alle anderen Gefühle. »Keine blöden Spielchen, Felix.«

Nervös leckt er sich die Lippen; ich sehe seinen Kehlkopf hüpfen, als er schluckt. »Ich wünschte, es wäre ein Spielchen, aber das ist es nicht, ganz und gar nicht.«

Ich stehe so abrupt auf, dass mein Stuhl rückwärts rollt und gegen das Fenster stößt. »Geht es ihnen gut? In welchem Krankenhaus sind sie? War es ein schlimmer Unfall?«

Die Antwort, die ich nicht hören will, ist Felix bereits vom Gesicht abzulesen. »Er war tödlich. Es tut mir so leid.«

Der Satz saust wie ein Querschläger in meinem Kopf hin und her, das Wort tödlich trifft mich mitten ins Herz. »Sie sind … tot? Beide?« Das Blut rauscht so laut in meinen Ohren, dass ich fast nicht mehr hören kann, was er sagt.

»Sie waren auf dem Freeway unterwegs. Ein Sattelschlepper hat sich quergestellt.«

»Woher hast du das? Warum weißt du Bescheid?« All das fühlt sich an, als liefe es gleichzeitig in Zeitlupe und schnellem Vorlauf ab. Mir schwindelt, während ich versuche, das Furchtbare zu begreifen.

»Die Polizei ist hier. Ich dachte, es wäre besser, wenn du es von einem Menschen hörst, der dir vertraut ist. Es tut mir so verdammt leid, Dax. Die Polizei sagt, sie seien sofort tot gewesen. Deine Eltern haben nicht leiden müssen.«

Plötzlich geben meine Knie nach. Ich greife hinter mich nach meinem Stuhl und lasse mich schwer hineinfallen. Entsetzt fahre ich mir übers Gesicht, während die Nachricht in meinem Kopf umherschwirrt, ohne wirklich einzusickern. Dann ein bestürzender Gedanke: Dieser Verlust betrifft nicht nur mich. Diese Leere in meiner Brust wird auch ein anderer, schwächerer Mensch erleiden. »Emme?«

»Sie ist in der Schule. Sie weiß es noch nicht.«

Ich wühle in meinem Schreibtisch nach den Autoschlüsseln. »Ich muss … sofort zu ihr. Sie darf es nur von mir erfahren … nicht von einem Fremden.« Arme Emme. Ich bin dreißig Jahre alt und am Boden zerstört. Wie schrecklich wird es erst für meine kleine Schwester sein? Wie soll sie ohne Eltern existieren?

Ich stürze hinter meinem Schreibtisch hervor. Felix stellt sich vor die Tür, versperrt mir den Weg. »Mann, Dax, in dem Zustand kannst du doch nicht fahren!«

Vor Wut fast außer mir, packe ich ihn am Revers. »Sie waren ihr Ein und Alles, ich muss zu ihr, und du gehst mir verdammt noch mal aus dem Weg!«

Felix legt seine Hände auf meine Schultern, begegnet meinem Zorn mit Gelassenheit. »Weiß ich doch, Mann. Ich fahr dich. Du musst einen klaren Kopf behalten, okay? Du bist alles, was deine Schwester noch hat. Wenn du ausrasten musst, dann tu es jetzt, denn wenn sie dich sieht, musst du dich wieder unter Kontrolle haben.«

Er hat recht. Ich bin alles, was Emme noch hat. Und sie ist alles, was ich habe. Ich weiß nicht genau, für wen von uns beiden es schlimmer ist.

Bevor ich mein Bürozimmer verlasse, rede ich noch mit den Cops. Felix lag völlig richtig damit, dass er es mir zuerst gesagt hat. Die Bullen haben apathische Mienen, sie sind es gewohnt, entsetzliche Nachrichten zu überbringen. Ich kotze in den Papierkorb neben meinem Schreibtisch, als ich erfahre, dass der Sattelschlepper ein Tanklaster war, der beim Aufprall explodiert ist. Das ist auch der Moment, in dem ich einen Nervenzusammenbruch habe.

Ich habe keine Erinnerung daran, dass ich mich nach dem Fortgang der Cops im Waschraum gesäubert habe. Ich kann mich nicht erinnern, wie ich mit Felix in den Fahrstuhl gestiegen bin. Oder in seinen Wagen.

