Sterben kann ich morgen noch - Alfred Wallon - E-Book
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Sterben kann ich morgen noch E-Book

Alfred Wallon

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Beschreibung

„Zuerst will ich von dir wissen, ob ich mich auf dich verlassen kann. Du hast eines meiner Bücher gelesen, Mike. Also müsstest du doch begriffen haben, wie wichtig es mir ist, am Ende meines Lebens noch einmal etwas Sinnvolles zu tun. Nach dem Mist der letzten Jahre ist das das Einzige, das ich noch erleben möchte. Sterben kann ich morgen noch.“ Im Altenheim „Sunset Valley’s Senior Rest“ könnte Ruhe und Frieden herrschen – gäbe es da nicht Frank Logan: Der knurrige 70-jährige Schriftsteller gilt als Schrecken des Pflegepersonals. Nur zum schüchternen Michael fasst er Vertrauen und bittet ihn um Hilfe: Er will ein letztes Mal an den Schauplatz seines wichtigsten Romans zurückkehren. Bevor Michael recht weiß, wie ihm geschieht, packt ihn eine nie gekannte Abenteuerlust. Wenig später findet er sich in einem klapprigen Auto auf dem Highway wieder. Unterwegs lernen die ungleichen Reisegefährten eine schöne Anhalterin kennen. Michael ist sofort bis über beide Ohren in Sally verliebt. Noch weiß er nicht, dass sie gerade erst ihren Freund verlassen hat. Dass sie ihn um 20.000 Dollar erleichtert hat. Und dass ihr deswegen zwei zu allem entschlossene Killer auf den Fersen sind … Humorvoll und melancholisch, abenteuerlich und berührend: Die Geschichte eines Mannes, der keine Zeit zu verlieren hat. Jetzt als eBook: „Sterben kann ich morgen noch“ von Alfred Wallon. dotbooks – der eBook-Verlag.

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Über dieses Buch:

Im Altenheim »Sunset Valley’s Senior Rest«könnte Ruhe und Frieden herrschen – gäbe es da nicht Frank Logan: Der knurrige 70-jährige Schriftsteller gilt als Schrecken des Pflegepersonals. Nur zum schüchternen Michael fasst er Vertrauen und bittet ihn um Hilfe: Er will ein letztes Mal an den Schauplatz seines wichtigsten Romans zurückkehren. Bevor Michael recht weiß, wie ihm geschieht, packt ihn eine nie gekannte Abenteuerlust. Wenig später findet er sich in einem klapprigen Auto auf dem Highway wieder. Unterwegs lernen die ungleichen Reisegefährten eine schöne Anhalterin kennen. Michael ist sofort bis über beide Ohren in Sally verliebt. Noch weiß er nicht, dass sie gerade erst ihren Freund verlassen hat. Dass sie ihn um 20.000 Dollar erleichtert hat. Und dass ihr deswegen zwei zu allem entschlossene Killer auf den Fersen sind …

Humorvoll und melancholisch, abenteuerlich und berührend: Die Geschichte eines Mannes, der keine Zeit zu verlieren hat.

Über den Autor:

Alfred Wallon, geboren 1957 in Marburg/Lahn, ist seit 1981 als Schriftsteller tätig. Er veröffentlichte bereits über zweihundert Romane in nahezu allen gängigen Sparten der Spannungs- und Unterhaltungsliteratur. Wallon gehört zu den wenigen Europäern, die bei den renommierten Western Writers of America aufgenommen wurden, und ist außerdem Mitglied bei den Western Fictioneers. Mehr Informationen über Alfred Wallon finden sich auf seiner Homepage http://www.alfredwallon.de.tl/Home.htm und bei Facebook: http://www.facebook.com/alfred.wallon?ref=tn_tnmn

Bei dotbooks veröffentlichte Alfred Wallon bereits eine Reihe historischer Romane, die im »Wilden Westen« spielen und faszinierenden Persönlichkeiten der amerikanischen Geschichte das wohlverdiente Denkmal setzen; eine Übersicht finden Sie am Ende dieses eBooks.

***

Originalausgabe März 2014

Copyright © 2014 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Ralf Reiter

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München

Titelbildabbildung: KUCO/Shutterstock.com und MaKars/Shutterstock.com

ISBN 978-3-95520-635-2

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Alfred Wallon

Sterben kann ich morgen noch

Roman

dotbooks.

Prolog

Noch vor zwei Jahren war die Welt für mich eine völlig andere gewesen, eine, in der es feste Regeln, Gesetze und Verhaltensmuster gab. Ich dachte, sie würden auch für mich gelten, und tat alles, um nicht aufzufallen und nicht durch die Maschen des Netzes der Gesellschaft zu fallen. Alles, was ich damals wollte, war ein bescheidenes Auskommen, ein Dach über dem Kopf und so viel Selbständigkeit, dass mir am Ende des Monats noch etwas Geld übrig blieb.

Du bist intelligent, Junge – also mach was aus deinem Leben, hatte mir mein Vater schon frühzeitig geraten. Wäre es nach ihm gegangen, dann säße ich jetzt wahrscheinlich in einer schicken Anwaltskanzlei und hätte den ganzen Tag nichts anderes zu tun, als mich um mehr oder weniger uninteressante Fälle zu kümmern.

