Sternenpfad zu dir - Sonja Dworzak - E-Book

Sternenpfad zu dir E-Book

Sonja Dworzak

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Beschreibung

"Sternenpfad zu dir" ist ein berührender Roman, in dem die Liebe den Tod und die Schicksalsschläge des Lebens besiegt. Das Strahlen der Sterne leuchtet in die Herzen der Protagonistinnen, die zueinander finden. Ein Roman, der die Hoffnung auf ein Wiedersehen, entstehen lässt. Nur wer sein Leben lebt und trotz aller Hindernisse, seinen Weg geht, wird das Glück finden. Elsa, eine wohlhabende Frau in den mitsiebziger Jahren, hat sich entschlossen, den Rest ihres Lebens, gebeutelt von Schicksalsschlägen und alleine, in einer Seniorenresidenz zu verbringen. Sie hat sich mit ihrem Leben arrangiert. In ihrem Herzen klafft eine tiefe Wunde, denn sie hat ihre Familie durch Streit verloren. Ihr Sohn verleugnet sie und hat sie aus ihrem Leben verbannt. Immer wieder kehren die Erinnerungen aus ihrem früheren Leben zurück, in dem sie mit Jonas verbunden war, der bei einem Autounfall ums Leben kam. Seine Leidenschaft waren die Musik und die Sterne. Auf einem Griechenlandurlaub schenkte ihr Jonas symbolisch gefallene Sternschnuppen. Elsa sieht in Jonas Augen das Strahlen der Sterne, das sie nach seinem Tod begleitet. Ihr sehnlichster Wunsch ist es ihre Enkeltochter wieder zu sehen, die sie wegen der Niedertracht ihres Sohnes seit über zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hat. In der Seniorenresidenz lernt sie Viktor, einen gut situierten Herrn kennen, der sich unabhängig von ihr auf die Suche nach ihrer Enkelin macht. Wie wird ihre Enkeltochter reagieren, sollte Elsa sie finden? Wird sie sie zurückweisen wie ihr Sohn?

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Sonja Dworzak

Sternenpfad zu dir

©2021 Sonja Dworzak

Umschlaggestaltung, Illustration: Marina Rudolph

Lektorat, Korrektur: Renate Jung

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44,

22359 Hamburg

ISBN 978-3-347-40117-4 (Paperback)

ISBN..978-3-347-40119-8….(ebook)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar

1. Kapitel

Still war es im Raum, die Sonne schien am späten Nachmittag noch angenehm warm herein. Elsa sah nachdenklich hinaus in den weiten Park, dessen Zufahrt von alten, Respekt einflößenden Bäumen gesäumt war. Plötzlich unterbrachen Sirenen schrill die Ruhe. Sie öffnete die Balkontüre und erkannte die Blaulichtsirenen der Rettung und Feuerwehr auf der am Park vorbeiführenden Hauptstraße. Der Klang der Folgetonhörner kam immer näher und verstummte dann abrupt. Zwischendurch waren von weit her Stimmen zu hören, von denen Elsa nicht wusste, ob sie von Gesprächen stammten oder von Telefonaten. Sie schnappte Gesprächsfetzen auf, die ihr den Atem stocken ließen:

»Ein Unfall, ein Lkw und ein Pkw sind zusammengestoßen, es gibt Verletzte, einer ist tot!«

Elsas Herz raste. Wie in einem Film liefen Bilder der Erinnerung in ihren Gedanken ab, als Jonas vor beinahe dreißig Jahren nicht zurückgekommen war. Die Rufe und Sirenen schnürten ihr den Hals zu. Warum wurde ihr heute noch heiß und kalt, wenn sie von Unfällen hörte? Sie hatte funktionieren müssen, sie hatte arbeiten und sich um ihren Sohn kümmern müssen. Ihr Sohn, der nur Vorwürfe für sie hatte, der Erwartungen an sie knüpfte, die sie nicht erfüllen konnte. Hatte er überhaupt sie als Mutter geliebt?

Mittlerweile waren schon fast zwei Jahre vergangen, seitdem sie in die Residenz gezogen war. In einem Prospekt war sie auf diese Seniorenresidenz aufmerksam geworden, die zwar nicht billig war, ihr dafür aber einen großen Freiraum für ihr Privatleben ließ. Sie war alleine, obwohl sie eine Familie hatte. Dieses Gefühl der Einsamkeit und unerwünscht zu sein hatte so schmerzvoll auf ihr gelastet, dass sie die Entscheidung getroffen hatte, für den verbleibenden Teil ihres Lebens in eine betreute Lebensgemeinschaft zu ziehen. Ihre Gedanken kehrten immer wieder zum Ursprung ihrer Einsamkeit zurück, eine Einsamkeit, die sie nie gewollt hatte, die einer Naturkatastrophe gleich über sie hereingebrochen war. In ihrem gemütlich eingerichteten Appartement standen keine Bilder von lachenden Familienmitgliedern oder Familienfeiern. Es hätte sie zu sehr geschmerzt, sie jeden Tag ansehen zu müssen.

Elsa hatte in der Residenz einige Mitbewohner kennengelernt, mit denen sie gerne ihre Zeit verbrachte. Es fiel ihr auf, dass manche von ihnen immer dann, wenn nach ihren Familien gefragt wurde, schnell das Thema wechselten, als wollten auch sie die nicht geheilten Wunden ihrer Herzen verstecken.

