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Wir träumen von einem glücklichen und erfüllten Leben. Doch auch die modernste Technik und die schönsten Dinge, die wir uns kaufen, stellen uns nicht nachhaltig zufrieden. Wie schaffen wir es also, in unserer heutigen Zeit glücklich zu werden? Anselm Grün zeigt: Das Glück liegt in den einfachen Dingen des täglichen Lebens. Wir müssen nur wieder lernen, das Wunderbare im Alltäglichen zu erkennen. Wenn wir das Staunen wiederentdecken, verwandelt sich unser Leben. Unsere Seele atmet auf und schöpft neue Kraft. Staunen – Anselm Grüns Grundkurs für die Wunder des Alltäglichen, eine Einladung zum Glücklichsein.
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Seitenzahl: 234
Was immer wir tun: Autofahren, Zeitunglesen oder Frühstücken, Rasenmähen oder Bügeln, eine Arbeit beginnen oder sie beenden – es liegt an uns, wie wir es tun. Mitten im Leben, mitten im Alltag kann sich das Wunderbare zeigen. Wenn wir wieder lernen zu staunen, bekommen gewöhnliche Dinge Bedeutung. Alles kann dann seinen Sinn für uns eröffnen und neuen Glanz ausstrahlen.
„In diesem Buch veranschaulicht Anselm Grün auf seine wunderbare Art, dass das Geheimnis der Spiritualität nicht im Höher, Schneller und Weiter, sondern in der Wertschätzung des vermeintlich Selbstverständlichen liegt.“
(Bodo Janssen, Unternehmer)
„Für Anselm Grün heißt Spiritualität: den Blick aufs Wesentliche freigeben, das Gewöhnliche kostbar machen, den Alltag verwandeln: Sein neues Buch – eine kleine Schule im Wundern.“
(Manfred Lütz, Psychiater und Theologe)
Anselm Grün OSB, Dr. theol., Mönch der Benediktinerabtei Münsterschwarzach, geistlicher Begleiter, Kursleiter, Autor. Seine Bücher zu Spiritualität und Lebenskunst sind weltweite Bestseller – in über 30 Sprachen. Sein einfach-leben-Brief begeistert monatlich zahlreiche Leser (www.einfachlebenbrief.de).
Rudolf Walter, Dr. phil., Herausgeber des Monatsbriefs „einfach leben“ von Anselm Grün und von zahlreichen Büchern. Zuletzt: Genießen – was schön ist und gut tut. Mit einem Vorwort von Anselm Grün.
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024
Gekürzte Taschenbuchausgabe der Originalausgabe von 2018
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Satz, Gestaltung und Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal, Rosenheim
Umschlagmotiv: © Daniel Biskup
Vignetten Innenteil: © MSSA – shutterstock
Konvertierung: Newgen Publishing Europe
ISBN Print: 978-3-451-03374-2
ISBN E-Book (EPUB): 978-3-451-83535-3
MUßE, ACHTSAMKEIT UND STILLE ALS WEGE ZU EINER SPIRITUELLEN LEBENSKUNST. EINLEITUNG
1 ALLES HAT SEINE ZEIT. ALLES HAT SEINEN ORT
Anfangen hat seine Zeit, und Beenden hat seine Zeit
Freude hat ihre Zeit. Und auch Trauern braucht seine Zeit
Lachen und Weinen haben ihren Ort im Leben
Arbeiten und Aktivsein haben ihre Zeit. Aber auch Ruhe und Kontemplation
Der Alltag hat seine Zeit. Und auch das Feiern von Festen
Engagement ist wichtig. Aber auch Gelassenheit tut gut
Gesundsein ist wichtig, aber auch Krankheit ist Leben
Genießen hat seinen Platz. Aber auch das Verzichten
Negative Gefühle dürfen sein, aber sie bestimmen uns nicht
Gelingen hat seine Zeit. Und auch Scheitern gehört zum Leben
Sich zufriedengeben. Aber immer auch der Sehnsucht trauen
Sich einsetzen ist an der Zeit. Aber auch Müdesein ist erlaubt
Glauben hat seine Zeit. Und auch Zweifel haben ihr Recht
Alles hat seine Zeit: Leben feiern und Sterben annehmen
2 ALLES HAT BEDEUTUNG: VOM ALLTAG ALS ACHTSAMKEITSÜBUNG
Eine Verheißung – der Ruf des Weckers