Mein Vater sah diese Dinge jedoch anders. Geld stinkt nicht,Michael, hatte er mehr als einmal zu mir gesagt. Man muss heutzutage sehen, wo man bleibt und wie man am besten über die Runden kommt. Und wenn du dich gewaltig auf den Hosenboden setzt, dann wirst du es auch eines Tages zu etwas bringen. Du musst nur Jura studieren, dann stehen dir alle Türen offen. Glaub mir das! Du bist doch ein Garrison.

Sein Appell an die Familienehre hatte mich jedoch nicht überzeugt. Aber das war ja auch kein Wunder, denn ich musste mir seine Sprüche schon als Kind anhören und stellte mich deshalb mit der Zeit taub. Das machte ihn noch wütender, und er nannte mich einen Nichtsnutz, der eines Tages in der Gosse landen würde. Und dann würde er mir nicht mehr helfen, hatte er mit erhobenem Zeigefinger gedroht.

In solchen Momenten hatte ich immer wieder zu meiner Mutter geschaut und auf ihre Unterstützung gehofft. Aber schließlich hatte ich begreifen müssen, dass Mutter gar nichts unternahm. Erst als ich achtzehn war und nicht mehr zu Hause lebte, begriff ich, dass sie sich von diesem Macho hatte unterdrücken lassen.

Nachdem ich ausgezogen war und auch die Stadt verlassen hatte, die bis zu diesem Zeitpunkt der Mittelpunkt meines Lebens gewesen war, sah ich viele Dinge in einem anderen Licht, und das machte mich stark.

Ich ging nach New York, schlug mich dort die nächsten zwei Jahre mit allen möglichen Gelegenheitsjobs durch und fand schließlich eine Stelle im Memorial Hospital, wo ich eine Ausbildung zum Altenpfleger machte. Anderen Menschen zu helfen und für sie da zu sein, empfand ich als positiv, und deshalb erledigte ich diesen Job zur Zufriedenheit meiner Vorgesetzten.

Auf eigenen Wunsch wechselte ich sechs Jahre später zum Sunset Valley Senior’s Rest in Southampton auf Staten Island. Das war ein Altersheim ganz besonderer Art, in der Form nämlich, dass von den Insassen (die man ruhig als solche bezeichnen konnte) kaum einer mehr so richtig mitbekam, was um ihn herum eigentlich passierte. Die meisten dämmerten einfach vor sich hin oder murmelten den ganzen Tag wirres Zeug, das keiner verstand.

Aber ein freundliches Lächeln hatten diese alten Menschen immer für mich übrig – auch wenn es wahrscheinlich jemand anderem galt. Vielleicht den Söhnen, Töchtern oder Enkeln, auf deren Besuch sie jeden Tag aufs Neue hofften. Aber dieser Wunsch erfüllte sich meistens nicht oder nur sehr selten. Einmal aufs soziale Abstellgleis geschoben, blieb für diese Leute nur noch eins übrig: auf den Tod zu warten und zu hoffen, dass sie davon nichts mehr mitbekamen.

Das war meine in sich geschlossene Welt, in der ich lebte, arbeitete und meinen Job so gut wie möglich machte. Ab und zu gingen meine Gedanken auf Wanderschaft und beschäftigten sich mit dem Wunsch, vielleicht doch noch Medizin zu studieren. Aber je länger ich daran dachte, umso deutlicher wurde mir bewusst, dass dieser Zug für mich abgefahren war. Aus eigenen Mitteln hätte ich kein Studium finanzieren können – es sei denn, ich hätte meinen Vater um Hilfe gebeten. Aber der Kontakt zu ihm und meiner Mutter beschränkte sich auf gelegentliche Telefonate und den obligatorischen Besuch zu Weihnachten. Mehr wollte ich nicht, denn ich erkannte mit jedem weiteren Jahr, wie weit ich mich eigentlich schon von der Umgebung entfernt hatte, die meine Kindheit dominiert und geprägt hatte.

Dass mein Leben einmal in ganz anderen Bahnen verlaufen sollte, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Das änderte sich am 4. Juli 2001. An diesem Tag begegnete ich Frank Logan zum ersten Mal, und ich sollte bald erkennen, dass sich mein Leben von nun an grundlegend verändern würde.

Kapitel 1 Ein Rebell im Sunset Valley

»Der hat sie doch nicht mehr alle!«, schimpfte mein Kollege Toby Chester und tippte sich mit dem rechten Zeigefinger gegen die Schläfe. »Wenn der Kerl glaubt, dass er eine Extrabehandlung bekommt, dann hat er sich getäuscht.«

»Von wem redest du eigentlich?«, fragte ich ihn und wunderte mich im Stillen darüber, dass er so wütend war. Normalerweise war er ein ruhiger und recht resoluter Zeitgenosse, den man so schnell nicht unterbuttern konnte. Er besaß genau die Kaltschnäuzigkeit, die man in diesem Job eigentlich brauchte, um nichts an sich herankommen zu lassen. So weit war ich noch lange nicht, und wahrscheinlich würde das bei mir auch nie so sein. Denn die Menschen, die hier lebten, besaßen noch eine Würde, die auch das Pflegepersonal zu achten hatte.