Bei einem Spaziergang im Park begegnete sie einem Mann, der wie sie in der Residenz wohnte. Elegant, mit Sakko und Seidenschal, dazu in der rechten Hand einen Gehstock, spazierte er jeden Tag kurz vor Mittag durch die Parkanlage. Weiter hinten, am kleinen Teich mit gelben und weißen Seerosen, legte er eine Rast ein, kam aber nie mit anderen Spaziergängern ins Gespräch. Und so raffte sie sich auf, um auch Spaziergänge im Park zu machen, die zuerst zufällige, später dann aber zu geplanten Begegnungen wurden. Sie wollte nicht auffallen, daher schlenderte sie von verschiedenen Plätzen aus umher, warf aber verstohlen ein Auge auf ihre Umgebung.

Einige Wochen waren vergangen, sie saß unter einem weit ausladenden Baum auf einer Bank, als sie plötzlich Schritte hinter sich hörte. Sie drehte sich nicht um, horchte nur angestrengt, wer sich ihr wohl nähern mochte. Auf einmal vernahm sie eine wohlklingende männliche Stimme. Es war, als ob ein Kontrabass spräche, tief und dunkel, wie in einer Höhle, in der der Ton widerhallte.

»Hallo!« Elsa zuckte kurz zusammen. »Darf ich Ihnen Gesellschaft leisten?«

Sie nickte ihm freundlich zu. Er sollte nicht merken, wie sehr sie sich freute, ihn zu treffen. Im Inneren lächelte sie und bot ihm mit einer eleganten Handbewegung den freien Platz neben ihr an. Sekundenlang sahen sie sich in die Augen, um dann den Blick abzuwenden. Lange sprachen beide nichts. Elsa hätte sich ohrfeigen können, weil ihr kein Gesprächsstoff einfiel. Er stocherte mit seinem Stock im Kiesweg herum, während sie versuchte, ihre Verlegenheit zu verstecken, indem sie ihren Schal zurechtrückte. Unvermittelt sagte ihr Banknachbar zu ihr gewandt:

»Ich bin Viktor Lehmann, bin erst seit kurzem hier, dort drüben.«

Er wies mit dem Finger auf ein Nebenhaus, das aussah wie eine adelige Villa aus kaiserlicher Zeit. An der Vorderseite rankte dunkelgrüner Efeu mit großen Blättern bis zu den Balkonen.

»Dort hätte ich auch gerne gewohnt«, fiel ihr schlagartig ein.

Lächelnd drehte Elsa sich dem Mann zu, der sich als Viktor Lehmann vorgestellt hatte und erwiderte:

»Freut mich, ich heiße Elsa, Elsa Hofbauer.«

Sie reichte ihm mit einem angedeuteten Lächeln ihre rechte Hand, die Viktor erfreut annahm.

Diskret warf Elsa einen Blick auf seine Schuhe. Blitzblank glänzten sie.

»Ordentlich ist er«, kam ihr in den Sinn.

»Auch auf einem Spaziergang?«, fragte sie, sah ihn dabei aber nicht an.

»Äh, ja, bisschen Luft schnappen.« Seine Kontrabassstimme hallte in der Luft nach.

Erneut kehrte zwischen ihnen Stille ein, keiner wusste so recht, wie er das Gespräch weiterführen sollte. Ein herber Geruch von Rasierwasser streifte Elsa. Schließlich begann die Sonne, sich hinter den hohen Bäumen zu verstecken, leichte Feuchtigkeit ließ Elsa frösteln. Sie zog ihre Jacke fester um sich, stand auf und hielt einige Sekunden inne, bevor sie sich verabschiedete.

»Ich habe mich gefreut. Vielleicht sehen wir uns wieder.«

Sie schenkte ihm ein Ich würde Sie gerne wiedersehen-Lächeln, drehte sich um und ging zielstrebig auf dem kiesbedeckten Weg zurück zur Residenz. Unter ihren Schuhen konnte sie leise die kleinen Steine knirschen hören.

Als sie die Türe zu ihrem Appartement hinter sich ins Schloss fallen hörte, summte Viktor Lehmanns Stimme weiter in ihrem Ohr. Eine Erinnerung flammte in ihrem Herzen auf, alles zog sich in ihr zusammen. Mit aller Kraft versuchte Elsa, sich der Gedanken zu entziehen, weil sie gelernt hatte, dass Schmerz aus zerbrochenen Träumen entstand. Nur, wenn es ihr immer wieder gelang, diesen zerbrochenen Traum von sich fernzuhalten, war der nagende Kummer zu ertragen. Sie wunderte sich immer wieder selbst, wie tief dieser Kummer auch nach mehr als zwei Jahrzehnten noch in ihr saß. Zugleich gestand sie sich ein, dass sie ein Recht auf ein Leben in Ruhe hatte. Trotzdem erschreckte es sie, dass es ihr nicht gelungen war, Frieden zu finden.

Tags darauf verabredete sie sich mit ihren besten Freundinnen in der Stadt. Dichtes Gedränge herrschte in allen Gassen, vor den Straßenmusikanten bildeten sich Trauben von Zuhörern, die in die aufgestellte Box Münzen einwarfen. Junge Leute hockten auf Bänken, jeder mit seinem Handy in der Hand, lachten und machten Selfies. Elsa bummelte mit den Freundinnen durch die Innenstadt.

»Mädels, was haltet ihr davon, hier eine Pause zu machen?« Elsa blieb vor einem kleinen Café stehen. Sie sahen sich an und nickten.

»Klar, Platz ist genug, wir schieben noch einen Tisch her, kommt!«

Zwei von ihnen reichten ihre Handtaschen weiter, hoben einen Tisch an und stellten ihn dazu.

»Genug Sessel sind da!«, rief Elsa ihnen zu.

