Steinerne Schuld - Paolo Riva - E-Book + Hörbuch

Steinerne Schuld Hörbuch

Paolo Riva

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Beschreibung

  In den Steinbrüchen von Carrara wird der edelste Marmor der Welt abgebaut. Als es dabei zu einem Todesfall kommt, wittert Commissario Luca ein Verbrechen. Doch er ahnt nicht, was für eine Schuld tatsächlich auf den Steinen von Carrara lastet … Das idyllische Städtchen Montegiardino steht unter Schock. Einer der Bürger ist auf tragische Weise ums Leben gekommen: Mauro arbeitet in den weltberühmten Steinbrüchen von Carrara – doch beim Transport von Marmor ins Tal haben die Bremsen seines LKWs versagt. Wurde der Wagen manipuliert? Seit Jahren hatte sich Mauro für mehr Sicherheit in den gefährlichen Steinbrüchen eingesetzt und war damit mächtigen Leuten auf die Füße getreten. Commissario Luca ist sich sicher: Das war kein Unfall. Im Schatten der gigantischen Marmorberge macht er eine Entdeckung, die die ganze Toskana erschüttert. Begleiten Sie Commissario Luca in weiteren spannenden Fällen: - Flüssiges Gold (Band 1) - Toskanische Sünden (Band 2) - Steinerne Schuld (Band 3) - Stumme Zypressen (Band 4)

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Zeit:6 Std. 7 min

Sprecher:Frank Stöckle
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1

Mauro schüttelte den Kopf und zog eine Augenbraue hoch. Er musste grinsen. Hatten sie ihm doch wieder die älteste Karre gegeben. Statt eines elektrischen Fensterhebers wie in den neuen Scania-Modellen betätigte er eine Kurbel, um die Scheibe auf der Fahrerseite herunterzulassen. Dann steckte er sich eine Zigarette an und nahm genüsslich den ersten Zug.

Im Rückspiegel sah er, wie die Arbeiter auf der Ladefläche die letzten Sicherungsarbeiten durchführten: Sie zogen die Bänder noch einmal straffer, um sie zu fixieren, dann prüften sie, ob die Bordwand richtig geschlossen war. Die Gesichter der beiden Männer waren weiß vom Staub, und Mauro wusste nur allzu gut, dass es jenes hartnäckige Weiß war, das auch nach mehrmonatigem Duschen nicht abzuwaschen wäre. Das Weiß derjenigen, die schon ihr ganzes Leben in diesen Steinbrüchen verbrachten. Er hätte ungern mit ihnen getauscht. Als er zwanzig gewesen war, hatte er für einen Monat so wie diese Männer geschuftet, doch die Hitze, der Staub und die tonnenschweren Lasten waren zu viel für ihn gewesen. Also hatte er den LKW-Führerschein gemacht und fuhr seitdem Tag für Tag die Blöcke, die man hier den Felsen abtrotzte – in der Hitze der toskanischen Sommer genauso wie in den kalten Wintern. Es war ihm viel lieber so, auch wenn er manchmal für einige Tage nicht daheim war, weil mal wieder eine Bestellung aus Mailand oder Rom eingegangen war – oder sogar aus Österreich oder der Schweiz. Aber alles war besser, als in den Steinbrüchen zu schuften.

Mauro hob den Blick und ließ ihn über die Berge schweifen, in deren Schatten sein Lastwagen stand. Schroffe, hohe Felsen ohne Bewuchs, die so grob aussahen, als befände man sich mitten in den Alpen, dabei waren sie gerade einmal sieben Kilometer vom Meer entfernt.

Hier unten aber war der Fels schon in Form gebracht, fein ausgehauen, in quadratische Kanten von beeindruckender Schärfe, als hätte ein Lego-Profi Stein auf Stein gesetzt. Hier gab es nichts zu verschenken, kein Kilogramm Marmor sollte verschwendet werden – besonders nicht jene blendend weiße Sorte, die diesen Ort auf der ganzen Welt berühmt gemacht hatte: Carrara. Jedem Steinmetz, jedem Wohlhabenden, jedem Einrichtungsfanatiker war dieser Name Wohlklang in den Ohren.

Und er, Mauro, durfte diesen bedeutendsten Stein der Welt durch die Gegend fahren, kurz nachdem er aus dem groben Fels gehauen worden war. Er nahm noch einen tiefen Zug von seiner Zigarette, dann warf er die Kippe aus dem Fenster und kurbelte die Scheibe wieder hoch. Er öffnete die Tür des LKW, sprang mit behändem Schwung hinaus und wandte sich an die Arbeiter, die gerade von der Ladefläche stiegen.

»Alles klar?«

Der Vorarbeiter, ein alter Kerl mit Schnurrbart, nickte ihm zu. »Klar. Alles befestigt. Hier, die Papiere.«

Aus der Brusttasche seines Overalls zog er einen Bestellzettel und überreichte ihn Mauro. Der überflog schnell die Mengen und betrachtete die Adresse, an die er liefern sollte.

»Na, das wird ja ein rascher Feierabend – nur einmal nach Florenz also? Dann bin ich ja um zwei Uhr schon in der Bar …«

»Du hast es gut. Wir müssen hier noch vier Stunden Dienst schieben.«

Mauro nickte mitfühlend. »Schönen Tag euch noch – und danke.«

»Wir danken dir.«

»Hm?« Da lag etwas in der Stimme des Alten, das Mauro aufmerken ließ.

