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Was ist heißer als ein sexy Milliardär? Ein sexy Milliardär mit Haustieren!
Ruby Scott ist verzweifelt: Nachdem ein mysteriöser Typ sie auf einer Party erst küsst und ihr dann mitten ins Gesicht hustet, wird sie so krank, dass sie ein wichtiges Casting vermasselt. Dabei braucht sie dringend einen Job. Das Angebot, sich um die Haustiere des reichen Hotelbesitzers Bancroft Mills zu kümmern, kommt ihr da gerade recht. Doch sie ahnt nicht, dass Bane kein Geringerer ist als der Typ von der Party ...
"STAY ist die perfekte Mischung aus sexy, süß und lustig." K. BROMBERG
Der USA-TODAY-Bestseller endlich auch auf Deutsch!
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Seitenzahl: 485
HELENA HUNTING
Stay
Roman
Ins Deutsche übertragen vonBeate Bauer
Ruby Scott braucht dringend einen Job. Schon seit Wochen ernährt sie sich nur von Instant-Nudeln, und die Miete für ihre Wohnung kann sie auch nicht mehr bezahlen. Doch ihr letzter Funke Hoffnung auf eine Karriere am Broadway erlischt, als sie vor einem wichtigen Casting krank wird und es vollkommen vermasselt. Und das alles nur wegen eines (zugegebenermaßen superheißen) Typs, der sie auf einer Party am Abend zuvor erst geküsst und ihr dann mitten ins Gesicht gehustet hat. Glücklicherweise bewahrt ihre beste Freundin sie vor einem Schicksal als obdachlose Möchtegern-Schauspielerin, indem sie ihr einen Job bei dem Hotelmagnaten Bancroft Mills besorgt. Während dieser geschäftlich auf Reisen ist, soll Ruby sich um seine exotischen Haustiere kümmern. Doch dann steht sie ihrem neuen Arbeitgeber zum ersten Mal gegenüber – und er ist niemand anders als der Typ von der Party! Bevor sie es sich anders überlegen kann, macht Bane ihr ein Angebot: Solange er unterwegs ist, kann sie in seinem luxuriösen Penthouse wohnen. Ruby hat keine andere Wahl, als anzunehmen, auch wenn sie ahnt, dass sie mit dem Feuer spielt: Denn die Anziehungskraft, die sie in Banes Nähe spürt, ist alles andere als professionell …
Meiner Familie, deren Liebe und Unterstützung meinen Traum erst möglich machen.
Ruby
Ich stelle das halb volle Glas mit Limoncello-Martini auf den Tisch – es ist wohl das Einzige, was hier noch am ehesten an Zitronenwasser mit Honig herankommt – und schnappe mir den Kellner, als er vorbeikommt. Ich nehme die angebotene Serviette und bin ziemlich wählerisch, was die Appetithäppchen betrifft, raune aber einen bewundernden Kommentar über die Pilzkanapees. Der Name der Vorspeisen ist mir nicht annähernd so wichtig wie ihr Geschmack. Meine Geschmacksnerven hüpfen vor Freude, genau wie mein Magen. Wenn diese Verlobungsparty ein Hinweis darauf ist, wie die Hochzeit sein wird, dann werde ich wohl Tupperdosen in meiner Handtasche einschmuggeln.
Meine beste Freundin Amalie, die ich Amie nenne, seit wir uns auf der Vorbereitungsschule fürs College kennengelernt haben, steht kurz davor, einen unverschämt reichen Mann zu heiraten, was durchaus passend ist, weil sie selbst aus einer unverschämt reichen Familie stammt. Da diese Verbindung sie aber gesellschaftlich weiter aufsteigen lässt, ist dies nach Ansicht ihrer Familie eine ausgesprochen kluge Partnerwahl.
Da ich selbst ein Produkt privilegierter Herkunft bin, würde ich sagen, dass dieser finanzielle Balztanz zu den weniger wünschenswerten Aspekten des Reichseins gehört.
Unsere Eltern predigen immer, man solle aus Liebe heiraten, aber in Wirklichkeit heißt das aus Liebe zum Kontostand und zur Bewahrung des Status. Amies Verlobter hat ein Bankkonto, das so prall ist wie das Ding eines Pornostars. Ihren Berichten zufolge ist sein Schwanz dafür eher durchschnittlich, was zwar traurig ist, aber man kann eben nicht alles haben.
Ich ignoriere den kritischen Blick des Kellners, als ich mir vorsichtig ein Shrimpstörtchen in den Mund schiebe, um auf meiner Cocktailserviette Platz für ein weiteres zu schaffen. Teller wären bestimmt praktischer, aber ich habe meinen irgendwo abgestellt und in der Zwischenzeit ist er garantiert schon weggeräumt worden. Also werde ich mit der Serviette auskommen müssen.
Mein gegenwärtiger Beschäftigungsstatus – Beschäftigungslosenstatus, um genau zu sein – zwang mich dazu, meinen Ernährungsplan zu ändern. Der nun hauptsächlich aus Ramen-Nudeln besteht. Ich könnte meinen Vater um Hilfe bitten, zusätzlich zu dem, was er mir ohnehin schon bewilligt, aber ihn um noch mehr Geld anzupumpen würde uns beiden klarmachen, dass ich nicht auf eigenen Füßen stehen kann. Das ist keine Option. In dem Moment, in dem ich das täte, würde er mich umgehend zurück nach Rhode Island beordern, wo ich hinter einem Schreibtisch landen würde, um eine weitere gelangweilte Mitarbeiterin in seiner Firma zu werden. Auf meiner Liste mit abgefahrenen Dingen, die ich in meinem Leben tun will, steht das ganz weit unten.
Ich warte, bis der Kellner sich der nächsten Gruppe von Gästen zugewandt hat, und tue dann so, als ob ich in meiner Handtasche nach etwas suche – was auch stimmt. Ich öffne verstohlen die Plastiktüte, falte die Serviette um das Shrimpstörtchen und lasse es hineingleiten.
Das ist heute Abend schon das dritte Mal. Mittlerweile habe ich eine ganz nette Auswahl von Snacks für die nächsten Tage. Sie sind als Beilagen für meine abendlichen Ramen-Mahlzeiten gedacht. Und auch für die Mittagessen.
Da ich ohne Begleitung gekommen bin, besteht meine Hauptbeschäftigung – neben der Jagd auf Appetithäppchen – darin, nach interessanten Männern Ausschau zu halten. Ich schätze mal, ich hätte irgendwen mitbringen können, aber eine Verlobungsparty ist die Art von Veranstaltung, die ein Interesse an weiteren Dates andeutet. Aktuell gibt es niemanden, an dem ich Interesse hätte. Außerdem habe ich morgen ein Vorsprechen und kann deshalb nicht lange aufbleiben. Was jegliche Möglichkeit einer dem Date folgenden Fummel-Session zunichtemacht. Also ist es wohl besser, dass ich allein gekommen bin.
Anstatt vor Selbstmitleid über meine Datelosigkeit zu zerfließen benote ich die geeigneten Junggesellen nach ihren Haaren und Schuhen. Haare sagen eine Menge über einen Mann aus. Ich sehe genau, wer Haarimplantate trägt und wer nicht. Implantate sind ein Anzeichen für Unsicherheit und übertriebene Eitelkeit.
Schuhe verraten mir ebenfalls eine Menge über den Typ Mann, mit dem ich es zu tun habe. Wenn seine Schuhe spitzer sind als meine, ist der Mann meist viel zu selbstbezogen, das heißt, seine Erwartungen an Frauen sind jenseits von Gut und Böse. Implantate und spitze Schuhe sind das Übelste überhaupt. Diese Typen bestehen aller Voraussicht nach auf Brustvergrößerungen und Fettabsaugung – was auch immer nötig ist, damit ihre Frauen hinterher wie eine Barbiepuppe aussehen. Ich jedoch lehne es ab, das schweigsame Party-Anhängsel von irgendwem zu sein.
»Ruby? Alles ok?« Amie legt ihre Hand auf meine Schulter.
»Wie? Aber ja. Alles in Ordnung. Ich muss los, leider.« Ich hätte schon vor einer halben Stunde aufbrechen sollen, aber die Verpflegung hier ist einfach unglaublich.
Sie umarmt mich von der Seite. »Ich bin froh, dass du es geschafft hast vorbeizukommen.«
»Ich wünschte wirklich, ich könnte länger bleiben. Ich habe ein schlechtes Gewissen, so früh loszumüssen.« Noch dazu ohne eine einzige Telefonnummer. Wobei ich der Fairness halber zugeben muss, dass mich das Klauen von Appetithäppchen ziemlich in Anspruch genommen hat.
Sie macht eine wegwerfende Handbewegung. »Ich bin sicher, es wird noch viele Partys vor der eigentlichen Hochzeit geben. Und ich weiß doch, dass du wegen dem Vorsprechen nervös und aufgeregt bist.«
»Ich klopf auf Holz und alles, was hart genug ist, dass das morgen klappt. Ich würde selbst auf meinen Schwanz klopfen, wenn ich einen hätte.«
Amie hustet und blickt sich um, ob irgendeiner der verkrampften, verwöhnten Typen meine unangemessene Bemerkung mitbekommen hat.