Als wir an der Schule ankommen, sage ich Felix, dass er nicht zu warten braucht. Wenn wir einen Wagen benötigen, können wir Uber anfunken. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, und auch wenn Felix mein bester Freund ist, muss ich zunächst mit Emme allein sein.

Mein ganzer Körper fühlt sich an wie einbetoniert. Es fällt mir so schwer, mich zu bewegen, zu denken. Die Schmerzen in meiner Brust sind teuflisch, und ich schaffe kaum die Treppe zum Hauptportal.

Es ist kurz vor der Mittagspause. Ich sitze neben einem mürrischen Zwölfjährigen, der – nach der Art zu schließen, wie er seine Schultern hochzieht – offensichtlich eine saftige Standpauke erwartet, während Emme aus der Cafeteria geholt wird.

»Daxton? Was machst du denn hier?« Ich schaue auf und sehe Tante Linda, die Schwester meiner Mutter, hinter dem Tisch der Schulsekretärin. Im gleichen Moment schrillt die Pausenglocke. Lindas fragendes Lächeln erlischt, als sie mich genauer in Augenschein nimmt.

Meine Augen sind mit Sicherheit rot gerändert und meine Miene versteinert. Ich drücke mich aus dem Stuhl mit den halb zerfetzten Armlehnen hoch und fahre mir durch die Haare. »Ich muss mit Emme sprechen.«

»Ist alles in Ordnung?«, fragt Linda, plötzlich besorgt.

»Nein. Nichts ist in Ordnung.«

Bevor ich deutlicher werden kann, höre ich Emmes aufgeregte Stimme, und mein Magen zieht sich noch mehr zusammen. »Dax?«

Ich drehe mich um. Sie steht bereits im Raum. Ich wünschte, ich könnte die Freude, die sie momentan empfindet, irgendwie konservieren, denn was ich ihr jetzt zu sagen habe, wird ihr das Lebensglück nehmen. Mit einem strahlenden Lächeln und dunklen Augen, die vor Aufregung funkeln, kommt Emme leichtfüßig auf mich zu und umarmt mich. »Bist du hier, um mit mir essen zu gehen?«

Das verspreche ich meiner kleinen Schwester nämlich jedes Mal, wenn wir uns sonntags zum Mittagessen bei den Eltern sehen, aber aufgrund meiner Arbeit fällt es mir schwer, mein Wort zu halten. Ich mache mir Vorwürfe, dass ich kein sonderlich netter großer Bruder bin – viel zu sehr mit meinem Leben beschäftigt, um außerhalb des Familienkreises von meiner kleinen Schwester Notiz zu nehmen.

Ich drücke sie ganz fest an mich und hasse mich dafür, dass ich im nächsten Augenblick ihre Welt zerstören werde. Mein Schmerz ist jetzt so brutal heftig geworden, dass er am Innern meines Herzens kratzt.

Emme löst sich von mir. Auf ihrem Gesicht steht ein erwartungsfrohes Lächeln. Ich möchte ihr diese Unschuld erhalten, möchte sie noch einige Momente vor der rauen Wirklichkeit der Welt beschützen.

Doch allmählich ändert sich ihr Gesichtsausdruck, und die braunen Augen mustern mich argwöhnisch. »Was hast du?«

Nein, ich kann sie nicht davor schützen. Es gibt nichts, was diesen schweren Schlag mildern kann. »Es ist was mit Mom und Dad.«

»Was?« Emme schaut sich um, als erwarte sie, dass die beiden jeden Augenblick auftauchen.

Meine nächsten Worte werden ihr Leben unwiderruflich verändern. »Sie hatten einen Autounfall.«

Alle Farbe weicht aus ihrem Gesicht. Ich wünschte, wir wären woanders. Egal wo. Wo uns niemand sieht. In einem gemütlichen Zimmer, nur wir beide.

Emme hebt die tiefrot lackierten Nägel an ihren Mund. »Geht es ihnen gut?«

Mein Kopf fühlt sich tonnenschwer an. »Sie sind von uns gegangen, Emme.«

»Gegangen?«, wiederholt sie.

»Sie sind … tot. Sie sind bei dem Unfall gestorben.« Die Worte brechen aus mir hervor wie scharfkantiger Rollsplitt.