Aufstehen und das Leben nicht verpassen
Erfrischt in den Tag: Waschen und Duschen
Mehr als Gewohnheit und Hygiene: Zähne putzen
Anziehen als ein bewusster Akt
Frühstück – mit aller Ruhe in den Tag
Zeitungslektüre einmal anders
Gelassen auf dem Weg zur Arbeit
Autofahren als spirituelles Übungsfeld
Einen Raum betreten und Übergänge achten
Die Arbeit beginnen – nicht hineinstolpern
An einer Sache bleiben – Aufschieben gilt nicht
Pause machen und Zeit für mich gewinnen
Wie auch Bügeln zur Meditation wird
Kochen – mit Liebe und Geschmack
Mahlzeit – gemeinsame Zeit für das Eigentliche
Heimkommen in meine Welt, die ich kenne
Ins Bett gehen und den Tag loslassen
3 VOM WUNDERBAREN IM SELBSTVERSTÄNDLICHEN – WAS SINN IM LEBEN GIBT
Atmen im Rhythmus des Lebens
Gehen kann zur Übung werden
Stehen als eine bewusste Haltung
Sitzen – sich nicht besetzen lassen
Essen und trinken – achtsam und mit Genuss
Schmecken: Gutes wahrnehmen und genießen
Lesen ist leben
Hören mit dem Ohr des Herzens
Sehen – Schönes schauen, tiefer sehen
Liegen, eine Wohltat
4 VOM GLANZ DER DINGE – NEUER BLICK AUF DAS GEWÖHNLICHE
Glocken – Stoff der Erde, Gottes Klang
Stuhl – die eigene innere Würde erfahren
Schrank – Raum für Ordnung
Ring – Zeichen von Schutz und Würde
Uhr – Vom rechten Augenblick
5 VOM ZAUBER DER NATUR – EINGEBUNDEN IN ETWAS GRÖSSERES
Seelenlandschaften und Kraftorte
Oasen der Ruhe entdecken
Heilsames Geheimnis des Waldes
Wandern – innere Freiheit erfahren
Bergsteigen: das Ziel immer im Blick
Im Nebel – eingehüllt in Seine Nähe
Unterwegs im Schnee
Weite und Unendlichkeit: Am Meer
6 VOM REICHTUM DER BEZIEHUNG – IN VERBUNDENHEIT MIT ANDEREN
Von unseren Wurzeln
Vom Alleinsein und der Gemeinschaft
Von Fremden und von Vertrauten
Vom Nächsten und Fernsten
Von der Liebe
Von der Freundschaft
Von Selbstverwirklichung und Hingabe
Von Mitgefühl und Selbstliebe
Vom Gespräch
Von der Welt und der Heimat
Vom Wunder der Dankbarkeit
GEGENWÄRTIG SEIN. EINFACH LEBEN. AUSKLANG
ZITIERTE LITERATUR
Einleitung
Wie gelingt unser Leben? Was ist gemeint, wenn wir von wirklichem Glück sprechen? Macht, Geld, Besitz, Karriere, Popularität, Konsum und möglichst wenig Langeweile? Das Ziel aller wirklichen Lebenskunst ist es, ein sinnerfülltes und glückliches Leben zu führen. Philosophen aller Zeiten – angefangen von Platon über Epikur, Epiktet oder Augustinus bis in die heutige Philosophie – haben darüber nachgedacht, wie das geht. Die Suche nach dem besten Weg, im Alltag ein glückliches und gutes Leben zu führen, hat nie aufgehört.
Die wirklichen „Lebenskünstler“, das sind nicht die, die immer an der Oberfläche surfen, nichts ganz ernst nehmen und nur ihr Vergnügen haben wollen.
Lässt nun die moderne Welt unser Leben leichter gelingen? Es stimmt: Die Technik erleichtert unseren Alltag zwar in vielerlei Hinsicht; aber auch die Anforderungen und der Druck von außen haben zugenommen. Wir haben Zugang zu schier unendlichem Wissen – aber auch zu dem, was wirklich wichtig ist? Die Werbung lädt uns zu immer mehr Konsum ein. Aber was brauchen wir wirklich? Der Einzelne verfügt heute über unzählige Optionen. Das heißt aber auch: Jeden Tag stehen wir unter Entscheidungsstress, weil wir mit jeder Wahl eine andere ausschließen. Wir können viel erleben. Aber was ist wirklich wesentlich? Dass das Glück in unsere eigene Hand gelegt scheint, setzt viele nur unter Druck: Wie komme ich an? Was halten die anderen von mir? Werde ich auch genügend gesehen? Und viele sind voller Unruhe, möchten immer etwas erreichen. Sie kommen nicht vom Ego zum Selbst.
