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Eine hundertprozentige Sicherheit vor sexuellen Übergriffen gibt es nicht. Trotzdem können Eltern und Erzieher viel dazu beitragen, ihre Kinder so gut wie möglich vor sexueller Gewalt zu schützen. Der Ratgeber will Eltern und Erzieher für die Gefahr eines sexuellen Missbrauchs sowie verschiedene Risikofaktoren sensibilisieren. Er zeigt Strategien auf, die Kinder stark machen und das Risiko verringern können, dass sie Opfer eines sexuellen Missbrauchs werden. Der Ratgeber informiert zunächst darüber, wie eine gesunde sexuelle Entwicklung verläuft, und gibt anschließend umfangreiche Hinweise über sexuellen Missbrauch, über die Opfer sexueller Gewalt und die Täter sowie über Faktoren, die die Wahrscheinlichkeit eines sexuellen Missbrauchs verringern oder erhöhen. Anhand dieser Faktoren werden konkrete Übungen und Materialien für Eltern und Erzieher vorgestellt, die sie dazu nützen können, mögliche Schwachpunkte zu entdecken und den eigenen Erziehungsstil sowie ihre Kinder zu stärken. Zusätzlich werden Vorschläge unterbreitet, wie mit dem Verdacht eines sexuellen Missbrauchs umgegangen und wie missbrauchten Kindern geholfen werden kann.
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STARKE KINDER
Strategien gegen sexuellen Missbrauch
von
Anne Dyer und Regina Steil
Dr. rer. medic. Anne Dyer, geb. 1975. 1995–2000 Studium der Psychologie an der Universität Koblenz-Landau. 2005 Promotion. 2004–2011 Psychologische Psychotherapeutin der Behandlungseinheit für Posttraumatische Belastungsstörungen an der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim. Ausbilderin und Supervisorin. Seit 2011 Leitende Psychologin der Psychologischen Ambulanz des Otto-Selz-Instituts der Universität Mannheim.
Dr. Regina Steil, geb.1965. 1986–1991 Studium der Germanistik und Psychologie in Marburg. 1996 Promotion. Psychologische Psychotherapeutin, Supervisorin und Dozentin in der Weiterbildung von Ärzten und Psychologen im Bereich Verhaltenstherapie. 1996–2003 Hochschulassistentin an der Universität Jena. 2004–2008 Leitende Psychologin an der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin des Zentralinstitutes für Seelische Gesundheit in Mannheim. Seit 2008 wissenschaftliche Geschäftsführung der Verhaltenstherapie-Ambulanz der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
© 2012 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG
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EPUB-ISBN 978-3-8444-2366-2
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Vorwort
Auf dem Weg vom Kindergarten nach Hause bricht es aus Nina heraus: Ich habe keine Freunde. Auf Nachfrage präzisiert sie: Emma und Lili haben gesagt, dass ich keine Freunde hier habe. Sie weint nicht, ist aber sehr, sehr traurig und drückt sich an ihre Mama.
Wenn unsere Kinder leiden, so leiden wir mit ihnen. Eltern und auch Erziehende möchten die ihnen anvertrauten Kinder schützen. Übergriffe jeglicher Art können verletzen. Kleine Übergriffe, wie der eben geschilderte, führen zu kleinen Verletzungen. Diese sind im Alltag nicht immer zu verhindern. Auch wenn wir auf unsere Kinder achten, werden solche Kränkungen oder auch Raufereien geschehen. Was wir, als Eltern, aber auf jeden Fall verhindern können und wollen, sind Übergriffe massiverer Art. Laut verschiedener Studien können Belastungen in der Kindheit, wie sexuelle oder auch körperliche Gewalterfahrungen, lebenslange Folgen haben. So wissen wir, dass Opfer sexuellen Missbrauchs in der Kindheit ein größeres Risiko haben, weitere Gewalt im Erwachsenenalter zu erfahren. Der Wunsch, die uns anvertrauten Kinder zu schützen, ist groß. Um dies tun zu können, müssen wir die Faktoren kennen, die unsere Kinder verwundbar machen und sexuellen Missbrauch ermöglichen. Mit diesem Wissen im Hintergrund können wir aktiv werden und unsere Kinder unterstützen.
