Steinige Flucht - Joachim Gruschwitz - E-Book

Steinige Flucht E-Book

Joachim Gruschwitz

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Zunächst stehen Kriminalhauptkommissar Jürgens und seine Ermittler vor einem Rätsel, als sie mit dem Mord an einem Karlsruher Rechtsanwalt konfrontiert werden. War es ein geplanter Mord oder war es ein Einbruch, bei dem es zum Mord kam? Fünf Jahre zuvor war der junge Syrer Hakim Nazari nach einer abenteuerlichen Flucht vor dem Krieg in seinem Heimatland in Deutschland angekommen und baute sich dann in Karlsruhe als Student ein neues Leben auf. Jetzt holen ihn die Schrecken von damals ein. Erst nach einem fehlgeschlagenen Überfall auf ihn und seine Freunde wird der Zusammenhang zwischen seiner Flucht damals und dem Mord an dem Rechtsanwalt ersichtlich. Während der Mörder in Hakim den einzigen Augenzeugen beseitigen will, wird er selbst von Kommissar Jürgens und dessen Team gejagt. Erst als sich das BKA einschaltet, zeigt sich das ganze Ausmaß der Situation. Es beginnt ein Wettlauf mit der Zeit, wobei sich sowohl der Mörder als auch die Ermittler modernster Technik, ausgeklügelter Täuschungsmanöver und raffinierter Schachzüge bedienen. Dabei begibt sich der Kommissar selbst in höchste Gefahr.

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Seitenzahl: 368

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Joachim Gruschwitz

Steinige Flucht

Das Buch

Zunächst stehen Kriminalhauptkommissar Jürgens und seine Ermittler vor einem Rätsel, als sie mit dem Mord an einem Karlsruher Rechtsanwalt konfrontiert werden. War das ein geplanter Mord oder war es ein Einbruch, bei dem es zum Mord kam?

Fünf Jahre zuvor war der junge Syrer Hakim Nazari nach einer abenteuerlichen Flucht vor dem Krieg in seinem Heimatland in Deutschland angekommen und baute sich dann in Karlsruhe als Student ein neues Leben auf. Jetzt holen ihn die Schrecken von damals ein.

Erst nach einem fehlgeschlagenen Überfall auf ihn und seine Freunde wird der Zusammenhang zwischen seiner Flucht damals und dem Mord an dem Rechtsanwalt ersichtlich.

Während der Mörder in Hakim den einzigen Augenzeugen beseitigen will, wird er selbst von Kommissar Jürgens und dessen Team gejagt.

Erst als sich das BKA einschaltet, zeigt sich das ganze Ausmaß der Situation. Es beginnt ein Wettlauf mit der Zeit, wobei sich sowohl der Mörder als auch die Ermittler modernster Technik, ausgeklügelter Täuschungsmanöver und raffinierter Schachzüge bedienen. Dabei begibt sich der Kommissar selbst in höchste Gefahr.

Der Autor

Joachim Gruschwitz, Tierarzt im Ruhestand, wurde 1953 in Stuttgart geboren und lebt seit über zehn Jahren mit seiner Familie in Karlsruhe. Nach dem Ende seiner Berufstätigkeit hat er die Freude am Schreiben entdeckt und zunächst einen Kriminalroman und zwei Kriminalkurzgeschichten veröffentlicht. Inzwischen schreibt er auch Kinderbücher.

Veröffentlichungen:

„Steiniger Tod“ – Baden-Krimi, Lauinger Verlag 2020

„Sein größter Auftritt“ – Kurzkrimi, veröffentlicht in

der Anthologie „Mordstheater“, Lauinger Verlag 2021

„Die Taube auf dem Dach“ – Kurzkrimi, veröffentlicht

in der Anthologie „Mordsfamilie“, Lauinger Verlag 2022

„Fefes Abenteuer“ – Kinderbuch, Papierfresserchen Verlag 2022

Impressum

Texte: © 2024 Copyright by Joachim Gruschwitz

Umschlag:© 2024 Copyright by Joachim Gruschwitz

Verantwortlich

für den Inhalt:Joachim Gruschwitz

c/o AutorenServices.de Birkenallee 2436037 Fulda

[email protected]

Druck:

epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblografie; detaillierte bibliografische Datensind im Internet unter http://dnb.dnb.de abrufbar.

Joachim Gruschwitz

Steinige Flucht

Kriminalroman

INHALT

22. Januar 2020

DER MORGEN DANACH

Ein TAG ZUVOR: die Begegnung

ERKAN

Türkei, fünf Jahre zuvor: DIE FLUCHT

recep

DONNERSTAG, 23. Januar 2020

FREUNDE

AUSSPIONIERT

RÜCKBLICK

HAARSCHARF

GÄSTE

DER MORGEN DANACH

BEN

SAFEHOUSE

MITTELLOS

DER MAULWURF

JASMIN

PENSION SCHÖNWALD

VERZWEIFLUNG

BERNBACH

ÜBERRASCHUNGEN

22. Januar 2020

Tief geduckt schleichen die drei maskierten Männer durch den nächtlichen Garten bis zu einem Erdgeschossfenster auf der Rückseite des stattlichen Einfamilienhauses im Karlsruher Ortsteil Weiherfeld.

Die Luft in dieser rabenschwarzen Januarnacht ist neblig, nass und kalt. Es ist die Art von Kälte, die überall hineinkriecht, in jeden Ärmel, unter jede noch so dicke Jacke und in jeden Handschuh. Nur mit Mühe schafft die einsame Straßenlaterne einen kleinen Lichtkegel, der Rest der Beleuchtung wird sofort von dem dichten Nebel verschluckt.

Das Geräusch des Güterzuges auf den nahegelegenen Gleisen schwillt zu einem mächtigen, alles übertönenden Rauschen an. Jeder Laut wird in der dicken Nebelluft verstärkt, dadurch scheint der Koloss geradewegs durch den Garten zu rasen, so laut ist sein Getöse.

Den Eindringlingen hinter dem Haus erleichtert das ihr Vorhaben. Der eine durchbohrt den Fensterrahmen mit einem sehr kleinen Werkzeug. Noch immer liegt das laute Rauschen des Zuges in der Luft, da legt der Mann den Bohrer bereits zurück in seine Tasche und schiebt den vorbereiteten Draht durch das Loch ins Innere. Wenige Sekunden später ist das Fenster entriegelt und die Männer klettern nacheinander durch die Öffnung in den Raum.

Drei Lichtkegel irren suchend umher, dann tastet sich einer der Eindringlinge vorsichtig durch die geöffnete Zimmertüre in die Diele zur Treppe, die nach oben führt. Ein zweiter folgt ihm. Der dritte bleibt im Raum, nimmt zielstrebig das Notebook vom Schreibtisch und steckt es in eine große, schwarze Stofftasche, die er über seiner Schulter trägt.

Keiner spricht ein Wort.

Der Mann mit der Tasche durchwühlt sämtliche Papiere und Utensilien auf dem Schreibtisch im Licht seiner Taschenlampe. Eine Festplatte, mehrere Speicherkarten und zwei USB-Sticks verschwinden ebenfalls in der Stofftasche, während die beiden anderen Männer im oberen Stockwerk ankommen.