Allerdings wäre es vergebliche Mühe und erst recht verschwendete Zeit gewesen, das Toby zu erklären. Er sah die Dinge mehr von der praktischen Seite und benahm sich so, als sei er der Herr über eine Gruppe von willenlosen Menschen, die nach seiner Pfeife zu tanzen hatten. Diejenigen, die noch nicht ganz das Stadium der geistigen Umnachtung erreicht hatten, hatte er schon so weit eingeschüchtert, dass sie jede seiner Anweisungen kommentarlos befolgten.

Deshalb war ich umso erstaunter, dass es überhaupt jemand geschafft hatte, ihm zu widersprechen, und meine Neugier wuchs.

»Der Kerl ist erst zwei Stunden hier und glaubt schon, wir müssten ihm den roten Teppich ausrollen!«, wetterte er weiter. »Weißt du, was er von mir verlangt hat, Mike?«

»Du wirst es mir sicher gleich sagen.«

»Ein Bier soll ich ihm bringen. Anscheinend verwechselt dieser Mensch ein Altersheim mit einer Bar.«

»Wie hast du darauf reagiert?«

»Ich habe ihm gesagt, dass er einen Pfefferminztee haben kann – oder Sodawasser.«

»Und wahrscheinlich wollte er das nicht, oder?«

»Nein«, knurrte Toby. »Er hat gesagt, dass ich das Zeug selbst trinken soll, wenn ich darauf Lust habe. Ich habe ihm dann klargemacht, wo er hier eigentlich ist und dass er sich damit abfinden soll, dass hier einiges anders läuft. Daraufhin nannte er mich eine gelbgestreifte Ratte, die es nicht wert wäre, seine Stiefel zu putzen. Mensch, Mike, am liebsten hätte ich dem Kerl eine aufs Maul gegeben. Ich bin jetzt fast zehn Jahre hier, aber so rüpelhaft hat sich noch keiner von den Alten benommen. Ich werde mit Dr. Kane darüber sprechen. Wahrscheinlich muss man den Typen erst mal die nächsten Tage ruhigstellen.«

Das, wovon er da sprach, war eine gängige Praxis. Wer ins Sunset Valley Senior’s Rest kam und Probleme hatte, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden, bekam erst einmal entsprechende Sedativa verabreicht, damit sich die Aufregung allmählich legte. Ich hatte Fälle erlebt, dass Menschen zusammengebrochen waren, als ihre Kinder sie hier zurückgelassen und ihnen beim Gehen freundlich lächelnd zugewunken hatten. Dann halfen oft nur Medikamente, und meistens ging es danach besser. Manchmal musste man für das Ertragen der Einsamkeit einen hohen Preis zahlen.

»Ich habe gar nicht mitbekommen, dass wir einen Neuen haben«, sagte ich zu Toby. »Wie heißt er?«

»Frank Logan«, kam prompt seine Antwort. »Er ist siebzig, sieht aber jünger aus. Aber ich sag dir eins, Mike: Der Kerl ist völlig neben der Rolle. Wenn du zu ihm ins Zimmer gehst, dann pass auf. Dem traue ich sogar zu, dass er dich angreift. Wenn das der Fall sein sollte, dann musst du es sofort melden, klar?«

»Natürlich«, versicherte ich ihm. »Wo kämen wir denn hin, wenn hier jeder macht, was er will?« In Wirklichkeit war ich aber sehr neugierig auf diesen Frank Logan. Einer, der es schaffte, einen groben Klotz wie Toby aus der Fassung zu bringen, musste wirklich ein besonderer Mensch sein.

»Er ist im Westflügel untergebracht, in Zimmer zwei-null-fünf«, sagte Toby. »Also pass auf, ja?«

»Toby, ich mache diesen Job auch nicht erst seit gestern«, antwortete ich in sprödem Tonfall. »Ich bekomme das schon hin – zerbrich dir darüber nicht den Kopf. Du klingst ja fast so, als hätten wir hier einen gemeingefährlichen Verbrecher untergebracht.«

»Der tickt nicht richtig«, brummte er und vollführte mit der rechten Hand eine entsprechende Geste. »Aber du wirst schon noch erkennen, dass ich recht habe. Bis später dann.« Er nickte mir kurz zu, drehte sich um und ging weiter.

»Michael!«, erklang jetzt eine Stimme, die mich von einer Sekunde auf die andere aus meinen Gedanken riss. Ich drehte mich um und sah Harold Marsh aus einem Zimmer kommen. »Gehen Sie ins Zimmer von Mrs. Whitcomb, und helfen Sie der Dame. Sie möchte hinaus in den Park bei diesem schönen Wetter.«

»Natürlich, Mister Marsh«, erwiderte ich und beeilte mich, der Anweisung des Heimleiters nachzukommen.

Harold Marsh achtete mit Argusaugen darauf, dass der Betrieb niemals ins Stocken geriet. Dem Pflegepersonal erzählte er bei solchen Gelegenheiten immer etwas von der Wichtigkeit des ständigen Workflows und dass man mehr als nur zu 100 Prozent hinter seinem Job stehen müsse. An ihm war wirklich ein Motivationstrainer verlorengegangen. Immer bestrebt, den Arbeitsablauf zu optimieren und das Leben der Bewohner zu verbessern.