Als Therapeuten helfen wir tagtäglich Menschen, die in ihrer Kindheit schweren sexuellen Missbrauch erleben mussten. Immer wieder berichten unsere Patientinnen, was damals vorgefallen war. Das Leid auch der erwachsenen Betroffenen ist greifbar. Sie erzählen, welche Faktoren zu dem Missbrauch geführt haben. Sie thematisieren, was sie daran gehindert hat, Hilfe zu suchen und anzunehmen. Vor diesem Hintergrund möchten wir zur Prävention von sexuellem Missbrauch beitragen.
Dieses Buch lädt Sie in den ersten Kapiteln ein, sich mit Fakten zum sexuellen Missbrauch auseinanderzusetzen. Erst wenn wir wissen, womit wir es zu tun haben, können wir dagegen angehen. Anschließend werden Sie eingeladen, sich mit der Entwicklung kindlicher Sexualität auseinanderzusetzen. Kinder haben ihre ganz eigene Form der Sexualität. Diese kann und soll nicht gebraucht oder gar missbraucht werden. Zu einem gesunden Umgang mit der kindlichen Sexualität gehört entsprechendes Wissen um diese.
Im Kapitel 5 werden die Faktoren, die Kinder vor sexuellen Übergriffen schützen können oder sie schwächen, zusammengefasst. In den folgenden Kapiteln werden diese Faktoren aufgegriffen. Praktische Übungen können Ihnen helfen, mögliche Schwachpunkte zu erkennen und Ihre Kinder zu stärken.
In den letzten Kapiteln dieses Ratgebers wird der Umgang mit dem Verdacht eines sexuellen Missbrauchs thematisiert. Häufig löst ein Verdacht Unsicherheit aus. Welche Hinweise es auf einen sexuellen Missbrauch geben kann und welche Möglichkeiten Eltern bei einem solchen Verdacht zur Verfügung stehen, werden in diesen Kapiteln besprochen.
Dieses Buch versucht, die Situationen zu beschreiben, in denen Kinder Opfer von Gewalt werden. Es soll Gründe aufzeigen, wie es zu solchen Situationen kommen kann und warum sie bisweilen lange andauern können, ohne dass das betroffene Kind darüber spricht oder Hilfe sucht. Es versucht, Eltern und Erzieher in Bezug auf Risikosituationen wachsam zu machen. Eines jedoch ist sehr wichtig: Auch wenn wir als Eltern alle aufgezeigten Punkte beachten, gibt es keine absolute Sicherheit. Das Kind kann Opfer von Gewalt werden, obwohl wir alles tun, um es zu schützen. Auch der Zufall spielt dabei häufig eine Rolle. Aus anderer Perspektive bedeutet dies, dass Eltern, deren Kinder Opfer von Gewalt geworden sind, daran nicht automatisch Schuld tragen.
Unser Dank gilt allen, die an der Entstehung des Buches beteiligt waren. Für das kritische Gegenlesen, Testen der Übungen und Anmerken möchten wir uns insbesondere bei Maria Hinckers, Meike Beier, Michaela Göhrlinger, Christina Peter-Brutscher, Charlotte Weßlau, Katharina Hinckers, Heribert Hinckers, Christopher Dyer, Matilda Dyer und Katharina Dyer bedanken. Ganz wesentlich zur Entstehung dieses Buches beigetragen haben unsere Patienten. Indem sie ihre Erfahrungen mit uns geteilt haben, konnten wir lernen. Hierfür danken wir vielmals.