„Hallo? Dirk? Bist du das?“

Ein Lichtschein fällt plötzlich aus einer offenstehenden Zimmertür. Die beiden Maskierten schauen sich kurz an, dann stürmen sie gemeinsam in das erleuchtete Zimmer.

Der Mann im Bett hat sich aufgerichtet und starrt erschrocken auf die beiden Gestalten.

„Was ist, wer…?“

Weiter kommt er nicht. Der Vermummte, der dem Bett am nächsten ist, zieht sofort ein Messer aus seinem Gürtel und rammt es dem Mann mit voller Wucht in den Hals. Als er es wieder herauszieht, bildet das herausströmende Blut im Nu eine große Blutlache. Der Kopf des Mannes sinkt auf seine Brust, seine Hand fährt zum blutenden Hals. Die Panik in den weit aufgerissenen Augen lässt langsam nach, verblasst, der Blick wird ausdruckslos und die geweiteten Pupillen starren ins Leere. Das gurgelnde Geräusch seiner verzweifelten Versuche, zu atmen, erstirbt und sein Arm sinkt langsam herab.

Der Mann im Bett ist tot.

„Das Handy!“ Der Typ mit dem Messer deutet auf den Nachttisch und der andere greift sofort nach dem Smartphone, das dort liegt.

Die beiden Einbrecher löschen das Licht und verlassen lautlos das Zimmer. Im Schein der Taschenlampen verständigen sie sich mit Handzeichen, dann huschen sie von Zimmer zu Zimmer.

Nachdem sie alles durchsucht und niemanden mehr gefunden haben, gehen sie zurück zur Treppe und hinab ins Erdgeschoß.

Unten im Wohnzimmer liegt eine umgestoßene Stehlampe, daneben schüttet der dritte Maskierte den Inhalt der Schreibtischschubladen auf den Fußboden.

„Der Sohn und sein Freund?“ fragt er, nachdem ihn die beiden über den Mann im Bett informiert haben.

„Nicht da“, antwortet der eine und zuckt mit den Achseln.

„Verdammt!“ flucht der Maskierte und leuchtet mit dem Lichtstrahl seiner Lampe in die Tasche mit der Beute, um sie den beiden anderen zu zeigen.

„Ist das alles?“

„Ja, bis jetzt. Sucht im Keller weiter und vor allen Dingen: findet den Sohn und seinen Freund, die beiden können nur noch dort unten sein!“ weist der mit der Tasche die beiden anderen an.

Während er nach und nach sämtliche Schränke und Schubladen durchsucht, schleichen seine beiden Komplizen nach unten, kommen aber kurze Zeit später unverrichteter Dinge wieder zurück.

„Da unten ist niemand, nur alter Krempel und jede Menge Aktenordner, nichts Elektronisches oder so.“

Die drei Männer durchwühlen sämtliche Schränke und Schubladen im Erdgeschoß. Dann winkt der eine die beiden anderen zu sich heran. In dem geöffneten Büroschrank vor ihm ist ein kleiner Möbeltresor eingebaut. Gegen zwei Einbrecher mit Stemmeisen hat er keine Chance und so dauert es kaum zwei Minuten, bis der gesamte Inhalt vor den Eindringlingen am Boden verstreut liegt.

Erstaunlicherweise ist es nicht das Bündel Geldscheine, das zuallererst in der schwarzen Tasche verschwindet, sondern fünf USB-Sticks und ein kleiner Stapel DVDs.

Schließlich deutet einer der drei Eindringlinge auf sein linkes Handgelenk. Zwar befindet sich dort keine Armbanduhr, aber die beiden anderen verstehen die Mahnung sofort und nicken gleichzeitig.

Knapp zehn Minuten und einige ausgeleerte Schubladen später verschwinden die drei lautlos durch dasselbe Fenster, durch das sie eingebrochen waren.

DER MORGEN DANACH

Jürgens starrt auf die Leiche im Bett und auf das viele Blut. Als Dezernatsleiter der Karlsruher Mordkommission hat er schon viele Tatorte gesehen, aber selten einen derart blutigen.

Er tritt nahe an das Bett heran, ohne dabei etwas zu berühren, und beugt sich vorsichtig über den Toten. Offensichtlich ist das Blut aus der großen Wunde am Hals des Opfers ausgetreten und hat sich dann im ganzen Bett und darunter und daneben, auf dem Pyjama, auf dem Nachttisch und sogar an der Wand verteilt. Vermutlich ein Messerstich, aber das wird der Gerichtsmediziner beurteilen.

Kriminalhauptkommissar Ulrich Jürgens, Jahrgang 1960, ist durch und durch Ermittler, seine Aufklärungsquote ist exzellent und darauf ist er auch stolz. Trotzdem denkt er in letzter Zeit häufiger an die Zeit nach seiner Pensionierung, die in immer greifbarere Nähe rückt, und es ist nicht nur Wehmut, die er bei diesem Gedanken empfindet.

Seine Frau Doris, mit der er seit über 30 Jahren glücklich verheiratet ist, pflegt die langsame Veränderung ihres Mannes gelegentlich liebevoll mit den Worten „der alte Wolf wird langsam grau“ auszudrücken, in Anlehnung an das gleichnamige Lied von Stefan Waggershausen.

„Hallo Chef!“ Der große, dunkelhaarige und gutaussehende Mittdreißiger, der gerade das Zimmer betritt und sich zu Jürgens gesellt, ist dessen rechte Hand Lukas Glattner. Die beiden Männer verstehen sich ausgezeichnet, wobei Lukas die Erfahrung und Weitsichtigkeit seines Chefs bewundert, während Jürgens die analytischen Fähigkeiten und die unbedingte Einsatzbereitschaft seines jungen Kollegen besonders schätzt.

„Hey Lukas, guten Morgen, falls man das bei solch einem grauenvollen Anblick überhaupt noch sagen kann“, Jürgens deutet mit einer kurzen Handbewegung auf das Bett vor ihm.

Lukas starrt mit einer Mischung aus Anteilnahme und Abscheu auf den Toten im Bett.

„Welch ein Blutbad!“ Er wendet sich ab und schüttelt den Kopf, ehe er nach seinem Handy greift, das kurz vibriert hatte, um eine neu empfangene Nachricht zu signalisieren. Während er auf das Display schaut, informiert er Jürgens.

„Bianca ist auf dem Weg, sie wird auch gleich hier sein. Ich selbst bin schon vor einer halben Stunde angekommen und konnte noch kurz mit Doktor Neumann von der Rechtsmedizin sprechen. Er hatte es eilig, weil er noch einen Gerichtstermin hat, aber er lässt Sie grüßen.“

Jürgens nickt. „Danke.“

Nach einem weiteren Blick auf sein Smartphone fährt Lukas fort. „Ich schlage vor, wir warten noch auf Bianca und dann berichte ich Ihnen beiden, was ich inzwischen in Erfahrung bringen konnte, okay?“

„Gut, Lukas, ich schaue mich inzwischen ein bisschen hier um.“

Jürgens tritt einen Schritt zurück, um eine Frau im weißen Overall vorbeizulassen, die mit ihrem Fotoapparat jeden Blutspritzer und jedes Detail festhält. Ihr Kollege, ebenfalls ganz in einen weißen Overall gehüllt, sammelt an verschiedenen Stellen mit einem kleinen Spatel Proben des getrockneten Blutes ein. Jede einzelne Stelle wird mit einer Nummer markiert und dann ebenfalls fotografiert.