Der Vorarbeiter stand jetzt nah bei ihm, er konnte seinen tabakgetränkten Atem riechen und die gelben Zähne sehen.

»Wir wissen, was du für uns tust«, flüsterte der Mann. »Für uns und für unsere Sicherheit. Wir können es zwar nicht laut sagen, weil wir sonst eins auf den Deckel bekommen – aber wenn es hart auf hart kommt, stehen wir alle hinter dir. In Ordnung?«

Mauro musste kurz schlucken, dann streckte er dem Alten die Hand hin. »Grazie. Das bedeutet mir viel.« Sie schüttelten einander die Hände, dann hieb ihm der Vorarbeiter noch auf die Schulter. »Gute Fahrt. Und schönen Feierabend später.«

Mauro stieg wieder in seinen LKW und stellte den Sitz richtig ein. Das Lenkrad war so abgegriffen, wie der Sitz durchgesessen war. Wieder musste er lachen. Seitdem er sich für die Sicherheit der Arbeiter im Steinbruch einsetzte, bekam er von seinen Disponenten immer die ältesten Karren zugewiesen. Er hatte sich schon daran gewöhnt.

Er klappte die Sonnenblende herunter und entnahm seinem Portemonnaie das kleine Foto, das er immer mit sich trug, und eine Wäscheklammer. Dann klemmte er das Foto an die Sonnenblende und betrachtete es: Emilia, seine Tochter mit den glatten dunklen Haaren, die so lieb und gleichzeitig frech in die Kamera lächelte, daneben die Frau, die er einst geliebt hatte für einige wenige Monate, die aber das Schönste hervorgebracht hatte, was er in seinem Leben je geschaffen hatte. Er lächelte, bekreuzigte sich und drehte den Schlüssel im Schloss. Der alte Dieselmotor sprang heiser an, und der satte Sound der Maschine erklang – so ein Vierzigtonner war eben doch kein VW Käfer.

Mauro überlegte, sich noch eine Zigarette anzuzünden, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Sofort nach der Ausfahrt aus dem Steinbruch begannen die Spitzkehren, und er würde teuflisch aufpassen müssen, auch wenn er ein alter Hase war. Außerdem konnte er nicht Sicherheit anmahnen, aber selbst unvorsichtig sein – Wasser predigen und Wein saufen, das machten viele hier. Aber so war er nicht.

Er sah im Rückspiegel, wie die Arbeiter zur Pause gingen. Allen hingen Zigaretten in den Mundwinkeln. Schon war er an der Ausfahrt des Steinbruchs, hupte dem Sicherheitsmann zu und bog auf die Straße, die steil bergab ins Tal führte.

Wobei: Straße klang auf lustige Weise übertrieben, denn das hier war nur eine Schotterpiste, bestehend aus feinem Sand und groben Kieseln, die sich in die Reifen der LKWs bohrten. Nur der untere Teil der Straße war asphaltiert, hier oben aber waren die Wege zu steil und die Besitzer der Steinbrüche zu geizig, um all die engen Serpentinen mit Asphalt zu übergießen.

Mauro bremste, als die erste scharfe Kurve in Sicht kam, und lenkte den Lastwagen gekonnt herum. Zu seiner Rechten zeigte sich das Panorama des Tales. Er konnte von hier bis zum Mittelmeer sehen. Die Sonne brannte durch die Windschutzscheibe. Natürlich hatte dieses Vehikel keine Klimaanlage, und obwohl die Lüftung auf voller Pulle drehte, war es hier drinnen viel zu heiß.

Der Schweiß lief ihm in die Augen, und er wischte sich über die Stirn. Es war eine Herausforderung, das alles hier, die Hitze und zugleich der schöne Ausblick auf das hellblaue Meer dort unten, denn er musste sich konzentrieren. Wenn ihm ein LKW entgegenkäme, würde es richtig eng, weil die Schotterwege viel zu schmal waren. Manchmal rangierten selbst erfahrene Kutscher eine halbe Stunde, um aneinander vorbeizukommen, ohne den Abhang hinunterzustürzen.

Mauro spürte, wie die tonnenschweren Marmorklötze auf der Ladefläche hinter ihm den LKW abwärts schoben. Selbst wenn er die Bremse voll durchtrat, dauerte es manchmal Sekunden, bis sie ihre Wirkung entfaltete. Wahrscheinlich waren die Bremsscheiben dieser Karre in einem ebenso erbärmlichen Zustand wie der Rest.

In der nächsten Serpentine musste er das Lenkrad viermal drehen, so steil und kurvig war es hier. Er brachte den LKW dabei fast zum Stehen. Die Reifen verströmten einen Geruch, den er schon kannte: nach verbranntem Stahl und heißem Gummi. So deutlich wie heute aber hatte er diesen Geruch lange nicht mehr wahrgenommen.

Noch acht Serpentinen, dann würde er endlich die Asphaltstraße erreichen, die ihn nach Carrara und von dort aus auf die Via Aurelia brachte. Von dort waren es nur noch zwanzig Kilometer bis zur Autobahn und dann noch mal siebzig bis zu dem Steinmetz in einem der Industriegebiete westlich von Florenz.