Einigen meiner Kollegen ging er damit ziemlich auf den Geist, aber ich hatte mich an seine Ansichten mittlerweile gewöhnt und nahm sie in Kauf. Im Grunde genommen stimmte es ja, was er sagte.

***

Mrs. Whitcombs Zimmer befand sich ebenfalls im westlichen Teil des Sunset Valley Senior’s Rest – nur ein Stockwerk tiefer. Als ich das Treppenhaus passierte, glaubte ich für einen winzigen Moment, irgendwo von dort oben hitzige Stimmen zu hören. Aber nur wenige Sekunden später war schon wieder alles still. Wahrscheinlich war es Mr. Connor gewesen, der wieder einmal auf dem langen Flur umherirrte und verzweifelt nach seinem Sohn Richard suchte. Er fragte jeden, der vorbeikam, nach ihm.

Mr. Connors Sohn war aus dem Golfkrieg nicht mehr zurückgekehrt, und dieses einschneidende und erschütternde Erlebnis hatte in ihm etwas zerbrechen lassen. Sein Geist hatte sich in eine Region zurückgezogen, zu der nur er den Zugang kannte. Deshalb war er hier, weil seine Frau die andauernden Anfälle und Ausraster allein nicht mehr bewältigen konnte.

Traurige Kapitel dieser Art gab es in diesem Heim sehr viele. Deshalb hatte ich mir schon von Anfang an zu eigen gemacht, diese Schicksale nicht zu nah an mich herankommen zu lassen. Das war ein gutgemeinter Ratschlag vieler Kollegen gewesen, die genau wussten, wovon sie sprachen. Mittlerweile hatte ich erkannt, dass es richtig war, sich so zu verhalten.

Ich erreichte Mrs. Whitcombs Zimmer und klopfte kurz an. Sekunden später forderte mich eine heisere Stimme zum Eintreten auf.

Mrs. Whitcomb hatte sich schon wieder so schick zurechtgemacht, als wolle sie die Metropolitan Opera in New York besuchen. Sie trug ein Kleid, das jedem Ball Ehre gemacht hätte. Für ihr Alter von 75 Jahren wirkte sie noch sehr rüstig, nur mit dem Treppensteigen und Laufen klappte es nicht mehr so. Deshalb war sie auf einen Rollstuhl angewiesen, wenn sie größere Wege zurücklegen wollte.

»Da sind Sie ja schon, Michael«, begrüßte sie mich freundlich. »Schön, dass Sie Zeit für mich haben. Bei diesem Wetter muss man raus ins Freie. Finden Sie nicht auch?«

»Stimmt«, pflichtete ich ihr bei und half ihr, im Rollstuhl Platz zu nehmen.

Mrs. Whitcomb war seit zehn Jahren Witwe. Sie hatte – soweit ich wusste – noch eine Tochter, die in Chicago lebte. Aber Besuch von ihr hatte sie noch nie bekommen. Dass sie trotzdem noch lächeln konnte, zeugte von unerschütterlichem Optimismus und Lebenswillen.

Ich schob Mrs. Whitcomb aus dem Zimmer und erreichte kurze Zeit später den Fahrstuhl. Die alte Frau schwieg und schien ganz in ihren Gedanken versunken. Das änderte sich erst wieder, als wir den Fahrstuhl verließen und die Tür passierten, die hinaus in den Park führte.

Die Sonne hatte ihren höchsten Stand bereits überschritten, aber es war angenehm warm, und ein lauer Wind sorgte für Erfrischung.

»Fahren Sie mich dort hinten zur Bank«, bat sie mich. »Das ist mein Lieblingsplatz.«

Auf dem Weg dorthin begegnete ich einigen Pflegern, die genau das Gleiche taten wie ich. Einige der Bewohner mussten jedoch besonders intensiv beaufsichtigt werden, wenn sie sich im Freien aufhielten. Einer von ihnen war Mr. Davis, der wieder mal eine Chance witterte und die – seiner Meinung nach – unaufmerksamen Pfleger austricksen wollte. Er schlug sich in die Büsche und wollte dort untertauchen. Aber einer meiner Kollegen hatte das zum Glück noch rechtzeitig bemerkt und lief ihm sofort nach.

»Er hat wohl wieder den Fliegeralarm gehört«, seufzte Mrs. Whitcomb, als sie bemerkte, wie mein Kollege den heftig zitternden Mr. Davis aus den Büschen holte. Sein Gesicht war kreidebleich. »Ich kann das gut verstehen, Michael. Krieg ist immer eine hässliche Sache.«

»Ich war noch nicht im Krieg, Ma’am«, antwortete ich. »Ich kenne das alles nur aus dem Fernsehen, und das soll auch so bleiben, wenn es nach mir geht.«

»Seien Sie froh darüber«, sagte Mrs. Whitcomb. »Ich habe die schlechten Zeiten noch miterlebt. Glauben Sie mir, damals in Oklahoma war das alles gar nicht so einfach. Wir lebten mitten in der Dustbowl. Waren Sie schon mal in Oklahoma, Mike?«

»Nein, Ma’am«, erwiderte ich wahrheitsgemäß und richtete mich insgeheim schon darauf ein, dass die alte Dame heute ausgeprägten Gesprächsbedarf hatte. Also blieb mir nichts anderes übrig, als ihr einfach zuzuhören. Das war meiner Meinung nach nämlich eine weitaus wirksamere Therapie, als die alten und einsamen Leute mit Medikamenten vollzustopfen.

