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Normalerweise ist im idyllischen Montegiardino an jeder Ecke fröhliches Geplauder zu hören. Als aber in tiefer Nacht ein Fremder in das kleine Städtchen kommt, verstummt der sonst so lebhafte Klatsch. Commissario Lucas Mitbürger fragen sich: Was will dieser unheimliche Mann hier? Und warum spricht er mit niemandem? Bald geben seltsame Geschehnisse ihren bösen Ahnungen Recht: Erst werden auf einem Bauernhof am Stadtrand eines Nachts die Gänse umgebracht, dann wird in den sonst so malerischen Hügeln ein Wanderer angeschossen. Er sieht dem Fremden zum Verwechseln ähnlich. Wird Commissario Luca das dunkle Geheimnis des schweigenden Fremden lüften können, ehe noch Schlimmeres geschieht? Begleiten Sie Commissario Luca in weiteren spannenden Fällen: - Flüssiges Gold (Band 1) - Toskanische Sünden (Band 2) - Steinerne Schuld (Band 3) - Stumme Zypressen (Band 4)
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Seitenzahl: 265
Veröffentlichungsjahr: 2025
Paolo Riva
Bella-Italia-Krimi
Die Schleierwolken schoben sich am dunklen Himmel nur langsam vorwärts. Dann und wann lugte der Mond silbrig schimmernd zwischen ihnen hervor und tauchte die Spitzen der Zypressen in ein kühles, diffuses Licht, in dem die Bäume wie gespenstische Soldaten wirkten.
Er musste sich auf die Straße konzentrieren. Die Serpentinen wanden sich in steilen Kurven den Berg hinab in Richtung der kleinen Stadt im Tal. Doch noch gab es kein Zeichen von Zivilisation – keinen Hof, kein Haus, nicht mal eine winzige Waldhütte.
Er schien auf dieser Landstraße der einzige Mensch weit und breit zu sein. Nicht das einzige Lebewesen, das nicht; er hatte vorhin im Schatten der Bäume Wildschweine ausgemacht, und auch die Zikaden sangen in der Wärme dieser Nacht ohne Unterlass.
Er spürte, wie ihm der Schweiß über den Rücken lief. Die Lüftung war auf die höchste Stufe gestellt, aber es half kaum, weil sie mit dem Wagen alt geworden war – und der Fahrtwind, der durchs Fenster hereinströmte, war noch wärmer als sein Körper. Es war ein vor Hitze unablässig glühender Sommer.
Er wollte endlich ankommen. Und gleichzeitig wollte er nichts weniger als das. Er dachte, dass das Leben manchmal wirklich merkwürdige Wendungen nahm.
Das Radio hatte er schon kurz nach der Abfahrt ausgeschaltet. Er hatte das Geplapper genauso wenig ertragen wie die seichten Popsongs, mit denen alle Welt sich immerzu berieseln ließ, obwohl sie nichts bedeuteten und einfach nur Zeitverschwendung waren. Das Einzige, was er hörte, was er hören wollte, waren die Zikaden, das laute Röhren des Dieselmotors und das Surren der Reifen auf dem heißen Asphalt.
Im Rückspiegel beobachtete er den schlingernden Anhänger, der in den engen Kurven hinter ihm immer ein Stück weiter ausscherte als der alte Wagen, der ihn zog. Kurz bekam er Angst, der Hänger würde umkippen, aber er blieb doch in der Spur.
Als er den Blick wieder der Straße vor sich zuwandte, blieben seine Augen den Bruchteil einer Sekunde an seinem Spiegelbild hängen. Rasch sah er weg. Er hielt es nicht aus, sein eigenes Bild zu sehen. Den kerzengeraden Hals, hoch aufgereckt, dass es wirkte, als wäre er jung und drahtig. Das Gesicht darüber passte ganz und gar nicht dazu. Es war faltig, die Stirn rissig und fahl, der graue Zehntagebart ungepflegt, und die Augen lagen tief in den Höhlen.
Er mied diesen Anblick seit langem und erschrak jedes Mal, wenn er sich kurz in einer Fensterscheibe erblickte – oder im Rückspiegel. Es war kaum auszuhalten.
Er nahm noch eine Kurve und spürte, wie sein Herz schneller schlug. In der Ferne hatte er das Ortsschild ausgemacht. Sein Fuß glitt wie von selbst auf das Bremspedal. Schwarze Schrift auf weißem Grund. Er wusste, was auf dem Schild stand, auch ohne es schon lesen zu können. Erst als er daran vorbeifuhr, formte sein Mund leise das Wort: Montegiardino.
Er fuhr in den stillen Ort ein. Die Geräusche seines Diesels, der rumpelnde Anhänger: Sie schienen ihm plötzlich ohrenbetäubend laut. Als würde er das ganze Städtchen aufwecken, als müssten in den Häusern entlang der Hauptstraße die Lichter angehen und die Fenster aufgerissen werden.
Aber alles blieb ruhig. Der Ort wirkte verlassen. In keinem der Häuser brannte Licht, niemand war auf der Straße, nicht einmal eine streunende Katze war zu sehen.