Was aber ist der Weg zum Glück, auch heute? Wie finden wir in unsere innere Mitte? Wie kommen wir zur Ruhe? Heute wollen viele Menschen das Glück hier und jetzt erreichen, wollen es kaufen oder durch psychologische Methoden erzwingen. Doch je mehr man sich anstrengt, glücklich zu sein, je heftiger man versucht, alles Glück in dieses Leben als „die letzte Gelegenheit“ (Marianne Gronemeyer) hineinzupacken, desto weniger glücklich wird man. Konsumartikel produzieren nicht automatisch Zufriedenheit, und ein noch so luxuriöses Wellness-Wochenende in einem teuren Hotel sichert nicht, was man sich erhofft. Vor lauter Glückssuche kommt man nicht zum Leben, sondern eher zum Burnout. Die wirklichen „Lebenskünstler“, das sind auch nicht die, die immer an der Oberfläche surfen, nichts ganz ernst nehmen und nur ihr Vergnügen haben wollen.
Kann Spiritualität ein Weg zum gelingenden Leben sein? Und was heißt Spiritualität in einer Welt, die so viel anbietet und verfügbar macht, die aber auch immer verdichteter Ansprüche an uns stellt und in der alles „etwas bringen“ soll, alles einen Nutzen haben muss?
Für mich bedeutet Spiritualität heute vor allem dies: einen Raum der Freiheit zu schaffen, in dem wir frei aufatmen können. Paulus sagt: „Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“ (2 Kor 3,17). Spiritualität heißt: dem Geist Raum geben und aus ihm Kraft und Stand für das eigene Leben schöpfen. Dem Geist Jesu Raum zu geben aber bedeutet, einen Freiraum zu schaffen, in dem wir mitten in der Situation totaler technischer Eingebundenheit der modernen Existenz unsere individuelle Würde als Person bewahren: einen Raum, wo wir nicht fremdbestimmt, sondern ganz bei uns sind.
Die christliche Tradition lädt ein, in Übereinstimmung mit der griechischen und römischen Philosophie, immer wieder innezuhalten und solche Freiräume zu suchen, die nicht von Hektik, Stress und allen möglichen Ansprüchen bestimmt sind. Muße nennen wir diesen Freiraum, wo wir nichts leisten müssen, die Haltung des Geschehenlassens und der Ruhe, in der wir über die wesentlichen Dinge des Lebens nachdenken können. Indem ich die Dinge anschaue, wirken sie auf mich und zeigen mir etwas von dem, was sie ausmacht. Ich nehme sie wahr und lasse sie sein. Und im Spiegel der Welt erkenne ich mich selbst. Und nur wenn ich mich selbst erkenne, werde ich gut mit der Welt umgehen. Und ich erschließe so in mir eine tiefe Quelle der Lebenskraft.
Für mich bedeutet Spiritualität heute vor allem dies: einen Raum der Freiheit zu schaffen, in dem wir frei aufatmen können.
Im griechischen Wort für Muße, „schole“, steckt „echein“, das innehalten bedeutet. Darum geht es also: innezuhalten, um im Innern die Haltung zu finden, die wir brauchen, damit das Leben gelingt, um die Freiheit zu erfahren, die uns Halt gibt mitten in den Turbulenzen dieser Welt.
Spiritualität ist so gesehen ein Zufluchtsort, in den die Interessen von außen nicht hineinreichen. In diesem Raum bleibt der Kern des Menschlichen bewahrt, gerade durch seinen Bezug auf eine Transzendenz, die ihn über das Vordergründige hinaushebt. Christliche Spiritualität meint keine Weltflucht, im Gegenteil. Sie will gerade mitten in das Leben führen und das konkrete Leben mit seinen vielfältigen Beziehungen, wie wir es täglich erfahren, annehmen, vertiefen und verwandeln.
Staunen ist eine Voraussetzung dafür, dass jeden Tag etwas Neues in uns beginnen kann, dass wir herauskommen aus den alten, festgefahrenen Wahrnehmungs- und Lebensmustern. Staunen heißt offen sein für das Neue und das Wunder im Alltäglichen erkennen. Kinder können das noch: sich mit offenem Herzen einlassen, ganz im Augenblick sein, ohne Erwartungen, ohne Nebenabsichten, ohne Vorurteile. Peter Schellenbaum beschreibt das Staunen so: „Alles Neue fängt mit dem Wunder einer Offenbarung an, aber einer Offenbarung, die keinen Glaubensakt, sondern bloße Aufmerksamkeit fordert.“
Der Weg zu dieser Erfahrung ist also der Weg der Achtsamkeit. Er ist möglich aus einer Haltung der Ruhe und der Muße heraus. Wenn wir im normalen Alltag das Eigentliche erspüren, berühren wir gerade da den Grund allen Seins. Wer in der Haltung des Staunens lebt, dem verwandelt sich der Alltag.