Mannheim und Frankfurt, im Frühjahr 2012
Anne Dyer und Regina Steil
Inhaltsverzeichnis
1 Was ist sexueller Missbrauch?
1.1 Was versteht man unter Misshandlungen?
1.2 Was versteht man unter sexuellem Missbrauch?
1.3 Wie wird sexueller Missbrauch von der Justiz beurteilt?
1.4 Warum dauert ein Missbrauch oft über Jahre hinweg an?
2 Wer wird zum Opfer?
2.1 Wie häufig kommt es zu sexuellem Missbrauch?
2.2 Welche sexuellen Mythen gibt es?
2.3 Was sind die Folgen für die Opfer?
3 Wer sind die Täter?
3.1 Gibt es besondere Merkmale der Täter?
3.2 Welche Arten von Tätern gibt es?
4 Was ist Sexualität?
4.1 Was wurde und wird unter Sexualität verstanden?
4.2 Gibt es Unterschiede zwischen der „kindlichen“ und der „erwachsenen“ Sexualität?
5 Wie verläuft die kindliche Sexualentwicklung?
5.1 Was versteht man unter Sexualität im Säuglingsalter?
5.2 Wie drückt sich Sexualität im Kleinkindalter aus?
5.3 Wie sieht Sexualität im dritten Lebensjahr aus?
5.4 Wie entwickelt sich die Sexualität im vierten Lebensjahr weiter?
5.5 Welche sexuellen Verhaltensweisen werden ab dem sechsten Lebensjahr gezeigt?
5.6 Was versteht man unter Sexualität ab dem achten/neunten Lebensjahr?
5.7 Wie entwickelt sich die Sexualität während der Pubertät?
6 Was schützt vor sexuellem Kindesmissbrauch und was macht anfällig dafür?
6.1 Kann die Geschichte der elterlichen Herkunftsfamilie ein Kind schützen oder gefährden?
6.2 Können die Fähigkeiten, Konflikte zu lösen und Gefühle wahrzunehmen, ein Kind schützen oder gefährden?
6.3 Kann die Struktur einer Familie ein Kind schützen oder gefährden?
6.4 Kann die Beschaffenheit außer- und innerfamiliärer Grenzen ein Kind schützen oder gefährden?
6.5 Kann die Art, miteinander zu sprechen, ein Kind schützen oder gefährden?
6.6 Kann eine Vertrauensperson ein Kind schützen oder gefährden?
6.7 Ist ein Kind mit starker Persönlichkeit eher geschützt oder gefährdet?
6.8 Ist ein Kind, welches in der Lage ist, sich zu verteidigen, eher geschützt oder gefährdet?
6.9 Ist ein Kind, welches eine gesunde sexuelle Entwicklung durchlaufen hat, eher geschützt oder gefährdet?
6.10 Hinweise zum Aufbau und zur Nutzung der folgenden Kapitel
7 Welche Rolle spielt die Familiengeschichte für einen möglichen Missbrauch?
7.1 Welche Erfahrungen habe ich mit Gewalt gemacht?
7.2 Was ist mein Standpunkt gegenüber Gewalt?
7.3 Was mache ich, wenn mir die „Hand ausrutscht“?
7.4 Welche Tradition hat Gewalt in unserer Familie?
8 Welche Rolle spielt die Fähigkeit, Konflikte zu lösen und Gefühle wahrzunehmen?
8.1 Wie haben Sie gelernt, Konflikte zu lösen?
8.2 Wie lösen Sie Konflikte in der Partnerschaft/Familie?
8.3 Wie haben Sie gelernt, mit Gefühlen umzugehen?
9 Wie kann die Struktur unserer Familie vor einem Missbrauch schützen?
9.1 Welche Strukturen kennzeichnen meine Familie?
9.2 Wie sieht mein Kind seine Familie?
10 Wie können inner- und außerfamiliäre Grenzen vor einem Missbrauch schützen?
10.1 Hat eines meiner Kinder eine besondere Position inne?
10.2 Wie sehen die Außenkontakte Ihres Kindes aus?
10.3 Welche Rollen und Aufgaben gibt es in unserer Familie?
10.4 Wichtig! Was kann ich tun, wenn Probleme bestehen bleiben?
11 Wie kann die Art, miteinander zu sprechen, mein Kind schützen?
11.1 Wie kann ich Konflikte zwischen mir und meinem Kind lösen?
11.2 Wie gebe ich meinem Kind Rückmeldung?
12 Wie kann eine Vertrauensperson ein Kind vor einem Missbrauch schützen?
12.1 Wer könnte eine geeignete Vertrauensperson sein?
12.2 Verbringt das Kind Zeit mit seiner Vertrauensperson?