Während die beiden Mitarbeiter der Spurensicherung ihre Arbeit mit Ruhe und Sorgfalt durchführen, geht Jürgens langsam durch die Tür hinaus in den Flur. Es gibt auf dieser Etage drei weitere Zimmer, ein Badezimmer und eine separate Toilette.

Zwei der Zimmer werden offenbar derzeit nicht als Schlafzimmer genutzt, denn anstelle von Kopfkissen und Bettdecke stapeln sich Zeitschriften, Aktenordner und einige Kleidungsstücke auf den Betten, während die Türen der leeren Schränke offenstehen.

Das dritte Zimmer sieht bewohnt aus. Auf dem Bett liegt nur ein aufgeschütteltes Kopfkissen und am Fußende eine Decke. Hier wurden Kleidungsstücke, Bücher und alles andere aus den Schränken gerissen und achtlos auf den Boden geworfen.

Jürgens geht weiter. Bad und Toilette scheinen den oder die nächtlichen Eindringlinge nicht interessiert zu haben, jedenfalls kann Jürgens hier nichts Außergewöhnliches feststellen.

Inzwischen ist auch Bianca Obermeier, die Jüngste im Team der Ermittler, angekommen und begrüßt ihren Chef an der Badezimmertür mit einem freundlichen Lächeln. Sie ist eine schlanke und sportliche junge Frau mit erfrischend optimistischer Ausstrahlung, nicht zuletzt durch ihre strahlend blauen Augen. Obwohl sie inzwischen bereits viele hässliche Dinge in ihrem Beruf miterleben musste, wirkt sie noch immer unverbraucht und voller Elan, manchmal schon fast kindlich naiv. Die Intuition hat in ihrem Leben einen hohen Stellenwert, trotzdem ist sie eine sehr gute Analytikerin.

„Guten Morgen, Bianca. Haben Sie den Toten schon gesehen?“

„Nein, ich bin direkt zu Ihnen gekommen. Lukas sagte mir, dass Sie oben sind.“

Jürgens schlägt den Weg zurück zum Tatort ein. „Haben Sie gut gefrühstückt?“

Sie sieht ihn erstaunt an und nickt kurz, ehe Jürgens seine Frage erklärt. „Machen Sie sich auf einen schlimmen Anblick gefasst!“ Als seine junge Kollegin ihn erneut fragend ansieht, fährt er fort.

„Das Opfer hat sehr viel Blut verloren, dementsprechend sieht der Tatort aus.“

Bianca ist verwirrt. Sagt er das, weil sie eine Frau ist, oder ist es wirklich so schlimm? Schließlich ist das nicht die erste Leiche, die sie sieht.

Sie betreten das Zimmer und stehen vor dem Bett mit dem Toten und dem vielen Blut. Bianca braucht einen Moment, um das Gesehene zu verkraften. Ja, es ist tatsächlich so schlimm und sie muss ihrem Chef insgeheim Abbitte leisten. So etwas konnte sie sich bis jetzt nicht vorstellen. Aber dann beginnt sie sofort wieder, als Ermittlerin zu sehen und zu denken.

„Chef, ich sehe kein Handy. Hat das die Spurensicherung bereits verwahrt oder war da gar keines?“

Jürgens sieht sie anerkennend an.

„Da war kein Handy, das habe ich auch schon vermisst.“

Während Bianca den Tatort weiter begutachtet, fragt Jürgens:

„Ist Lukas jetzt unten?“

„Ja“, antwortet sie rasch und wendet sich von dem grausamen Anblick ab, „er will uns auf den neuesten Stand bringen, sobald wir hier oben fertig sind.“

Jürgens wendet sich zur Tür. „Dann lassen Sie uns jetzt runtergehen.“

Im Erdgeschoß sind drei weitere weiße Overalls emsig bei der Arbeit mit Pinseln, Puder, Klebefolien und anderen Utensilien, um sämtliche Spuren sicherzustellen.

„Hallo Ulrich, guten Morgen Bianca“, werden die beiden Ermittler unten von Fritz Holder, einem drahtigen, grauhaarigen Mann in Jürgens‘ Alter, begrüßt. Er ist der Chef der Spurensicherung und mit Jürgens befreundet.

„Die haben hier ganze Arbeit geleistet, keine einzige Schublade vergessen und alles aus den Schränken gerissen“, dabei deutet er auf das Chaos am Boden.

Jürgens runzelt die Stirn und sieht seinen Kollegen fragend an. „Hallo Fritz - woher weißt du, dass es mehrere waren?“

„Na schau dir mal die zertrampelte Erde draußen unter dem Fenster an, das sind mindestens drei verschiedene Fußabdrücke“, Holder weist mit dem Kinn in Richtung des aufgebrochenen Fensters.

„Dort sind sie reingekommen. Das waren Profis, sie haben die Drahtmethode benutzt.“

Jürgens nickt. „Verstehe. Das heißt, sie haben den Fensterrahmen durchbohrt, den vorbereiteten Draht durchgeschoben und dann damit innen den Griff entriegelt?“

„Genau.“

„Gibt’s denn hier keine Alarmanlage – ich dachte, ich hätte draußen an der Ecke so etwas gesehen?“

„Ja, gibt es, aber die ist offenbar defekt. Frag Lukas, der hat mit der Putzfrau gesprochen und die hat ihm dazu etwas erzählt, soweit ich das mitgekriegt habe.“

„Wie siehts mit Fingerabdrücken und sonstigen Spuren aus?“

Holder zieht kurz die Schultern hoch, ehe er antwortet:

„Fingerabdrücke gibt’s genug. Wir haben sie noch nicht zugeordnet, aber vermutlich sind sie von den Bewohnern und der Putzfrau. Die Täter werden wohl Handschuhe getragen haben.“

„Okay, danke Fritz, bis später!“ Jürgens wendet sich Bianca und Lukas, der inzwischen aufgetaucht ist, zu.

„Wir gehen besser raus in den Garten, hier sind wir ständig im Weg“, schlägt er vor, dreht sich um und geht voran nach draußen. Vor der Haustüre angekommen, wendet er sich nach links und stakst mit übergroßen Storchenschritten durch das noch taufeuchte Gras zur Rückseite des Hauses. Nasse Füße kriegt er trotzdem, genau wie Lukas und Bianca, die ihm folgen. Alle drei bleiben vor dem Fenster stehen, durch das die Einbrecher ins Haus gekommen sind.

„Okay, jetzt sehe ich, was Holder meint. Die waren sehr gut vorbereitet, aber gegen die Spuren in der nassen Erde konnten sie natürlich nichts machen.“ Jürgens deutet auf die zertrampelte Erde vor ihren Füssen. „Na ja, das ist eine Sache für die Spurensicherung.“ Er dreht sich abrupt um.

„Lukas, jetzt bringen Sie uns bitte auf den neuesten Stand – vielleicht da drüben?“ damit deutet Jürgens auf einen breiten, befestigten Weg direkt neben der Garage.

Nachdem alle drei an der Stelle angekommen sind, beginnt Lukas mit der Zusammenfassung der bisher bekannten Fakten, dabei nimmt er seinen Notizblock zu Hilfe.