Der Schotter spritzte, als Mauro auf einer halbwegs geraden Strecke beschleunigte, wobei er das Gaspedal gar nicht betätigen musste, weil die tonnenschwere Last den LKW nach unten schob, immer dem Tal entgegen.

Dort vorne, in hundert Metern Entfernung, war die nächste Bergkehre. Er sah, wie ihm von weit unten ein anderer LKW entgegenkroch. Mist. Er würde doch noch mal rangieren müssen. Na ja, vielleicht konnte er auch zwei Kehren später in die Nothaltebucht fahren, aber dafür musste er sich beeilen. Er ließ seinen Laster ein Stück weiter rollen als üblich, dann trat er langsam die Bremse. Wieder roch es verbrannt, aber … Mauro riss die Augen auf. Er trat das Pedal stärker durch, aber weder wurde der LKW langsamer, noch war das Geräusch der quietschenden Blöcke auf den Bremsscheiben zu hören. Es passierte einfach nichts. Er spürte, wie der Lastwagen immer schneller wurde, dabei war die Spitzkehre nur noch Sekunden entfernt.

Wieder trat er das Pedal durch in der Hoffnung, dass er sich getäuscht hätte. Aber wieder geschah nichts, da war nur das Geräusch der Reifen, die sich immer schneller drehten.

Er hupte, weil ihm nichts Besseres einfiel, dann trat er noch einmal durch. Der Tacho zeigte nun fünfunddreißig Stundenkilometer. Der verdammte Laster ließ sich nicht bremsen! Er musste doch … Er riss die Handbremse hoch, so weit es ging, es gab einen Ruck, dann drehte sich der Führerstand des schweren Lasters ein wenig, aber es reichte nicht. Mauro schrie auf. Er wollte die Tür aufreißen, aber da war schon die Kante, genau vor ihm, er riss das Lenkrad herum, eine letzte verzweifelte Geste. Der Wagen legte sich in die Kurve, aber er war viel zu schnell für die enge Kehre, schon waren die Reifen auf der Beifahrerseite über die Kante hinweg, unter ihm war nur der weiße Stein, der bald abgebaut werden würde. Auch die Ladefläche geriet nun über die Kante, und kurz bevor Mauro die Augen schloss, blickte er ein letztes Mal auf das Foto an der Sonnenblende.

»Emilia …«, flüsterte Mauro wie ein Mantra, flehentlich. Dann senkte sich das Führerhaus den Abhang hinunter, und das Letzte, was Mauro sah, war der weiße Stein, der auf ihn zuraste, dann, einen Moment später, splitterte die Scheibe, und die tonnenschwere Last auf der Ladefläche des LKW zerschmetterte das Führerhaus mit einem Krachen, das sie noch weit unten im Tal hören mussten. Mauro aber bekam davon nichts mehr mit.

2

»Und? Was wird dein Nachmittag bringen, caro?«

Sie streichelte ihm sanft durch sein Brusthaar, das schon leicht ergraut war, wie Commissario Luca vor zwei Monaten mit Schrecken im Spiegel gesehen hatte. Aber Chiara schien das nicht zu stören, sie neckte ihn nur manchmal damit, indem sie ihn meinen alten Liebhaber nannte.

Weil ihr Kopf auf seiner Brust ruhte, gab er ihr einen Kuss auf die Stirn.

»Ich dachte, ich mache mal eine Verkehrskontrolle auf der Hauptstraße. Der Bürgermeister hat mich darum gebeten, weil er die Stadtkasse mal wieder etwas aufbessern möchte. Du weißt ja, an Markttagen ist so eine Kontrolle tabu …«

Sie grinste und legte ihm den Zeigefinger auf die Lippen, dann wiederholte sie sein altes Mantra: »… denn wir wollen ja nicht den lokalen Weinhändlern und Winzern auf die Füße treten, sonst hätte ja nach einem Markttag kein Bewohner von Montegiardino mehr einen Führerschein …«

»So ist es, liebste Chiara.«

»Ich werde nie verstehen, wie alle Menschen in der Toskana ihre eigenen Gesetze haben – und dass sogar die Polizei mitspielt.«

»Tja, auch für mich gelten Regeln. Und nicht alle stehen im nationalen Gesetzbuch. Die wichtigsten wurden sogar noch nie aufgeschrieben.«

»Wie zum Beispiel, dass du mich gleich noch mal küssen musst?«

Er grinste.

»Küssen und …«

»Ich gehöre Ihnen, Commissario.«

Sie versanken in einem langen Kuss, bis Luca seiner Chiara die Bettdecke wegzog und sie zu streicheln begann. Draußen sangen die Zikaden, hier drinnen aber, in Lucas Bauernhaus, war es schön kühl. Sie waren dazu übergegangen, sich an ruhigen Arbeitstagen zu einer verlängerten Mittagspause zu treffen. Einerseits, weil Luca ohnehin ständig an die Ärztin des Städtchens denken musste. Und andererseits, weil er Chiara seiner Tochter nicht zu früh als seine neue Freundin vorstellen wollte. Zu dieser Zeit war Emma in der Schule, sodass sie beide ungestörte Zweisamkeit genießen konnten.

Eine halbe Stunde später verabschiedete Luca die schöne Ärztin an der Tür.

»Sehen wir uns morgen Mittag?«, fragte er.