»Als ich ein Kind war, gab es noch die großen Camps für die durchziehenden Landarbeiter«, klärte sie mich auf. »Manche von ihnen kamen mitsamt ihren Familien von Texas herauf, weil es dort unten keine Arbeit mehr gab. Es war ein armseliges Leben …«

»Ich habe darüber gelesen, Ma’am«, sagte ich und erzählte ihr auch von einem Film, den ich einmal gesehen hatte. Er hieß Früchte des Zorns nach einem Roman von John Steinbeck. Ein sehr junger Henry Fonda hatte darin eine großartige Rolle gespielt. Als Mrs. Whitcomb das hörte, begannen ihre Augen vor Freude zu strahlen. Natürlich kannte sie diesen Film, und sie bestätigte mir, dass das alles sehr authentisch gewesen war.

Was sie sonst noch zu sagen hatte, nahm ich aber nur mit halbem Ohr wahr, denn in diesem Moment kam meine Kollegin Linda Cosgrove vorbei. Sie schenkte mir ein Lächeln, das ich natürlich erwiderte.

»Ein hübsches Mädchen, nicht wahr?« Mrs. Whitcomb deutete meinen Blick richtig, und ich wurde verlegen. Linda zog so manchen Blick der männlichen Kollegen auf sich, und das wusste sie ganz genau.

»Sie sollten einmal mit ihr ausgehen, Michael«, schlug mir Mrs. Whitcomb vor. »Sie sind doch ein netter und gutaussehender junger Mann. Fragen Sie sie, bevor es ein anderer tut. Sonst kommen Sie wirklich zu spät. Bei solchen Dingen darf man nicht zu lange warten.«

Einerseits hatte Mrs. Whitcomb die Wahrheit gesagt, andererseits wusste ich aber nicht, ob ich Linda wirklich nach einem Date fragen sollte. Sie war ganz anders als ich. Sie flirtete gern und genoss das Leben, ich dagegen ging nicht oft aus – und wenn es einmal der Fall war, dann reichte es gerade, um mit zwei oder drei Kollegen nach der Arbeit einen Drink zu nehmen. Das war aber auch schon alles. Ein Partyliebhaber war ich nicht, und Bekanntschaften auf Teufel komm raus zu schließen, gehörte auch nicht zu meinen Charakterzügen.

»Ich bleibe ein bisschen hier und genieße die Sonne«, riss mich die Stimme der alten Dame aus meinen Gedanken. »Keine Sorge«, fügte sie rasch hinzu. »Ich werde Ihnen schon nicht davonlaufen. Nutzen Sie die Zeit, und gehen Sie einen Kaffee trinken. Ich bin sicher, dass Linda das Gleiche vorhat. Worauf warten Sie noch? Oder sind Sie wirklich so schüchtern?«

Der Gedanke, dass ausgerechnet Mrs. Whitcomb mich mit aller Macht verkuppeln wollte, hatte etwas Skurriles an sich. Deshalb musste ich schmunzeln, als ich ihr versprach, ihre Ratschläge zu befolgen. Wenn die Menschen im Sunset Valley Senior’s Rest alle so optimistisch und unkompliziert gewesen wären wie Mrs. Whitcomb, dann hätten wir es leichter gehabt.

***

Ich hielt mich kurz in der Cafeteria auf, wagte es dann aber doch nicht, auf Linda zuzugehen und mit ihr ein zwangloses Gespräch anzufangen. Sie saß nämlich nicht allein am Tisch. Ausgerechnet Dr. Jeffries leistete ihr Gesellschaft und schaute sie auf eine Art und Weise an, die mehr sagte als Worte.

Ich hatte von anderen Kollegen bereits gehört, dass Curt Jeffries zu der Sorte Männer gehörte, die ihre Machtposition ausnutzten und Druck auf weibliche Angestellte ausübten, damit sie zum Ziel kamen. Dieses Mal schien er es auf Linda abgesehen zu haben – aber aus ihren Blicken schloss ich, dass ihr das gar nicht unangenehm zu sein schien.

Jedem das Seine, dachte ich, trank meinen Kaffee aus und ging wieder hinaus zu Mrs. Whitcomb, die unter einem schattenspendenden Baum saß und das schöne Wetter genoss. Sie wirkte ganz entspannt und zufrieden in ihrer kleinen Welt und lächelte mir zu.