„Also, der Tote heißt Doktor Georg Webing, Fachanwalt für Strafrecht. Nach Auskunft der Putzfrau ist er 50 Jahre alt. Sie hat ihn auch gefunden, als sie heute früh zum Putzen kam, wie immer.“

Er blättert kurz in seinem Block und fährt dann fort. „Annegret Ammer, so heißt sie, arbeitet seit über vier Jahren für die Familie. Nachdem sie den Schrecken einigermaßen überwunden hatte, war sie sehr mitteilsam, genauer gesagt, sie war nicht mehr zu bremsen.“

Lukas’ letzte Bemerkung entlockt Bianca und dem Chef ein kurzes Grinsen.

„Wurde ein Handy gefunden?“ will Jürgens wissen. „Oben beim Bett war nämlich keines.“

Lukas schüttelt den Kopf. „Nein, kein Handy, kein Computer und überhaupt kein einziger Datenträger, jedenfalls bis jetzt.“

„Aha“, brummt Jürgens, „dann hatten die es darauf abgesehen.“ Er überlegt. „Vielleicht war der Anwalt so fortschrittlich, einen Cloudspeicher zu benutzen. Das müssen wir prüfen!“

„Geht klar, Chef!“ Lukas nickt und macht eine Notiz, um dann fortzufahren.

„Die Ehefrau, Sabrina Webing, ist vor knapp einem Jahr ausgezogen und lebt seither getrennt von ihrem Mann. Angeblich hat sie einen neuen Lebensgefährten in München.“

„Sie muss informiert werden, sobald wir ihre Kontaktdaten haben“, wirft Jürgens ein, ehe Lukas weiterspricht.

„Dann gibt es noch einen Sohn, Dirk Webing, 24 Jahre, der bei seinem Vater im Haus lebt und in Mannheim Jura studiert. Er hatte ein sehr enges Verhältnis zum Vater, besonders seit dem Auszug der Mutter.“

Lukas blickt kurz auf, als im Hintergrund zwei Mitarbeiter der Spurensicherung damit beginnen, die Fußspuren unter dem Fenster mit Gips auszugießen. Dann fährt er fort.

„Die letzte Nacht hat Dirk Webing bei seiner Freundin verbracht, jedenfalls vermutet das Frau Ammer. Wahrscheinlich hat ihm dieser Umstand das Leben gerettet. Die Freundin, Paula Schmied, wohnt im Musikerviertel in einer Wohngemeinschaft. Sie ist ein Jahr älter als Dirk und arbeitet als Physiotherapeutin.“

Während Lukas eine Pause macht und erneut seine Notizen durchblättert, wird hinter den dreien der Tote aus dem Haus getragen.

„Doktor Webings Kanzlei befindet sich in der Bismarckstraße - soweit die Informationen der Putzfrau. Ach ja, eine Sache noch: es gibt zwar eine Alarmanlage, aber die funktioniert nicht. Jedenfalls gab es ein paar Mal Fehlalarme, daraufhin hat Doktor Webing sie abgeschaltet.“

„Das war allerdings nicht so clever, wie man sieht“, kommentiert Jürgens trocken. „Danke Lukas. Hat Doktor Neumann schon etwas zur Todesursache und zum Zeitpunkt gesagt?“

Lukas nickt. „Ja, hat er. Zweifelsfrei ist die Todesursache ein Messerstich in den Hals. Das Opfer ist sehr schnell verblutet.“

Jürgens nickt kurz. „Okay, das passt zu dem vielen Blut am Tatort.“

Lukas fährt fort. „Der Mord wurde zwischen zwei und vier Uhr letzte Nacht begangen. Abwehrspuren oder Hautpartikel unter den Fingernägeln konnte der Doktor bis jetzt nicht feststellen, nach der Obduktion kann er mehr sagen. Das wird voraussichtlich morgen früh der Fall sein.“

Bianca verzieht das Gesicht. „Ein Messerstich in den Hals - Mann, das ist ja ziemlich brutal.“

„Ja“, stimmt ihr Jürgens zu, „ein derart brutaler Mord ist bei einem Einbruch ungewöhnlich.“

„Das ist tatsächlich sonderbar“, überlegt Lukas laut. „Einerseits sind die Täter beim Einbruch sehr professionell vorgegangen: bei dieser Methode mit dem Loch im Fensterrahmen muss man genau den richtigen Draht haben, nicht zu dünn aber auch nicht zu starr, man muss wissen, wie man ihn zu biegen hat und man muss dann auch noch den Fenstergriff damit richtig erwischen, um ihn aufzuziehen. Dazu gehört Übung und Erfahrung – als Einbrecher.“

Jürgens nickt und auch Bianca sieht Lukas aufmerksam an. Der fährt fort.

„Andererseits haben sie das Opfer kaltblütig in seinem Bett erstochen – vorsätzlich ermordet. Aber es wurden offenbar keine Wertgegenstände gestohlen, jedenfalls soweit das bis jetzt ersichtlich ist und in Übereinstimmung mit der Aussage von Frau Ammer. Haben wir es womöglich eher mit einem geplanten Mord als mit einem Einbruch zu tun?“

„Mhm.“ Jürgens wiegt seinen Kopf hin und her. „Ein Mord mit vorgetäuschtem Einbruch?“ Er reibt sich die Nase und fährt dann fort. „Dafür haben sich die Typen aber sehr viel Arbeit gemacht. Natürlich entsteht durch die Suche nach Wertgegenständen immer ein gewisses Chaos bei Einbrüchen.“ Nach einer nachdenklichen Pause fährt er fort. „Aber hier“, dabei deutet er auf das Haus, „ist absolut alles durchsucht worden, bis hin zur kleinsten Schublade und bis in den letzten Winkel.“

Bianca sieht ihre Kollegen fragend an und meint dann:

„Oder beides?“

„Was beides?“

„Na ein vorsätzlicher Mord und gleichzeitig die Suche nach etwas Bestimmtem – nach Datenträgern. Sind die Informationen darauf womöglich derart brisant, dass sie zugleich das Motiv für diesen Mord sind?“

Die beiden Männer sehen sie nachdenklich an. Ehe einer der beiden darauf antworten kann, biegt ein schlanker junger Mann in blauer Steppjacke um die Garagenecke und eilt auf das Haus zu, dabei schiebt er ein Mountainbike neben sich her. Als er die Ermittler sieht, geht er überrascht auf sie zu und bleibt vor ihnen stehen.

„Was tun Sie hier – wer sind Sie?“ Nach einem Blick auf die offenstehende Haustüre fügt er hinzu „Und was ist denn hier los?“

Er wirkt verunsichert und kann sich noch nicht entscheiden zwischen aufgebracht oder ängstlich.

Jürgens reagiert schnell.

„Kriminalpolizei, ich bin Hauptkommissar Ulrich Jürgens und das sind meine Kollegen Bianca Obermeier und Lukas Glattner.“

Dabei hält er dem verdutzten jungen Mann seinen Dienstausweis entgegen. „Und wer sind Sie?“

Der blasse junge Mann ist jetzt ziemlich verängstigt und zögert, ehe er antwortet.

„Dirk Webing, ich wohne hier.“ Nach einem weiteren, kurzen Zögern fragt er vorsichtig: „Ist etwas passiert, wo ist mein Vater?“ Dann sieht er die weißen Overalls im Haus und wird noch blasser. „Und was machen die da?“ Es scheint ihm klar geworden zu sein, dass hier etwas Schlimmes geschehen sein muss.