»Sorry.« Und das meine ich so. Mehr oder weniger. Ich will meine Freundin nicht blamieren, aber seit ein mit einem massiven Dreikaräter bewaffneter Mann in ihr Leben getreten ist, hat sie eine irgendwie hochnäsig-vornehme Art. Muschi-Witze waren immer unser Ding. Zumindest im College.
Sie wedelt mit der beringten Hand und lächelt. »Schon gut. Es sollte mir völlig egal sein, aber Armstrongs Mutter kriegt Blähungen, wenn sie auch nur ansatzweise mitbekommt, dass jemand über irgendwas redet, was mit Mu-Mus zu tun haben könnte.«
Dass meine beste Freundin unsere intimsten Körperteile als »Mu-Mus« bezeichnet, gibt Anlass zu ernsthaften Zweifeln an dieser Verlobung. Nie zuvor haben wir unseren Dirty Talk gegen offiziell anerkannte, intellektuelle Begriffe eingetauscht. Bis jetzt.
»Amalie! Da bist du ja. Ich habe dich schon überall gesucht. Ich brauche dich für den Fototermin.«
Amie wendet sich zu der näher kommenden Frau um. »Oh! Tut mir leid. Ich wusste nicht, dass der Termin für jetzt angesetzt ist.«
Sie sieht aus wie Ende fünfzig, obwohl ihre Haut durch aufwendige Behandlungen so glatt und weich wie ein Babypopo ist. Zumindest ihre Gesichtshaut. Ihr Hals erzählt eine andere Geschichte. Ich betrachte sie von Kopf bis Fuß. Sie trägt ein schwarzes Kleid, das mehr zu einer Beerdigung als zu einer Verlobungsparty passt, und um den Hals irgendein Tier.
»Lebt das noch?« Ich tue so, als ob ich ihrem Haustier einen Klaps geben will, woraufhin sie zurückzuckt.
»Ha!« Ihr Lachen klingt wie ein Bellen. »Wie amüsant.« Ihr Tonfall zeigt deutlich, dass sie mich nicht im Mindesten witzig findet.
»Das ist eine Stola«, sage ich dümmlich. »Ist das Fuchs?«
Sie streicht über das tote Tier, das um ihren Hals drapiert ist, während ihre Lippen sich angewidert kräuseln. »Das ist Nerz.«
Wenigstens ist es keine Babyrobbe. Wer um alles in der Welt trägt in diesem Jahrhundert noch Pelzstolas? Außer vielleicht man wäre verlassen in der Wildnis und bräuchte so etwas zum Überleben. Und wir haben Mai.
»Hoffen wir mal, dass draußen nicht PETA mit einem Eimer voll Farbe wartet.«
Sie versucht mich zu ignorieren.
»Gwendolyn, das ist meine beste Freundin und Trauzeugin Ruby Scott. Ruby, das ist Armstrongs Mutter.«
Shit. Ich habe gerade die zukünftige Schwiegermutter meiner besten Freundin beleidigt. Kein guter Anfang.
Gwendolyn streckt mir ihre Hand entgegen, als würde sie erwarten, dass ich ihr einen Handkuss gebe. Stattdessen schüttele ich sie.
»Oh ja. Amalie hat mir von Ihrer Familie erzählt. Scott Pharmaceuticals, nicht wahr?« Sie neigt den Kopf und zieht eine Braue hoch, zumindest kommt es mir so vor. Es ist schwer zu sagen, weil sich nur wenig von ihrem Gesicht zu bewegen scheint.
»Ähm, ja.« Ich hasse das. Wie die Leute mich plötzlich anders ansehen, sobald sie wissen, wer meine Familie ist und dass ich aus reichen Verhältnissen stamme. Dann folgt das Urteil, dass ich nicht wirklich dazugehöre, weil meine Familie, anders als die von Amie, zu den »Neureichen« gehört. Ich bin zwar bereits die dritte Generation, die vom Erbe lebt, aber in diesen Kreisen gilt das als neureich.
»Die neuen medizinischen Forschungen Ihres Vaters haben einige bahnbrechende Erkenntnisse erbracht, nicht wahr?« Das klingt, als ob sie damit nicht einverstanden wäre. Vielleicht hat ihr Gatte ja die Wunder der künstlichen, niemals endenden Erektion entdeckt, und ihre ausgetrocknete Vagina ist deswegen wütend auf mich.
Das Team meines Vaters hat nämlich das neueste Mittel gegen erektile Dysfunktion entwickelt. Ein wahres Pornostar-Vermächtnis. Ich nicke und lächle, obwohl mein Vater nicht das Geringste mit der tatsächlichen Entwicklung des Arzneimittels zu tun hat. Er stolziert nur umher und lässt die Leute in dem Glauben, dass er es war.
»Ruby wollte gerade gehen. Ich bin gleich zurück, und dann können wir die Fotos machen.«
»Natürlich, natürlich.« Gwendolyn entlässt uns mit einer Geste, während Amie mich am Arm nimmt und wegzieht.
Gwendolyn beginnt bereits ein neues Gespräch.
»Das mit der Stola tut mir leid«, murmele ich, während wir durch den Saal gehen.
»Schon gut. Sie ist betrunken, also wird sie sich wohl kaum daran erinnern.«
Amie kann richtig fies sein. Was auch eine Menge über Armstrong aussagt. Ich bin mir immer noch nicht im Klaren darüber, was sie an ihm findet. Er wirkt dermaßen hölzern, als hätte er ein ganzes Regal verschluckt. Außerdem bin ich misstrauisch, weil alles so unglaublich schnell gegangen ist. Sie kennen sich erst seit ein paar Monaten, aber trotzdem scheint Amie davon überzeugt zu sein, dass diese Verbindung im Himmel geschlossen wurde. Ich schätze, eine baldige Scheidung wäre zwar skandalös, aber durchaus eine Option.
Was ich keinesfalls herbeireden will.
Ich kenne die Art Männer ziemlich genau, die ihre Frauen ersetzen wie ihre Autos, sobald der erste Lack ab ist – oder die erste Falte auftaucht, bei der Botox nicht mehr wirkt. Mein eigener Vater ist inzwischen bei Nummer drei angelangt. Seine gegenwärtige Ehefrau ist gerade mal achtundzwanzig – und war vorher seine Sekretärin. Mehr Klischee geht nicht.
Amie befummelt meine Haare, als wir an der Tür zum Ballsaal ankommen. Ich habe zwar extra einen Lockenstab benutzt, aber ohne Erfolg, meine Haare sind wieder glatt wie zuvor. Amie hat naturgelocktes, strohblondes Haar, das genaue Gegenteil von meinem, was Farbe und Fülle betrifft.
»Soll ich dich morgen früh anrufen? Nur um sicherzugehen, dass du den Wecker nicht überhörst?«
»Das musst du nicht. Nach alldem hier wirst du morgen richtig erledigt sein und solltest ausschlafen.«
»Ich muss morgen arbeiten und werde früh auf sein.«
Ich kann wirklich nicht verstehen, wie man eine Verlobungsparty auf einen Montag legen kann, aber offensichtlich hat Armstrongs Mutter ihren Einfluss geltend gemacht. Doch selbst wenn sie an einem Wochenende stattgefunden hätte, wäre Amie am nächsten Morgen vermutlich früh aufgestanden. Egal, wann sie zu Bett geht, ihr innerer Wecker steht auf fünf Uhr fünfundvierzig.
»Klingt gut. Warum kommst du nicht zum Lunch oder etwas später vorbei?« Ich bin sicher, ich kann genügend Kleingeld zusammenkratzen, um das Nötige für Sandwiches einzukaufen.
Sie macht ein zerknirschtes Gesicht. »Ich bin mit Armstrongs Mutter zum Lunch verabredet, um die Hochzeitsplanung zu besprechen.«
Ich mache eine ebenso enttäuschte Miene. »Dann viel Spaß.«
»Wir können an einem anderen Tag zusammen Essen gehen. Ich lad dich ein.«
»Musst du nicht.« Ganz ehrlich, ich kann es mir nicht leisten, mit Amie auszugehen, außer wir nehmen das günstigste Angebot im Burgerladen bei mir um die Ecke. Aber mein Stolz verbietet mir natürlich, das zuzugeben. Dummerweise schwört Amie, dass sie sich in dem Laden eine Lebensmittelvergiftung eingefangen hat, weshalb sie es ablehnt, dort jemals wieder hinzugehen. Arbeitslos zu sein kann echt nerven.
»Ich lad dich ein, wir müssen doch dein Vorsprechen feiern.«
»Wenn du drauf bestehst.« Ich würde gern mal wieder etwas essen, das nicht aus einer Zellophanverpackung kommt.
»Tu ich.« Ihr Lächeln besagt, dass das kein großes Ding ist, und im Geist gehe ich bereits die Speisekarte verschiedener Restaurants durch und stelle mir das jeweils günstigste und sättigendste Menü zusammen.
Amie ist nicht bewusst, wie klamm ich im Moment bin. Ehrlich gesagt wurde mir das auch erst klar, als ich gestern mein Konto überprüft habe. Das Konto, von dem mein Vater nichts weiß. Das ganz knapp vor null steht. Bis vor drei Wochen hatte ich ein regelmäßiges Einkommen und eine Rolle in einem erfolgreichen Stück, das bereits fünf Monate lief. Aber es war klar, dass etwas nicht stimmte, als zwei Schecks verspätet eintrafen und schließlich ganz ausblieben. Die Produktionsfirma war pleite, und ich war plötzlich ohne Einkommen.