Er rumpelte um die Ecke und sah vor sich den Marktplatz, die hoch aufragende Kirche und die Bar, deren Markise eingezogen und Rollläden heruntergelassen waren. Stühle standen verwaist an den Tischen. Auf einem stand noch eine einzelne Espressotasse. Er stellte sich vor, wie der Wirt am Abend abgeschlossen und sich draußen noch einen letzten Caffè gegönnt hatte, dann aber zu faul gewesen war, die Tasse wieder hineinzubringen.
Dieser Moment des stillen Glücks im Abendrot an diesem magischen Platz – wie gern wäre er dieser Wirt gewesen.
Aber er war nun mal ein anderer.
Er war er. Und er war angekommen. An dem Ort, der über sein Schicksal entscheiden würde.
Lo straniero nella cittadina – Der Fremde im Städtchen
Was für ein sanfter Morgen, dachte Luca, als er die Augen aufschlug. Das Morgenlicht floss durch die Ritzen der Fensterläden ins Schlafzimmer und durch die bei ihnen stets gekippten Fenster drang ein angenehm kühler Luftzug. Luca wandte sich zu Chiara und küsste sie sanft auf die nackte Schulter. Er liebte den Duft ihrer Haut. Sie atmete ruhig – bis er sie noch einmal küsste. Da rekelte sie sich und drehte sich zu ihm, ihre Hand auf seiner nackten Brust.
»Guten Morgen, Dottoressa«, flüsterte er, »ich glaube, Sie müssen in einer Stunde Ihre Praxis öffnen, und ich würde sehr gern vorab noch einen Caffè mit Ihnen trinken.«
Sie öffnete die Augen und lächelte ihn an.
»Ich denke, das sollte möglich sein, Commissario.« Sie gab ihm einen leichten Kuss auf die Wange und flüsterte: »Obwohl, vielleicht sollten wir den Caffè lieber durch etwas anderes ersetzen …«
Er erwiderte ihren Kuss und nickte, dann umschlang er sie mit seinen Armen.
Zwanzig Minuten später standen sie beide auf, und während Chiara unter der Dusche verschwand, ging Luca zum Herd, um in seiner treuen alten Bialetti-Kanne Kaffee aufzusetzen. Dann ging er zu Emmas Zimmer und öffnete sachte die Tür. Doch das Bett war leer.
Er lächelte. Er hatte es schlicht vergessen – sie hatte die Nacht bei Emilia verbracht, ihrer besten Freundin. Also würde er sie heute nicht zur Schule bringen müssen – ein noch sanfterer Morgen.
Luca öffnete die Haustür und trat hinaus in den strahlenden Tag. Es war zum Glück noch nicht richtig heiß. Die letzten Tage waren geradezu unerträglich gewesen.
Die Wiese dampfte regelrecht, weil der Tau auf Gräsern und Sträuchern in der Morgensonne zu verdunsten begann. Luca wandte seinen Blick zum Tal. Dort unten lag Montegiardino im frühen Nebel, das kleine Städtchen, das er so liebte, es erwachte gerade. Selbst von hier oben war zu erkennen, dass die Gassen noch ruhig waren, doch das würde sich bald ändern, denn heute war Markttag. In einer Stunde würde das hektische Treiben beginnen, das diesem Tag so zu eigen war.
Als Luca den Blick über die Terrasse schweifen ließ, musste er lächeln. Auf dem Holztisch unter der Pergola standen noch die beiden Gläser und die leere Weißweinflasche des lokalen Winzers Tommaso. Sie hatten gestern Nacht lange draußen gesessen, und als sie die Lust aufeinander packte, waren sie irgendwann, weit nach Mitternacht, ins Haus geeilt, ohne aufzuräumen.
Die Kerzen am Leuchter waren nur noch Stummel, der Nachtwind hatte das Wachs auf dem ganzen Tisch verteilt.
Luca ging über die nasse Wiese, öffnete das Gatter und betrat die Weide. Sofort trabten deren drei Bewohner auf ihn zu.
»Buongiorno, meine Freunde!«, rief er lachend.
Es war wie immer Sergio, der ihn als Erster erreichte und mit seinem hellgrauen Maul anstupste. Luca streichelte dem großen Esel den Kopf und kraulte ihn ausgiebig hinterm rechten Ohr, was Sergio ganz besonders mochte. Dann begrüßte Luca Silvio und schließlich Matteo. Alle drei Esel bekamen ihre Streicheleinheiten.
»Hattet ihr eine gute Nacht?«, fragte er, und die großen, eleganten Tiere schienen zu nicken. Luca liebte ihre Klugheit. Er war davon überzeugt, dass sie ihn wirklich verstanden. Die dunkelbraunen Augen von Matteo blickten ihn so sanft an … Herrgott, er hätte nie gedacht, einmal so viel für Tiere empfinden zu können.