»Oder wir gehen morgen zusammen abendessen?«

»Oder beides?«

»Na, hören Sie mal, Commissario … Sind Sie etwa doch süchtig nach mir?«

»Wie könnte ich nicht?«, fragte Luca und gab ihr einen Kuss, den sie sofort erwiderte.

»Allora, bis morgen. Ciao.« Damit stieg sie in ihr kleines Fiat-500-Cabriolet, und er sah ihr nach, wie sie den Berg hinabsauste, zurück in ihre Praxis in Montegiardino. Die Nachmittagssprechstunde würde in einer halben Stunde beginnen.

Der Commissario duschte, zog sich ein neues Uniformhemd an, dazu an diesem warmen Tag eine Shorts und warf sich das Basecap mit der Aufschrift Polizia Municipale über. Schließlich stieg er in seinen alten Citroën Méhari und ließ den Motor an, winkte den drei Eseln zu, die sich in den Schatten ihres Stalls zurückgezogen hatten, und fuhr talwärts.

Es war ein herrlicher Tag in der südlichen Toskana. Zwar war es sehr heiß, aber die Blätter der Platanen und Zypressen tanzten im leichten Westwind, der ein wenig Kühle vom Meer mitbrachte. Vielleicht würde die nächste Nacht nicht ganz so heiß wie die vorherigen.

Fünf Minuten später hatte Luca den Ortskern von Montegiardino erreicht. Er fuhr nicht hinein ins alte Zentrum, sondern hielt hundert Meter vor dem Tante-Emma-Laden und parkte den offenen Méhari so hinter einem ausladenden Blumenkübel, dass er von der Straße aus nicht zu sehen war. Dann nahm er seinen Koffer vom Beifahrersitz und entnahm ihm die Radarpistole, die ihm die Polizeibehörde in Florenz erst vor drei Monaten zur Verfügung gestellt hatte. Er legte die Kelle bereit, denn er war sich sicher, dass er heute den einen oder anderen Fahrer aus dem Städtchen anhalten müsste.

Er schaltete das komplizierte Gerät ein und machte einige Messungen der leeren Straße, dann hielt er sich das Gerät vor die Augen und visierte das nächste herannahende Fahrzeug an. Es war ein Transporter der Gasbetriebe, der das Städtchen in Richtung Autobahn verlassen wollte. Luca besah sich die Anzeige: 63 km/h. Eigentlich zu schnell, aber da wollte er mal ein Auge zudrü- cken.

Der nächste Wagen war ein dunkler BMW. Das Kennzeichen … Er kniff die Augen zusammen. Österreich. Das Gerät zeigte neunundfünfzig Stundenkilometer. Luca nahm die Kelle, stieg aus dem Méhari und war in Sekunden auf der Straße. Er winkte dem Fahrer zu, der sofort bremste und den Wagen auf dem Seitenstreifen ausrollen ließ. Luca ging auf ihn zu und wies ihn an, das Fenster herunterzulassen.

»Sprechen Sie Italienisch?«

Der Fahrer, ein blonder Mann um die fünfzig, schüttelte den Kopf.

»English?«

Luca hatte lange genug in Venedig gelebt und gearbeitet, um Touristen nicht nur auf Englisch, sondern auch auf Deutsch vernehmen zu können. Deshalb wechselte er sofort ins Deutsche und sagte mit ernster Miene:

»Sie wissen, warum ich Sie anhalte?«

Der Mann sah zu seiner Frau auf dem Beifahrersitz, dann setzte er ein gewinnendes Lächeln auf und schüttelte den Kopf. »Tut uns sehr leid, Signore, Ihr Städtchen war so hübsch, da habe ich wohl nicht auf das Geschwindigkeitsschild …«

»In ganz Italien gilt in geschlossenen Ortschaften Tempo fünfzig, so wie bei Ihnen in den Bergen wohl auch«, erwiderte Luca schroff. »Hier sind Kinder und alte Leute unterwegs. Ich möchte, dass Sie ab jetzt besser achtgeben. Und ich bekomme fünfzig Euro von Ihnen.«

»Fünfzig Euro? So viel?« Die Frau bekam große Augen.

»Ich habe sogar das Recht, Ihnen bei einer Überschreitung von bis zu zehn Stundenkilometern hundertachtundsechzig Euro abzunehmen. Aber heute belasse ich es mal bei der Untergrenze. Es sei denn, Sie wollen diskutieren. Dann können wir die Summe auch verdreifachen.«

»Nein, nein, schon in Ordnung«, beeilte sich der Mann zu erwidern. Dann kramte er in seiner Geldbörse und reichte Luca einen Fünfzigeuroschein.

»Ihnen einen guten Tag, Signore.«

»Ihnen auch. Und gute Fahrt.«

Luca stellte dem Mann eine Quittung aus und steckte den Schein in die Geldbörse, deren Inhalt er nachher mit der Sekretärin des Bürgermeisters abrechnen würde. Dann ging er zurück zum Cabrio und blickte wieder durch die Radarpistole. Das wäre allerdings nicht nötig gewesen, denn das nächste Ereignis zeichnete sich gerade nicht durch Schnelligkeit aus. Ein alter Fiat Cinquecento, das gleiche Modell, wie es Chiara fuhr, nur eben fünfzig Jahre älter, kam im Schritttempo durch die alte Marktstraße gehoppelt. Hinter dem Fiat hatte sich ein Stau gebildet aus zwei oder drei LKWs und Dutzenden Wagen. Alle paar Sekunden hupte jemand. Doch weil die Straße so eng war, konnte niemand überholen.