Kurz darauf saßen sie lachend und plaudernd um den Tisch herum. Heute war auch Paula mitgekommen, die ziemlich beste Freundin von Elsa, mit der sie seit Jugendzeiten verbunden war. Paula war in einer lieblosen Ehe gebunden, hatte aber glücklicherweise Kinder und Enkelkinder, mit denen sie sich gut verstand. Die gleichgültige Lieblosigkeit ihres Mannes kannte Elsa nur aus den persönlichen Gesprächen mit ihr. Paula hatte für sich einen Weg gefunden, damit zurechtzukommen. Warum sie sich nicht von ihrem Mann trennte, war Elsa nicht klar.

Paula und Elsa steckten die Köpfe zusammen, Elsa erzählte ihr von dem Herrn, den sie in der Residenz kennengelernt hatte.

»Ich weiß nicht viel von ihm. Wenn er spricht, glaube ich, eine Bassgeige zu hören.«

Belustigt sah Paula ihre Freundin an. In ihren Augen blitzte es schelmisch auf, als sie verschwörerisch zu ihr sagte:

»Eine Bassgeige, wie romantisch! Halt dich ran, Elsa! Wer weiß, vielleicht wird daraus eine neue Liebe. Möglich ist alles!« Dabei stupste sie Elsa in die Seite.

Während Paula ihr zuprostete, klingelte nervig das Telefon in Elsas Handtasche.

»Ist das bei dir?«, fragte Paula. Elsa verzog das Gesicht.

»Hast du ein altes Telefon in deiner Tasche?«, hakte Paula belustigt nach. Es klingelte hysterisch, wie man es von früher kannte, bei Telefonen mit Kabel und Wählscheibe.

»Willst du nicht drangehen?« Doch Elsa schüttelte nur den Kopf und erwiderte: »Egal! Ist sicher nicht wichtig. Ich schaue später, wer angerufen hat.« Damit wandte sie sich wieder den Gesprächen am Tisch zu.

»Ich könnte das nicht«, warf Mary ein, die eigentlich Maria hieß.

»Was könntest du nicht?«

»Na, nicht abheben, wenn das Telefon läutet.«

Elsa schaute sie erstaunt an. Um eine Spur zu bissig antwortete sie: »Ich mache mich nicht vom Telefon abhängig, das wäre ja noch schöner!« Mary zog die Augenbrauen hoch, erwiderte aber nichts. Seit Elsa sich ihres Alleinseins bewusst war, empfand sie keine Eile, einen Anruf entgegenzunehmen. Sie hatte das Warten auf etwas oder irgendwen satt. Sollten doch andere auf sie warten.

»Ihr Lieben, ich muss euch verlassen. Ich habe noch einen Termin.« Elsa stand auf und verabschiedete sich mit Luftküssen von ihnen.

»Warte, ich komme mit!«, rief Paula, »Für mich ist es auch Zeit.«

Wenige Schritte vom Café entfernt trennten sich Elsa und Paula.

»Mach´s gut!« Sie drückten einander, und weg war Paula. Elsa flanierte durch den Blumenmarkt. Marktfrauen und Blumenhändler hatten ihre Produkte auf der Straße aufgestellt. Ihre Augen schweiften neugierig über das bunte Blumenmeer.

»Den hier, bitte«, sagte sie zu einer Marktfrau. Sie hielt in den Händen eine blühende Dipladenia, die mit ihren rosaroten Blüten ein Gitter erklomm.

»Die passt super zu meinen Blumen auf dem Balkon«, erzählte sie der Marktfrau, während sie ihr das abgezählte Geld reichte. Die Frau lächelte und wünschte ihr noch einen schönen Tag.

Nach wenigen Schritten wurde der Blumenstock doch schwerer, als sie angenommen hatte. Sie wechselte von der rechten in die linke Hand, schob ihre Handtasche zur Schulter hinauf und stöhnte.

»Das war doch keine so gute Idee, den Blumenstock mitzuschleppen.«

In der Residenz angekommen, war Elsa gerade im Begriff, zu ihrem Appartement zu gehen, als Dunja, die junge Rezeptionistin, ihr nachrief:

»Frau Hofbauer, einen Moment bitte! Ein Herr hat heute das für Sie abgegeben.« Sie reichte Elsa ein Kuvert, auf dem in eleganter Schrift eigenhändig mit Tinte geschrieben ihr Name zu lesen war.

Elsa schaute Dunja verwundert an, die

Überraschung stand ihr im Gesicht geschrieben.

»Von wem ist das? Wer hat das abgegeben? Ich erwarte keine Post.« Sie zögerte, ihn entgegenzunehmen.

»Es war ein fein gekleideter Herr, für sein Alter sehr gutaussehend, er hat mich gebeten, Ihnen dieses Kuvert zu überreichen«, antwortete Dunja, deren Augen spitzbübisch aufblitzten.

Elsa warf einen skeptischen Blick auf das Kuvert. Zögernd nahm sie es entgegen und steckte es zu den Blumen, bedankte sich und verließ die Rezeption in Richtung ihres Appartements. Nachdenklich, wer den Brief abgegeben haben könnte, öffnete sie die Türe, hängte ihre Jacke an die Garderobe und ging in die kleine Küche, um sich eine Erfrischung zu holen. Den Brief legte sie auf den Küchentisch.

»Es hat keine Eile ihn aufzumachen«, redete sie vor sich hin, auch eine Angewohnheit, die sie in der langen Zeit des Alleinseins angenommen hatte. Über das Wohnzimmer trat sie hinaus auf den Balkon, den sie mit hübschen Blumentöpfen ganz nach ihrem Geschmack gestaltet hatte. Die Dipladenia platzierte sie zwischen zwei Geranien, die farblich dazu passten. Zufrieden prüfte sie das Ergebnis. Sie liebte es, dort zu sitzen, dem Gesang der Vögel zuzuhören und in die Laubkronen der alten Bäume zu blicken.