»Na, dann mache ich euch mal euer Frühstück«, sagte Luca und öffnete die Tür zu dem geräumigen Stall, in dem es schön kühl war. Die Esel hatten die Nacht, wie stets im Sommer, draußen auf der Weide verbracht. Sie schliefen immer nur kurze Zeit. Silvio lag dabei auf der Seite, die Beine lang ausgestreckt, während Matteo im Stehen ruhte. Sergio sonderte sich nachts immer ab, sodass ihn Luca tatsächlich noch nie schlafend auf der Wiese gesehen hatte; es war ein Phänomen. Nur im Winter hatte er Sergio dann und wann im Stall zwischen den beiden Holzbalken liegend ertappt.
Luca schüttelte mit einer großen Harke das Heu auf und gab es in die Futtertröge. Auf der Wiese fraßen die Tiere frisches Gras, doch zur Verdauung brauchten sie auch jede Menge trockenes Heu, sonst bekämen sie gesundheitliche Probleme. Deshalb achteten Luca und seine Tochter Emma immer darauf, dass die Tiere im Stall regelmäßig ihre Rationen bekamen.
Während die Esel zu fressen begannen, streichelte Luca sie alle noch einmal, dann nahm er die Bürste vom Hocker in der Ecke und striegelte sie. Als das geschafft war, verabschiedete er sich.
»Ciao, meine Lieben«, sagte er, »macht es gut. Emma kommt nach der Schule her, dann könnt ihr mit ihr Spaß haben.«
Zurück im Haus nahm Luca den Caffè vom Herd und trug die Kanne nach draußen. Er füllte zwei Tassen, während Chiara im Bademantel und mit einem Handtuch auf dem Kopf aus dem Bad kam.
»Ein richtig herrlicher Morgen«, sagte sie seufzend und setzte sich.
»Und was für einer«, erwiderte Luca. »Sehr passend nach dieser sehr, sehr schönen Nacht.«
»Wie geht es den Eseln?«, fragte Chiara.
»Mir geht es eigentlich recht gut«, erwiderte Luca. Sie mussten beide grinsen. Die Ärztin stand auf und drückte dem Polizisten einen Kuss auf den Mund. »Weißt du eigentlich, dass ich dich echt gern hab?« Sie schob sich von ihm weg und sah ihn liebevoll an.
»Letzte Nacht hatte es durchaus den Anschein, dass dem so sein könnte«, gab Luca zurück. »Und ich kann diese Zuneigung von ganzem Herzen erwidern.«
»Na, dann sind die Verhältnisse ja geklärt«, sagte Chiara und setzte sich wieder, ohne seine Hand loszulassen. Sie tranken beide einen Schluck Caffè und betrachteten in stummem Einverständnis die Landschaft, die sich in sanften Hügeln hinunterwand ins Tal, wo die Dächer der alten Häuser einander flüsternd anzustupsen schienen.
Hier oben aber war Natur pur: Die Weide, auf der die Esel nun wieder grasten, war mit hellgrünem Gras bewachsen, mit Bergkräutern und Stauden von Rosmarin und Thymian. Der Duft wehte zu ihnen herüber, vor allem jetzt, da die Sonne den Tau trocknete und lichter Nebel in der Luft hing.
Die Straße hinunter ins Tal war auf beiden Seiten von Zypressen gesäumt, die hoch und edel in den Himmel aufragten. Hier oben vor dem Haus hingegen standen vier alte Platanen, deren Rinden sich schälten. Sie spendeten an diesen heißen Tagen herrlichen Schatten. Zwischen ihnen befand sich der alte Brunnen, der sanft vor sich hin plätscherte. Nebenan lagen die Weinfelder des Winzers, und dahinter erstreckten sich die Olivenhaine der jungen Bauernfamilie Garaviglia. Wobei nebenan relativ war – Lucas nächster Nachbar war mindestens zehn Gehminuten entfernt.
Dies waren die Hügel über Montegiardino – es war ein Paradies.
»Ich glaube, ich muss hinunter«, sagte Chiara nach einem Blick ins Tal. »Da rollen schon die ersten Marktwagen an.«
»Und bevor du dich hinter denen anstellst … Du hast recht. Ist heute viel los?«
»Du weißt ja«, erwiderte Chiara, »Donnerstag ist mein langer Praxistag. Und dann ist es wie montags: Die Alten kommen vorm Markt noch schnell bei mir vorbei, weil ihnen irgendwo der Schuh drückt …«
»… und sie aber eigentlich nur quatschen wollen.«
»Du sagst es.«
»Na, dann viel Spaß beim Klatsch. Wenn es etwas ganz Wichtiges zu wissen gibt – du weißt ja, wie du mich erreichst.«
»Und ob ich das weiß, Commissario«, erwiderte Chiara und ließ seine Hand los. Sie küssten sich zum Abschied, bevor sie ins Haus verschwand, um sich umzuziehen. Fünf Minuten später stieg sie in ihrer weißen Arbeitskluft und mit einer Arzttasche bewaffnet in das kleine Fiat-500-Cabrio, ließ den Motor an und fuhr winkend den Berg hinunter. Luca sah ihr eine Weile nach, bis nur noch ein sanftes Motorengeräusch zu hören war. Dann ging er ins Haus, um ebenfalls zu duschen und sich umzuziehen.
In der Dusche schloss er die Augen und genoss das kühle Wasser, das über seinen Körper rann. Es machte morgens seinen Kopf klar – zumal dieser Tag erneut sehr heiß werden sollte. Die ganze Toskana ächzte unter einer enormen Hitzewelle.