Luca kniff die Augen zusammen, dann hielt er die Pistole vors Gesicht und visierte den dunkelblauen Fiat an. Elf Stundenkilometer. Mio dio, er ahnte schon, dass rasende Touristen heute nicht sein größtes Problem sein würden.

Er hatte genug Zeit, um in aller Ruhe nach der Kelle zu greifen, dann ging er auf die Straße und winkte dem Oldtimer schon von weitem. Wer auch immer diesen Wagen fuhr, er reagierte sofort und wurde noch langsamer, dann, mit deutlichem Abstand zu Luca, hielt er mitten auf der Straße an. Hinter ihm begann ein riesiges Hupkonzert. Der Commissario beeilte sich, zu dem Wagen zu gelangen, bedeutete dem Fahrer noch im Laufen, dass er weiter an die Seite fahren möge; eine Aufforderung, der der Fahrer zumindest halbherzig nachkam. Dann hob Luca die Kelle und winkte die wartenden Wagen vorbei. Erst als auch der letzte LKW sich vorbeigezwängt hatte – nicht ohne zu hupen natürlich –, wandte sich Luca dem Fiat zu. Das Fenster stand schon weit offen, und er erkannte den Fahrer sofort. Oder besser die Fahrerin. Mio dio.

»Signora Vallentano.«

»Oh, Commissario.« Sie grinste ihn mit einem zahnlosen Lächeln an. »War ich etwa zu schnell?«

»Nun, das möchte ich jetzt nicht behaupten, Signora, eher im Gegenteil. Wären Sie so gut, Ihren Mitmenschen noch etwas großzügiger Platz zu machen?«

»Natürlich, Commissario.« Sie schlug sich gegen die faltige Stirn. »Ich halte hier ja alles auf.«

Sie ließ den Motor wieder an und trat so heftig aufs Gas, dass sie Luca fast über den Fuß gefahren wäre. Gerade noch konnte er zur Seite springen. Dann schoss sie auf den Bürgersteig.

»Signora Vallentano!«, rief Luca und eilte auf ihren Wagen zu. »Hätten Sie jetzt die Güte auszusteigen, statt auch noch in den Zaun der Gärtnerei zu fahren?«

»Keine Sorge, Commissario«, entgegnete sie ungerührt, »ich schalte den Motor aus.« Sie drehte den Schlüssel im Schloss. »Wissen Sie, ich bin nicht sehr gut zu Fuß, deshalb würde ich lieber sitzen bleiben.«

Er musste den Kopf schütteln, um sich ein Lachen zu verkneifen, dabei war das hier alles andere als lustig. Aber diese alte Dame … Signora Vallentano war die älteste Bewohnerin von Montegiardino, und wahrscheinlich war sie aktuell auch die älteste Frau in der Toskana, die noch am Steuer saß. Wie alt sie genau war, wusste Luca nicht. Aber der Bürgermeister besuchte alle Bürger im Ort ab deren neunzigstem Geburtstag Jahr für Jahr am Geburtstagstisch. Bei ihr hatte er schon vor zehn Jahren gemutmaßt, dass es nun wohl das letzte Mal wäre – aber alle Jahre wieder ging er wieder zu der alten Dame, die einfach nicht, nun ja, totzukriegen war. Also war Signora Vallentano nun bestimmt schon über hundert Jahre alt – und dennoch saß sie hier vor ihm in ihrem Auto, das sicher nur ein Viertel so alt war wie sie selbst, und grinste ihn an.

Sie hatte nur noch wenige Haare, die ihr grau und strähnig vom Kopf hingen, und ihr Gesicht war so zerknautscht wie bei einem dieser chinesischen Faltenhunde. Ihre Augen sahen schon reichlich trübe aus, aber das kecke Grinsen, mit dem sie Luca bereits entgegentrat, als er noch ein Kind gewesen war, war immer noch da.

»Signora Vallentano.« Er beugte sich am offenen Fenster zu ihr hinab und konnte sehen, dass sie tatsächlich nur noch drei oder vier Zähne im Mund hatte. »Wir kennen uns ja nun schon sehr lange, und ich weiß, dass Sie eine gute Freundin unseres Bürgermeisters sind und außerdem eine bedeutende Bürgerin unseres schönen Ortes. Aber …« Luca runzelte die Stirn. »… Sie sind eben mit Tempo zehn über die Hauptstraße gefahren und haben einen Stau verursacht, der eher einer Autobahn würdig ist. Meinen Sie nicht … Hm, ich denke, es wäre gut, wenn Dottoressa Chigi Sie einmal auf Ihre Fahrtauglichkeit untersucht.«

»Ich gehe doch nicht zur Dottoressa!«, entgegnete die Signora brüsk. »Ich bin kerngesund. Warum sollte ich da zum Arzt? Ich war nicht mehr beim Arzt seit … na, 1997. Da hatte ich mal ein Ekzem am Unterschenkel. Seitdem war gar nichts mehr.«

»Und Ihre Augen? Ich meine, Sie haben mich eben fast über den Haufen gefahren.«

»Im Ernst, Commissario? Na, jetzt sind Sie aber wirklich etwas dramatisch. Mein kleiner Cinquecento ist halt ein Wagen mit Charakter, der reagiert sehr deutlich aufs Gaspedal.«

Luca seufzte.