»Der Brief! Ich hätte ihn fast vergessen!«

Sie gab sich einen Ruck und sprang auf. Die Neugierde hatte sie nun doch gepackt. Bevor sie nach dem Brief griff, holte sie ein Glas Wasser. Stirnrunzelnd nahm sie das Kuvert in Augenschein und drehte es in den Händen, weil sie sehen wollte, ob ihr daran etwas bekannt vorkam. Sie fand nichts, schnappte sich ein Messer und öffnete den Brief. Elsa klappte den Briefbogen auf und begann zu lesen:

Liebe Frau Elsa Hofbauer,

ich hoffe, Sie empfinden es nicht als Unverschämtheit, dass ich Ihnen schreibe und den Brief an der Rezeption für Sie hinterlege. Als wir uns im Park trafen, war das Aufeinandertreffen für uns beide unvermutet und- ja vielleicht auch- unverhofft. Ich hatte den Eindruck, dass auch Sie allein in ihren Gedanken durch den Park spazieren. Ich möchte nicht aufdringlich erscheinen, aber hätten Sie Lust, unseren Spaziergang zu wiederholen?«

Sie rief sich das Treffen noch einmal in Erinnerung. Gerne hätte sie mehr mit ihm geplaudert, aber ihr waren die Worte im Hals stecken geblieben. Möglicherweise lag es daran, dass sie beide zufällige Treffen nicht gewohnt waren und nicht wussten, wie sie es anstellen sollten, ohne dass der andere sich überrumpelt oder belästigt vorkam.

Der Brief war mit der Hand geschrieben, so wie sie es aus ihrer Kindheit kannte, auf einem besonderen Papier. Kein Papier aus einem Drucker, sondern edler und extravaganter. Die Buchstaben reihten sich fein leserlich aneinander. Nachdenklich nahm sie den Briefbogen und roch am Papier. Früher hatte Briefen ein persönlicher Geruch des Schreibers angehaftet, wenn man damit ein wenig vor der Nase wedelte. Sie schmunzelte, als sie wahrnahm, wie instinktiv sie das gerade gemacht hatte. Nun war sie doch neugierig geworden und las weiter:

»Vielleicht ergeht es Ihnen ähnlich wie mir. Im Grunde genommen bin ich jemand, der mit dem Alleinsein kein Problem hat, aber es wäre doch reizvoll, mit jemandem gemeinsam hin und wieder hier zu spazieren. Ich hoffe, Ihnen nicht nahegetreten zu sein. Sollten Sie den Wunsch nach einem Spaziergang in Gesellschaft haben, würde ich mich freuen, von Ihnen zu hören.«

Unterschrieben war der Brief mit der alten Formel »Hochachtungsvoll, Ihr Viktor Lehmann!«

Elsa legte den Brief auf den Tisch zurück und ließ sich in einen Sessel sinken. Leise seufzte sie.

»Ein handgeschriebener Brief! Er schreibt wie aus der Zeit gefallen.« Zweifelnd sah sie den Brief einige Minuten an.

»Warum eigentlich nicht?«, fragte sie sich.

»Es muss ja nicht gleich sein. Andererseits …, mal schauen, was sich ergibt.«

Trotz ihrer beinahe vierundsiebzig Jahre war Elsa im Gebrauch von Internet und Social Media-Plattformen durchaus geübt. Sie pflegte ihre Kontakte außerhalb der Residenz regelmäßig. Zu besonderen Tagen des Jahres schickten sie und ihre Freundinnen sich Grüße und Bilder hin und her. So tauschten sie Neuigkeiten aus. Schmerzhaft war ihr bewusst, dass es zur Familie seit Jahren keinen Kontakt mehr gab. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wo ihr Sohn und seine Familie lebten, wie viele Kinder er möglicherweise hatte und wie sie aussahen, als ob es sie nie gegeben hätte. Jedes Mal, wenn ihr das durch den Kopf ging, fuhr ein messerscharfer Stich quer durch ihren Körper und Tränen stiegen auf. Sie griff sich mit der linken Hand auf die Brust und atmete langsam ein und aus.

»Nicht daran denken, Elsa, es ist, wie es ist!«, sagte sie sich gebetsgleich vor.

Sie brauchte Ruhe. Sie faltete die Tagesdecke auf und kuschelte sich in ein großes Polster, um den Augenblick eines kurzen Schlafes zu genießen. Aber der Schlaf kam nicht. Die Gedanken an diesen Riss in ihrem Leben kreisten um sie wie Vögel im Wind.

2. Kapitel(Fünfzig Jahre zuvor)

Endlich war der Sommer ins Land gezogen, und Elsa hatte nach fünf Jahren ihr Studium erfolgreich abgeschlossen. Sie war dreiundzwanzig Jahre alt; vor ihr stand ein neuer Lebensabschnitt, den sie mit ihrem Freund Stephan beginnen wollte. Sie kannten sich seit ihrer Schulzeit. Er war mittlerweile diplomierter Ingenieur, und sie hätte gerne unterrichtet.

»Bist du zuhause?«, fragte Stephan sie am Telefon. »Kann ich vorbeikommen?«

»Sicher, immer«, antwortete Elsa. Wie gerne hörte sie seine samtene Stimme. Jedes Mal, wenn sie sich an ihre erste Begegnung erinnerte, schmunzelte sie. Stephan war ihre Jugendliebe gewesen, sie hatten sich in der Tanzschule kennengelernt. Für sie war klar, dass sie zusammenbleiben wollten. Unten am Parkplatz sah sie Stephans weißen Golf einbiegen. Als er ausstieg, blickte er nicht wie sonst zu ihrem Fenster hinauf. Er warf die Autotüre geräuschvoll zu und ging schnurstracks, als ob er in Eile wäre, auf den Eingang zu. In dem Moment, in dem Elsa ihm die Wohnungstüre öffnete, spürte sie, wie sich plötzlich in ihr etwas zusammenzog. Stephan küsste sie flüchtig auf die linke Wange, während er eintrat.