Immerhin durfte er dadurch annehmen, dass es für ihn wieder ein sehr ruhiger Tag würde. Die Hitze machte die Menschen so träge, dass sie nicht einmal mehr in der Lage waren, mit ihren Autos zu schnell über die Hauptstraße zu rasen. Seit Tagen versuchte jeder im Städtchen überflüssige Bewegungen zu vermeiden, möglichst nicht das Haus zu verlassen und sich – wenn es doch sein musste – dann wenigstens lange und entspannt im Schatten aufzuhalten, am besten auf der Terrasse von Fabios Bar. Dessen Eiswürfelverbrauch durfte ihm in den letzten Wochen die höchsten Einkaufskosten beschert haben.
Natürlich war es auch an kühleren Tagen nicht so, als triebe der Job des Polizisten von Montegiardino Luca in den Burn-out. Der Ort im Tal des Flusses Arno war ein ruhiger Flecken in der südlichen Toskana, eine halbe Autostunde nordöstlich von Siena und San Gimignano. Es gab den Marktplatz, die Kirche, eine Bar, die auch ein einfaches, aber gutes Restaurant beherbergte, und darüber hinaus nicht mehr viel. Hier lebten vielleicht fünftausend Seelen in trauter Verbundenheit, gelegentlicher Abneigung und sehr seltener Feindschaft in einer der schönsten Landschaften, die Gott der Welt geschenkt hatte.
So bestand die Arbeit des Commissario der Polizia Municipale hauptsächlich darin, Geschwindigkeitsübertretungen auf der Umgehungsstraße zu ahnden, auf dem Marktplatz für Ordnung zu sorgen, wenn das Chaos an Markttagen allzu groß wurde, und manchmal die ein oder andere Nachbarschaftsfehde zu befrieden.
In den letzten Jahren war es aber auch zu einigen aufsehenerregenden Fällen gekommen – zu dem Angriff auf den Olivenbauern Pellegrini zum Beispiel, der tödlich ausgegangen war. Oder zu dem Mord an einem Handwerker am Flussufer – ein besonders tragischer Fall.
Beide Male hatte Luca gemeinsam mit der Vice-Questora aus Florenz ermittelt. Aurora Mair war von herbem Charme und noch herberem Temperament. Bei ihrer letzten Ermittlung in den Steinbrüchen von Carrara hatten sie zusammen in einem echten Showdown den Mörder überführt, der einen Mann aus Montegiardino auf dem Gewissen hatte, ausgerechnet den Vater von Emmas bester Freundin. Auch das war eine Tragödie gewesen.
Bei all dem half Luca, dass er ja nicht immer Ortspolizist gewesen war. Er war sogar einer der besten Ermittler Italiens gewesen, ein Elitepolizist, der zunächst in Rom gearbeitet hatte, bevor er in Venedig die Polizia Criminale leitete. Bis zu dem Tag, an dem Unbekannte einen Anschlag auf ihn verübten, dabei aber seine Frau trafen – Emmas Mutter.
Dieser schreckliche Tag hatte alles verändert. Luca hatte den Dienst im Innenministerium quittiert. Ihm war sofort klar gewesen, dass er fortan nur noch eines wirklich musste: für Emma da sein. Und wie konnte man besser für ein Kind sorgen als gemeinsam mit einem ganzen Städtchen, das es großzuziehen half?
Also war Luca zurückgekehrt in seine Heimat, in die Toskana nach Montegiardino, wo ihn der Bürgermeister Vittorio Martinelli sofort mit Kusshand aufgenommen und als Kleinstadtpolizisten zu sich ins Rathaus geholt hatte. Vielleicht als den überqualifiziertesten Ortspolizisten von ganz Italien. Wobei Luca seine Arbeit hier liebte – und er liebte die Zeit, die er für seine Tochter hatte. Sie war mittlerweile so groß, dass er öfter allein zu Hause war, als ihm lieb war.
Andererseits: Er hatte Chiara gefunden. Nachdem er sich so lange jeglichen Gedanken an eine neue Liebe verboten hatte; nachdem er schon sicher gewesen war, als ewiger Single alt zu werden. Doch die Ärztin von Montegiardino hatte ihn von Anfang an interessiert. Er mochte ihre ruhige Art, ihre Sanftheit, aber auch ihre Lebensfreude und ihren Mut. So waren sie sich nähergekommen, bis es am Ende Chiara war, die Luca die Entscheidung abgenommen hatte.
Irgendwann waren sie einfach zusammen gewesen, auch wenn einige unbeirrbare junge Frauen aus Montegiardino noch eine Weile um den begehrten Single Luca kämpften. Inzwischen lebte Chiara mehr auf Lucas Bauernhof als in ihrer kleinen Wohnung unten im Tal. Dem Commissario war das nur recht. Er war sehr verliebt in die Ärztin. Nicht nur das: Sie war ihm auch zu einer Vertrauten geworden, zu seiner besten Freundin. Und das war ein Gefühl, das er nach dem Tod seiner Frau nie wieder für möglich gehalten hatte.