12.3 Wie kann das Kind im Falle einer „Krise“ vorgehen?
12.4 Worauf müssen Sie achten, wenn ein Kind Zeit außerhalb der Familie verbringt?
13 Wie kann ich die Persönlichkeit meines Kindes stärken?
13.1 Wie kann ich den Selbstwert meines Kindes stärken?
13.2 Hat mein Kind schon Gewalt erfahren müssen?
13.3 Wie lernt mein Kind, Probleme zu lösen?
13.4 Wie können die sozialen Fertigkeiten meines Kindes gestärkt werden?
14 Wie kann ich mein Kind ermutigen, sich zu verteidigen?
14.1 Wie kann mein Kind lernen, seine Bedürfnisse wahrzunehmen und auszudrücken?
14.2 Wie kann mein Kind lernen, seiner Intuition („Hier stimmt etwas nicht.“) zu trauen?
14.3 Wie kann ich meinem Kind helfen, sich gegen Bedrohung, Bestechung oder ein schlechtes Geheimnis zu wehren?
14.4 Wie kann mein Kind lernen, laut „NEIN!“ zu schreien?
15 Wie kann ich die sexuelle Entwicklung meines Kindes unterstützen?
15.1 Wie sind Sie aufgeklärt worden?
15.2 Wie finden Sie eine Antwort auf die Fragen Ihres Kindes?
15.3 Wie heißt denn das „da unten“?
15.4 Was sollte mein Kind über sexuellen Missbrauch wissen?
15.5 Welche Regeln gelten für „Doktorspiele“?
15.6 Wie kann ich das Körpergefühl meines Kindes fördern?
15.7 Welche Bücher könnten mich unterstützen?
15.8 Wann sollte ich mir Hilfe suchen?
16 Was tun im Verdachtsfall?
16.1 Was macht es einem Kind so schwer, sich einem anderen Menschen anzuvertrauen?
16.2 Was sind Hinweise auf sexuellen Missbrauch?
16.3 Wie und wem gegenüber sollte ein Verdacht geäußert werden?
17 Wie kann einem missbrauchten Kind geholfen werden?
17.1 Was können Eltern für Ihr Kind tun?
17.2 Was können professionelle Helfer für Ihr Kind tun?
17.3 Wie können therapeutische Gespräche stützen?
18 Zusammenfassung
Literatur
Fachbücher und Fachartikel
Aufklärungsbücher
Ratgeber
1 Was ist sexueller Missbrauch?
1.1 Was versteht man unter Misshandlungen?
Kinder werden auf vielfältige Arten misshandelt. Manche Kinder müssen sexuelle, körperliche und psychische Gewalt sowie Vernachlässigung ertragen.
Kindesmissbrauch und -misshandlung
Als Kindesmissbrauch und -misshandlung gelten alle Formen von Behandlung, die zu einer tatsächlichen oder möglichen Schädigung der Gesundheit des Kindes, seines Überlebens, seiner Entwicklung oder seiner Würde führen.
Körperliche Gewalt wird aus verschiedensten Gründen eingesetzt. Zur Bestrafung, aus Hilflosigkeit, aus Wut oder auch aus Freude an der Qual anderer. Körperliche Gewalt beginnt bei einer Ohrfeige und kann bis zu tödlichen Verletzungen des Kindes reichen.
Emotionale Gewalt findet häufig über längere Zeit statt. Das Kind wird immer wieder von seinen Eltern oder anderen gedemütigt. Es bekommt Sätze zu hören, wie „Du bist nichts wert. Du bist eine Niete! Aus dir wird eh nichts.“ Massiver wird emotionale Gewalt, wenn Kinder um ihre Würde gebracht werden. So berichtete Frau A., in ihrer Kindheit über lange Zeit in ihrem Zimmer eingesperrt worden zu sein. Einmal habe sie dringend auf Toilette gemusst. Sie habe nicht gehen dürfen. Die einzige verzweifelte Möglichkeit, die sie schließlich gesehen habe, war, in ihr geliebtes Puppengeschirr zu urinieren. Sie berichtet, sehr geweint zu haben. Emotionale Gewalt trifft den Kern der Persönlichkeit – vor allem, wenn sie von Menschen ausgeübt wird, die für das Kind wichtig sind. Wird auf körperliche Gewalt verzichtet, fehlen sichtbare Hinweise auf die belastende Situation des Kindes. Dadurch werden Opfer emotionaler Gewalt selten als solche erkannt und erhalten wenig Hilfe.