Um es noch schlimmer zu machen beschloss meine Agentin nur eine Woche später ohne Vorwarnung, in den vorgezogenen Ruhestand zu gehen. Sie servierte sämtliche Klienten einfach ab, weshalb wir uns auf die verzweifelte Suche nach einer neuen künstlerischen Vertretung machen mussten. Bis jetzt habe ich weder einen neuen Agenten noch eine neue Rolle gefunden.
Ich brauche diese Rolle, ansonsten werde ich in den sauren Apfel beißen und mir einen Halbtagsjob suchen müssen, in dem ich überteuerten Kaffee für jene Art verhätschelte Typen zubereite, wie sie hier herumsteht. Nicht dass ich das schlimm fände. Es ist nur nervig, da ich erst vor knapp zwei Jahren meinen dreifachen Abschluss an der Randolph Academy gemacht habe. Immerhin war ich naiv genug anzunehmen, dass mich meine Fähigkeiten zu singen, zu tanzen und zu schauspielern direkt an den Broadway bringen würden. So kann man sich irren. Bis jetzt hatte ich zwei kleinere Rollen in Off-Off-Broadway-Stücken, aber vielleicht zahlt es sich ja morgen aus, und ich stehe wieder auf einer Gehaltsliste. An die Alternativen möchte ich überhaupt nicht denken, also denke ich positiv und hoffe das Beste.
Ich umarme sie, leere meinen Martini, stelle das Glas auf den Tisch und ermahne sie, Spaß zu haben … jedenfalls so gut es geht, wenn man an die unzähligen Leute auf der Party denkt. Die enormen Kronleuchter, die von der Decke hängen, sind gedimmt, sodass das Licht ein wenig schummerig ist. Vielleicht ist es auch der Martini, der meine Wahrnehmung trübt.
Ich habe noch nie viel getrunken. Im College, als sich meine Freunde mit Bier zuschütteten und sich kopfüber aus Bierfässern abfüllen ließen, war ich immer diejenige, die sich den ganzen Abend an einem Getränk festhielt. Dass Bier auf Verbindungspartys das übliche Getränk darstellte, war auch nicht gerade hilfreich, weil es einfach nicht meinem Geschmack entsprach. Obwohl ich mir also heute Abend nur einen einzigen Martini gegönnt habe, wirkt der letzte Schluck, als hätte ich nach zwei Fastentagen eine ganze Flasche Wodka gekippt. Mindestens. Dieses Gefühl wird nicht lange anhalten, aber es ist trotzdem benebelnd.
Ich verlasse den Raum, um den protzigen Toiletten einen Besuch abzustatten, bevor ich mich auf den Weg zur U-Bahn mache. Keine Ahnung, ob meine Blase ansonsten die ganze Heimfahrt und den Fußweg zu meinem Apartment durchhalten würde. In der Eingangshalle sind nur ein paar Leute, die telefonierend herumlaufen. Ich entdecke das Hinweisschild für die Toiletten und folge ihm, darauf bedacht, meine Haltung zu bewahren.
Die Beleuchtung in diesem Korridor ist noch schlechter, nur ab und zu erhellt ein kleiner Spot den Weg. Irgendwie unheimlich. Die eigentliche Toilette ist sehr hübsch, mit einem Sofa in der Ecke des Vorraums und einem großen Spiegel, um sich zurechtzumachen. Vor dem hat sich eine Frau mit extrem hohen Absätzen, unglaublich langen Beinen und in einem superkurzen, hautengen Kleid aufgebaut und die Hälfte ihres Tascheninhalts quer über die Ablage verstreut. Sie hat ihr Handy auf laut gestellt und telefoniert. So, wie sie das Teil hochhält, dürfte es ein Video-Chat sein.
Sie hält einen Moment inne und wirft einen kurzen Blick in meine Richtung. Noch bevor ich ein höfliches, aber künstliches Lächeln aufsetzen kann, verzieht sie angewidert das Gesicht und wendet sich ab, als hätte sie einen Haufen Abfall gerochen.
Ich öffne die Tür der ersten Toilette, die völlig verstopft ist. Mühsam unterdrücke ich ein Würgen und gehe zur nächsten, die zum Glück sauber ist. Sobald ich die Tür zu der Kabine hinter mir abgeschlossen habe, setzt das zickige Möchtegern-Model sein Gespräch fort, als ob ich es durch die geschlossene Tür nicht hören könnte.
Ich hänge Schal und Handtasche an den Kleiderhaken, schiebe den Rock hoch, stopfe ihn oben in mein Kleid, damit er nicht nass wird, und hocke mich über die Toilette. Mir ist völlig egal, wie schick ein Waschraum ist, ich will nicht, dass meine nackte Haut den Toilettensitz berührt.
»Bah!«, stöhnt die Frau vor dem Spiegel, »findest du, dass ich in dem Kleid fett aussehe?«
Ich starre die Tür an und unterdrücke ein Prusten. Sie ist gertenschlank.
»Du siehst umwerfend aus. Ich wette, du siehst besser aus als Armstrongs Verlobte. Keine Ahnung, warum er sie überhaupt heiratet. Ihre Familie hat nicht annähernd so viel Geld wie seine.«
»Aber sie sind alter Geldadel, und du weißt, was das heißt.«
Ihre Freundin macht ein verächtliches Geräusch. »Trotzdem.«
»Ihr Kleid ist so altbacken. Egal, ich denke mein Date mit Banny läuft richtig gut.«
»Seit er dieses Soccer-Ding aufgegeben hat und seine Rolle im Familienunternehmen spielt, ist er viel interessanter.«
»Er hat Rugby gespielt, nicht Soccer, und du hast völlig recht.«
Ich verdrehe die Augen bei dieser Unterhaltung. Diese Mädchen sind genau der Grund, weshalb ich gegen die gesamte Gesellschaft dort draußen und alles, was mit ihr zu tun hat, rebelliere. Sie sind völlig banal.
»Glaubst du, er wird dich zu sich einladen?«, fragt ihre Freundin.
»Ich hoffe sehr. Es wäre ideal, aber ich weiß nicht, er war krank oder so was, hat die ganze Nacht Erkältungsmedizin genommen. Ist auch egal. Denkst du, ich sollte gleich Sex mit ihm haben, wenn er mich einlädt, oder soll ich die Schüchterne spielen? Ich will nicht, dass er denkt, ich wäre leicht zu haben. Sonst war’s das.«
»Wie wär’s mit einem Blowjob?«
»Gute Idee.«
»Und lass dich bloß nicht von ihm ausziehen.«
»Natürlich nicht. Ich hab ihm vor ein paar Minuten das Bild von mir geschickt, auf dem ich an einem Lolli lutsche. Denkst du, das war zu direkt?«
»Er war Profisportler, er sollte mit direkten Aktionen umgehen können.«
Wow. Wenn das nicht eine stilvolle Unterhaltung ist. Ich beende meine Sitzung, vermeide jeden Augenkontakt auf dem Weg zum Waschbecken, lasse das Wasser laufen und hoffe, so das Gespräch zu übertönen.
Neben den Handtüchern sind kleine Fläschchen mit Lotion, abgepackte Minzpastillen und – ironischerweise – Lollis aufgereiht. Ich nehme einen mit Traubengeschmack, wickle ihn aus und stecke ihn mir in den Mund. Ich nehme mir auch noch ein Päckchen Minzpastillen. Wäre ich allein, hätte ich wohl alles, was herumliegt, eingesteckt.
Ich drapiere den Schal um meine Hand, damit ich den Türgriff oder was auch immer nicht berühren muss.
Als ich an der Herrentoilette vorbeigehe, schwingt die Tür auf, und ein sehr großer Typ im Anzug tritt heraus. Ein richtiger Schrank von einem Mann, mit Schultern so breit, dass er sich zur Seite drehen muss, um durch die Tür zu passen. Er starrt auf das Telefon in seiner Hand und rennt mich beinahe über den Haufen. Mein Selbsterhaltungstrieb veranlasst mich, ihm auszuweichen, damit er mich nicht niedermäht, aber meine Anmut nimmt gerade eine Auszeit, und so stolpere ich direkt in ihn hinein, anstatt an ihm vorbei, während ich gleichzeitig versuche, den Lutscher aus dem Mund zu nehmen, um nicht völlig billig zu wirken.
»Hey!« Seine Stimme ist ein tiefes, dunkles Brummen. Sex pur.
Ich packe die Aufschläge seines Jacketts, um nicht völlig den Halt zu verlieren, und er schlingt einen Arm um meine Taille. Um mich zu halten, vermute ich.
Ich habe kaum Zeit, ihn richtig anzusehen, da ist sein Gesicht schon direkt vor meinem. »Du bist ziemlich direkt, nicht wahr?« Seine Nase reibt über meine Wange, und sein warmer Atem streichelt meine Lippen, während er spricht. Warmer Atem, der nach Alkohol riecht.