Sie waren ein Paar – und das fühlte sich sehr gut an. Sogar Emma hatte akzeptiert, dass ihr Papa eine neue Frau an seiner Seite hatte. Mehr noch: Sie mochte Chiara. Für Emma war sie keine aufgezwungene Ersatzmutter, sondern eine Ratgeberin und Freundin. Vor der Reaktion seiner Tochter hatte Luca großen Bammel gehabt, doch gottlob war seine Angst unbegründet gewesen.
Alles in allem war sein Leben in diesem kleinen Städtchen am Ende der Welt also sehr zufriedenstellend. Manchmal fragte sich Luca sogar, ob er dieses zweite große Glück in seinem Leben überhaupt verdient hatte. Nach dem Tod seiner Frau war er sicher gewesen, dass sich das Schicksal nun für immer gegen ihn gewandt hatte. Aber er hatte eine zweite Chance bekommen, auch wenn er in jeder Sekunde wusste, dass der Verlust der ersten Chance für immer der größte Schmerz in seinem Leben bleiben würde.
Genug der pathetischen Gedanken am frühen Morgen, schalt er sich, drehte das kalte Wasser ab und kletterte aus der Kabine. Er trocknete sich ab und zog seine Uniform an. Im Sommer bestand sie zum Glück nur aus einer kurzen dunkelblauen Hose, einem weißen Hemd mit der Aufschrift Polizia Municipale und Schulterklappen, die ihn als Commissario auswiesen.
Er schnürte die dunklen Schuhe zu, dann nahm er die Dienstwaffe aus dem Tresor, steckte sie ins Holster und verließ das Haus. Sergio, Silvio und Matteo standen dicht nebeneinander im Schatten des Stallvordachs und tranken aus dem Wassertrog. Die Hitze war bereits jetzt um kurz nach neun Uhr so groß, dass Luca sich vorsorglich noch einmal zum Stall wandte und den Wasserhahn aufdrehte, damit den Eseln die Vorräte an kühlem Nass nicht ausgingen.
Endlich stieg er in seinen alten Citroën Méhari, einen kleinen weißen Jeep ohne Dach, den man sonst eigentlich nur an französischen Stränden in Aktion erleben konnte, in Saint-Tropez etwa oder am Cap Ferret. Und natürlich war der unvergessliche Louis de Funès in seinen Filmen immer mit einer solchen Strandkarre durch die Gegend gefahren. Luca hatte sich bei einem Urlaub mit Emmas Mutter in den Wagen verliebt, doch es hatte ewig gedauert, in Frankreich ein gutes und rostfreies Exemplar zu finden, das er nach Italien überführen konnte.
Nachdem er den Dienst im Rathaus von Montegiardino angetreten hatte, war es ein Leichtes gewesen, den Bürgermeister von der Zweckmäßigkeit des Wagens zu überzeugen. Nun tat im Städtchen also ein französischstämmiger Polizeiwagen mit der italienischen Aufschrift Polizia Municipale seinen Dienst.
Er ließ den Motor an, der sofort schnurrte wie ein Kätzchen. Das Wetter war perfekt für einen Strandbuggy, auch wenn die toskanischen Strände eine Stunde entfernt lagen. Noch einmal blickte er kurz hinüber zu den drei Eseln, die Emma und er nach den prägendsten oder berüchtigtsten italienischen Politikern benannt hatten – und zwar je nach ihren Eigenschaften: Matteo war der Eitle, der es liebte, sein Spiegelbild im Wassertrog zu betrachten, genau wie Matteo Renzi den Italienern als eitler Pfau galt. Sergio war nach Präsident Mattarella benannt; er hatte ein ausgleichendes, ruhiges Wesen und war der Anführer der Gruppe. Und dann war da natürlich noch Silvio, der Verrückte, der machte, was er wollte, gerne mal um sich biss und allen anderen das Futter wegfraß. Silvio Berlusconi mochte inzwischen tot sein – in diesem Esel lebte er auf gewisse Weise fort.
Luca nahm die kleine Feldstraße, die sich in lang gezogenen Kurven den Hügel hinunterwand. Das Tal wirkte von hier oben zum Greifen nah, doch er brauchte gut fünf Minuten, bis er das Ortsschild erreichte. Luca hoffte auf einen ruhigen Tag. Wie immer an Markttagen würde er den Wagen auf seinem markierten Parkplatz vor dem Rathaus abstellen und dann erst einmal zwischen den Marktständen nach dem Rechten sehen.
Doch bevor er das alte Zentrum von Montegiardino erreicht hatte, klingelte sein Handy. Enrico Farnese, vermeldete sein Display.
Alle Bewohner Montegiardinos kannten natürlich die Nummer des Kleinstadtpolizisten – und sobald es Probleme gab, machten sie auch Gebrauch davon. Enrico Farnese war ein älterer Herr, erinnerte sich der Commissario, den er bisher nicht sehr oft zu Gesicht bekommen hatte. Farnese lebte am Ortsrand in einer kleinen Straße mit einfachen Häusern.
Luca nahm das Gespräch an.