Übergangslos begann er das Gespräch.

»Elsa, ich habe jemanden Neuen kennengelernt. Ich werde mit ihr nach Frankreich gehen.«

Pause. Elsa starrte Stephan entgeistert an. Sie musste sich verhört haben.

»Das Geld vom gebuchten Urlaub kannst du behalten«, setzte er gönnerhaft fort.

Langsam drangen seine Worte zu ihr durch. Wie durch eine Nebelwand hörte sie ihn weitersprechen.

»Du sollst nicht um den Urlaub betrogen sein.«

Jetzt langte es. Elsa hatte das Gefühl, als ob ihr jemand die Kehle zudrückte. Ein Kloß steckte in ihrem Hals. Sie versteifte sich, unterdrückte ihre aufsteigenden Tränen und sagte:

»Betrogen, das ist das richtige Wort. Und du hast noch die Chuzpe, mir selbstgefällig die Buchungsgebühr zu überlassen.« Elsa fühlte heiße Wut über seine Kaltschnäuzigkeit in ihr aufsteigen.

»Wie lange geht das schon so?«

»Seit einem halben Jahr.«

»Was! Und da lässt du mich noch einen Urlaub aussuchen und buchen«, fiel sie ihm ins Wort.

»Ich wusste damals noch nicht…«, stotterte Stephan.

»…dass du genug von unserer Zweisamkeit hast«, vollendete Elsa seinen Satz mit vor Zorn bebenden Lippen.

Ein schuldbewusstes Lächeln war seine Antwort.

»Geh! Verschwinde und werde glücklich mit ihr!«, stieß Elsa zwischen den Zähnen hervor.

Stephan blieb unschlüssig stehen, weil er nicht einschätzen konnte, ob sie es ernst meinte. Gerade, als er einen Schritt auf sie zumachen wollte, zeigte sie mit einer ausladenden Handbewegung Richtung Türe.

»Raus! Kein verlogenes Wort mehr!«

Erleichtert, dass sie ihm keine längere Szene gemacht hatte, schlich er zur Türe hinaus. Als die Wohnungstüre ins Schloss fiel, entluden sich Elsas Wut und Enttäuschung. Während sie ihm vom Fenster aus nachsah, wie er wegfuhr, ohne sich noch einmal nach ihr umzublicken, schrie sie ihm hinter den geschlossenen Fenstern nach »Verpiss dich!« Dabei trommelte sie mit den Fäusten auf die Fensterbank.

Nachts weinte sie, holte sein Bild zu sich, dann wiederum warf sie es voll Wut in die Schublade und verfluchte ihn. Planlos und völlig orientierungslos verliefen die Tage. Wochen verstrichen, in denen sie hoffte, er würde es sich anders überlegen, bis sie ihn in der Stadt mit der Neuen sah. Am liebsten wäre sie zu ihr hingerannt und hätte ihr an den Kopf geknallt, was ihr einfiel, mit ihrem Stephan etwas anzufangen. Doch dann nahm sie ihren ganzen Stolz zusammen, machte auf dem Absatz kehrt und redete sich in Selbstgesprächen ein, dass andere Mütter auch schöne Söhne haben. Mit der Zeit wich der Trennungsschmerz, und sie begann, sich über ihre Zukunft Gedanken zu machen.

Zuhause setzte sie sich in den Garten und überlegte ihre nächsten Schritte.

»Kopf hoch, Elsa, du hast ein abgeschlossenes Studium, such dir eine Arbeit«, fordert sie sich auf. »Ich werde mich in einem Nachhilfeinstitut umsehen, vielleicht können sie jemanden brauchen. Du bist jung, siehst gut aus mit deinen vierundzwanzig Jahren und hast ein fröhliches Wesen, es wäre doch gelacht, wenn du ein Mauerblümchen werden solltest.« So sprach sie sich Mut zu. Sie suchte verschiedene Zeitungen heraus, in denen Werbungen für Nachhilfeunterricht zu finden waren. Nach einigem Suchen fand sie eine Stelle in einer Schule, in der sie junge Menschen betreute, die mit ihrer Ausbildung aus verschiedensten Gründen Schwierigkeiten hatten. Eines Vormittags, als sie im Sekretariat ein Formular suchte, ging die Türe auf und eine dunkle, laute Stimme sagte unerträglich fröhlich »Guten Morgen, ihr Alle.« Sie drehte sich um und staunte nicht schlecht. Vor ihr stand ein kräftiger Mann mit langen, lockigen Haaren und einem ungeschnittenen Vollbart, der wie das Fell eines Fuchses glänzte. Seine dunklen Augen leuchteten und sandten helle Glitzer in die Welt. Sie starrte ihn an. Sein Anblick traf sie völlig unerwartet. Wie alle jungen Mädchen hatte sie eine Traumvorstellung von einem Mann: Er sollte groß und schlank sein, blaue Augen haben und modisch gekleidet sein. Nichts an diesem jedoch entsprach ihrer Vorstellung von einem attraktiven Mann, weder seine Größe noch sein Äußeres. Ein alter Militärmantel, der ihm bis zum Knie reichte, hing über seinen Schultern, die Hosenbeine einer schwarzen Jeans steckten in schwarzen Lederstiefeln, eine Zigarette zwischen den Zähnen, so stand er vor ihr. Um seine Erscheinung stiegen Rauchwolken auf. Der penetrante Geruch von Nikotin machte sich breit. Er machte den Eindruck, als sei er von der Hippiebewegung übriggeblieben. Elsa war wie elektrisiert, etwas an ihm faszinierte sie. Sie hätte zu diesem Zeitpunkt nicht sagen können, was es war.