Jürgens legt ihm väterlich eine Hand auf den Arm.

„Wollen Sie nicht erst einmal Ihr Fahrrad hier abstellen, dann gehen wir ins Haus und ich informiere Sie drinnen, einverstanden?“

Zitternd und willenlos nickt der junge Mann, lehnt sein Rad gegen die Garagenwand und geht mit Jürgens zur Haustür. Bianca und Lukas folgen den beiden mit ernsten Gesichtern. Drinnen kommt ihnen Holder entgegen.

„Wo können wir ungestört reden?“ fragt Jürgens.

Holder überlegt kurz und deutet dann auf eine Tür. „Dort, das ist die Küche, mit der sind wir fertig.“

Die Ermittler und Dirk setzen sich auf die gepolsterten Stühle an den modernen, runden Küchentisch in der Mitte des Raumes.

„Ist etwas mit meinem Vater? Was ist los?“ Die Stimme des jungen Mannes klingt brüchig. Während er versucht, sich zusammenzureißen, holt Jürgens tief Luft und beginnt dann zu reden.

„Herr Webing - Dirk, es gab letzte Nacht einen Einbruch im Haus Ihres Vaters“, nach einer kurzen Pause und einem prüfenden Blick in das Gesicht des jungen Mannes vollendet er seinen Satz „und dabei ist er umgekommen. Das tut mir sehr leid, mein herzliches Beileid.“ Wieder legt Jürgens seine Hand auf Dirks Arm, während die beiden anderen Ermittler am Tisch mit versteinerten Gesichtern etwas wie „ebenfalls herzliches Beileid“ murmeln und nicken.

Einen Moment lang gibt es keinerlei Reaktion von Dirk, dann schießen ihm Tränen in die Augen und seine Mundwinkel beginnen zu zucken.

„Papa?“

Tränen rinnen über sein Gesicht, während seine Augen stumm von Jürgens zu Lukas und zurück zu Jürgens wandern. „Was…wie, wo ist er?“ Das Atmen fällt ihm schwer, er bringt die Worte kaum heraus. Seine Stimme klingt rau, fast schon krächzend. Bianca steht auf und füllt ein Glas mit Wasser, das sie vor Dirk auf den Tisch stellt, aber der nimmt das gar nicht wahr. Er ist aschfahl im Gesicht, sein Atem geht jetzt zitternd und stoßweise.

„Dirk, letzte Nacht sind mehrere Männer hier eingebrochen“, setzt Jürgens erneut an, wird aber von Dirk unterbrochen, der laut schluchzend fragt: „Papa…PAPA…wo ist er?“ Er schüttelt ungläubig den Kopf und starrt Jürgens tränenüberströmt an. Bianca wendet sich ab und schluckt, während Lukas mit steinernem Gesicht auf seinem Stuhl sitzt und krampfhaft Haltung bewahrt.

„Er ist jetzt nicht mehr hier, aber ich verspreche Ihnen, Sie können ihn bald sehen.“ Der Ermittler vermeidet absichtlich das Wort „Gerichtsmedizin“, trotzdem schluchzt der junge Mann hemmungslos. Er verbirgt sein Gesicht in beiden Händen und lässt den Kopf auf die Unterarme auf dem Tisch sinken.

Jürgens steht langsam und leise auf und gibt Bianca ein Zeichen. Sie wischt sich kurz mit dem Ärmel über das Gesicht und folgt ihm.

„Bianca, der junge Mann braucht offensichtlich Hilfe. Fordern Sie bitte unsere Notfallseelsorgerin an und bleiben Sie bis zu ihrem Eintreffen bei ihm. Lassen Sie den jungen Mann auf keinen Fall nach oben gehen. Falls er etwas von dort braucht, soll ein Kollege es ihm bringen, okay?“

Bianca nickt und will antworten, da läutet das Festnetztelefon in der Diele. Lukas, der inzwischen ebenfalls aufgestanden ist, schaut kurz zu Jürgens und geht dann zu dem Apparat. Er hebt den Hörer vorsichtig mit seiner plastikbehandschuhten Rechten ab.

„Bei Dr. Webing“… „nein, kann er nicht“… „ich bin Kriminalkommissar Glattner, wer sind Sie?“

Sein Gesicht nimmt einen verwunderten Ausdruck an.

„Frau Jasmin Kerner“, wiederholt er laut und sieht dabei seine Kollegen an, „das ist interessant. Einen Moment bitte.“ Lukas deckt das Mikrofon mit einer Hand ab. „Chef, das glauben Sie nicht: in der Kanzlei von Doktor Webing ist heute Nacht ebenfalls eingebrochen worden, ich habe hier die Sekretärin am Telefon!“

Jürgens zieht erstaunt die Augenbrauen hoch. „Das ist allerdings interessant.“

„Jedenfalls bestimmt kein Zufall“, nickt Lukas. „Sollen wir uns das auch ansehen?“

„Auf jeden Fall. Für den Moment sind wir hier sowieso fertig, also lassen Sie uns gleich hinfahren.“

„Okay.“ Lukas nimmt die Hand vom Mikrofon. „Frau Kerner? Wir kommen zu Ihnen, bitte bleiben Sie vor Ort.“ Lukas lässt sich noch die genaue Adresse in der Bismarckstraße geben und legt dann auf, während Jürgens sich erneut an Bianca wendet.

„Lukas und ich fahren jetzt dort hin, schauen uns um und treffen die Kollegen vom Einbruchsdezernat. Sobald Sie hier nicht mehr gebraucht werden, kommen Sie bitte nach. Lukas gibt Ihnen die Adresse. Und informieren Sie Wladimir über den Stand der Dinge.“ Bianca nickt.

Wladimir Kruczenkov ist als Kriminalassistent das vierte Mitglied in Kommissar Jürgens’ erfolgreicher Truppe, die seit der nervenaufreibenden Jagd auf einen vermeintlichen Autobahnmörder zwei Jahre zuvor ein eingeschworenes Team ist. Der hagere, junge Mann mit dunklem Vollbart und wilder Mähne agiert meist vom Büro aus. Am Computer ist er unschlagbar, jedenfalls scheint es kaum etwas im Internet einschließlich Darknet zu geben, das er nicht kennt. Gerüchten zufolge war er ein bedeutendes Mitglied der russischen Hackerszene, ehe er sich nach Deutschland absetzte. Ob das stimmt, weiß allerdings offenbar niemand.

Ein TAG ZUVOR: die Begegnung

Gut gelaunt verlässt Hakim das Gebäude der Landeserstaufnahme-einrichtung in der Durlacher Allee in Karlsruhe. Draußen überfällt den jungen Mann sofort die winterliche Kälte, aber das kann seiner guten Laune heute keinen Abbruch tun. Wieder einmal hat er als ehrenamtlicher Dolmetscher ausgeholfen und einigen verzweifelten syrischen Landsleuten Hoffnung und Hilfe geben können. Mit seinem warmherzigen und sympathischen Lächeln hat er schon häufig Menschen in verzweifelter Lage geholfen. Er rückt seine flauschige Wollmütze, die er über die tiefschwarzen Haare gezogen hat, zurecht und steuert an den geparkten Autos vorbei auf die S-Bahnhaltestelle Weinweg zu. Geistesabwesend streift sein Blick die Fahrzeuge in der Warteschlange vor der roten Ampel und bleibt schließlich an dem großen, dunklen SUV ganz vorne hängen. Im Innern sitzen drei Männer.