»Ich möchte nur nicht, dass Ihnen etwas zustößt. Sie möchten doch schließlich … nun ja … richtig alt werden. Hundertzwanzig – das wäre doch toll. Deshalb sollten Sie wirklich überlegen, ob Sie Ihren Führerschein nicht freiwillig abgeben sollten.«

»Niemals! Ich war zeit meines Lebens Autofahrerin, und das werde ich auch bleiben!«

»Gut, Signora, dann mache ich es amtlich.« Luca sah sie ernst an. »Das hier war sehr gefährlich. Sie werden die Dottoressa aufsuchen und sich untersuchen lassen. Wenn Sie die bestehen, dann dürfen Sie weiterhin am Steuer sitzen. Und wenn nicht …« Er ließ die Worte in der Luft hängen. »Und sollten Sie nicht von sich aus zur Dottoressa gehen, dann werde ich Sie da hinfahren. Haben wir uns verstanden?«

Er wollte sie eben noch weiter ermahnen, da sah er im Augenwinkel eine Bewegung. Sein Herz machte einen Satz, weil er sie sofort erkannte.

»Und jetzt fahren Sie weiter, Signora Vallentano«, sagte er und klopfte ihr aufs Dach, dann wandte er sich um und ging die paar Schritte auf seine Tochter zu.

»Emma!«, rief er und bemerkte ihre verweinten Augen. »Was hast du denn?«

»Papa, ich hatte gehofft, dass du hier bist.« Sie warf sich ihm in die Arme und weinte lange. Luca war auf alles gefasst. So hatte er sie lange nicht mehr erlebt. Dann endlich brachte sie unter Tränen mühsam hervor: »Mauro, der Papa von Emilia … Er ist tot.«

3

Luca hatte die zitternde Emma lange im Arm gehalten, dann setzte er sie neben sich in den Méhari. Langsam fuhr er an und warf ihr immer wieder besorgte Seitenblicke zu. Sie bebte. Sein kleines Mädchen, das so frech und lebensfroh war. Ihre dunkelblauen Augen waren voller Tränen, die Grübchen an den Wangen waren verschwunden. Immer wenn er seine Tochter mit ihrem blonden Pferdeschwanz ansah, musste er an ihre Mutter denken, seine erste große Liebe. Und der Stich ins Herz war noch schmerzhafter.

Was war nur passiert? Er fuhr die Hauptstraße gen Zentrum, um auf die andere Seite des Städtchens zu gelangen, wo Emilia mit ihrer Mutter Bianca wohnte. Fünf Minuten würden sie bis dahin brauchen. Im Kopf ging er durch, was er über Mauro wusste. Viel war es nicht. Emilias Eltern hatten sich sehr früh getrennt, als das Mädchen noch ganz klein war. Seitdem lebte sie ausschließlich bei ihrer Mutter, den Vater sah sie sehr selten. Wenn Luca sich richtig erinnerte, fuhr er LKW, irgendwo im Norden. Bianca sprach nicht gern über ihn. In Lucas Gegenwart sprach sie ohnehin nicht so viel.

Ihm hatte es nie behagt, als begehrtester Junggeselle von Montegiardino gelten. Diesen Ruf zu haben hatte er sogar stets abgestritten. Dass Bianca ihn aber sehr mochte, war selbst Luca früh klar geworden. Er wusste nicht, ob sie schon von seiner Freundin erfahren hatte – bisher hatten Chiara und er sich sehr bedeckt gehalten, was sich für Luca genau richtig anfühlte.

Merkwürdig, dass ihm das ausgerechnet jetzt durch den Kopf ging.

Er strich Emma, die immer noch kein Wort gesagt hatte, seitdem sie losgefahren waren, über den Kopf.

Erst als sie das Rathaus passierten, fragte Luca ganz leise: »Wie genau hast du denn davon erfahren, cara?«

Sie sah ihn mit so großen Augen an, als wäre sie über seine Worte erschrocken. Dann, nach einer Weile, sagte sie: »In der letzten Stunde kam die Sekretärin in die Klasse und hat Emilia rausgeholt. Ich hab aus dem Fenster gesehen, dass ihre Mama vor der Schule stand, und dann sind die beiden sich in die Arme gefallen. Ich wollte gleich los, ihnen hinterher, aber die Lehrerin hat es verboten. Und dann hat mir Emilia eben geschrieben, dass ihr Papa …« Sie brach ab und kämpfte mit den Tränen. »Ich weiß auch nicht, was passiert ist. Ich bin gleich zu dir gelaufen, weil ich wollte, dass wir hinfahren …«

»Das hast du richtig gemacht, cara«, entgegnete Luca. »Sicher ist es gut, wenn du jetzt für Emilia da bist – wenn sie das möchte. Und ich werde sehen, ob Bianca etwas braucht.« Er atmete tief durch. »Sag mal … kanntest du Emilias Papa?«

Emma nickte, ihre Augen waren vom Weinen ganz rot. »Ja, er hat uns einmal abgeholt, und dann waren wir ein Eis essen. Letzten Sommer war das. Er war total nett. Emilia mochte ihn voll gerne, auch wenn sie nicht viel Zeit miteinander verbracht haben.«

Eben fuhr Luca an der Praxis von Chiara vorbei und dachte den Bruchteil einer Sekunde daran, dass er vor zwei Stunden noch mit ihr im Bett gelegen hatte. Es kam ihm vor, als wäre es schon Tage her, dass er sie zuletzt gesehen hatte. Dann bog er in eine kleine Seitenstraße und kam vor dem senfgelben Mehrfamilienhaus zum Stehen, in dem Emilia mit ihrer Mutter wohnte.