Emmes Hand fällt herab und landet auf ihrer Brust. Es sieht aus, als wollte sie ihr Herz am Zerbrechen hindern. »Nein.« Heftig schüttelt sie den Kopf. »Sie haben mich heute Morgen zur Schule gebracht. Ich musste zum Zahnarzt. Sie waren eben hier. Sie waren eben noch hier!« Ihre Stimme wird schrill, ihre Angst verwandelt sich in Zorn, als ich den Arm ausstrecke, um sie zu trösten.

»Nein!« Sie schubst mich von sich.

»Emme!« Tante Lindas Augen sind ebenfalls schreckgeweitet.

Ihre Anwesenheit hatte ich ganz vergessen.

»Es tut mir so leid, Em.«

Ich ergreife ihre Fäuste, als sie versucht, mich zu schlagen, und ziehe sie an meine Brust. Ich will Emme vor der Qual bewahren, die in dem Moment, als sie die Wahrheit erkennt, von ihr Besitz ergreift.

»Nein, Dax, nein.« Emmes Widerstand erlischt und sie sackt in meinen Armen zusammen, bricht in Schluchzen aus, schreit ihr Leid in die Welt. »Sie waren doch eben noch da! Sie können nicht weg sein.«

Und ich kann ihr nur sagen, wie leid es mir tut. Immer und immer wieder.

3

Betäubt

Daxton

Die Beerdigung brennt wie Zitronensaft in einer frischen Wunde. Emme ist total durcheinander. Ich bin total durcheinander. Ich versuche, ihr Anker zu sein, der uns beide davor schützen soll, in die stürmische See abzudriften: So überstehen wir den Tag. Wir haben Hunderte von Händen geschüttelt, uns ebenso oft umarmen und kondolieren lassen, doch das Gefühl, dass wir schwimmen und ins Ungewisse treiben, lässt sich nicht abschütteln.

Ich hocke in einem Sitzsack auf dem Boden und starre an Emmes Zimmerdecke, die mit einem fluoreszierenden Sonnensystem verziert ist. Ich frage mich, wie schlimm der Schmerz noch werden kann, bevor es wieder besser wird. Bevor das alles leichter zu ertragen ist.

Emme wälzt sich in ihrem Bett auf die Seite; unter ihrem Kinn steckt das ausgestopfte Lama, das sie seit Jahren nicht mehr angeschaut hat. »Dax?«

Die Nachttischlampe wirft Schatten auf ihr Gesicht, und ihre dunklen Augen liegen wie in tiefen Höhlen. Seit Mom und Dad verstorben sind, kann sie nur noch bei Licht schlafen.

»Was ist, Schwesterherz?«

Schon wieder hat sie die Finger am Mund. Emme hat sich die Nägel bis auf die Haut abgebissen, und nun bluten die Nagelränder. Sie ist so verängstigt, dass sie nicht allein schlafen will.

»Mom musste meinen Zahnarzttermin verschieben, weil ich an dem Morgen ein Referat halten sollte. Deshalb haben sie mich zur Schule gefahren!«

»Ach, Em, du kannst dir doch nicht die Schuld dafür geben!«

»Aber sonst wären sie vielleicht noch da. Vielleicht hätten sie dann keinen Unfall gehabt …« Wieder bricht sie in Tränen aus, wie schon so oft in den letzten Tagen. Mit dem Lama wischt sie sich das Gesicht ab. Emme sieht wieder aus wie das kleine Kind, dessen Kratzer ich vor Jahren gelegentlich verarztet habe. Diese Wunde lässt sich jedoch nicht mit einem Pflaster verschließen – sie ist zu tief.

Ich möchte meine Schwester trösten, ihr sagen, dass sie versuchen soll, nicht nur daran zu denken. Sie soll sich vielmehr an die guten Zeiten erinnern. Doch Emme ist in dieser Hinsicht wie ich. Sie kann nicht aufhören, an das Schreckliche zu denken, und meine Weigerung, darüber zu sprechen, wird ihr auch nicht helfen. Ich streiche ihr die Haare aus dem Gesicht, wie ich es meine Mutter eine Million Mal habe tun sehen. Ich wünschte, ich wüsste die richtigen Worte und könnte Emme so sanft umarmen, wie Mom es einst tat.