Als er in das Gesicht des Mannes auf dem Beifahrersitz blickt, zuckt er zusammen. Ihm stockt der Atem und für einen Moment weiß er nicht, ob er träumt oder ob das, was er sieht, Wirklichkeit ist. Dieses Gesicht kennt er und er wird es nie wieder vergessen. Obwohl nahezu fünf Jahre vergangen sind, seit er diesen Mann zum letzten Mal gesehen hat, hat er ihn doch sofort wieder erkannt. Der Blick des Mannes ist genauso durchdringend und eiskalt wie damals, seine Gesichtszüge sind hart und unerbittlich, das Böse sticht aus seinen Augen. Auch er sieht Hakim an, dabei zeigt er nicht die geringste Regung. Unmöglich zu erkennen, ob er Hakim wiedererkannt hat oder nicht.

Das ist der Mann, der damals die Menschen getötet hat, die für Hakim wie seine eigene Familie waren, daran gibt es keinen Zweifel. Hakim selbst ist dem Tod knapp entkommen, aber all die grausamen Bilder wird er nie wieder aus seinem Kopf bekommen.

Er ist in diesem Moment zu keiner Reaktion fähig, so tief sitzt der Schreck. Stattdessen geht er einfach weiter, wie ein Schlafwandler, ohne sich noch einmal umzusehen oder irgendeine Reaktion zu zeigen. Aber dieser Augenblick verändert alles in seinem Leben.

Er sieht nicht, dass einer der Männer aus dem SUV steigt und ihm folgt. Wie in Trance erreicht er die Haltestelle und steigt in die S-Bahn, die gerade eben eingefahren ist. Auch jetzt bemerkt er seinen Verfolger nicht, der ebenfalls eingestiegen ist.

Die S-Bahn ist ungewöhnlich voll an diesem späten Vormittag und Hakim steht mitten zwischen den dichtgedrängten Menschen. Aber er nimmt kaum etwas von dem Gedränge wahr, so tief ist er in seinen Gedanken versunken. Mit einer Hand hält er sich an einer Haltestange fest, den Blick fest auf den Boden gerichtet. Wieder und wieder tauchen die schrecklichen Bilder vor seinen Augen auf, er erlebt die Morde und die Grausamkeit von damals erneut. Auch wenn er sich inzwischen längst an sein neues, schöneres Leben gewöhnt hat, diese furchtbaren Erinnerungen kann er nie vollständig verdrängen. Noch immer besitzt er die Speicherkarte mit der Videoaufnahme der Morde, er hat sogar Kopien davon angefertigt.

Hakim hätte nie im Leben damit gerechnet, diesen Mann, dieses skrupellose Monster, jemals in seinem Leben wiederzusehen. Aber jetzt ist das Unwahrscheinliche passiert und ihm schießen unzählige Gedanken durch den Kopf. Alles in ihm schreit nach Rache, gleichzeitig hat er Angst, große Angst. Er hat ihn auch wiedererkannt, der andere, da ist er sich inzwischen ziemlich sicher und er, Hakim, weiß, wozu dieser Mann fähig ist. Was würde er tun? Und was könnte er selbst tun?

Tief versunken in seine Grübelei bemerkt Hakim nicht, dass ihm gerade in diesem Augenblick sein Handy aus der Jackentasche gestohlen wird. Sein Verfolger, ein kräftig gebauter junger Mann mit schwarzen Bartstoppeln, trägt einen dunklen Hoodie und hat sich in der Menge unbemerkt dicht hinter Hakim gestellt. Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen hat er auf diese Gelegenheit gewartet. Jetzt entfernt er sich langsam wieder ein Stück weit und lässt das gestohlene Smartphone in seiner Tasche verschwinden. Während der ganzen Zeit hält er mit der anderen Hand sein eigenes Handy ans Ohr und tauscht kurze Informationen aus.

„Nächster Halt: Herrenstraße.“ Die Computerstimme der S-Bahn reißt Hakim aus seinen Gedanken. Er steigt rasch aus, sein Schatten mit dem Handy am Ohr folgt ihm. Hakim geht durch die Herrenstraße in Richtung Süden und steuert auf die Badische Landesbibliothek zu. Heute muss er die Bücher, die er in seinem Rucksack trägt, zurückgeben und im Gegenzug will er andere ausleihen.

Im Gebäude angekommen, geht Hakim zu einer Sitzgruppe mit mehreren jungen Leuten, stellt seinen Rucksack auf einen freien Platz, zieht Jacke und Wollmütze aus und legt beides daneben. Nach einem Blick in die Runde erkennt er einen seiner Kommilitonen und begrüßt ihn mit einem kurzen Handzeichen und einem freundlichen Lächeln. Dann nimmt er seine Bücher unter den Arm, nickt der Gruppe zu und geht zur Rückgabestelle. Während er dort in der Schlange wartet, holen ihn die finsteren Gedanken erneut ein.

Dirk, sein bester Freund, kennt die ganze Geschichte, deshalb muss er so rasch wie möglich mit ihm sprechen. Dirk hat ihm geholfen, aus dem Flüchtlingsdasein in ein normales Leben zu finden, sich zu integrieren, seinen Studienplatz zu ergattern, hat ihm zu einem preisgünstigen Zimmer in der Wohngemeinschaft seiner Freundin verholfen und er hat ihn auch unterstützt bei der Entscheidung, die Sache von damals auf sich beruhen zu lassen. Die Chance, diesen Mann von Deutschland aus in der Türkei und allein auf der Grundlage eines Handyvideos zu finden und zur Verantwortung ziehen zu können, haben sie beide als sehr gering eingestuft. Sie waren sich einig, dass es für Hakim besser ist, die grausame Vergangenheit ruhen zu lassen und stattdessen nach vorne zu schauen in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Aber jetzt ist alles anders, denn dieser Mann ist plötzlich wieder in sein Leben getreten.

Als Hakim eine halbe Stunde später zu der Sitzgruppe zurückkehrt, ist sein Kommilitone nicht mehr da und auch der Rest der Gruppe ist verschwunden. Rucksack und Jacke liegen unversehrt auf der Bank und niemand hat bemerkt, dass der Verfolger im dunklen Hoodie das Mobiltelefon in Hakims Jackentasche zurückgesteckt hat, aus der er es zuvor in der Bahn gestohlen hatte, während Hakim seine Bücher tauschte.

*

„Hallo Dirk!“

„Hey Hakim, wie geht’s? Was macht die Soziologie?“

„Alles cool und was macht die Rechtsverdreherei?“

„Easy, läuft. Was steht an?“

Hakim zögert einen Moment und beginnt dann von seiner heutigen Begegnung zu erzählen. Als er zu Ende gesprochen hat, ist es eine Zeit lang still in der Leitung.

„Mann, das ist ja krass“, meint Dirk schließlich mit ernster Stimme. „Jetzt kannst du die Sache von damals nicht länger ignorieren.“

„Aber was kann ich machen? Soll ich jetzt mit dem Video zur Polizei gehen?“

Dirk zögert, dann antwortet er: „Ich denke, ja. Jetzt ist der Typ hier in Karlsruhe, du hast ihn gesehen und du kannst ihn jederzeit identifizieren. Das Video zeigt, was passiert ist und vor allen Dingen: du bist Augenzeuge, das wiegt noch viel schwerer.“ Nach einer kurzen Pause fährt er fort. „Und deshalb bist du jetzt auch in Gefahr.“

Beide schweigen eine Zeit lang vor sich hin, dann beginnt Dirk erneut.