»Hi, ich bin Jonas!«

Freundlich kam er auf Elsa zu und streckte ihr die Hand entgegen, die sie völlig verdattert ergriff.

»Ja, Hm … ich bin Elsa und arbeite hier … seit Kurzem«, stotterte sie. Plötzlich wurde es um sie herum lauter, junge Burschen und Mädchen kamen zur Tür herein, grüßten lässig die Erwachsenen. Besonders freundschaftlich klopften sie Jonas auf die Schulter. Sie schlurften an Elsa vorbei, und Jonas schloss sich ihnen an. Elsa kam sich idiotisch vor, weil sie keine freundlicheren Worte gefunden hatte. Einige Minuten später kam der Leiter des Instituts zu Elsa.

»Würden Sie für mich in diesen Raum gehen und nach ihm fragen?«

Er streckte ihr einen Zettel hin, auf dem eilig hingekritzelt der Name eines Jungen stand und die Bezeichnung des Raumes.

»Klar«, entgegnete Elsa und übernahm den Zettel. Der Institutsleiter blätterte mit säuerlichem Gesichtsausdruck die Unterlagen durch. Auf seinem Gesicht stand »Verärgerung« in imaginären Lettern.

»Ist etwas nicht in Ordnung?«

Der Leiter schaute kurz auf, zog seine Augenbrauen hoch und sagte unüberhörbar genervt:

»Warum wollen Eltern nicht akzeptieren, dass ihre Kinder nicht das werden wollen, was seit Generationen ihre Großeltern gemacht haben? Wir alle könnten uns viel Ärger und Unannehmlichkeiten ersparen.« Er atmete hörbar gereizt aus und schleuderte einen Ordner auf den Tisch.

Elsa konnte sich keinen Reim darauf machen, drehte sich um und suchte den Raum. Da das Gebäude eine überschaubare Größe hatte, stand sie nach kurzer Zeit davor. Bevor sie klopfte, horchte sie vorsichtig an der Tür. Gelächter war zu hören und genau die Stimme, die kurz vorher so aufdringlich heiter »Guten Morgen" gesagt hatte.

Es war Jonas, er gab Englischunterricht. Sie wollte gerade die rechte Hand auf die Klinke legen, als sie zögerte und unschlüssig die Finger spreizte, als ob sie auf eine heiße Platte gegriffen hätte. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals vor Nervosität.

»Stell dich nicht so an«, schimpfte Elsa. Sie holte tief Luft und klopfte dann energisch an die Tür. Ohne auf ein »Herein« zu warten, trat sie ein. Stille machte sich breit. Elsa fühlte sich unwohl, weil alle sie wie einen Eindringling erstaunt anstarrten.

»Good morning, pretty lady«, unterbrach Jonas das Schweigen. »Wie kann ich helfen?«

Entgeistert sah Elsa zuerst auf Jonas, dann auf die Schüler. Er saß mitten unter den jungen Leuten, hielt ein seltsames Saiteninstrument in der Hand und war gerade im Begriff, seine Schüler aufzufordern mit ihm mit zu singen. Er zupfte ein paar Mal an den Saiten und setzte an, ohne Elsa zu fragen, was sie zu ihm geführt hatte.

The Wee Kirkcudbright CentipedeOh, she was very sweetShe was very proud of every one of her hundred feetEarly every morning, her neighbors came to glanceShe always entertained them with a beautiful little dance…………………..

Dann sprang er auf und tanzte, wobei er einen Tausendfüßler vor seinen Schülern nachahmte.

As leg number 94 gave 95 a shuntLegs number 1 and 2 were twisted out in frontLegs number 9 and 10 came wriggling up the side73 and 74 were doing the parlor glide.

Alle brüllten lauthals lachend los und klatschten. Belustigt schaute Elsa zu. Jonas gefiel sich in der Rolle. In seinen Augenwinkeln zeigten sich kleine Falten, wenn er lächelte. Als sich dann alle wieder beruhigt hatten, gab sie den Zettel an Jonas weiter, der den gewünschten Schüler aufrief und aufforderte, mit Elsa mitzugehen.

»War mir ein Vergnügen«, rief Jonas ihr nach, als sie sich umdrehte und mit dem Jungen im Schlepptau die Klasse verließ.

Drei Tage später trafen sie wieder aufeinander. Der schwere Schritt seiner Stiefel hatte ihn angekündigt, bevor er zur Türe hereinkam.

»He, Elsa, fang!« Elsa konnte gerade noch ausweichen, sonst hätte sie ein Tafelschwamm getroffen.

»Was soll das?«, rief sie gespielt ärgerlich, hob den Schwamm auf und schleuderte ihn Jonas an den Hals. Er machte eine Rückwärtsbewegung und tat so, als ob er umgefallen wäre. Stattdessen fischte er sich einen am Boden liegenden Softball und warf ihn zusammen mit dem Schwamm zu ihr zurück. Von der Türe aus feuerten die Schüler Jonas an, und bald dämmerte es den meisten, dass sich zwischen Elsa und Jonas etwas anbahnte.

Da Elsa aus gutbürgerlichem Hause stammte und ihr letzter Freund, der sie sang und klanglos sitzen gelassen hatte, ihren Eltern und Verwandten damals durchaus willkommen gewesen war, überlegte sie hin und her, wie sie es anstellen sollte, ihn mit zu sich nach Hause zu nehmen. Jonas entsprach nicht unbedingt der Idealvorstellung eines Schwiegersohns. Ihren Eltern war bewusst, dass sich Elsa seit ihrer frühen Jugend gesellschaftlichen Vorstellungen widersetzt hatte und dass Diskussionen darüber für beide Seiten überflüssige Energieverschwendung war.