Das deutsche Wort „staunen“ kommt von „starren, im Lauf hemmen, erzittern“. Das, wovor ich staunend stehen bleibe, berührt mich, erfasst mich bis ins Innerste. Ich begnüge mich nicht mit dem Oberflächlichen und lasse mich im Staunen über mich selber hinausführen. Staunen hat immer mit dem Schauen zu tun. Ich schaue etwas Wunderbares, etwas, das ich noch nicht verstehen kann. Ich verwundere mich, und das treibt mich an, genauer hinzusehen, um das Geheimnis des Geschauten zu verstehen. Dieses Nachdenken mündet dann wieder in Staunen und Bewundern. Ich will es gar nicht in Begriffe fassen, sondern öffne mich dem Geheimnis, damit es in mich eindringen und mich verwandeln kann.
Wenn wir achtsam auf eine Rose schauen, dann ist sie mehr als eine Pflanze, dann leuchtet uns in ihr das Geheimnis von Schönheit, von Liebe auf. Gewohnte Tätigkeiten werden dann zum Symbol für das Geheimnis unseres Menschseins. Gewöhnliche Dinge werden voller Bedeutung, wenn ich sie gleichsam in einem neuen Licht sehe: Die Dinge werden dann, wenn wir sie so sehen, mehr sein, als sie einem achtlosen und oberflächlichen Blick scheinen. Ein Tisch oder das Brot, aber auch Dinge, denen wir in der Natur begegnen – wie ein Baum oder eine Blume –, können ihren Sinn für uns eröffnen und plötzlich zu einem Symbol werden und neuen Glanz ausstrahlen. Alles kann seinen tieferen Sinn für uns eröffnen. Wir entdecken diesen Zauber in den alltäglichen Dingen der Welt.
Wenn ich in diesem Zusammenhang von „Zauber“ spreche, ist damit nichts Magisches gemeint. Es geht vielmehr um die Wiederentdeckung einer wesentlichen Dimension unserer Wirklichkeit. „Die Verzauberung der Welt“, so nennt der Historiker Jörg Lauster seine große „Kulturgeschichte des Christentums“. Er definiert Kultur als „Überschuss im Welterleben“ und als ein „Weltgefühl, das mehr ist als das Sich-Einrichten in dieser Welt“ (Lauster 13). Christliche Spiritualität ist demnach eine Sichtweise, die in den äußeren Dingen das Geheimnis Gottes aufleuchten sieht: „Das Christentum ist die Sprache eines Weltgefühls, das den Überschuss als das Aufleuchten göttlicher Gegenwart in der Welt versteht, es ist daher die Sprache einer kontinuierlichen Verzauberung der Welt“ (ebd.).
Alles spricht zu uns vom Geheimnis unseres Lebens – jenseits von Nutzen und Zweck.
Wenn wir unsere eigene Welt heute neu entdecken, jenseits von Nutzen und Zweck, Effizienz und Rationalität, dann wird auch unser Glaube wesentlicher und tiefer. Die Welt, die wir mit den Augen des Staunens betrachten, spricht uns vom wunderbaren Geheimnis unseres Lebens, das wir vor Gott und mit ihm und in ihm zu leben versuchen.
Damit kommen wir auch der Botschaft der Bibel nahe. Denn Jesus spricht oft über ganz irdische Dinge: vom Sämann, der seinen Samen aussät, von den Vögeln des Himmels und den Lilien des Feldes, vom Kaufmann, der eine kostbare Perle sucht, vom Unkraut unter dem Weizen oder von der Art und Weise, wie Menschen mit dem ihnen anvertrauten Geld umgehen. Indem er von den Dingen dieser Welt spricht, spricht er aber zugleich von Gott. Es geht ihm dabei immer darum, wie unser Leben mit Gott gelingen kann. Alles wird durchlässig auf diese Beziehung hin. So kann ich heute noch die Lilie als Bild meiner Sehnsucht nach reiner Schönheit und als Inspiration zu Gottvertrauen und Sorglosigkeit wahrnehmen – oder in Jesu Bild vom Senfkorn die Kraft der Verheißung von aufblühendem Leben für mich wiederfinden.