»Haben Sie mit ihr gesprochen?«, fragte sie sofort und blickte ganz erstaunt drein, als ich ihr mit einem kurzen Kopfschütteln zu verstehen gab, dass das nicht der Fall war. »Ja, aber warum denn nicht, Michael? Das wäre doch eine passende Gelegenheit gewesen und …«

»Es hat eben nicht gepasst, Mrs. Whitcomb«, erwiderte ich rasch. »Zerbrechen Sie sich am besten nicht weiter den Kopf darüber. Ich komme schon klar, und Sie müssen mich nicht verkuppeln.«

Sie sagte nichts mehr, weil sie spürte, dass mir das unangenehm war. Also lenkte sie das Gespräch auf ein anderes Thema und plauderte zwanglos mit mir über ganz alltägliche Dinge. Ich hörte ihr zu und tat das, was man von mir erwartete – nämlich sich Zeit zu nehmen für die alten Leute und ihnen dadurch das Gefühl zu vermitteln, dass sie nicht ganz so allein waren in dieser sich immer rascher verändernden Gesellschaft. Nur hier im Sunset Valley Senior’s Rest schien die Zeit etwas langsamer voranzuschreiten. Ein Gefühl, das von vielen Bewohnern sogar als angenehm empfunden wurde.

Eine gute Stunde später bat mich Mrs. Whitcomb, sie wieder zurück in ihr Zimmer zu bringen. Die Sonne war mittlerweile ein gutes Stück weiter nach Westen gewandert, und ein frischer Wind vom Atlantik sorgte für eine spürbare Kühle. Deshalb schob ich die alte Dame wieder zurück ins Innere des Gebäudekomplexes, brachte sie hinauf in ihr Zimmer und verabschiedete mich von ihr mit einem freundlichen Lächeln.

Als ich die Tür hinter mir schloss und mich dem Treppenhaus näherte, hörte ich plötzlich laute Stimmen von oberhalb, gefolgt von einem dumpfen Poltern und erregten Rufen.

»Verdammt noch mal!«, hörte ich Toby Chesters wütende Stimme. »Das geht so nicht. Nehmen Sie doch endlich Vernunft an!«

»Mit mir macht man so was nicht!«, rief jemand. »Ich bin keiner von diesen Schwachköpfen, die ihr mit Tabletten und Spritzen ruhigstellt. Komm nur näher, du Mistkerl!«

Warum ich jetzt die Treppenstufen nach oben eilte, um mir Gewissheit darüber zu verschaffen, was dort vor sich ging, konnte ich hinterher selbst nicht erklären. Ich wusste nur, dass es wichtig war, und sputete mich deshalb. Weil ich nämlich schon ahnte, was ein Stockwerk höher passiert war.

Wenige Augenblicke später hatte ich die beiden Treppen hinter mich gebracht und erreichte jetzt den Trakt, der in den Westflügel führte. Die Tür stand offen – und deshalb hatte ich die lauten Stimmen klar und deutlich hören können. Und nicht nur das. Ich sah auch, dass einige Bewohner dieses Bereichs aus ihren Zimmern gekommen waren und beobachteten, was sich da auf dem Flur abspielte.

Toby war gerade dabei, einen älteren Mann mit eisgrauen Haaren und einem struppigen Vollbart am Oberarm zu packen und mit sich zu zerren. Sein Gesicht war eine Mischung aus Wut und Ungeduld, weil der Mann offensichtlich nicht so reagierte, wie er es von ihm erwartete.

»Jetzt kommen Sie endlich mit. Es ist doch nur ein Routinecheck. Warum in Dreiteufelsnamen wehren Sie sich denn dagegen? Es ist doch nur zu Ihrem Besten …«

»Wenn du mich nicht gleich loslässt, dann kannst du was erleben«, nörgelte der alte Mann aufs Neue. »Ihr Verbrecher könnt mich nicht gegen meinen Willen zu etwas zwingen.«

Einer von den neugierigen Bewohnern, die diese Auseinandersetzung beobachteten, klatschte jetzt zögernd Beifall, und andere fassten dies als Zeichen auf, ebenfalls lautstark Zustimmung zu geben. Toby fluchte laut und deutlich, weil die ganze Sache auszuufern begann.

Jetzt sah er mich am Eingang des Gebäudetrakts stehen und winkte mir aufgebracht, näher zu kommen.

»Hilf mir mal, Michael! Wir müssen diesen störrischen Esel hier endlich zur Vernunft bringen. Er muss dringend untersucht werden, weil …«

Der alte Mann mit den grauen Haaren entzog sich währenddessen Tobys Zugriff und stieß mit seinem Knie gegen eine Stelle, wo es besonders weh tat. Toby wurde auf einmal ganz bleich im Gesicht, krümmte sich und fiel zu Boden. Er presste beide Hände auf die schmerzende Stelle im Unterleib, wimmerte leise vor sich hin und war nicht imstande, irgendetwas zu tun. Also blieb mir notgedrungen nichts anderes übrig, als einzugreifen, bevor die ganze Situation eskalierte.

»Bleib, wo du bist, sonst bekommst du auch einen Tritt verpasst, Junge!«, warnte mich der Grauhaarige. »Ich bin zwar ein alter Mann, aber ich kann mich noch wehren, so gut es irgendwie geht. Das hat dieser Hühnerdieb da zu spüren bekommen …«

Während er das sagte, schaute er verächtlich auf den am Boden liegenden Toby, der immer noch nicht so recht begriffen hatte, was hier eigentlich geschehen war und dass ihn ein alter Herr auf so gemeine Weise ausgetrickst hatte. Jemand, von dem er das niemals erwartet hätte.

»Mr. Logan, ich will keinen Streit mit Ihnen«, sprach ich den Mann mit ruhiger Stimme an und näherte mich ihm vorsichtig.