Es war Donnerstagnachmittag, als Jonas sich zwischen den Schülern zu Elsa durchzwängte und fragte:

»Hast du heute schon etwas vor? Ich trete heute Abend mit meiner Gruppe Saitenspiel in kleinem Rahmen auf.«

Elsa war baff, als Jonas ihr das sagte.

»Du hast eine eigene Musikgruppe?« Verlegen nickte Jonas und zog hörbar an seiner Zigarette.

»Wann und wo?« Die Neugierde, mehr über Jonas zu erfahren, überwog. »Und was spielt ihr?«

»Mittelalterliche Lieder auf alten Instrumenten. Heute Abend um neunzehn Uhr in der alten gotischen Kirche im Zentrum der Stadt. Ähm … und erschrick nicht, wenn du meine Kumpels kennenlernst, sie schauen alle wüst aus, so wie ich.« Dabei lächelte er verschmitzt. »Aber sie sind leidenschaftliche Musiker.«

»Wüst kommt hin«, dachte Elsa im Stillen, biss sich jedoch auf die Lippen. »Mal sehen, vielleicht.« Im Grunde wusste sie, dass sie hingehen würde, aber sie wollte ihn ein wenig zappeln lassen.

Eine Viertelstunde vor Beginn des Konzerts betrat Elsa das Gewölbe der Kirche, wo das Saitenspiel auftrat. Sie bibberte und schlang die Arme um ihren Körper, es war unangenehm kalt. Aus ihrem Mund konnte sie den Dunst ihres Atems aufsteigen sehen. Jonas und seine Freunde stimmten gerade ihre verschiedenen Instrumente. Saiteninstrumente, Flöten und Dudelsäcke lagen verstreut auf Tischen und Bänken. Als Jonas sie sah, winkte er ihr zu, legte die Zigarette aus der Hand, sagte etwas zu seinen Freunden und kam auf sie zu.

»Ich freue mich, dass du dir Zeit genommen hast.« Sein tiefgründiger Blick versenkte sich in ihrem.

»Komm mit, ich stell dich meinen Freunden vor.«

Nicht alle von ihnen schienen erfreut, manche nahmen sie überhaupt nicht zur Kenntnis. Sie war erleichtert, dass Jonas wieder zu ihnen zurückmusste. Sie suchte sich einen Platz und wartete auf den Beginn des Konzerts. Allmählich füllte sich der kleine Konzertraum.

»Entschuldigung, ist da noch frei?«

Eine junge Frau in Hippie-Kleidung stolperte beinahe über Elsas Füße. Der auffallende Geruch von Cannabis umwehte sie, als sie sich einen Stuhl suchte. Elsa war erleichtert zu sehen, dass sie nur durch ihre Reihe gegangen war, um sich am anderen Ende zu einem Bekannten zu setzen. Es war kurz nach neunzehn Uhr, als das Konzert begann. Jonas war der Sprecher der Gruppe, er begrüßte die Gäste und stellte ihnen das Programm vor. Es waren Liebeslieder und Tanzlieder, die auf mittelalterlichen Instrumenten gespielt wurden. Elsa schaute wie gebannt auf Jonas, der mitreißend spielte und sang. Das Publikum klatschte zwischendurch begeistert Beifall. Von den anderen unbemerkt zwinkerte er ihr zu und schickte ihr ein vielsagendes Lächeln, das sie erwiderte.

Nachdem das Konzert beendet war, stand Elsa etwas verloren herum. Die Zuhörer waren aufgestanden und zeigten ihre Begeisterung, indem sie laut »Zugabe« riefen und ihr dabei den Blick auf Jonas verdeckten. Doch Jonas wehrte ab. Er räusperte sich.

»Unsere Instrumente sind wegen der Kälte hier verstimmt, es tut uns leid, aber wir können keine Zugabe mehr spielen«, erklärte er dem Publikum. Die Leute hatten Verständnis und machten sich auf den Weg aus dem kalten Saal. Elsa wollte sich mit Jonas unterhalten, hatte aber keine Lust, auf seine alternativen Musikerfreunde zu treffen.

»Na, wie hat es dir gefallen«, hörte sie hinter sich Jonas‘ einnehmende Stimme.

»Es war super!«

Sie schaute Jonas direkt in die Augen.

»Kommst du noch mit, wir wollen was trinken gehen«, lud Jonas sie ein.

Elsas innere Stimme sagte »Ja«, ihr Verstand »Nein«. Eine Ausrede half ihr aus dieser Situation.

»Leider nein, ich habe noch eine Verabredung, aber ein anderes Mal, sehr gerne.«

In seiner Miene konnte sie nicht lesen, ob er wegen der Absage enttäuscht war. Er lächelte sie an. Die Wärme in seinen dunkelbraunen Augen machte sie fast schwindelig.

»Wir sehen uns morgen.« Dann wandte er sich um und kehrte zu seinen Freunden zurück, die dabei waren, ihre Instrumente zu säubern und sorgfältig in die mitgebrachten Taschen zu verstauen.

Elsas Eltern hatten Jonas mittlerweile kennengelernt. Der Unterschied zu ihrem früheren Freund hätte nicht größer sein können. Jonas stand da mit seinen Militärstiefeln und schaute sich unwohl um. Elsas Vater und Jonas waren ungefähr gleich groß. Die Stiefel störten ihn nicht, gewöhnungsbedürftig waren für ihn die Haare. Wie alle Männer, die im Weltkrieg Soldaten gewesen waren, hatte er nicht viel übrig für ungeschnittene Haare. Doch ihr Vater zeigte keine Vorbehalte, auch wenn er vielleicht welche hatte. Für ihre Mutter war Jonas eher geduldet, sie hoffte insgeheim, dass diese Verliebtheit nur schnell vorüber gehen würde.