In den synoptischen Evangelien, bei Matthäus, Markus und Lukas, werden vor allem in den Gleichnissen die weltlichen Dinge, unser Tun im Alltag, unsere Beziehungen transparent: Durch alles hindurch erscheint uns das Wesen des himmlischen Vaters. Und im Johannesevangelium spricht Jesus in Bildworten von sich selbst. Und auch da werden irdische Dinge zum Bild für das Geheimnis Jesu Christi, für seine Bedeutung für uns und für seine Wirkung auf uns. Jesus sagt etwa von sich: „Ich bin der wahre Weinstock“ (Joh 15,1). Im Griechischen ist das Adjektiv („he alethine“) nachgestellt: „Ich bin der Weinstock, der wahre.“ Jesus will mit diesem Wort betonen, dass er in seiner Person die Wahrheit des Weinstocks darstellt. Wir sehen oft nur das Äußere. Doch wenn wir tiefer schauen, erkennen wir auch in einem Weinstock das Geheimnis der Verbundenheit zwischen Jesus und seinen Jüngern und das Geheimnis ihrer Fruchtbarkeit. Dann erkennen wir darin auch das Geheimnis und die Wahrheit unseres eigenen Lebens. Wahrheit meint also hier: Der Schleier, der über allem liegt, wird weggezogen. Und uns geht das Geheimnis des Seins auf: das, was hinter allem verborgen ist, was allem zugrunde liegt. Martin Heidegger übersetzt das griechische Wort mit „Unverborgenheit“: Das Verborgene zeigt sich, leuchtet uns auf.
Staunen: Die Welt mit neuen Augen anschauen und das Wesen der Dinge erkennen.
Darum geht es mir auch in diesem Buch: dass wir das Staunen wieder lernen. Das heißt, dass wir die alltäglichen Dinge und Beschäftigungen, dass wir das scheinbar Selbstverständliche – wie auch unsere Beziehung zu anderen oder unseren Umgang mit der Zeit – auf ihre hintergründige Wahrheit, auf das Verborgene, das darin liegt, hin befragen. Wenn wir dazu in der Lage sind, dann wird alles in der Welt zum Bild für das Geheimnis unseres Lebens. Der Zauber des Göttlichen legt sich über alles und scheint in allem auf. Unser Leben, unsere Wirklichkeit verwandeln sich.
Eine solche Sichtweise hat es in der christlichen Tradition übrigens immer gegeben. Der Mönch Evagrius Ponticus (345–399) unterscheidet in seiner mystischen Theologie zwei Formen der Kontemplation: „die Kontemplation der Welt der Geschöpfe“ und „die Kontemplation Gottes“ (Evagrius, Praktikos 1). „Himmelreich“ meint für ihn die Erkenntnis, dass alles vom Himmel durchdrungen ist, dass alles von Gott durchwirkt ist. Die erste Weise der Kontemplation besteht darin, die Natur mit neuen Augen anzuschauen und das Wesen der Dinge zu erkennen. Die Kontemplation der Welt erkennt in allem, was wir in der Natur vorfinden, ein Symbol für etwas Tieferes, ein Symbol für Gottes Gegenwart und für unsere Verbundenheit mit Gott. Aber die Bedingung dafür, dass wir ihn in den Naturdingen erkennen, ist die Reinheit des Herzens: die innere Freiheit von der Herrschaft der Leidenschaften und Emotionen, eine innere Klarheit der Seele.
Was Evagrius mit der Erkenntnis des Wesens aller Dinge meint, beschreibt er im Kapitel 92 seines Praktikos: „Jemand aus dem Kreis der sogenannten Weisen kam einmal zum hl. Antonius und hatte folgende Frage: ‚Wie schaffst du es nur, Vater, ein solches Leben zu führen, wo du doch nicht einmal Trost in den Büchern schöpfen kannst?‘ Der Heilige antwortete ihm: ‚Mein Buch, verehrter Philosoph, ist die Natur der geschaffenen Dinge, und dieses Buch liegt immer vor mir, wenn ich mich in Gottes Wort vertiefen möchte.‘“
Antonius, der Einsiedler in der Wüste, liest im Buch der Natur. Wenn wir – wie er – kontemplativ in diesem Buch der Natur lesen, dann führt uns die Natur in die Stille. Stille ist uns vorgegeben. Der Wald ist still, die Wüste ist still. Stille meint: Wir lassen die Natur, wie sie ist. Sie begegnet uns als reines Sein. Wir haben, wenn wir uns auf die Stille einlassen teil an diesem reinen Sein. Das macht uns still. Und in dieser Stille erfahren wir das Wesentliche allen Seins, den Grund des Seins. Gerade in einer lärmenden Gegenwart, wo unentwegt und allenthalben etwas an unserer Aufmerksamkeit zerrt, ist also auch die Begegnung mit der Natur und die Wiederentdeckung der Stille ein wesentlicher Weg der Spiritualität. Diese Spiritualität schenkt einen neuen Blick auf die Dinge, sie macht scheinbar Banales transparent auf einen tieferen Hintergrund hin, gibt dem Alltäglichen eine Seele.