»Woher weißt du, wer ich bin?«, entgegnete Logan. »Wir sind uns bisher noch nicht begegnet. Wie heißt du?«

»Michael Garrison«, erwiderte ich immer noch ganz ruhig, obwohl mir in diesen Sekunden Dutzende unterschiedlicher Gedanken durch den Kopf gingen. Weil ich nämlich ganz genau wusste, was geschehen würde, wenn Harold Marsh erfuhr, was hier im Westflügel vor sich ging. »Bleiben Sie ganz ruhig, und lassen Sie uns vernünftig miteinander reden, Mr. Logan. Ich bin sicher, dass wir eine Lösung für dieses Problem finden werden.«

»Ich habe kein Problem, Junge«, erwiderte Logan in barschem Ton. »Aber du bekommst mit Sicherheit eins, wenn du das Gleiche mit mir versuchst wie dieser Schlappschwanz da.«

»Michael – du musst sofort Marsh informieren!«, keuchte Toby, während er aufzustehen versuchte. »Hol ihn – jetzt gleich …«

Er zuckte zusammen, als er Logans zornigen Blick auf sich gerichtet sah, und wich ihm aus. Seltsamerweise unternahm ich aber gar nichts, sondern verhielt mich nach wie vor ruhig und konzentrierte mich stattdessen einzig und allein auf Frank Logan. Der bemerkte natürlich, dass ich meinem Kollegen nicht zu Hilfe eilen wollte und auch seine Bitte ignorierte. Das wiederum schien sein Interesse zu wecken, und er musterte mich von Kopf bis Fuß in einer Mischung aus Misstrauen und Wachsamkeit.

»Sei still, Toby«, sagte ich und widmete meine Aufmerksamkeit wieder dem alten Mann. »Ich bin sicher, dass wir diese Sache hier ohne größeres Aufsehen beenden werden. Nicht wahr, Mr. Logan?«

»Aber nur, wenn dieser Kerl verschwindet«, knurrte der Alte. »Dem traue ich nicht über den Weg.«

»Du hast gehört, was Mr. Logan gesagt hat, Toby. Geh und lass uns allein. Ich kümmere mich um alles Weitere. Hast du verstanden?«

»Ja, aber …«

»Nichts aber!«, unterbrach ich ihn. »Nun mach schon. Und kein Wort zu Mr. Marsh. Ist das klar?«

»Herrgott, ja«, erwiderte Toby, der wieder auf den Beinen stand, aber wohl noch Schmerzen hatte. Er war blass im Gesicht, hütete sich aber davor, seine Wut auf Logan und diese unerwartete Niederlage zu zeigen. »Aber man muss etwas unternehmen«, fügte er trotzig hinzu. »Ich habe Blutspuren in seiner Toilette entdeckt. Da stimmt was nicht. Wir müssen die ärztliche Leitung informieren, noch heute.«

Als ich das hörte, schaute ich zu Logan und entdeckte, dass es in seinen Augen nervös zu flackern begann. Aber nur ganz kurz, dann hatte er sich schon wieder unter Kontrolle.

»Wir reden später darüber, Toby«, sagte ich und bemerkte, dass sich Logan bei diesen Worten wieder beruhigte. »Mr. Logan wird sich von nun an ruhig verhalten, nicht wahr?«

Ich sah, wie er nickte, und Toby gab sich damit zufrieden. Zumindest vorerst. Er murmelte etwas Unverständliches vor sich hin, drehte sich hastig um und verließ dann den Gebäudetrakt so schnell wie möglich.

»Der hat den Schwanz eingezogen – und das im wahrsten Sinne des Wortes.« Logan lachte. »Hoffentlich hat er seine Lehren daraus gezogen. Ich bin ein Mensch mit Würde – und so möchte ich auch behandelt werden. Wie war gleich noch einmal dein Name, Junge?«

»Michael Garrison«, wiederholte ich. »Ich kann mich um Sie kümmern, wenn Sie das wollen, Mr. Logan. Aber dann müssen Sie schon etwas besser mit uns zusammenarbeiten.«

»Ich will nichts als meine Ruhe«, verteidigte sich der alte Mann. »Ist das vielleicht zu viel verlangt?«

»Die bekommen Sie auch«, versprach ich ihm. »Aber jetzt sollten Sie besser das tun, was man von Ihnen hier erwartet. Und das mindeste, was man verlangen kann, ist ordentliches Benehmen.«

»Warum?«, fragte er mich. »Ihr kassiert doch ohnehin nur Geld vom Staat dafür, dass ihr uns zu Tode pflegt. Dann lasst uns wenigstens unsere Würde. Ist das denn zu viel verlangt?«

Die Art und Weise, wie er das sagte, überraschte mich – und ich ahnte, dass da irgendetwas war, was Frank Logan unbedingt für sich behalten wollte. Und es schien etwas mit Tobys Entdeckung zu tun zu haben. Blut in der Toilette bei einem Menschen seines Alters verhieß nichts Gutes. Er wusste, dass ich mir darüber jetzt den Kopf zerbrach, und deshalb lenkte er rasch ein.