Vernachlässigung trifft häufig Menschen, die sich selbst nicht helfen können und auf andere Menschen angewiesen sind – und damit eben auch Kinder. Immer wieder hören wir in den Medien von Kindern, die nur mangelhaft oder gar nicht gepflegt wurden. Es ist von verhungerten Kindern die Rede. Man hört von Kindern, die in völlig verwahrlosten Wohnungen leben müssen. Die Matratzen der Kinder sind voller Urin und Kot. In den Nachrichten hören wir weniger über alltäglichere Formen der Vernachlässigung. So werden Kinder nicht gewaschen oder gebadet. Sie schlafen in ihrer Kleidung oder tragen die Kleidung über mehrere Tage. In der Folge werden die Kinder im Kindergarten und in der Schule ausgegrenzt und gehänselt („Neben Jessica will ich nicht sitzen, sie riecht!“). Auch eine unzureichende medizinische Versorgung oder Ernährung sind Zeichen einer körperlichen Vernachlässigung. Psychische Vernachlässigung besteht in einer lieblosen und unpersönlichen Betreuung. Eine persönliche Bindung oder Beziehung kann nicht entstehen. Stattdessen werden die Kinder angeschrien, eingeschüchtert und beleidigt. Grundlegende Rechte der Kinder werden missachtet.
Kindesmisshandlungen sind so schwerwiegend, weil die Kinder und Jugendlichen zumeist von den Personen abhängig sind, die sie ausüben. Sie sind aufgrund ihres Alters nicht in der Lage, die Tragweite und die Bedeutung des Geschehenen zu begreifen. Sie können sich außerdem nicht selbst helfen. Viele Kinder leiden nicht nur unter einer Form der Misshandlung. Erleben Kinder Gewalt, so müssen sie häufig mehrere Arten von Misshandlungen über sich ergehen lassen.
1.2 Was versteht man unter sexuellem Missbrauch?
Sexueller Missbrauch
Als sexuellen Kindesmissbrauch bezeichnet man alle Handlungen, die eine ältere Person an einer jüngeren Person zur Befriedigung sexueller Interessen durchführt. Bei diesen Handlungen fehlt das Einverständnis. Es besteht keine Gleichheit zwischen den Beteiligten. Außerdem wird Zwang ausgeübt. Ein Übergriff findet also immer dann statt, wenn eine ältere Person eine jüngere auf irgendeine Weise dazu bringt, stillzuhalten oder etwas zu tun, was den eigenen sexuellen Interessen dient.
Zentral ist hier die Ungleichheit zwischen den Beteiligten. Da ein Kind die Tragweite des Geschehenen gar nicht begreifen kann, kann ein Kind kein Einverständnis zu sexuellen Handlungen mit einer älteren Person geben.
Spricht jemand über sexuellen Missbrauch, so kann er sehr unterschiedliche Dinge damit meinen.
Verschiedene Formen von Missbrauch
Wird ein Kind vergewaltigt, dringt also der Täter mit seinem Penis, seinem Finger oder einem anderen Gegenstand in Körperöffnungen (Mund, After, Scheide) ein, so ist dies ein schwerer Missbrauch. Mit recht hoher Wahrscheinlichkeit hinterlässt dies körperliche Spuren, die von einem geschulten Arzt erkannt werden können. Auch das Betasten von Geschlechtsteilen eines Kindes ist eine klar greifbare Handlung.
Schwerer greifbare Missbrauchshandlungen sind z. B. Beobachten von nackten Kindern am Strand, leichte (wie zufällige) Berührungen oder exhibitionistische (selbstentblößende) Handlungen. Ein ehemaliger Internatsschüler berichtet von einem Lehrer, von dem jeder gewusst habe, dass er Jungen möge. In seinem ersten Jahr, als er großes Heimweh gehabt habe, sei er von ihm getröstet worden. Der Lehrer habe ihn auf seinem Schoß sitzen lassen und ihn gestreichelt. Als Missbrauch würde er dies nicht bezeichnen.
Menschen mit langjährigen Missbrauchserfahrungen berichten meistens, zu Beginn seien die Übergriffe eher weniger fassbar gewesen. Im Laufe der Zeit hätten Ausmaß und Härte der Übergriffe zugenommen.
Sexuelle Begierde versus Unabsichtlichkeit
Können alltägliche Dinge, über die man sich keine Gedanken macht, auch zu sexuellen Übergriffen gezählt werden? Was ist mit den Schnappschüssen, die zeigen, wie Kinder an einem heißen Sommertag nackt durch den Garten tollen? Was ist mit dem Vater, der schon immer mit seiner jetzt vier Jahre alten Tochter gebadet hat? Ist es womöglich ein sexueller Übergriff? Was ist, wenn eine Mutter – unabsichtlich – in das Zimmer ihres Sohnes kommt, der gerade masturbiert?