Nicht nur in der christlichen Tradition findet sich diese Sicht: Thich Nhat Hanh, der buddhistische Weise aus Vietnam, kommt zu ähnlichen Erkenntnissen und Erfahrungen, wenn er von der Achtsamkeit spricht. Und der in der östlichen Spiritualität geschulte Karlfried Graf Dürckheim hat seinen Schülern immer wieder einen altjapanischen Satz zitiert: „Damit etwas religiöse Bedeutung gewinnt, sind nur zwei Bedingungen nötig: Es muss einfach sein und wiederholbar“ (Dürckheim, Alltag als Übung 17). Das gehört zum Wesen der Meditation: die Einfachheit und die Wiederholung. Gerade Tätigkeiten, die wir täglich wiederholen, können zur leeren Routine werden – oder aber zur Meditation, zum Weg in unsere eigene Mitte, zum Weg in die reine Gegenwart, in der wir dann auch den gegenwärtigen Gott erahnen. Was banal scheint, kann offen werden für eine geheimnisvolle Wirklichkeit. Es liegt an uns, an unserer Aufmerksamkeit und unserer Bereitschaft, sich auf diese Verwandlung einzulassen.
So möchte ich in diesem Buch immer wiederkehrende Tätigkeiten und Vollzüge des Alltags betrachten, ganz einfache Dinge, aber auch die Natur oder bestimmte Orte, an denen wir besonders berührt werden. Meine Gedanken wollen eine Einladung sein, das, was wir alltäglich tun und erleben, in einem neuen Licht zu sehen und zu tun. Dann wird unser spiritueller Weg nicht eine Flucht vor der Realität unseres Lebens. Er wird vielmehr zu einem Weg, das, was wir täglich tun und erleben, als Bild für unseren inneren Weg zu sehen und als Bild für das tiefe Geheimnis, das uns in allem, was ist, begegnen und berühren möchte.
Es gibt nur zwei Arten zu leben.
Entweder so als wäre nichts ein Wunder oder so als wäre alles ein Wunder.
(Albert Einstein)
Alles hat seine Zeit.Alles hat seinen Ort
Kein Leben hatnur Höhen, und kein Mensch erlebt nur Tiefen. Beides gehört zu unserem Leben, und beides hat uns zu dem Menschen geformt, der wir jetzt sind. Daher ist es wichtig, sich sowohl den Höhen als auch den Tiefen zu stellen. In der hebräischen Bibel, im Buch Kohelet, beschreibt das berühmte Gedicht über die Zeit diese Einsicht. Kohelet, ein Lehrer, der griechische Philosophie mit jüdischer Weisheit zu verbinden suchte, ist überzeugt: Unsere Lebenszeit ist bedingt durch Gott, der alles verfügt hat. Er ist es, der uns die Zeit gibt, und er gibt uns verschiedene Qualitäten der Zeit, solange wir leben: „Eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben, eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit zum Abernten der Pflanzen“ (Koh 3,2). In 14 Gegensatzpaaren wird das Geheimnis der Zeit beschrieben. 14 ist in der Antike die Zahl der Heilung. Es gibt 14 heilende Gottheiten in Babylon. Die Christen haben das in den 14 Nothelfern übernommen. Auch wenn die Zeit nach diesem Verständnis sehr gegensätzliche Qualitäten hat, so ist das Miteinander dieser verschiedenen Aspekte doch etwas Heilsames. Immer wenn sich der Mensch auf das einlässt, was ihm die Zeit jetzt anbietet, dann ist es letztlich heilsam für ihn, auch wenn es im ersten Augenblick eher negativ erscheint.
Wenn wir einen Höhepunkt erleben, sollen wir also nicht abheben und meinen, alles werde in unserem Leben immer gut gehen. Höhepunkte beinhalten oft eine Gefährdung. Sie können dazu verführen, sich Illusionen über sein Leben zu machen. Es kann sein, dass nach der Höhe eine Tiefe folgt. Aber es kann auch sein, dass der Höhenflug länger anhält. Dann dürfen wir dankbar sein. Aber wir sollen immer wissen, dass wir nichts festhalten können. Wenn ein Tiefpunkt folgt, dann kann uns das auch in die eigene Tiefe führen.