„Mein Vater kann uns sicherlich helfen. Als Rechtsanwalt weiß er, was wichtig ist und er kennt eine Menge Leute, auch bei der Polizei.“

Hakim zögert. Er kennt Dirks Vater und weiß, dass der sicherlich gerne hilft. Aber kann er ihn in diese schlimme Sache mit hineinziehen? Andererseits, er muss etwas unternehmen, denn Dirk hat Recht: vermutlich ist er jetzt wirklich in Gefahr.

„Pass auf“, Dirk ist wieder ganz der aufmunternde Freund, „ich rufe meinen Vater an und melde mich dann direkt wieder bei dir. Wenn er Zeit hat, können wir gleich heute Abend zu ihm fahren und ihm dein Video zeigen.“

Hakim schluckt, ehe er antwortet. „Super, Dirk, das wäre wirklich toll!“ Er zögert und fährt dann fort. „Aber ich habe ein schlechtes Gewissen dabei, deinen Vater mit hineinzuziehen.“

„Ach was, der weiß immer, was zu tun ist. Also bis gleich.“ Damit beendet Dirk das Gespräch.

Zehn Minuten später steht fest, dass Dirk Hakim am Abend abholen wird und dass die beiden dann zusammen zu Dirks Vater fahren. Der hatte sofort seine Hilfe angeboten und seinen Sohn samt Freund zum gemeinsamen Abendessen zu sich eingeladen. Durch Dirks kurze Erzählung war er neugierig geworden. Hakim nimmt Dirks Vorschlag, im Haus seines Vaters zu übernachten, anstatt spät abends noch mit dem Rad in die Stadt zurückzufahren, dankend an. Die Speicherkarte mit dem Video wird er mitnehmen. Da davon auszugehen ist, dass Dirks Vater sich direkt am folgenden Tag wegen dieser Angelegenheit mit der Polizei in Verbindung setzen wird, hat ihm Hakim sofort eine Kopie des Videos an seine Emailadresse in der Kanzlei geschickt, entsprechend Dirks Vorschlag.

ERKAN

Es muss einen besonderen Anlass geben, sonst würde ihn sein Chef, der große Suleiman Üdzdagon, nicht höchst persönlich in seinem Büro aufsuchen. Je näher der Termin rückt, desto unruhiger wird Erkan. Er hat Sule, wie er als einer der engen Vertrauten und Freunde seinen Chef nennen darf, viel zu verdanken. Schließlich war es Sule gewesen, der ihm vor zwei Jahren, als er eine Haftstrafe wegen Autodiebstahls abgesessen hatte, Arbeit und Unterkunft gegeben hat.

Die Arbeit war einfach und anspruchslos, zunächst. Er musste Autos aus Sules Gebrauchtwagenhandel überführen, waschen, verkaufsfertig vorbereiten und präsentieren. Manchmal musste er einen Autotransport nach Osteuropa begleiten, gelegentlich auch umgekehrt, einen Transport aus der Türkei nach Deutschland. Er lernte, die Transportpapiere vorzubereiten, Verkaufsgespräche mit Interessenten zu führen und den Wert von gebrauchten Autos besser einzuschätzen.

Dann zeigte ihm eines Tages Yusuf, ebenfalls ein Vertrauter von Sule, wie man einen Tachometer manipuliert und dadurch mehr Geld für den betreffenden Gebrauchtwagen kriegen kann. Das war zwar nicht legal und Erkan wollte eigentlich seinen Lebensunterhalt ohne weitere Straftaten bestreiten, aber es war andererseits auch nicht so schlimm, dass Erkan seinen einträglichen Job bei Sule aufs Spiel setzen wollte, indem er sich weigerte, die Methode selbst anzuwenden.

Eines Nachts, als er gerade dabei war, einen Tacho entsprechend zu bearbeiten, kam ein Autotransporter aus der Türkei an. Einer der Wagen wurde sofort nach dem Abladen in die Halle auf einen freien Platz direkt neben Erkan gebracht. Soweit nichts Besonderes. Aber dann holten die beiden Männer, die das Fahrzeug hereingebracht hatten, zahlreiche Plastikbeutel mit einem weißen Pulver aus den Reifen des Wagens. Sie schenkten Erkan keine Beachtung. Das war äußerst sonderbar, denn auch Erkan war sofort klar, dass es sich bei dem Inhalt der Beutel um Rauschgift wie Kokain, oder was auch immer, handeln musste. Hatten die beiden denn überhaupt keine Angst davor, dass Erkan seine Beobachtung womöglich der Polizei melden könnte?

Erst viel später wurde ihm klar, dass dies ein Test war. Erkan behielt seine Beobachtung für sich und wurde drei Tage später überraschend zu einer Party in Sules Villa eingeladen. Die Partys dort waren legendär, Sule war dabei bekannterweise immer äußerst großzügig zu seinen Mitarbeitern. Es gab Kaviar, Hummer, Champagner und es waren auch immer zahlreiche hübsche junge Frauen dort, die offenbar von Sule dafür bezahlt wurden, besonders nett zu seinen Gästen zu sein. Er belohnte treue Mitarbeiter im Beisein aller anderen mit Geldgeschenken und auch Erkan wurde vom Chef persönlich für seine Loyalität gelobt und großzügig belohnt. Er erhielt ab sofort mehr Geld und mehr Verantwortung, die ab jetzt auch den Transport von Rauschgift miteinschloss. Andererseits, einen Versuch, die Polizei über seine nächtliche Beobachtung zu informieren, hätte er vermutlich nicht überlebt, das ist Erkan inzwischen klar.

Draußen vor dem Büro nähern sich jetzt Stimmen und reißen ihn aus seinen Gedanken. Die innere Unruhe hat ihn fest im Griff, er beginnt zu schwitzen und hat Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Was will Sule von ihm? Hat er einen Fehler gemacht, von dem er nichts weiß? Zu gut kennt Erkan auch die andere Seite seines Chefs, der zu cholerischen Wutausbrüchen neigt und kein Problem damit hat, Mitarbeiter krankenhausreif zu schlagen. Einmal war Erkan dabei, als Sule sich den Verantwortlichen für die Spielhallen, die ihm ebenfalls gehörten, vorknöpfte. Der Mann hatte Geld in die eigene Tasche abgezweigt und der Chef hatte es gemerkt. Als Sule mit dem Mann fertig war, wurde das, was von ihm übrig war, hinausgetragen. Erkan hat danach nie wieder etwas von ihm gehört oder gesehen.

Jetzt fliegt die Tür auf und ein kräftig gebauter Mann mittleren Alters mit kantigen Gesichtszügen und eisgrauen Haaren stürmt in das Büro: Sule. Er bleibt mit seinen beiden Bodyguards direkt vor Erkans Schreibtisch stehen. Die Bodyguards sind deutlich größer als ihr Chef und sehen aus, als ob sie jeden Morgen die Wochenproduktion einer Metzgerei verspeisen würden.

„Na, Erkan, wie gehen die Geschäfte?“ Sule sieht seinen Mitarbeiter wohlwollend an. Er bemüht sich um eine freundliche Miene, trotzdem kann er ein gefährliches Blitzen in den dunklen Augen nicht verbergen, als er sich kurz im Büro umsieht.