»Sì?« Das reichte, auf Förmlichkeiten legten die Bewohner von Montegiardino keinen großen Wert.
»Commissario, hier ist Signor Farnese. Das muss aufhören …«
Luca wartete kurz, ob noch was kam, aber auf die entrüsteten wenigen Worte folgte nur noch schweres Atmen.
»Was muss aufhören, Signor Farnese?«
»Kommen Sie her und hören Sie selbst.«
»Signor Farnese, ich muss noch kurz zum Markt. Reicht es, wenn ich in etwa einer Stunde …« Doch Luca konnte den Satz, der ihm schon während er ihn aussprach einigermaßen unsinnig vorgekommen war, nicht zu Ende bringen.
»Nein, ich ertrage das nicht mehr, Commissario. Wenn Sie nicht gleich herkommen, dann schnappe ich mir mein Gewehr, gehe rüber und erschieße ihn.«
»Ähm …« Luca stockte kurz der Atem. Er wusste natürlich, dass die Bürger von Montegiardino große Anhänger des alltäglichen Dramas waren und gerne stritten, fabulierten und sich gegenseitig verrückt machten – aber mit Waffengewalt zu drohen, war nicht gerade alltäglich. Zudem war Enrico Farnese Mitglied des Jagdvereins, also tatsächlich im Besitz einer scharfen Waffe. Es war wohl wirklich besser, die Pläne zu ändern, um unangenehmen Überraschungen vorzubeugen.
»Ich bin auf dem Weg zu Ihnen«, erwiderte Luca. »Und Sie bleiben bei sich auf dem Grundstück und erschießen niemanden, bis ich da bin, verstanden, Signor Farnese?«
»Ich gebe Ihnen fünf Minuten«, sagte der alte Mann und legte sofort auf. Luca riss das Steuer des Méhari herum und bog in eine kleine Seitenstraße ein, die in den südlichen Teil des Städtchens führte. Nun war es höchste Eisenbahn.
Luca hielt vor einem Haus mit Spitzdach, von dem der Putz abblätterte wie die Rinde von seinen Platanen. In der Via Aldo Moro lebten nicht die reichsten Montegiardiner, so viel war klar.
Kaum war er ausgestiegen, hielt der Commissario unwillkürlich inne. Aber es war nichts Auffälliges zu hören, nur die Klänge des äußersten Stadtrandes – die Zikaden, das leise Rauschen des Windes in den Laubbäumen auf der Straße, das Krähen eines Hahnes.
Als er sich dem Haus näherte, flog auch schon das hohe Gartentor auf, und eine kleine Gestalt mit rotem Gesicht kam auf ihn zu.
»Endlich, Commissario!«, rief der Mann energisch. »Endlich lassen Sie sich mal blicken.«
»Ich wüsste nicht, warum ich früher hätte kommen sollen«, erwiderte Luca und streckte dem kleinen Mann die Hand hin, doch der ergriff sie nicht. Stattdessen fauchte er: »Ich habe schon dreimal beim Bürgermeister vorgesprochen in dieser Angelegenheit, aber der interessiert sich eben nicht für uns einfache Leute …«
»Da bin ich mir nicht sicher, Signor Farnese«, sagte Luca. »Ich glaube, dass Signor Martinelli sehr an Ihrer aller Wohl interessiert ist.«
»Das müssen Sie ja sagen, Commissario. Aber er ist es ja nicht, der seit Wochen nicht schlafen kann – ach, was sage ich: seit Monaten!«
Luca trat einen Schritt zurück, weil der Mann ihm immer näher kam. Er sah die roten Äderchen auf Farneses Wangen, die schweißglänzende Halbglatze, die schlechten Zähne, den unsteten Blick und dachte, dass Enrico Farnese vielleicht nicht der ideale Inhaber einer Schusswaffe war.
»Wollen Sie mir erst mal sagen, warum Sie so wütend sind? Dann kann ich vielleicht besser Abhilfe schaffen, als wenn ich weiter im Nebel herumstochere.«
Signor Farnese wies die Straße hinunter. Dort standen die Häuser so dicht, dass die hinter ihnen liegenden großzügigen Gärten eine regelrechte Überraschung waren. »Der terrorisiert uns hier alle, seit Monaten – aber sie lässt das einfach zu.« Nun hatte er den Arm gehoben und wies auf das Haus, das direkt neben seinem stand. Es war in etwas besserem Zustand. Offenbar erst vor kurzem war es frisch gestrichen worden, in einem ziemlich schrecklichen Rosaton.