»Ich denke nicht …« Mein zaghafter Protest hat nicht den gewünschten Effekt, da er meine geöffneten Lippen als Einladung versteht, seine Zunge dazwischenzustecken.
Mein erster Eindruck ist, wie sehr er nach Scotch schmeckt. Schlimmer noch, mit ein wenig Anstrengung könnte ich wohl die Marke nennen.
Er stöhnt in meinen Mund und verstärkt den Griff um meine Taille. Dieser Typ ist offensichtlich an der falschen Adresse, aber so schockiert ich auch bin, ich muss zugeben, dass er großartig küsst.
Vom Alkoholgeschmack einmal abgesehen, sind seine Lippen voll und weich, und er macht mit seiner Zunge diese streichelnde Bewegung, die meine Knie ihren eigentlichen Zweck vergessen lassen – mich entweder aufrecht zu halten oder sie ihm für diesen oralen Überfall in die Eier zu rammen. Gewisse Teile meines Körpers beginnen sich zu erhitzen und zu kribbeln, während unsere Zungen tänzeln. Richtig, ich sagte unsere, weil ich seine Küsse eindeutig erwidere und das, obwohl ich nicht das eigentliche Zungenziel bin.
Als Folge dieses unerwarteten, aber nicht unwillkommenen Überfalls sind meine Augen geweitet, sodass ich seine schönen, langen gesenkten Wimpern bemerke und die gerade Linie seiner Nase. Wie es scheint, ist er nicht nur sehr groß, sondern auch noch echt heiß.
Ich lege meine Hände auf seine Brust, um ihn wegzuschieben, denn genau das sollte ich tun, anstatt die Zungengymnastik fortzuführen. Als Erstes fallen mir seine ausgeprägten Muskeln auf, dann die Weichheit des Stoffs. Anstatt auf Abstand zu gehen, gleite ich unabsichtlich mit meinen Händen über die Revers, bis ich warme Haut spüre. Seine Hände rutschen von meinen Hüften auf meinen Hintern, und plötzlich kann ich spüren, dass sich hinter seinem Hosenschlitz etwas regt. Mein schweres Atmen beantwortet er mit einem tiefen, kehligen Knurren.
Bevor ich überlegen kann, ob ich ihn fortschubsen oder weiter mit ihm rummachen soll, durchschneidet eine schrille, vertraute Stimme Superküssers tiefes Stöhnen. Ganz nah. Fast schon in meinem Ohr. »Ban – was machst du da?«
Seine Zunge schlüpft aus meinem Mund, und seine Hand lässt meinen Po los. Er wendet sich dieser schrecklichen Stimme zu, sein verwirrter Blick schnellt zwischen mir und dem Waschraum-Selfie-Girl hin und her, schließlich hustet er, direkt in mein Gesicht.
Ich mache ein würgendes Geräusch und wische mir seinen Speichel mit meinem Schal von der Wange. Unterdessen entschuldigt sich Superküsser, wobei mir nicht klar ist, bei wem, und wühlt dabei in seinen Taschen – vielleicht nach einem Taschentuch?
Toiletten-Girl betrachtet mich abfällig und richtet dann einen wütenden Blick auf Superküsser. »All das«, sie streicht mit der Hand an sich hinab, betont ihren durchtrainierten Körper, der in das hautenge Kleid gehüllt ist, »hätte heute Nacht dir gehören können.« Sie dreht sich auf ihren Stilettos herum, sodass ihr Haar eindrucksvoll durch die Luft schwingt, und stolziert den Korridor entlang, weg von uns.
»Brittany, halt! Ich dachte, sie wäre du!«
Natürlich heißt sie Brittany. Ein ganz gewöhnlicher Name für Kinder reicher Leute, so wie Tiffany oder Stephanie und all die anderen Namen, die auf y oder ie enden. Nicht dass mein Name irgendwie besser wäre. Wie ich zu dem Namen Ruby gekommen bin, wird mir immer ein Rätsel bleiben. Da ich nicht im Juli geboren bin, ist der Rubin noch nicht einmal mein Geburtsstein.
Die einzige Gemeinsamkeit zwischen Brittany und mir ist, dass wir beide Frauen sind und Haare auf dem Kopf haben. In diesem grässlichen Licht ähnelt sich sogar unsere Haarfarbe, auch wenn ihre Haare gut zwanzig Zentimeter kürzer sind. Wir tragen auch beide Kleider, beide dunkel, meins tiefrot, ihres schwarz. Meins endet eine Handbreit über dem Knie, ihr Kleid bedeckt kaum den Po.
Brittany legt eine dramatische Drehung hin, sieht ihren potenziellen Lover ungläubig an und fuchtelt mit ihrer manikürten Hand in meine Richtung. »Wie betrunken bist du eigentlich? Sieht diese Schlampe mit ihren Billigklamotten etwa aus wie ich?«
Ich schnaube. »Im Ernst? Wenn dein Kleid auch nur zwei Zentimeter kürzer wäre, könnte man bei dir alles sehen, und du nennst mich eine Schlampe?« Zugegeben, ich bin schon neidisch auf ihr gutes Aussehen, aber immerhin hat sie mit den Beleidigungen angefangen. Außerdem ist das hier nicht mein Fehler. Schließlich war es dieser außergewöhnliche Küsser, der seine talentierte Zunge in meinen Mund gesteckt und anschließend die Leidenschaftlichkeit dadurch ruiniert hat, dass er in mein Gesicht hustete.
Superküsser stellt sich zwischen uns. Seine breiten Schultern verdecken fast völlig meine Sicht auf die Tussi.
»Hoppla, Ladys! Das ist nur ein Missverständnis, lasst uns deswegen doch nicht ausfallend werden.« Ich registriere das leichte Lallen, mit dem er das S jeweils in die Länge zieht. Er streckt den Arm aus und stützt eine Hand gegen die Wand, wie um einen möglichen Angriff abzublocken, aber mir wird klar, dass er das tut, um sich abzustützen. Er ist ganz eindeutig betrunken. Was auch die unabsichtliche Zungengymnastik erklären würde.
»Ich weiß gar nicht, worüber ich mich aufrege«, höhnt Brittany. »Ich geh nach Hause. Du kannst meine Nummer löschen.«
Frustriert fährt er sich mit den Fingern durch das kräftige, üppig gewellte Haar. Dieser Mann hat keine Implantate, diese sexy Haarpracht ist zweifelsohne echt. »Fuck.« Er dreht sich um und mustert mich kurz. Ich werfe einen schnellen Blick nach unten und sehe, dass seine Schuhe schwarz, poliert und nicht spitz sind. Selbstsicher und uneitel.
Während er mich abschätzt – ein Fehler, der ihn die volle Punktzahl kostet –, bemerke ich einige wesentliche Details. Da sind zunächst einmal seine blutunterlaufenen Augen und sein verschleierter Blick, was sehr wohl erklären könnte, warum er mich nicht von der dunkelhaarigen, davonstürmenden Barbie unterscheiden konnte. Seine Nase ist leicht gerötet, und er wirkt blass. Auf seiner Stirn glänzt ein leichter Schweißfilm, und die Beule in seiner Hose ist auch nicht zu übersehen. Es gefällt mir, dass meine Fähigkeiten im Küssen anscheinend ausreichen, um ihm einen Ständer zu verpassen.
Und schließlich, und das ist das Wichtigste, ist diese Backsteinmauer von einem Mann verdammt scharf, selbst wenn er – falls man Brittanys Waschraumreport Glauben schenken kann – krank ist. Auf einer Skala von eins bis zehn landet er bei sieben Millionen.
Er räuspert sich. »Tut mir sehr leid, dass ich dich sexuell belästigt und angehustet habe. Ich habe die ganze Nacht Erkältungstabletten eingeworfen, als wären es Süßigkeiten, und hatte wohl auch einen Scotch zu viel. Ich habe wirklich gedacht, du bist sie, obwohl das ganz offensichtlich nicht so ist.«
Also, das ist nun wirklich unhöflich.
Er deutet erst auf meinen Körper, dann auf mein Gesicht und stößt einen kurzen Atemzug aus. »Ich finde, du siehst … wow, einfach toll aus.«
Na gut, vielleicht doch nicht ganz so unhöflich.
»Wie auch immer, sie ist eine Freundin der Familie, deshalb muss ich das wieder hinbiegen. Ich muss los. Vielleicht solltest du Vitamin C oder so etwas nehmen, wenn du nach Hause kommst.«
Mit diesem überflüssigen, aber freundlich gemeinten Ratschlag dreht er sich um und trottet den Korridor hinunter.
Ich sollte mich wohl geschmeichelt fühlen, weil er mich mit einem Supermodel verwechselt hat, selbst wenn er betrunken ist und unter Drogen steht.
Bancroft
Ich werfe einen letzten Blick auf die Frau, die ich gerade unabsichtlich belästigt habe, und folge dann Brittanys wehenden Haaren und schwingendem Po den Gang entlang und durch die Eingangshalle. Wäre ich nicht mit Brittany hier und hätte ich nicht meiner Mutter versprochen, es ernsthaft mit ihr zu versuchen, wäre ich nicht abgeneigt, mich umzudrehen und diese Frau um ihre Nummer zu bitten. Sie hat einen schönen Mund. Während wir uns küssten, habe ich mir ausgemalt, wie es wäre, andere Dinge als meine Zunge in ihren Mund zu stecken. Kein sehr kultivierter Gedanke, aber dafür ehrlich.