Sie mussten nicht klingeln, weil die Tür offen stand. Luca folgte seiner Tochter die Treppe hinauf. Emma wurde Stufe für Stufe langsamer. Der Commissario verstand sie nur zu gut: So gerne sie auch für Emilia da sein wollte, diese Situation machte ihr Angst.

Leise klopfte Emma an die dünne Holztür, von drinnen waren Schritte zu hören. Es war Bianca, die öffnete. Auch ihre Augen waren tiefrot, aber sie wischte sich schnell übers Gesicht, als sie Luca sah. Dann nahm sie Emma in die Arme.

»Es ist schön, dass du da bist. Emilia wird das guttun«, flüsterte sie. »Sie ist in ihrem Zimmer … Geh einfach zu ihr.«

Sofort verschwand Emma in Emilias Zimmer, und Lucas Herz krampfte sich zusammen, als er durch die offene Tür sah, wie sich die beiden Mädchen umarmten. Bianca nahm ihn mit auf den Balkon. Auch wenn das Haus von außen keine Augenweide war – der Blick aus dem obersten Stockwerk war atemberaubend: Montegiardino lag unter ihnen im Tal, von hier oben konnte man die alte Steinbrücke sehen, die Kirche mit ihrem Glockenturm und die betagten schindelbewehrten Häuser aus alten Feldsteinen – und dahinter die sanften Hügel der toskanischen Landschaft, Zypressen, die in Reih und Glied standen, und sogar die leicht ansteigende Straße, die zum Bauernhof von Luca und Emma hinaufführte.

»Magst du etwas trinken?«, fragte Bianca, als er sich auf einen der beiden Stühle setzte.

»No, grazie«, erwiderte Luca. »Komm, setz dich doch zu mir und erzähl, was passiert ist.«

Bianca nahm ihm gegenüber Platz und verzog das Gesicht, als hätte sie Schmerzen. Es fiel ihr sichtlich schwer, darüber zu reden.

»Ich weiß eigentlich gar nichts«, sagte sie leise. »Jemand vom Steinbruch hat mich angerufen und mir gesagt, dass Mauro einen Unfall gehabt habe. Es sei … Man habe nichts mehr für ihn tun können. Stell dir das vor, wir haben gar keinen Kontakt mehr gehabt, seit Jahren, aber er hat mich immer noch als seinen Notfallkontakt in der Firma hinterlegt.«

Steinbruch … Jetzt fiel es Luca wieder ein: Mauro war LKW-Fahrer in den Marmorsteinbrüchen von Carrara gewesen. Emma hatte ihm einmal davon erzählt.

»Aber ihr hattet doch Kontakt, oder? Emma hat erzählt, Mauro habe sie und Emilia letztes Jahr zum Eisessen abgeholt.«

»Ja, es stimmt, Emilia hat ihn ab und zu gesehen. Aber er hat sie immer nur vor dem Haus rausgelassen und kam nie mit hierauf. Es … Es war einfach schwierig zwischen uns. Wir waren wie Fremde füreinander – und ich wollte keinen Fremden in meinem Haus.«

»Das verstehe ich. Was haben die vom Steinbruch gesagt, was genau passiert ist?«

»Nur, dass er einen Unfall hatte. Ich habe die Polizei in Massa angerufen, aber die wussten noch gar nichts – oder sie wollten mir am Telefon nichts sagen. Ich … Kannst du nicht versuchen, etwas rauszukriegen? … Er war ein so erfahrener Fahrer – diese Arbeit war sein ganzes Leben, und er kannte ganz bestimmt jede Kurve dort. Wie kann ausgerechnet er so einen schrecklichen Unfall haben, dass er an Ort und Stelle stirbt?«

»Ich werde mich sofort erkundigen«, erwiderte Luca und beugte sich zu ihr hinüber, um sie in den Arm zu nehmen. Bianca war sichtlich mitgenommen und hielt die Hände vors Gesicht.

»Herrgott«, brachte sie nach einer Weile mühsam hervor, »jetzt weine ich um diesen Mann, den ich kaum mehr kenne – es ist so … Für Emilia ist es so hart.«

»Lass mich dort anrufen, ich kenne zwar nicht viele Kollegen in Massa, aber ich werde schon etwas herauskriegen. Wo wohnte Mauro denn zuletzt?«

»Er hatte eine kleine Wohnung in Viareggio, also ganz in der Nähe von Carrara.«

»In Ordnung. Kann ich dich hier allein lassen?«

»Certo, Commissario.«

Luca ging zum Telefonieren nach drinnen, entschied sich aber sofort wieder um. Die Tür zum Kinderzimmer war nur angelehnt, und Emma und Emilia hätten ihn hören können. Also öffnete er die Wohnungstür und stieg die Treppen hinab. Draußen auf der ruhigen Straße hörte er die Zikaden und spürte die Wärme auf seiner Haut. Alles war hier wie immer. Aber dort oben, in der Wohnung, hatte sich für zwei Menschen durch einen Moment alles verändert. Luca hätte gern eine Zigarette geraucht, aber Emma hatte ihn vor einem halben Jahr gezwungen aufzuhören. In emotionaler Erpressung war seine Tochter ein Ass. Er suchte im Internet nach der Nummer der Dienststelle in Massa und rief dort an. Sekunden später meldete sich eine junge weibliche Stimme.