Ein Mensch wird nur klug, wenn er die Höhen und Tiefen, die er zeitlich in seinem Leben oft versetzt erlebt, immer auch als Spiegel sieht für die Höhen und Tiefen in seiner eigenen Seele.
Viele Menschen erfahren in ihrem Leben Brüche: Eine lange Beziehung zerbricht, man verliert die Arbeitsstelle und muss in eine andere Stadt ziehen. Oder eine plötzliche Erkrankung macht feste Pläne zunichte. Das Leben lässt sich nicht planen. Wie finden wir bei so viel Unwägbarkeiten und Unabsehbarkeiten dennoch einen Zusammenhang und einen Sinn in unserem Leben? Wie können wir all das Brüchige zu einem Ganzen integrieren? Schon Kohelet ist überzeugt: Unser Leben gelingt nur, wenn wir uns verabschieden von der Idee, dass alles immer perfekt, immer liebevoll, immer erfolgreich, immer glücklich ist. Nur wenn wir die Gegensätze in uns annehmen und wenn wir uns damit aussöhnen, dass die Erfahrungen in der Zeit gegensätzlich sind, finden wir bei aller Brüchigkeit und Gegensätzlichkeit unseres Lebens zu einer Versöhnung mit uns selbst und mit dem Leben.
Es gehört zum Geheimnis unseres Lebens, dass es mit der Geburt anfängt und im Tod endet. Das lässt sich nicht beliebig beschleunigen oder definitiv hinausschieben. Und auch jeder Augenblick, den wir erleben, ist neu. Er bedeutet einen neuen Anfang, beendet aber auch etwas. Dieses Anfangen und Beenden geschieht, ohne dass wir etwas dazu tun. Es ist eine Grundstruktur unseres Daseins, der wir uns fügen müssen.
Aber Anfangen und Beenden sind auch eine Kunst. Jeden Tag können wir es erfahren: Wer anfängt, dem wächst Kraft zu. Und wer zu einem guten Ende findet, der gewinnt ebenfalls innere Stärke.
Von manchen Menschen sagt man: Sie finden keinen Anfang und kein Ende. Sie schieben alles vor sich her, packen aber nicht zu. Sie erzählen einem, was sie tun möchten, aber sie fangen nicht damit an. Sie beraumen ein Meeting an, aber das beginnt nicht richtig. Alles plätschert dahin; man weiß nicht, ob das, was besprochen wird, schon ernst ist, ob eine Entscheidung gefällt werden soll oder ob man sich einfach nur unterhält. Solche Menschen finden dann oft auch kein Ende für die Sitzung. Wenn ich selber Sitzungen zu leiten hatte, war mir immer wichtig, gut anzufangen und sie mit einer klaren Ankündigung zu beenden. Eine gute Struktur trägt dann auch zu einer Kultur des Sprechens und des Miteinanders bei.
Manche, die gern alles vor sich herschieben, finden auch am Abend kein Ende mit dem, was sie tun. Sie fangen dies oder jenes an, und so kommen sie nicht ins Bett. Dann klagen sie darüber, dass sie zu viel zu tun haben.
Wer anfängt, dem wächst Kraft zu.
Und wer zu einem guten Ende findet, der gewinnt innere Stärke.
Anfangen bedeutet: Ich übernehme die Verantwortung für mein Leben. Ich gestalte es aktiv und höre auf zu jammern, dass ich durch die Umstände, durch meine Erziehung oder durch meine Veranlagung festgelegt bin. Neu anfangen kann ich immer. Manchmal besteht das Material meines Lebens vielleicht aus einem Scherbenhaufen zerbrochener Lebensträume. Aber auch aus Scherben kann ich ein neues Gefäß zusammensetzen. Das ist dann nicht mehr so perfekt wie das alte. Aber vielleicht sieht es kreativer aus, bunter und lebendiger. Manch einer bleibt vor dem Haufen der Steine sitzen, die das Material seines Lebens sind. Der Steinhaufen wirkt für ihn chaotisch. Wenn eine Beziehung zerbrochen ist, wenn die Aufgabe, die ich bisher innehatte, nicht gut beendet werden konnte, dann kann ich in diesen Steinen noch nicht das Bauwerk entdecken, das daraus entstehen könnte. Ich sehe das Ende nicht. Aber darum geht es: den Anfang und das Ende zusammenzusehen, aus dem Anfang ein Ende zu formen, etwas zu vollenden.