Ich rufe Brittany nicht hinterher, als ich ins Foyer komme. Zu viele Leute kennen mich hier, und wenn ich an ihre letzte Reaktion denke, dann wäre es gut möglich, dass sie hier eine Szene macht, auf die ich verzichten kann. Das Beste wäre gewesen, den heutigen Abend abzusagen, da ich mich die ganze Woche über hundeelend gefühlt habe. Aber ich wollte weder meine Mutter vor den Kopf stoßen, indem ich das Date verschob, noch Armstrong verärgern, indem ich seiner Verlobungsparty fernblieb. Also habe ich jede Menge Tabletten geschluckt und in den sauren Apfel gebissen. Und jetzt muss ich die Angelegenheit mit Brittany wieder hinbiegen.
Kaum hatte ich Brittany abgeholt, da deutete sie auch schon an, dass sie nachher mit zu mir kommen würde.
Ich hatte genügend Gerüchte über sie und ihren Mund gehört, und die betrafen nicht nur ihre Vorliebe für Klatsch. Was für mich nichts Neues ist, da ich sie schon fast mein ganzes Leben kenne.
Das Selfie, auf dem sie an einem Lolli lutscht, war ein mehr als deutlicher Hinweis, dass ein gemeinsamer Absacker wohl nicht mit Small Talk enden würde. Als ich in die Frau im Flur hineingestolpert bin, dachte ich wirklich, es wäre Brittany, die mich anmachen will, und dass wir es auch gleich hinter uns bringen könnten. Es wäre schlauer gewesen, nicht gleich loszulegen, da ich mir hätte ausrechnen können, dass das nur zu unnötigen Komplikationen führen würde. Aber die Tabletten und die Drinks haben dafür gesorgt, dass ich nicht klar denken konnte und mit einer Zufallsbekanntschaft im Flur herumgeknutscht habe.
Abgesehen davon war das Date mit Brittany eine Gefälligkeit, die meine Mutter arrangiert hatte. Brittanys eigentliches Date hatte sie offensichtlich in letzter Minute sitzen lassen, also fand meine Mutter, dies wäre die perfekte Gelegenheit, sich einzumischen und die Kupplerin zu spielen. Normalerweise gebe ich den Launen meiner Mutter nicht nach, schon gar nicht, wenn sie mein Liebesleben betreffen, doch vor knapp einem Jahr wurde mir ziemlich unvermittelt klargemacht, was Familie bedeutet.
Meine Mutter hatte ernstliche Gesundheitsprobleme, die zu endlosen Untersuchungen und viel Hoffen und Bangen führten. Das passierte zudem mitten in der laufenden Meisterschaft, sodass ich nicht da sein konnte, als sie von einem Krankenhaus ins nächste wechselte. Hinzu kam, dass kurz darauf meine Großmutter verstarb, eine fantastische Frau, deren Verlust uns alle völlig aus der Bahn warf. Wenn jemand die Familie zusammengehalten hatte, dann sie. Wenig später zog ich zurück nach New York, wo mir meine Mutter ständig in den Ohren lag, dass ich doch endlich eine Beziehung eingehen und mich häuslich niederlassen solle. Da ich nach wie vor Schuldgefühle hatte, weil ich nicht für sie da war, als sie mich brauchte, gab ich einfach nach, als sie das Date mit Brittany vorschlug.
Außerdem kam ich so an der Junggesellenauktion vorbei, zu der sie mich überreden wollte. Auch wenn ich dafür in eine zweite Verabredung einwilligen musste. Ihr zufolge kommt Brittany aus einem »guten Stall«, was in meiner Welt einen unangemessen großen Stellenwert hat.
Berücksichtigt man die Erziehung meiner Mutter, ist ihre Einstellung zu Beziehungen keineswegs ungewöhnlich, und es gab durchaus eine Zeit, in der ich ihre Auffassung geteilt habe. Aber die letzten sieben Jahre, in denen ich professionell Rugby gespielt habe, haben meine Ansichten über viele Dinge verändert. Beziehungen – wie sie funktionieren oder auch nicht – gehören dazu.
Ich vermeide jeglichen Augenkontakt, als ich zügig, aber betont locker zum Fahrstuhl schlendere. Geradeaus zu gehen erweist sich als schwieriger als gedacht. Ständig wurden mir Drinks angeboten, die ich schlecht ablehnen konnte, besonders bei solch einem Anlass.
Brittanys viel zu hohe Absätze verhindern, dass sie sich schnell davonmachen kann. Egal, wo sie sich befindet, sie bewegt sich immer wie auf einem Laufsteg, was ein wenig lächerlich wirkt. Sie erreicht den Aufzug genau in dem Moment, in dem sich die Türen öffnen, also beschleunige ich meinen Schritt. Sie hämmert auf die Tasten ein, aber ich kann im letzten Moment meinen Arm zwischen die sich schließenden Türen schieben und einsteigen.
»Danke, dass du den Fahrstuhl für mich aufgehalten hast.« Ich sollte zurückhaltender sein, aber die Art, wie der Abend verlaufen ist, ärgert mich. Zudem lässt die Wirkung der Tabletten nach, und ich fühle mich einfach scheußlich.
Sie macht ein verärgertes Gesicht, verschränkt die Arme vor der Brust und starrt geradeaus.
Ich habe nicht die geringste Lust, mich auf ihre Stimmung einzulassen. Ich könnte damit umgehen, wenn sie einfach flirten oder Anspielungen auf später machen würde, aber im Moment ist sie einfach eine Drama-Queen und genau daran habe ich keinerlei Bedarf. Obwohl ich ihre Verärgerung verstehen kann, auch wenn ihr Wutausbruch übertrieben war. Warum auch immer, ich habe einer anderen Frau meine Zunge in den Mund gesteckt, obwohl ich eigentlich ihr Begleiter bin.
Der Fahrstuhl fährt abwärts, und ich lehne mich ihr gegenüber an die Wand. »Das mit der anderen Frau tut mir leid. Ich dachte wirklich, sie wäre du.«
»Glaub nur nicht, dass ich heute noch mit dir nach Hause gehe«, schnaubt sie.
Ich vergrabe meine Hände in den Taschen. Wenn sie jetzt noch mit zu mir kommen wollte, würde das zu noch mehr Zweifeln an ihr führen, als ich sowieso schon habe. Und außerdem würde sie mich ohnehin nicht ins Bett kriegen. Ich hänge an meinen Eiern und habe kein Interesse daran, sie mir von ihrem Vater abschneiden zu lassen, wenn er herausfindet, dass ich gleich am ersten Abend mit seiner Tochter geschlafen habe. »Ist wahrscheinlich besser so, ich bin ganz schön fertig.«
In den nächsten Tagen steht eine Geschäftsreise an, und morgen früh habe ich ein Meeting. Für Geschichten wie diese hier habe ich einfach keine Zeit. Außerdem bin ich immer noch ziemlich erkältet und kann es mir nicht leisten, in so einem Zustand in ein Flugzeug zu steigen.
»Wie konntest du nur glauben, sie wäre ich? Ich bin doch wohl hübscher als sie.« Gekränkt reckt sie ihr Kinn und rümpft die Nase.
Diese andere Frau ist zehnmal schärfer, aber Brittany das zu sagen würde mich nur noch tiefer reinreiten. Aufrichtigkeit ist nicht immer die beste Wahl, und meine Stimmung hat inzwischen ihren Tiefpunkt erreicht. »Ich konnte sie nicht genau sehen.« Eine lahme Ausrede, aber ich habe den Abend inzwischen abgeschrieben. Im Geist stehe ich bereits unter der Dusche, hole mir einen runter und denke dabei an die Frau, die ich geküsst habe – nicht an die, die dort in der Ecke schmollt.
Davon abgesehen ist Brittany überhaupt nicht mein Typ. Sie ist zwar hübsch, trägt aber viel zu viel Make-up. In den paar Sekunden, in denen ich wirklich sehen konnte, mit wem ich da im Flur rumknutschte – und mir klar wurde, dass ich dabei war, einen ernsthaften Fehler zu begehen –, fiel mir auf, wie umwerfend sie aussah. Dunkles Haar, grüne Augen, nicht zu schlank und mit Rundungen an den richtigen Stellen. Eine Naturschönheit, bei deren Anblick meine Eier kribbelten. Und das will was heißen bei all den Medikamenten, die ich geschluckt habe. Immerhin habe ich mir die letzte Woche nur zwei Mal einen runtergeholt. So krank bin ich.
»Warum siehst du mich so an? Ich sagte doch schon, dass ich nicht mit zu dir komme.« Brittany spielt die Beleidigte, betrachtet ihr Spiegelbild und fixiert ein paar widerspenstige Haare.
Ich schüttele den Kopf und versuche, die Betäubung loszuwerden. Irgendwie muss ich weggetreten sein, während sie geredet hat. Gott, fühle ich mich elend. »Ich sorge trotzdem dafür, dass du sicher nach Hause kommst.« Trotz meiner Gereiztheit werde ich sie schon nicht stehen lassen.