»Wer terrorisiert Sie, Signor Farnese?«
»Kommen Sie«, erwiderte der Mann und stapfte los, durch das Hoftor am Haus vorbei und in seinen Garten. »Ich bin fassungslos, dass Sie überhaupt noch nachfragen, Commissario. Das hört man doch auf drei Kilometer, diesen Wahnsinn …«
Anders als das Haus wirkte der Garten des alten Mannes akkurat gepflegt. Es gab einen aus Kies gelegten Weg, der bis an den Rand des Gartens führte, wo die freie Wiese begann. Rechts und links des Weges waren Beete angelegt, die aussahen, als besäße Signor Farnese eine Gemüsehandlung. Die Sträucher und Pflanzen waren über und über voll mit Früchten und Gemüsen, die so reif und lecker aussahen, dass Luca unwillkürlich Appetit bekam und ans Mittagessen dachte. Er sah leuchtend rote und gelbe Tomaten in allen Größen, riesige Zucchini ruhten schwer auf dem Boden, einige Pflanzen trugen noch ihre knallgelben Blüten. Auf dem nächsten Beet strahlten Hunderte Erdbeerpflanzen in voller Pracht, die Früchte tiefrot. Emma hätte bei diesem Anblick in die Hände geklatscht, sie liebte Erdbeeren. Daneben standen zwei große Kirschbäume. Ihre Äste bogen sich unter der Last der Früchte. Stare flatterten auf, als Signor Farnese und der Commissario sich dem Baum näherten.
»Mio Dio«, sagte Luca. Er war ehrlich beeindruckt. »Sie haben ja nicht nur einen, sondern zwei grüne Daumen.«
»Grazie, Commissario«, erwiderte der alte Signor Farnese, und der Stolz ließ seine Stimme viel sanfter klingen. »Es ist jede Menge Arbeit – aber ich erfreue mich an meiner kleinen Oase.«
»Was machen Sie mit all dem? Führen Sie ein geheimes Ristorante, von dem ich nichts wissen soll?«
»Ha, nein, weit gefehlt … Ich habe eine große Familie, drei Kinder, wissen Sie, und viele Enkel. Sie leben alle in der Stadt und freuen sich immer, wenn ich ihnen am Wochenende eine Wochenration frisches Obst und Gemüse mitgebe. Aber bei dem Lärm … Da habe ich bald kranke Nerven – und mag gar nicht mehr in den Garten gehen.« Seine Stimme war wieder düster geworden.
»Was meinen Sie denn?«, fragte Luca.
»Hören Sie es denn immer noch nicht?«
»Ich höre nur Zikaden – und die Hähne …«, erwiderte der Commissario.
»Ha, sehen Sie!«, rief Enrico Farnese und hob triumphierend die Hände. »Sie denken, es handelt sich um Hähne, richtig? Weil es so laut ist und nicht aufhört – aber ich versichere Ihnen: Es ist nur ein einziger Hahn. Dieses Mistvieh! Er lebt direkt hier nebenan, und er kräht tags und nachts ohne Unterlass – als würde für ihn vierundzwanzig Stunden lang ununterbrochen die Sonne aufgehen. Er ist verrückt geworden, ich bin mir sicher. Er ist verrückt geworden, und jetzt will er, dass wir alle hier verrückt werden, unsere ganze schöne Straße. Und die alte Ziege lässt diesen Terror zu – ich versprechen Ihnen, diesem beschissenen Hahn den Hals umzudrehen, wenn jetzt nicht …«
»Wer ist denn die alte Ziege?«, unterbrach Luca ihn, während er im Kopf das Verzeichnis der Hausbesitzer in der Via Aldo Moro durchging, ohne darauf zu kommen, wer nebenan wohnen könnte.
»Wie haben Sie mich genannt, Commissario?«, rief plötzlich eine ihm wohlbekannte Stimme. Gleich darauf bewegten sich zwei der Koniferen, die die Grundstücke voneinander abgrenzten, und der Kopf einer grauhaarigen resoluten Frau kam zum Vorschein. »Das ist ja wohl die Höhe …!«
»Signora Agnelli …«, sagte Luca und hob beschwichtigend die Arme. Natürlich war seine Nachfrage nicht für ihre Ohren gedacht gewesen, aber nun war es geschehen. Wobei er hoffte, dass Renata Agnelli zu sehr mit sämtlichen Wassern gewaschen war, als dass sie es ihm lange übel nähme. Sie arbeitete als Altenpflegerin und war im ganzen Städtchen unterwegs, eine kräftige, kernige Frau. Mit einer Vorliebe für Hühner, offensichtlich. Und für einen Hahn, den Luca in diesem Moment hinter ihr erblickte.
Das Tier stand auf einem Holzstapel, das weiße Gesicht mit dem roten Kamm obendrauf in die Höhe gereckt. Stolz wie der gallische Hahn, dachte Luca. Nur leider hatte er sich in die Toskana verlaufen. Wieder hob der Hahn den Kopf und stieß sein lautes heiseres Krähen aus. Der Commissario kniff die Augen zusammen und beobachtete das Schauspiel. Er musste zugeben: Der Hahn war wirklich laut. Sehr laut sogar. Das Krähen begann als heiseres Würgen, dann wurde es höher und schriller, wiederholte sich drei-, vier-, fünf-, sechsmal. Es war kein Kikeriki, das wäre im Vergleich ja geradezu süß gewesen, sondern ein kaum noch nach Hahn klingendes Schreien – und eben sehr, sehr laut.
Die roten Augen des Hahnes schienen zu glühen. Luca überlegte: Durfte dieser Hahn wirklich nicht krähen?
Auf dem Gesicht von Signor Farnese erschienen immer mehr rote Flecken. Er hatte sich genauso aufgerichtet wie der Hahn, seine Wut schien ihn wachsen zu lassen.