Anfangen braucht Mut. Viele Menschen haben Angst, sind unsicher vor dem, was sich entwickeln könnte. Wenn wir aber überlegen, was wir eigentlich wollen, werden wir auch die Mittel entdecken, die wir in uns haben und die uns Zuversicht geben: Etwa die Erfahrung, dass wir schon öfter neu angefangen haben. Oder unsere Disziplin, die uns die Kraft schenkt, etwas durchzuhalten. Oder auch unsere Kreativität, die uns bei allem Anfang etwas Neues formen lässt. Mut und Zuversicht verleihen die Kraft, die nötig ist, um einen neuen Anfang zu setzen.
Wer anfängt, der bekommt aber auch Macht über sein Leben, und auch daraus wächst Kraft. Aber auch wer aufhören kann, zeigt, dass er Macht über sein eigenes Leben bekommt. Auch da geht es darum, nicht von dem beherrscht zu werden, was über uns kommt. Die Lateiner sagen: Wir sollen bei allem, was wir tun, das Ende bedenken, „respice finem“. Das gilt für jede Entscheidung, aber auch für das Leben insgesamt. Wenn ich mir bewusst mache, dass meine Kindheit, meine Jugend, die fürsorgliche Begleitung meiner Kinder, meine berufliche Karriere enden werden, dann werde ich mir der besonderen Qualität dieser Zeiten bewusst.
Manchmal wird uns das Ende auch von außen vorgegeben. Dann ist es gut, den Wink des Schicksals – oder den Wink Gottes – zu verstehen und ihm zu folgen. Wenn wir einverstanden sind mit dem Ende, auch wenn es uns von außen aufgedrängt wird, dann leben wir im Frieden weiter. Wenn wir uns gegen das Ende sträuben, werden wir unzufrieden und bitter. Und jetzt schon bei allem, was ich tue, an das Ende zu denken, gibt dem jetzigen Augenblick seine Würde. Ich werde aus diesem Bewusstsein heraus achtsamer und intensiver leben.
Freude und Trauer sind tiefe Gefühle, die uns zuinnerst berühren und lebendig machen. Beide Emotionen, so gegensätzlich sie sind, gehören doch eng zusammen. Es gibt eine Zeit der Freude. Und die sollen wir dann in vollen Zügen auskosten. Es gibt Menschen, die ihre Freude niederdrücken. Sie können sich nicht mit ganzem Herzen freuen. Und wenn es dann gilt, zu trauern, dann lassen sie sich auch auf die Trauer nicht ein. Sie fliehen vor dem Schmerz, der mit der Trauer verbundend ist. Sie lassen die beiden Emotionen in sich nicht zu, erlauben sich höchstens immer nur Andeutungen davon. Aber sie gehen nicht in die Emotion hinein.
Jesus hat diese Erfahrung bei seinen Zuhörern gemacht. Er wirft den Menschen seiner Generation vor: „Sie sind wie Kinder, die auf dem Marktplatz sitzen und einander zurufen: Wir haben für euch auf der Flöte Hochzeitslieder gespielt, und ihr habt nicht getanzt; wir haben Klagelieder gesungen, und ihr habt nicht geweint“ (Lk 7, 32). Diese Menschen konnten sich weder auf die Freude einlassen, die Jesus ihnen verkündete, noch ließen sie sich ein auf die strenge Buße, zu der sie Johannes der Täufer aufrief. Manchmal begründen Menschen, die sich nicht auf ihre Emotionen einlassen wollen, ihr Verhalten mit rationalen Gründen: Sie könnten sich nicht auf Befehl freuen oder auf Kommando trauern. Aber das ist eine Ausrede. In Wirklichkeit lassen sie sich nicht ein auf das, was gerade dran ist. Sie schneiden sich von ihren eigenen Emotionen ab. Sie wollen weder starke Freude noch tiefe Trauer empfinden. Sie leben lieber leidenschaftslos. Aber das macht auch kraftlos. Das Leben wird eintönig, es verliert seine Würze. Nur wenn wir uns der Freude und der Trauer stellen, wenn sie gerade dran sind, dann leben wir intensiv. Nur dann erfahren wir das Geheimnis des Lebens. Wenn wir in die Emotionen hineingehen, erfahren wir sowohl in der Trauer als auch in der Freude eine Quelle von Kraft und Vitalität, die uns guttun.
Von Menschen, die keine Emotionen haben, geht keine Lebendigkeit aus.
Sie bringen nichts in Bewegung.
Es braucht die Emotion, die mich in Bewegung bringt.