»Sie hätten ebenso gut auf dem Weg zum Freeway an einem Café anhalten können, Em. Wenn sie nur eine Minute früher oder später nicht an dieser Stelle gewesen wären, dann hätte es jemand anderen getroffen. Es ist nicht deine Schuld.«

»Ich will sie bloß wiederhaben! Ich will aufwachen, und dann sollen sie da sein. Dann ist alles nur ein böser Traum gewesen!«

»Ich weiß. Ich hätte das auch gern.«

Ich lasse Emme weinen, weil ich nicht weiß, was ich sonst machen soll. Nachdem ihre Tränen versiegt sind, fragt sie zaghaft, ob ich bei ihr bleiben kann, bis sie eingeschlafen ist. Ich ziehe den Sitzsack neben ihr Bett und mache es mir so bequem wie möglich.

Gegen Mitternacht wache ich mit steifem Rücken auf. Emme schläft zum Glück tief und fest. In den letzten Nächten hat sie immer wieder Albträume gehabt, und ich habe bei ihr gesessen, bis sie wieder eingeschlafen war. Jetzt schleiche ich mich leise aus dem Zimmer, um sie nicht zu wecken.

Ich bin erschöpft, kann aber mein Gedankenkarussell nicht abstellen. Morgen kommt der Anwalt, um das Testament zu verlesen. Er hat Dad persönlich gekannt und macht aus Respekt für meinen Vater und seine Familie einen Hausbesuch. Wir werden so viele Papiere sichten müssen, dass mir jetzt schon davor graut. Vielleicht wäre es am besten, wenn ich vor Thomas’ Ankunft bereits damit beginne, dann habe ich mich schon ein wenig vorbereitet. Besonders im Hinblick auf Emme und das Sorgerecht.

Aus dem Spalt unter der Tür des Arbeitszimmers meines Dads dringt Licht. Ich kann mich nicht erinnern, es angelassen zu haben. Tante Linda fährt erschrocken zusammen, als ich die Tür aufstoße. Sie hat uns während der ganzen Vorbereitungen für die Bestattung zur Seite gestanden, was, in gewisser Weise, eine Hilfe gewesen ist. Linda neigt jedoch dazu, alles an sich zu reißen, und es ist nicht immer leicht, mit dieser Eigenart umzugehen.

»Oh! Daxton, du hast mich erschreckt. Ich wusste nicht, dass du noch wach bist.« Sie legt die Akten, die sie in der Hand gehalten hat, in die Schreibtischschublade zurück.

»Was machst du denn da?«

»Bloß ein bisschen aufräumen. In den nächsten Wochen werden wir eine Menge aussortieren müssen.« Mitfühlend lächelt sie mich an. »Das wird ein Haufen Arbeit, dieses Haus auszumisten. Craig und Evelyn haben ja schon vor deiner Geburt hier gewohnt. Hast du dir mal Gedanken gemacht, wie du das alles schaffen willst?«

»Ich schätze, es hängt letztlich davon ab, was im Testament steht.« Ich nehme an, dass ich das Haus bekommen werde, oder vielleicht geht es auch an Emme, sobald sie alt genug ist, aber mit Sicherheit werde ich das erst morgen wissen. Bis dahin bleibt vieles in der Schwebe.

»Natürlich. Du musst ja so vieles bedenken. Nun, ich sollte dann wohl ins Bett gehen. Morgen früh gibt es ja einiges zu tun, das Testament wird verlesen und so weiter.« Sie kommt auf mich zu und legt mir die Hand auf die Schulter. »Du solltest auch schlafen gehen. Du wirst einen klaren Kopf brauchen.«

Sie geht in die Diele, wo sie sich umdreht, als erwarte sie, dass ich ebenfalls das Arbeitszimmer verlasse. Ich fühle mich wie benebelt, und plötzlich bin ich bei der bloßen Vorstellung, Ordnung in all diese Papiere zu bringen, wieder ganz erschöpft.

»Ja, du hast recht.« Ich mache die Tür zu und gehe hinter ihr die Treppe hoch, dann suche ich mein altes Zimmer auf, immer noch voller Gedanken an den morgigen Tag.