»Ich kann mir selber ein Taxi rufen.«
Ich lasse das Argumentieren sein und gehe in Gedanken die Checkliste für die nächsten Tage durch. Der Anzug für mein morgendliches Meeting liegt schon bereit. Ich muss früh raus – obwohl ich dank dieser Verlobungsparty wohl kaum genügend Schlaf bekommen werde –, und ich muss auch noch die Unterlagen für die Reise vorbereiten. Fünf Wochen in Übersee sind eine lange Zeit, und ich kann es mir nicht leisten, etwas Wesentliches zu übersehen. Dieser Trip ist wichtig. Er ist für mich die Bewährungsprobe, um zu erfahren, ob ich die Dinge im Griff habe, ohne dabei die ganze Zeit den Atem meines Vaters im Nacken zu spüren.
Der Aufzug hält an, und Brittany stolziert an mir vorbei, wobei sie ihr Haar über die Schulter wirft und es mir ins Gesicht klatscht. Ich lasse sie vorausgehen. Da ich vergessen habe, meinen Fahrer zu benachrichtigen, muss ich weitere, quälend lange Minuten mit einer schmollenden Brittany verbringen.
Schließlich fährt der Wagen vor. Ralph, mein Chauffeur, steigt aus und entschuldigt sich für die Verspätung. An meinem Gesicht und Brittanys säuerlicher Miene ist wohl deutlich abzulesen, dass keiner von uns über die Wartezeit begeistert ist. Ich öffne die Tür für sie und reiche ihr meine Hand, die sie ignoriert.
»Dann fahren wir mal zu Ms Thornton. Okay, Ralph?« Ich klopfe ihm auf die Schulter. Er zieht eine Braue hoch, sagt aber nichts, als ich zu meiner verärgerten Begleiterin in den Wagen steige.
Sie rückt von mir weg bis in die äußerste Ecke. Ich lehne mich gegen die Kopfstütze und warte ab. Sie kann noch nicht fertig sein. Dabei bin ich so erschöpft. Und dann fällt mir auch noch ein, dass ich ja einem zweiten Date zugestimmt habe. Allmählich frage ich mich, ob die Junggesellenauktion nicht doch erträglicher gewesen wäre. Aber meine Mutter wird schon dafür sorgen, dass ich meine Zusage einhalte. Sie ist fest entschlossen, mich zu einem sesshaften Mann zu machen. Umso mehr, da mein älterer Bruder, Lexington, dessen Freundin ihm vor einigen Monaten den Laufpass gegeben hat, keinerlei Interesse daran zeigt, in den Dating-Pool zurückzukehren, außer für eine kurze Affäre.
Wenn man sieben Jahre lang permanent unterwegs ist, kann man einfach keine dauerhafte Beziehung führen. Nach meiner Erfahrung gibt es kaum eine Fernbeziehung, die funktioniert. Als ich mich bereit erklärte, mit meinem Vater zu arbeiten, hatte ich angenommen, ich wäre inzwischen bereit, Wurzeln zu schlagen, was es mir ermöglicht hätte, tatsächlich jemanden kennenzulernen, mit dem ich eine Beziehung hätte führen können. Es ist schon lange her, dass es in meinem Leben etwas Beständiges gab, etwas, das Bedeutung hatte. Und ausgerechnet jetzt schickt mich mein Vater wieder auf Reisen, dabei war es diese Distanz, die ich nicht mehr wollte.
»Ich sehe dieser Schlampe überhaupt nicht ähnlich.«
Brittany reißt mich aus meinen Grübeleien. »Nein.« Jegliche Debatte scheint sinnlos. »Ich würde sie allerdings nicht als Schlampe bezeichnen.«
»Kennst du sie? Bist du vorher schon mit ihr ausgegangen? Wusstest du, dass sie auf der Party sein würde? Ich kann es nicht fassen, dass du mir so was antust, und das vor all den Leuten.«
Ich wende mich ihr vorsichtig zu und sehe sie an. Das ist verdammt viel Drama für ein erstes Date. »Nein, ich kenne sie nicht. Nein, ich bin niemals vorher mit ihr ausgegangen. Nein, ich wusste nicht, dass sie auf der Party sein würde. Und was meinst du mit all den Leuten? Außer uns war niemand im Flur.«
»Sie hat deinen Kuss erwidert! Ich hab doch ihre Zunge gesehen! Ihre! In deinem Mund.« Sie deutet mit einem anklagenden Finger auf mich. »Und deine Zunge war in ihrem Mund.«
Das stimmt. Obwohl ich ein völlig Unbekannter war, hat mich meine geheimnisvolle Fremde geküsst. Das ist ein Punkt, über den ich später noch nachdenken kann.
»Hör mal, Brittany, ich hab doch schon zugegeben, dass es ein Fehler war. Und ich sehe ja ein, dass sie nicht so aussieht wie du, aber der Flur war schlecht beleuchtet, und ich hab einfach lange Haare und ein dunkles Kleid gesehen, und darauf habe ich reagiert. Ich bin die ganze Woche über krank gewesen und habe von morgens bis abends Medikamente genommen. Ich wollte unser Date nicht absagen, also habe ich wohl mehr Tabletten genommen, als mir gut getan hat. Das ist vielleicht keine Entschuldigung, aber die Wahrheit.« Ich wende den Blick ab, schließe die Augen und versuche, nicht an die Frau zu denken, die ich vorhin geküsst habe.
»Du hast recht, das ist überhaupt keine Entschuldigung. Ich dachte, wir hätten einen schönen Abend zusammen.« Ihr Tonfall wird weinerlich. »Hoffentlich hat es sich gelohnt, diese Tussi zu küssen.«
Gut, dass ich die Lider geschlossen habe, sonst würde sie sehen, wie ich die Augen verdrehe.
Der Wagen hält, und Ralph meldet über die Sprechanlage, dass wir angekommen sind. Er wird weder die Trennscheibe herunterfahren, noch eine Tür öffnen, bevor ich ihm antworte.
»Da wären wir«, sage ich.
Brittany macht ein mürrisches Gesicht. »Zu schade, dass wir nicht mehr Spaß miteinander hatten.«
Ich drücke auf den Knopf für die Sprechanlage, um Ralph zu danken. Ein nerviges Date ist keine Entschuldigung für schlechtes Benehmen. »Ich bring dich noch zur Tür.«
»Nicht nötig.«
Ich öffne die Tür, trete auf den Gehsteig und warte auf sie. Sie streicht ihren Rock glatt, ergreift die angebotene Hand und lässt mich beim Aussteigen sehen, dass sie kein Höschen trägt. So bekomme ich einen Eindruck davon, was mir heute Nacht entgehen wird. Ich bin sicher, das war pure Absicht von ihr.
Im Lauf der Jahre haben einige Frauen diesen Trick benutzt. Die ersten Male hat das auch funktioniert, aber es wird schnell langweilig, wenn es einem zu einfach gemacht wird. Es ist immer besser, sich ein wenig bemühen zu müssen.
Ich bringe sie bis zur Haustür und entschuldige mich erneut, dabei bin ich mir keinesfalls sicher, wie leid es mir tatsächlich tut. Ihr theatralisches Benehmen ist einfach zu viel für mich.
Anscheinend hat mein höfliches Vorgehen einen Schalter bei ihr umgelegt. Nachdem sie die Tür geöffnet hat, dreht sie sich zu mir um, befeuchtet ihre Lippen und betrachtet mich eingehend. »Also« – sie korrigiert den Sitz meiner Krawatte, die bereits perfekt saß – »wenn du es wirklich ernst meinst, könntest du mir ja zeigen, wie leid es dir tut.«
Trotz meiner Benommenheit bin ich mir fast sicher, dass dies ein eindeutiges Angebot ist. »Und was stellst du dir vor?«
»Einen Schlummertrunk bei mir?«
Ich wende mich ab und huste in meine Ellenbeuge. Es ist kaum zu glauben, dass sie immer noch Interesse hat, so beschissen wie der Abend gelaufen ist.
»So schlecht, wie es mir geht, sollten wir das wohl besser verschieben. Ich will dich nicht auch noch anstecken.«
»Du musst mich ja nicht auf den Mund küssen, mir fällt da schon was ein.«
Ich verspüre den ausgeprägten Drang, sie zu packen und ihr eine Lektion in Selbstachtung zu erteilen. Es ist kaum zu glauben, dass sie mich anmacht, nachdem ich, absichtlich oder nicht, mit einer anderen geknutscht habe.
»Das klingt nach einem guten Anfang, aber so, wie ich mich gerade fühle, ist das wohl keine gute Idee. Meinst du nicht auch?«
Sie seufzt und fährt mit ihren Fingern über meine Brust. »Scheint so. Wie sieht es bei dir nächste Woche aus? Bestimmt geht es dir dann ja besser.«
»Ich gehe Ende der Woche auf Geschäftsreise, aber was hältst du davon, wenn ich dich nach meiner Rückkehr anrufe?« Innerlich winde ich mich und hoffe, dass man mir das nicht ansieht.
»Okay!«, stimmt sie begeistert zu.
Ich lasse mich umarmen und zum Abschied auf die Wange küssen.
Ich warte, bis sie hineingegangen ist, bevor ich zum Wagen zurückgehe, verwundert darüber, dass sie immer noch an mir interessiert ist.