Diese Fragen können ganz eindeutig beantwortet werden: Sexueller Missbrauch umfasst alle Handlungen, die ein älterer Mensch zur Befriedigung seiner sexuellen Interessen durchführt. Der zentrale Punkt ist die Absicht, mit der die Handlung ausgeführt wird. Ein Vater, der mit seiner vierjährigen Tochter ohne irgendeine sexuelle Absicht badet, missbraucht sie nicht. Vermutlich wird die Tochter eines Tages, spätestens zu Beginn der Pubertät ihrem Wunsch Ausdruck verleihen, alleine zu baden. Diesem Wunsch nach Privatsphäre, das Recht eines jeden Menschen und damit auch eines jeden Kindes, muss selbstverständlich geachtet und anerkannt werden.
Ein Kind kann die Absicht eines Erwachsenen nicht immer einschätzen. Denken Sie an das Beispiel des Internatschülers: Was war die Absicht des Lehrers, der ihn auf seinem Schoß tröstete? War es der Wunsch des Lehrers, den Schüler zu trösten? Oder hatte er den Wunsch, ein ihn interessierendes Sexualobjekt nahe bei sich zu haben? Was ist, wenn ein Onkel mit seiner pubertären Nichte eng tanzt und seine Hand wie zufällig auf ihrem Gesäß landet? Tanzt er einfach nur leidenschaftlich gern oder versucht er, ihren Körper zu betasten? Auch das Betreten des Bades durch einen Familienfreund, während die älteste Tochter der Familie nackt unter der Dusche steht, kann unterschiedlich motiviert sein. Entweder muss er sehr dringend die Toilette aufsuchen und weiß nicht, dass sie unter der Dusche steht oder er folgt seinem sexuellen Interesse.
Drohung versus freier Wille
Recht offensichtlich ist der Einsatz von Gewalt oder Drohungen („… dann bringe ich dich und deine Eltern um.“, „… dann musst du in ein Heim.“, „… dann zerstörst du unsere Familie.“). Was ist jedoch mit Belohnungen? Was ist mit einem Mädchen, welches sich von dem Besitzer des Pferdes anfassen lassen muss, um reiten zu dürfen? Als Erwachsene berichtet sie, damals sei ihr das Reiten so wichtig gewesen, dass sie zu sexuellen Handlungen bereit gewesen sei. Heute wirft sich das Opfer vor, dass sie sich habe „kaufen“ oder „bestechen“ lassen. Dies mag aus „erwachsener“ Sicht richtig sein. Das Kind konnte die Situation jedoch nicht korrekt beurteilen und einschätzen. Die 10-Jährige sah auch nicht die Möglichkeit, den beliebten und einflussreichen Pferdestallbesitzer „anzuschwärzen“. Sie ahnte, dass sie in ihrem Dorf keinen Kontakt zu anderen Reitställen oder Pferdebesitzern hätte aufbauen können. Außerdem konnte sie als Kind die Bedeutung dieser Übergriffe für ihr späteres Leben kaum einschätzen. Kinder leben in der Welt kurzfristiger Folgen. (Ich bekomme meinen Wunsch, den ich JETZT habe, erfüllt.) Langfristige Folgen können sie nicht überblicken.
Noch schwieriger wird die Beurteilung, wenn z. B. ein junges Mädchen berichtet, sich in einen jungen Mann verliebt zu haben. Dieser liebe sie auch. Was ist mit einem sexuellen Kontakt zwischen einer „reifen“ Frau und einem pubertären Jungen? Wo ist die Grenze zwischen einer ungewöhnlichen Liebesbeziehung und sexuellem Missbrauch? Auch wenn ein Teenager berichtet, einen Erwachsenen zu lieben und von diesem geliebt zu werden, so ist dies vermutlich keine gleichberechtigte Beziehung und kann daher als sexueller Missbrauch gelten.
1.3 Wie wird sexueller Missbrauch von der Justiz beurteilt?
Welche Handlungen in welchem Alter als sexueller Missbrauch Minderjähriger strafrechtlich geahndet werden, ist von der Gesetzgebung des entsprechenden Landes abhängig.