»Sehen Sie, Commissario, ich meine: Hören Sie? Das ist doch … eine absolute Ruhestörung!«
»Dass du kleiner Schmock jetzt schon die Behörden verständigst«, fuhr ihn seine Nachbarin, von der zwischen den Koniferen noch immer ausschließlich der Kopf zu sehen war, nun deutlich aufgebrachter an. »Wegen eines Tieres – das ist ja wohl das Absurdeste, was ich jemals erlebt habe. Du wohnst auf dem Land, das hast du wohl nicht verstanden! Und hier gibt es nun mal Tiere!«
»Tiere ja, aber doch nicht diesen schizophrenen Muezzin von einem Hahn, der glaubt, er müsse sein schreiendes Handwerk achttausendmal am Tag verrichten …«
»Du bist so ein …«
Luca ging dazwischen, ehe die Beleidigungen justiziabel wurden. Beherzt stellte er sich so vor den kleinen Signor Farnese, dass der seine Nachbarin nicht mehr sehen konnte und umgekehrt.
»Sagen Sie, Signor Farnese, geht das wirklich die ganze Nacht lang so?«
»Die ganze Nacht«, bestätigte der Mann nickend. »Na ja, vielleicht ist am späten Abend mal eine Pause oder auch um Mitternacht, irgendwann muss das Biest ja schließlich mal schlafen. Aber spätestens um eins, halb zwei Uhr nachts geht es wieder richtig los, und zwar immer dann, wenn ich gerade eingeschlafen bin. Bei Mondschein ist es am schlimmsten – also quasi immer, außer an den drei Tagen mit Neumond.«
»Aber haben Sie denn nie mit Signora Agnelli darüber gesprochen, wie problematisch das für Sie ist?«
»Na, klar hat er das, der Schmock!«, rief die Nachbarin. »Er nervt mich seit Wochen mit meinem Hahn. Aber Menschenskinder, dann muss der alte Sack eben nach Florenz ziehen oder sonst wohin. Da kann er aber keine Zucchini mehr ziehen. Ich sag ja auch nichts, wenn er alle drei Tage seinen englischen Rasen mäht. Das ist hier eine Gegend mit Landwirtschaft – und da sollten wir alle stolz drauf sein. Ey …«, sie wiederholte ihren Ruf, »ey, Enrico, ich glaube, der Bürgermeister sieht das genauso. Du hast dich doch schon bei dem beschwert, oder? Und hat er reagiert? Nein, hat er nicht. Weil er findet, dass ein Hahn nun mal krähen darf – und du einfach dein blödes Maul halten musst.«
»Sie sind so eine verdammte …«, schrie der alte Farnese und drängelte sich an Luca vorbei, doch der griff sanft, aber bestimmt seinen Arm.
»Sie bleiben hier, Signore«, sagte der Commissario freundlich und mit unüberhörbar warnendem Unterton zugleich. »Und Sie, Signora Agnelli, Sie beruhigen sich jetzt auch mal wieder. Es reicht, wenn Ihr Hahn die Diskussion derart stimmgewaltig begleitet.«
Immer noch krähte der stolze Hahn mindestens einmal pro Minute ausgiebig. Luca war, wie er sich eingestehen musste, doch überrascht, dass Signor Farnese das Tier noch nicht erschossen hatte. Es war wirklich nicht auszuhalten.
»Ich bin mit den Nerven am Ende. Meine Frau auch. Sie ist eigentlich nur noch im Keller.«
»Na ja, wahrscheinlich, weil Sie es mit dir Schmock nicht mehr aushält …«
»Signora Agnelli – es reicht jetzt!«, sagte Luca mit aller Schärfe. »Bei der nächsten Frechheit nehme ich Sie mit ins Rathaus – und dann haben wir ein echtes Problem. Verstanden?«
Die Frau ließ eine der Koniferen los und nickte. Sie war plötzlich weiß um die Nasenspitze.
»Es ist ja nicht nur der Hahn. Wenn der mal Ruhe gibt, schnattern auf einmal die Gänse.«
»Ihre Nachbarin hält auch noch Gänse?«
»Ja, weiter hinten im Garten, in ihrem Olivenhain. Sie waren vor zwei Jahren auf einmal da. Sie hat sie einfach gekauft, Commissario! Ohne irgendjemanden von uns zu fragen. Wenn der Wind richtig steht, dann denken sie, Sie leben im Tierpark.«
Luca betrachtete die Nachbarin, die ihnen immer noch verstohlen lauschte. Ein nadeliger Ast hing ihr mitten übers Gesicht.
»Gut, Signor Farnese, ich werde mir das drüben einmal ansehen. Und ich werde auch mit den anderen Nachbarn sprechen.«
Luca seufzte und sah auf die Uhr. Es schien, als würde der Tag alles andere als ruhig – und als müsste sein Mittagessen in der Bar am Markt noch etwas warten. Eigentlich war das heute sein Hauptziel gewesen. Nun war alles anders – wegen eines Hahnes. Und zweier Nachbarn, die sich nicht ausstehen konnten. Das war Montegiardino, wie es leibte und lebte.