Ich mache es mir auf dem Rücksitz bequem und denke an die Frau, die ich geküsst habe. Ich muss unbedingt herausfinden, wer sie ist, damit ich ihr Blumen und vielleicht eine Packung Vitamin C als Entschuldigung für mein grobes Benehmen schicken kann.
Ruby
Während der Heimfahrt mit der U-Bahn lutsche ich eine ganze Packung Listerine, um sämtliche Keime der Knutscherei abzutöten. Ärgerlich diese Sache, aber wenigstens hat er sich für die versehentliche Zungeninvasion entschuldigt und schien es sogar ernst zu meinen. Zu dumm, dass die Erinnerung an dieses Kribbeln durch eine wütende Brittany und sein Husten in mein Gesicht ruiniert ist.
Nachdem ich zu Hause angekommen bin, spüle ich gründlich mit Mundwasser und schlucke sechs Vitamin-C-Tabletten und irgendein ganzheitliches Grippemittel. Dann bereite ich mir meinen üblichen Die-Nacht-vor-dem-Vorsprechen-Drink aus heißem Honig-Zitronen-Wasser zu und bete, dass ich alles getan habe, um mich von Erkältungskeimen zu befreien.
Ich schlüpfe unter die Decke, merke, dass meine Bettwäsche einen frischen Duft vermissen lässt, und frage mich, wann ich sie das letzte Mal gewaschen habe. Dann stelle ich den Wecker und schließe die Augen. Hinter meinen geschlossenen Lidern sehe ich den attraktiven Typen – Banny, wenn ich mich nicht verhört habe. Oder doch Danny? Kein wirklich passender Name für einen heißen Typen. Ich bleibe wohl doch bei Superküsser.
Jetzt, nachdem ich den ersten Schock überwunden habe, kann ich die ATTRAKTIVITÄT dieses Mannes eingehend würdigen – und zwar in Großbuchstaben. Zu schade, dass er anscheinend geistlose, selbstbezogene Möchtegern-Models am Hungertuch nagenden Künstlerinnen vorzieht. Wobei vorziehen vielleicht das falsche Wort ist. Auch schade, dass seine Art zu husten nicht gerade höflich ist.
Ich überlege, ob er, da er anscheinend auf die Verlobungsparty eingeladen war, vielleicht auch unter den Gästen der Hochzeitsfeier sein wird. Falls ich bis dahin keinen Begleiter gefunden habe, wäre er möglicherweise ein passender Tanzpartner. Was natürlich auch davon abhängt, wie er zu Armstrong steht. Sollten sie enge Freunde sein, wäre es wohl wenig ratsam, sich im Rahmen der Hochzeitsfeier auf zu engen Körperkontakt einzulassen, ganz gleich wie scharf der Typ auch ist. Sollten die Dinge nicht so laufen wie gewünscht, würde ich ihm nur ungern wiederbegegnen.
Schließlich höre ich auf, davon zu träumen, wie er wohl ohne seinen Anzug aussieht, und schlafe ein.
Ich bin gerade dabei herauszufinden, was genau sich in Superküssers Designerhose befindet, als mich ein durchdringender Ton dabei stört. Ich halte inne, bevor ich sanft über die erstaunlich markante Beule in seiner Hose streiche. Er biegt meinen Kopf zurück, seine weichen Lippen berühren meine, seine Zunge gleitet …
Der Traum verblasst, und ich öffne ein Auge. Meine Fantasie löst sich in dem unerträglich grellen Sonnenlicht auf, das mir gemeinsam mit meinem blöden Telefon zubrüllt, endlich aufzuwachen. Manchmal sind meine Träume ganz schön scharf.
Mir fällt ein, dass Amie mich anrufen wollte, für den Fall, dass ich meinen Wecker überhöre, was schon mal vorgekommen ist. Doch gestern Abend war ich noch fit genug, um drei Wecker zu stellen, die im Abstand von fünf Minuten klingeln. Keine Chance wieder einzuschlafen.
Ich hangele nach dem Telefon. »Raus aus den Federn, Ruby! Das ist dein Weckruf!« Wie sie um halb acht in der Früh, am Morgen nach ihrer Verlobungsparty, so verdammt munter klingen kann, ist mir vollkommen unverständlich.
Ich gebe ein Bellen von mir, das wie ein Hallo klingen soll, und würde sie am liebsten anmeckern, weil sie meinen Traum unterbrochen hat.
»Ruby? Bist du da?«
Ich versuche es erneut, doch wieder kommt nur ein Bellen dabei heraus.
»Ist die Verbindung so schlecht? Ich sagte doch, dass du nicht den Billigprovider nehmen sollst.«
Ich versuche mich zu räuspern, was ich augenblicklich bereue. Es fühlt sich an, als würden Messer in meiner Speiseröhre stecken.
»Ruby?« Amie seufzt. »Ich leg auf und probiere es noch mal.«
Sobald die Verbindung unterbrochen ist, drücke ich direkt auf Videoanruf. Amie nimmt sofort ab. Sie trägt ein weißes Kleid, hat ihre Mähne zu einem Pferdeschwanz hochgebunden und sieht so frisch aus wie der junge Tag. Ich hingegen sehe aus wie ein ungemachtes Bett, wenn ich das kleine Bild auf meinem Telefon richtig deute.
»Oh mein Gott. Geht’s dir gut?«
Ich zeige auf meinen Hals und schüttele den Kopf. Ich versuche erneut zu sprechen, nur für den Fall, dass es sich um eine morgendliche Heiserkeit handelt. Normalerweise rede ich nicht vor dem ersten Kaffee. Aber auch dieser Versuch endet mit einem piepsigen Krächzen und stechenden Schmerzen im Hals.
Amie stöhnt auf und schlägt die Hand vor den Mund. »Du hast keine Stimme mehr!«
Ich nicke.
»Wie willst du so vorsprechen?«
Der letzte Rest von Müdigkeit ist verflogen. Ich forme mit den Lippen ein Oh nein. Ohne Stimme kann ich mich höchstens als Pantomime bewerben oder um eine Tanzrolle ohne Text. Das bringt nicht annähernd so viel Geld wie eine der Haupt- oder Nebenrollen, auf die ich es abgesehen habe. Sprechrollen werden deutlich besser bezahlt als solche ohne Text. Das reicht noch nicht mal für die Basics wie Miete, Lebensmittel und die Ratenzahlungen für meine Kreditkarte. Ich habe auf dieses Vorsprechen gesetzt, um endlich aus diesem Engpass herauszukommen, in dem ich seit einigen Wochen stecke.
Telefonieren bringt gerade gar nichts, da ich keine Stimme habe und Amie nicht von meinen Lippen lesen kann. Sie sagt, sie komme gleich vorbei. Ich versuche ihr zu sagen, dass sie sich keine Sorgen machen soll, aber ohne Worte ist das schwer zu vermitteln. Ich warte, bis sie aufgelegt hat, und schicke ihr eine SMS, dass sie nicht zu kommen braucht. Abgesehen davon ist das, was ich mir da eingefangen habe, auf jeden Fall ansteckend. Verdammter Superküsser, das ruiniert meine ohnehin schon schwierige Situation völlig.
Ich wälze mich aus dem Bett und spüre dabei jeden Knochen. Ich fühle mich sterbenskrank. Und ich neige nicht zu Dramatik. Jede einzelne Zelle in meinem Körper schmerzt. Ich schleppe mich in die Küche und setze Wasser auf. Vielleicht bringt ja ein heißer Honig-Zitronen-Grog meine Stimme wieder zurück. Aber bei meiner aktuellen Pechsträhne habe ich so meine Zweifel.
Ich schlurfe ins Badezimmer, stelle die Dusche an und durchstöbere das Arzneischränkchen nach geeigneten Medikamenten. Alles, was ich finde, ist rezeptfrei dosiertes Tylenol. Das muss dann wohl reichen. Ich gehe unter die Dusche, ohne vorher die Temperatur zu prüfen. Das Wasser braucht ewig, bis es heiß ist, und wechselt dann zwischen lauwarm und kochend heiß. Ich erwische eine heiße Phase und kauere mich in die Ecke, bis die Temperatur erträglich ist.
Ich wünschte, die Dusche würde mir helfen, mich besser zu fühlen, aber das tut sie nicht. Auch meiner Stimme hilft das warme Wasser nicht. Ich piepse zwar nicht mehr nur kaum hörbare Einsilber wie »Oh«, bete aber zum Gott der Stimmbänder, dass die Honig-Zitronen-Kombi meine Stimme wiederherstellen möge.
Nach der Dusche füge ich dem Drink eine Extraportion Honig und Zitrone hinzu. Damit verbrenne ich mir nicht nur die Zunge, es fühlt sich auch an, als ob mir in Säure getauchte, gezackte Klingen die Kehle hinabgleiten. Trotzdem mache ich mich fertig, wähle schlichte schwarze Strumpfhosen, ein schwarzes Oberteil und darüber ein weites, durchscheinendes Shirt. Ich trockne meine Haare, lege Make-up auf und hoffe, dass ich einigermaßen erträglich aussehe. Ich muss zwei Schichten Puder auftragen, weil ich durch die Anstrengung ins Schwitzen gerate.