»Wir reden darüber, okay?«, sagte er und wartete ab, bis ich nickte. »Gut«, fuhr er fort. »Aber nicht hier, wo das alle hören können. Am besten in meinem Zimmer.«

»Einverstanden«, sagte ich und folgte ihm, nachdem ich den übrigen Bewohnern nahegelegt hatte, zurück in ihre Zimmer zu gehen und sich keine Sorgen zu machen.

»Glaubst du, dass dein Kollege dichthält?«, fragte mich Logan, nachdem ich ihm ins Zimmer gefolgt war und die Tür hinter mir geschlossen hatte.

»Ich würde lügen, wenn ich sage, dass ich die Hand für ihn ins Feuer lege«, antwortete ich seufzend. »Toby ist manchmal sehr impulsiv, und er hat einen ausgesprochenen Dickkopf. Was hat seine Anmerkung zu bedeuten, Mr. Logan? Ich glaube, es ist jetzt an der Zeit, darüber zu reden.«

»Wahrscheinlich«, erwiderte er und nahm in einem altertümlichen Sessel Platz, der direkt neben dem Fenster stand. Aber für das weite parkähnliche Areal, das man von hier oben aus sehen konnte, hatte er keinen Blick übrig. Stattdessen zog er die unterste Schublade der unter der Fensterbank stehenden Kommode auf und holte zu meiner Überraschung eine Flasche hervor, deren Etikett mir weiteres Kopfzerbrechen bereitete. Denn ich erkannte den Schriftzug Jack Daniel’s sofort.

»Das ist guter, ordentlicher Tennessee-Whiskey, Junge«, meinte Logan. »Willst du auch einen Schluck?«

»Woher haben Sie das?«, fragte ich. »Sie wissen doch genau, dass es verboten ist, Alkohol im Zimmer zu haben und …«

»Jack Daniel’s ist kein Alkohol«, winkte er ab und goss sich ein Glas ein. »In manchen Fällen hilft er sogar besser als Medizin. Zum Glück konnte ich einen kleinen Vorrat davon mitnehmen, bevor ich hierherkam. Und wie ich gesehen habe, gibt’s in einer halben Meile Entfernung einen Liquor Store, den man bequem zu Fuß erreichen kann. Was ist jetzt? Willst du auch ein Glas? Dann redet es sich besser.«

Ich stimmte schließlich zu, weil ich wusste, dass dies ein wichtiger Schritt war, um weiter auf Frank Logan zuzugehen und mehr über ihn zu erfahren. Alles sah danach aus, als wenn der alte Mann Vertrauen zu mir gefasst hatte und mit mir reden wollte. Und wenn ich ihm in dieser Situation helfen sollte, dann musste ich eben mehr wissen.

Er zeigte auf das zweite Glas, das er mittlerweile gefüllt hatte, verschloss die Flasche und forderte mich auf, mit ihm anzustoßen. Ich muss zugeben, dass ich nie ein großer Freund von Whiskey gewesen bin, deshalb verzog ich das Gesicht, als ich einen Schluck nahm. Logan dagegen trank das Glas in einem Zug aus, als wäre es Wasser, und grinste zufrieden, während er sich gleichzeitig über meine Abneigung amüsierte.

»Ich nehme noch einen«, sagte er. »Auf einem Bein steht man nicht besonders gut. Ist eine alte Binsenweisheit, Mike. Ich weiß, wovon ich rede. Nun schau doch nicht so entsetzt drein«, sagte er, während er sich ein zweites Glas eingoss. »Wenn ich mich gut dabei fühle, ist doch alles in Ordnung …«

»Nichts ist in Ordnung, Mr. Logan«, widersprach ich ihm. Obwohl ich erleichtert war, als er die Flasche wieder in der Schublade der Kommode verstaute, verstärkte sich das mulmige Gefühl in meinem Magen mit jeder weiteren Sekunde. »Und das wissen Sie ganz genau. Also – was hat Toby gemeint, als er sagte, er hätte Blut in Ihrer Toilette gesehen?«

»Herrgott, ich habe nur ein kleines Problem«, versuchte er zu beschwichtigen, trank den Rest Whiskey und stellte das Glas ab. »Darüber muss man keine Grundsatzdiskussion führen.«

»Und was für ein Problem ist das genau?«, erkundigte ich mich. »Sind Sie krank? Dann sollte vielleicht einmal ein Arzt nach Ihnen sehen.«

»Ich bin nicht krank – und ich bin auch noch nicht hilflos!«, brauste er auf. »Alles andere habe ich im Griff. Da musst du dir ganz sicher nicht den Kopf darüber zerbrechen. Reden wir lieber über was anderes, okay?«

»Wie Sie meinen«, antwortete ich, als mir klarwurde, dass ich an eine unsichtbare Mauer gestoßen war. »Aber wenn es schlimmer wird, dann müssen Sie uns das sagen.«

»Hör mal gut zu«, sagte Logan mit erhobenem Zeigerfinger und wirkte jetzt wie ein emeritierter Universitätsprofessor, der einem jungen Studenten einige wichtige Dinge erklären wollte, nach denen er sich zukünftig zu richten hatte. »Ich habe mich nicht danach gesehnt, hierherzukommen. Jetzt muss ich es aber wohl so akzeptieren, wie es eben ist. Manchmal bleibt einem eben keine andere Chance mehr.«

»Haben Sie Kinder oder Verwandte?«