„Läuft gut, Chef, keine Probleme.“ Erkan weiß, dass Sule es hasst, mit Problemen behelligt zu werden. Der mächtige Mann gibt in solchen Fällen regelmäßig seine Standpauke zum Besten:

„Es gibt Probleme und es gibt Lösungen. Findet die Lösungen, dann ist alles gut und ich unterstütze euch. Aber wenn ich eure Probleme lösen muss, dann werdet ihr nicht glücklich sein. Denn ich reiße das Problem samt der Wurzel aus, falls ihr versteht, was ich meine!“ Dabei schwingt ein drohender Unterton in seiner Stimme mit, der keinen Zweifel am Gesagten aufkommen lässt.

Deshalb beeilt sich Erkan, seinen Chef mit einer guten Nachricht gnädig zu stimmen.

„Die sieben Wagen von letzter Woche sind so gut wie weg, es steht nur noch der BMW da, die anderen habe ich verkauft. Ich habe dir gestern ein Update geschickt…“

Aber Sule winkt ab. „Alles klar, Erkan. Ich weiß, ich kann mich auf dich verlassen.“ Er klopft Erkan anerkennend auf die Schulter, zieht sich einen Stuhl heran und setzt sich. Erst jetzt setzen sich auch seine beiden Begleiter, dabei nicken sie Erkan freundlich zu.

Trotz seines Unbehagens fühlt der sich etwas erleichtert, aber es ist ihm klar, dass die beiden ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, zusammenschlagen würden, sollte Sule es ihnen befehlen.

„Heute bin ich es, der ein großes Problem lösen muss“, beginnt Sule „und ihr sollt mir dabei helfen. Wenn wir Erfolg haben, wird sich das für jeden von euch lohnen, und damit meine ich nicht nur ein Schulterklopfen und ein paar freundliche Worte, aber das wisst ihr ja.“ Alle drei beeilen sich zu nicken und dankbare Mienen aufzusetzen.

„Ich hatte heute Vormittag eine Begegnung, auf die ich gerne verzichtet hätte“, beginnt Sule und macht dann eine Pause. Während er sich seine nächsten Sätze überlegt, sehen ihn seine Mitarbeiter erwartungsvoll an, bis er weiterredet.

„Vor Jahren, als ich noch nicht in Karlsruhe lebte, habe ich syrischen Flüchtlingen geholfen, in die EU zu kommen.“ Mit einer Hand streicht er langsam und behutsam über seinen Stoppelbart. „Das war nicht einfach. Aber diese Menschen mussten ihre Heimat wegen des Krieges verlassen und jemand musste ihnen helfen.“ Nach einem langen und nachdenklichen Blick aus dem Fenster redet Sule weiter, während die drei einvernehmlich nicken.

„Ich habe die Reise dieser armen Menschen von Syrien durch die Türkei bis in die EU organisiert. Dazu musste ich Lastwagen mit Fahrern und Boote für die Überfahrt nach Griechenland ausleihen. Das war teuer, wie ihr euch vorstellen könnt.“ Erneut nicken die drei artig.

„Leider gab es unter den Flüchtlingen auch solche, die mich betrügen und einfach nicht zahlen wollten. Das hat mich in große Schwierigkeiten gebracht, denn wenn es sich herumgesprochen hätte, dass man mich betrügen kann, hätte bald keiner mehr gezahlt.“ Erkan sieht seinen Chef unterwürfig an, während die beiden anderen zustimmend vor sich hinmurmeln.

„Und einmal habe ich erst auf hoher See gemerkt, dass mich eine ganze Gruppe bescheißen wollte.“ Wieder sieht Sule zum Fenster, dann holt er tief Luft und fährt fort. „Unglücklicherweise ist es dann zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung gekommen. Dabei ist jemand gestorben und einer aus der Gruppe hat das mit seinem Handy gefilmt.“ Sules Mitarbeiter schauen jetzt gespannt zu ihrem Chef, bis der weiterredet. „Tja und eben diesen Typen habe ich heute wiedergesehen – hier in Karlsruhe.“ Ehe die drei sich dazu äußern können, fährt Sule fort. „Jahrelang war der Mann verschwunden und hat nichts unternommen wegen des Vorfalls damals. Aber wenn er jetzt mit dem Video zur Polizei geht, alles erzählt und vor Gericht bestätigt, habe ich keine Chance und lande im Gefängnis – dabei wollte ich immer nur helfen.“ Die drei sehen ihn verständnisvoll an und er redet weiter.

„Yusuf hat den Kerl beschattet und konnte sogar sein Smartphone verwanzen. Dadurch hören wir seine Telefonate mit und wissen auch, dass das Video von damals tatsächlich noch immer existiert und dass der Typ jetzt, da er mich wiedererkannt hat, damit zur Polizei gehen will.“ Das beklemmende Gefühl in Erkan wächst und seine stechenden Kopfschmerzen werden immer unerträglicher. Er hat das Bedürfnis, ein Fenster zu öffnen. Jetzt weiß er, was so wichtig war, dass sein Chef persönlich kam, und es ist ihm klar, dass er immer tiefer in die Sache verwickelt wird, je mehr Sule erzählt.

„Okay, dann müssen wir den Kerl vorher kriegen. Sag uns, was wir tun sollen!“ Kasim, der größere der beiden, hat sich aufgerichtet und schaut seinen Chef an wie ein dressierter Hund seinen Herrn in Erwartung des nächsten Befehls.

Ein zufriedenes Grinsen huscht über Sules Gesicht. Er steht auf, geht zum Fenster und dreht sich dann abrupt zu den dreien um. „Also: es darf auf keinen Fall so weit kommen, dass dieser Typ vor Gericht als Augenzeuge gegen mich aussagt!“ Noch ehe Erkan darüber nachdenken kann, wie der Boss das meint, redet Sule weiter.

„Wir alle haben immer zusammengehalten und führen deshalb ein ziemlich gutes Leben. Jeder von euch hat ein schönes Zuhause, einen großen Wagen, genügend Geld in der Tasche und ihr könnt euch schöne Urlaube leisten.“ Alle pflichten ihm bei.

„Und ihr wisst auch, dass für eure Familien gesorgt ist, falls mal einer von euch eine Zeit lang in den Knast muss.“ Alle nicken und er fährt fort. „Es wäre doch schade, wenn es das alles plötzlich nicht mehr gäbe, nur wegen dieser blöden Sache von damals, oder?“ Sofort kommt Zustimmung von allen dreien in der Gruppe, deshalb spricht Sule direkt weiter.

„Solange wir zusammenhalten, kann nichts passieren. Loyalität ist jetzt wichtiger denn je, ohne Loyalität verlieren wir alles. Oder sieht das jemand anders?“ Wieder ist es Kasim, der seinem Chef als erster eifrig zustimmt. Sule bringt jetzt seine Ausführungen auf den Punkt. „Wie gesagt, über das Handy des Typen können wir alle Telefonate mithören und wissen jederzeit, wo er sich aufhält. Yusuf überwacht das, deshalb ist er jetzt nicht hier bei uns.“ Er greift nach seinem Stuhl und rückt dichter an seine drei Mitarbeiter heran, als er sich setzt und fortfährt.