»Polizia Nazionale?«

»Ciao, hier ist Commissario Luca, Polizia Municipale aus Montegiardino. Sie können meine Nummer prüfen, ich bin ein Kollege. Es gab bei Ihnen einen Unfall. Ein Mann aus unserem Städtchen, er arbeitet im Steinbruch von Carrara, sein Name ist Mauro …«

Doch die junge Beamtin war schneller.

»Mauro Sant’Angelo, genau. Der arme Kerl. Die Kollegen sind dran. Warten Sie, ich gebe Ihnen die Nummer des zuständigen Commissario.«

»Grazie.« Luca stutzte – es war ungewöhnlich, dass bei einem Unfall die Kripo ermittelte. Er hatte vermutet, sie würde ihn abwimmeln und an die Polizia Stradale verweisen, die Verkehrspolizei. Er notierte die Telefonnummer auf seiner Handfläche, dann rief er das Handy an. Sekunden später hob ein Mann ab. Im Hintergrund waren Stimmen zu hören, Sirenen und Verkehrslärm.

»Vicente?«

»Hier ist Commissario Luca, Polizia Municipale. Mauro Sant’Angelo – er ist bei Ihnen in den Steinbrüchen ums Leben gekommen. Er hat Familie in meiner Stadt, deshalb rufe ich Sie an.«

»Commissario Luca also«, erwiderte der Polizist. »Da ist jemand, der Sie sprechen will.«

Es raschelte im Hörer, und dann hörte Luca ein Räuspern, bis eine ihm wohlbekannte Stimme sagte: »Dass du dich meldest, ist ja mehr als ein Sommerwunder. Aber offenbar geschieht das immer, wenn in der Toskana irgendetwas passiert, was über einen simplen Eifersuchtsmord hinausgeht, nicht wahr, Commissario?«

»Aurora?«

»Certo.«

»Was machst du an einem simplen Unfallort?« Die Vice-Questora der Florentiner Polizei würde sich niemals solch niederen Fällen widmen.

»Sah in der Tat ganz simpel aus: ein LKW, der voll beladen bergab rast. Aber die Bremsschläuche waren so dämlich angeschnitten, dass selbst einem blinden Bullen die Manipulation aufgefallen wäre. Zum Glück stand das Bauernhaus am Hang ein paar Meter weiter rechts, sonst hätten wir jetzt noch eine tote Familie samt drei Kindern. Marmorblöcke sind tatsächlich noch viel schwerer, als ich immer dachte.«

»Bei Mauros LKW wurden die Bremsschläuche durchtrennt?«

»Und zwar alle. Die Techniker sind gerade dran. Die haben mich vor zwei Stunden angerufen, ich bin gleich hergefahren. Und wie ich annehme, wirst du es dir nicht nehmen lassen, auch den Weg gen Norden auf dich zu nehmen?«

»Ich muss. Mauro war der Papa von Emilia, Emmas bester Freundin.«

»Merda«, flüsterte die Vice-Questora. »Und ich plaudere hier so leichtfertig drauflos. Tut mir leid. Wie geht es ihr?«

»Die beiden trauern zusammen. Es ist … sehr rührend, das zu sehen. Aber ja, ich informiere die Familie, und dann kommen wir.«

»Du, Luca«, sagte Aurora Mair streng. »Nur du. Die Bergung wird noch Stunden dauern. Und weder die Kleine noch ihre Mutter sollten das mitangucken. Es ist wirklich heftig.«

»Alles klar. Ich kläre das.«

»Bis gleich.«

»Bis gleich, Vice-Questora.«

»Ah, Commissario?«

»Ja?«

»Ich freue mich darauf, dich zu sehen.«

Bevor er etwas erwidern konnte, hatte Aurora aufgelegt.

4

Bianca hatte nur kurz zu widersprechen versucht, aber Emilia war auf die Barrikaden gegangen. »Ich will Papa sehen!«, hatte sie gerufen. Emma hatte Lucas Blick bemerkt und ihre beste Freundin sofort in den Arm genommen, um ihr zuzuflüstern: »Später, Emi, später …«

Luca hatte seiner Tochter dankbar zugelächelt.

Trotz des Feierabendverkehrs hatte er Florenz in weniger als einer halben Stunde erreicht und war dann auf die Autostrada 11 in Richtung Pisa abgebogen, um sich hinter Lucca gen Norden zu halten.

Vor Viareggio war der Verkehr dicht geworden, weil zu den vielen Urlaubern noch die Florentiner kamen, die aus den Büros in Richtung Strände strömten.

Viareggio, Lido di Camaiore, Forte dei Marmi – all diese Orte standen für Urlaubsspaß, für sich am Strand aalende Urlauber, für Bars und Aperitivo und Sonnenmilch, die auf dem Mittelmeer glänzte.

Hinter Massa tauchten zur Rechten die Apuanischen Alpen auf, die Bergkette, die all den Reichtum der Region hervorgebracht hatte.