Ich nehme einen zweiten Honig-Zitronen-Grog mit auf den Weg und treffe eine halbe Stunde zu früh für das Vorsprechen ein. Was auch egal ist, da ich nach wie vor nur flüstern kann. Meine Verzweiflung explodiert wie Popcorn in der Mikrowelle, als die vielen Leute um mich herum ihre Stimmübungen machen. Ich versuche es auch, aber mein heiseres Krächzen wird von der kristallklaren Stimme der hinreißenden Frau neben mir übertönt. Während ich noch ihrem engelsgleichen Gesang lausche, fühle ich das Zittern eines beginnenden Fieberanfalls. Schweiß bricht mir im Nacken aus und läuft mir den Rücken hinab, während ich stark fröstle. Als wäre das noch nicht genug, verkrampft sich auch noch mein Magen.
»Ruby Scott.«
Ich sehe den Regisseur an, der zum Glück noch sehr frisch wirkt und nicht bereits völlig entnervt von Hunderten unterirdischer Darbietungen ist. Die jetzt beginnen werden. Ich nehme meine Tasche und folge ihm in den Theatersaal.
»Du willst für die Rolle der Emma vorsprechen, richtig?« Ohne meine Antwort abzuwarten fügt er hinzu: »Ich möchte, dass du mit dem Song am Anfang des zweiten Akts beginnst.«
»Okay«, krächze ich leise und zucke beim Klang meiner Stimme zusammen. Wenigstens kann ich wieder sprechen, auch wenn es so klingt, als ob sich ein präpubertärer Jüngling die Eier im Reißverschluss eingeklemmt hat.
Der Regisseur sieht von seinem Klemmbrett auf, das Stirnrunzeln verheißt nichts Gutes.
»Ich habe wohl meine Stimme verloren.« Er muss sich anstrengen, um mich überhaupt zu verstehen.
Ich höre sein enttäuschtes Seufzen. »Wie willst du denn ohne Stimme vorsprechen?«
»Ich wollte das Vorsprechen nicht versäumen. Könnte ich nicht stattdessen vortanzen?« Je weniger Worte, desto besser.
»Das Vortanzen findet frühestens Ende der Woche statt«, entgegnet er schmallippig.
»Verstehe. Aber da ich nun schon mal hier bin und nicht singen kann, könnte ich nicht vielleicht doch vortanzen?« Ich muss ein Würgen unterdrücken, als ich spüre, dass ein Anfall von Übelkeit in mir aufsteigt.
Er seufzt und deutet auf die Bühne. Ich bedanke mich, lasse meine Tasche am Bühnenrand liegen und nehme die erste Position ein. Mein Geist ist umnebelt, und mein Körper schmerzt höllisch, aber ich darf diese Gelegenheit, für die nächsten paar Monate ein bescheidenes, aber regelmäßiges Einkommen zu haben, nicht versäumen. Noch mehr Kreditkartenschulden kann ich mir nicht leisten. Und meinen Vater kann ich auch nicht um Geld bitten, da ihm sonst klar wird, wie schlecht es mir finanziell geht. Das würde nur dazu führen, dass er mich wieder drängt, für ihn zu arbeiten, was ohnehin sein Hauptziel ist. Ich muss es also schaffen.
Die Musik gibt den Einsatz vor, und als ich mich bewege, beginnt sofort mein Magen zu revoltieren. Ich habe zwar nur Honig-Zitronen-Wasser im Bauch, aber das drängt mit aller Macht nach draußen. Ich bin gerade mitten in einer schnellen Drehung, was man bei Übelkeit wohl besser vermeiden sollte, als mich der nächste Anfall kalt erwischt.
Ich presse meine Lippen zusammen, doch der Krampf ist zu heftig. Halb verdaute Reste von Shrimpstörtchen und Pilzkanapees, gemischt mit Honig-Zitronen-Wasser, ergießen sich über die Bühne.
Und mit dieser Szene aus Der Exorzist endet das Vortanzen.
Es wäre wohl schlauer gewesen, mit dem Vortanzen bis zum Ende der Woche zu warten. Dieser Brechanfall ist unentschuldbar. Zumal der Regisseur mein Erbrochenes abbekommen hat. Immerhin eine beeindruckende Reichweite. In meiner Hektik, die nächste Toilette zu erreichen, bevor ein zweiter Krampf einsetzt, rutsche ich fast auf meinem Mageninhalt aus. Ich schaffe es gerade bis in den Vorraum und zur nächsten Topfpflanze, als es erneut losgeht. Bei der dritten Runde bin ich endlich in der Toilette. Wie bei öffentlichen Toiletten üblich, lässt die Sauberkeit zu wünschen übrig. Vielleicht ein Zeichen für den Geldmangel dieser Produktion?
Ich bleibe fast eine Stunde, stöhne und heule, bis nur noch ein trockenes Würgen aus mir herauskommt.
Dummerweise habe ich in meiner Eile die Handtasche auf der Bühne vergessen und muss jetzt warten, bis es eine Pause gibt.
Sie liegt zum Glück direkt am Bühnenrand, sodass ich mich hineinschleichen, sie mir schnappen und wieder verschwinden kann, bevor der Regisseur mich überhaupt bemerkt.
Die Heimfahrt mit der U-Bahn ist eine Tortur. Meine Mitfahrer halten geflissentlich Abstand, vermutlich wegen meiner Schweißausbrüche und meines Gestanks.
Zu Hause verkrieche ich mich stundenlang im Badezimmer, zusammengekauert auf einem Badetuch und mit einer Rolle billigem Klopapier als Kopfkissen.
Ein Klopfen an meiner Tür am nächsten Morgen – dass es Morgen ist, erkenne ich bloß am Licht, das durch mein Badezimmerfenster fällt – lässt mich mein improvisiertes Schlaflager verlassen.
Mir tut jeder einzelne Körperteil weh. Ich trage immer noch die Kleider vom Vortag und rieche nach kaltem Erbrochenen. Dank meiner Zielgenauigkeit ist mein graues Oberteil voller Flecken. Ich spüle mir den Mund mit Wasser. Die Mundspülung brennt, also spucke ich sie wieder aus.
Ich schlurfe zur Tür und schaue durch den Türspion, bevor ich sie öffne. Manchmal schaffen es Hausierer, ins Gebäude zu gelangen. Ich habe keine Lust, meine politische Einstellung zu diskutieren oder mir eine neue Religion aufschwatzen zu lassen. Aber welcher Verein würde mich in meinem gegenwärtigen Zustand wohl aufnehmen wollen?
Es ist Amie. Normalerweise kommt sie nie unangemeldet vorbei. Ich habe vergessen, die Kette vorzulegen, also war mir meine Sicherheit wohl völlig egal. Ich öffne die Tür.
»Ruby Aster Scott, was bitte hat das zu bedeuten?« Sie streckt mir ein Blatt Papier entgegen, so dicht, dass ich es nicht entziffern kann.
Sie lässt die Hand schneller sinken, als ich nach dem Blatt greifen kann. Meine Reflexe sind nicht auf der Höhe.
Ihre ärgerliche Miene verwandelt sich in Entsetzen. »Oh mein Gott, was ist denn mit dir passiert?« Sie kommt so entschlossen herein, dass sie mich fast über den Haufen rennt. Aber so wackelig, wie ich mich fühle, liegt es vielleicht auch an mir.
Amie bedeckt ihr Gesicht mit einem Ärmel. »Was ist das für ein Gestank? Warum bist du nicht ans Telefon gegangen? Ich war kurz davor, die Polizei zu rufen.«
»Ich hab wohl die Grippe«, krächze ich. Wenigstens ist meine Stimme wieder ansatzweise vorhanden. Irgendwie.
»Ich versuche dich seit vierundzwanzig Stunden zu erreichen. So etwas kannst du nicht tun. Und wirklich, was ist das für ein Gestank?«
»Das bin vermutlich ich.«
Sie lässt ihren Arm sinken, schnüffelt und verzieht das Gesicht. »Du brauchst dringend eine Dusche. Oder ein Bad.« Sie blickt sich in der Wohnung um, und das Stirnrunzeln vertieft sich.
Ich war noch nie gut darin, Ordnung zu halten. Bis vor ein paar Monaten hatte ich eine Haushaltshilfe, die ein Mal die Woche mein Chaos einigermaßen in Grenzen hielt. Als mein Vater dann drohte, seine finanzielle Unterstützung einzustellen, habe ich alle nicht lebenswichtigen Ausgaben reduziert. Das betraf auch Ursula. Aber die gegenwärtige Unordnung ist wohl eher meinem Gesundheitszustand geschuldet.
Amies kostspielige Absätze klicken auf dem Boden, als sie sich ins Badezimmer begibt. Ihr Entsetzen über den Geruch dort drin ist unüberhörbar, dagegen ist mein eigener Geruch vermutlich noch harmlos.
Es braucht ein paar Gummihandschuhe, Putzmittel, eine Menge Flüche und fünfzehn Minuten energisches Scheuern, damit mein Badezimmer nicht mehr stinkt wie Kotzilla. Amie lässt für mich ein Bad in der nunmehr sauberen Wanne ein und schubst mich hinein.
»Du bleibst da mindestens zwanzig Minuten drin«, ruft sie mir noch hinterher.