Während sich alle bei der ersten Begegnung beschnupperten, tauchte zwischen Elsa und ihrem Vater ein wuscheliger Kopf auf. Beim weiteren Hinsehen schob sich auf Kniehöhe ein lockiger Körper zwischen beiden hindurch, der zu einem Airedale Terrier gehörte.

»Das ist Kuno«, stellte Elsa ihn vor. Das Eis schien gebrochen. Kuno nahm Jonas genau unter die Lupe, er roch an seinen Stiefeln und Händen. Der Geruch von Zigaretten war ihm vertraut, denn in Elsas Familie waren außer ihr alle Kettenraucher, einer mehr störte daher nicht. Er streifte an Jonas Beinen entlang, sein gewelltes Fell hinterließ auf seiner Jeans Haare, abschließend leckte er am Lederschaft der Stiefel. Dann hatte Kuno genug vom Kennenlernen und kehrte zu Elsa zurück. Er legte sich mit lautem Ausatmen zu ihren Füßen und verdrehte die Augen, als ob er sagen wollte: »Und, was willst du von ihr?«

Bei ihrem ersten gemeinsamen Spaziergang machte dann Kuno Jonas klar, wer hier das Alphatier war.

»Nicht Kuno, lass das!«, sagte Elsa zu ihm, streichelte ihn aber nebenbei hinter seinem herabhängenden Ohr. Kuno stupste sie mit der Schnauze, knabberte und leckte an ihren Händen, bis sie klitschnass waren. Fast wäre Elsa gefallen, weil Kuno sich unerbittlich zwischen beiden durchzwängte. Zu guter Letzt sprang Kuno auf Jonas‘ Jacke und biss ungeniert einen seiner lederüberzogenen Knöpfe ab.

»Hast du das gesehen?«, rief Jonas, »er hat meinen Knopf abgebissen.« Entgeistert tastete Jonas das Loch ab, das der abgerissene Knopf hinterlassen hatte.

»Na, warte, du Kerl«, und schon jagte Jonas hinter Kuno her, der das für ein lustiges Spiel hielt. Aus seinen Schneidezähnen lugte die Hälfte des Lederknopfs heraus. Kuno setzte zum Sprung auf Elsa an, seine Pfoten landeten auf ihren Schultern. Beide sahen sich in die Augen, und mit einem Ruck, auf den Kuno nicht vorbereitet war, entriss sie ihm den Knopf. Kuno setzte sich enttäuscht vor Elsa, er war beleidigt. Elsa reichte Jonas den abgebissenen Knopf, der sprachlos den Kopf schüttelte.

3. Kapitel

Elsa spürte, wie ihr Tränen über die Wangen bis zu den Ohren rannen. Sie wischte sie seufzend mit der rechten Hand weg, während ihr Blick auf eine kleine Keramikfigur fiel, die ihren Kuno darstellte. Über all die Jahre hinweg hatte sie diese kleine Figur aufgehoben als Erinnerung an eine ganz besondere Beziehung. In Gedanken versunken sah sie ihn wieder vor sich. Manchmal hatte sie den Eindruck, seinen Geruch einfangen zu können. So ertrug sie die Vergangenheit, es wurde für sie leichter, in der Gegenwart zu leben.

Um nicht weiter düsteren Gedanken nachzuhängen, stand Elsa auf, öffnete ihre Balkontüre und spürte den auffrischenden Wind, der durch die Bäume zu ihr her wehte. Die Sonne schien noch angenehm warm. Unversehens verspürte sie Lust, im Park spazieren zu gehen. Ihre Augen suchten forschend die Garderobe ab, was sie anziehen sollte. Ihr Blick fiel auf eine Jacke, die zur Hälfte aus Wolle und, um unangenehmen Wind abzuhalten, ab der Mitte aus einem Steppmaterial war. Im Vorbeigehen zog sie den wärmenden Schal vom Haken, den sie auf einer Urlaubsreise erstanden hatte. Sie trat vor die Türe und atmete tief ein. Frische Luft füllte ihre Lungen. Sie wandte das Gesicht der Sonne zu. Vor dem Haus standen uralte Bäume mit dicken Stämmen. Von dort führten Schotterwege quer durch den Park. Sie schlug die Richtung zur Kapelle ein, um dann erst den Weg zum Teich zu nehmen. Ihre Erinnerungen waren verflogen, unbeschwert begann sie ihren Spaziergang.

»Darf ich Sie einladen, ein Stück des Weges mit mir zu gehen?« Eine samtene Stimme hing in der Luft. Elsa drehte sich verblüfft um. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass jemand hinter ihr ging. Viktor Lehmann winkte ihr zu.

»Und wie ich will!«, dachte sie und erwiderte:

»Ich habe Sie gar nicht bemerkt. Bitte, sehr gerne! Wohin?«

»Ganz egal«, antwortete er.

Er kam näher, reichte ihr die Hand und schloss sich ihrem Tempo an, ohne den Abstand zwischen ihm und ihr zu verringern. Er war ausgesprochen höflich, ein Gentleman wie aus dem Buche.

»Wie verbringen Sie ihren Tag in der Residenz?«. »Ähm … was meinen Sie?«

Elsa war auf diese Frage nicht gefasst, denn, um ehrlich zu sein, hatte sie sich darüber keine Gedanken gemacht, seit sie in der Residenz lebte. Die Tage verstrichen, mal unterhaltsamer, mal zurückgezogen, aber auf jeden Fall unspektakulär.

»Ich lasse mich treiben.« Dabei spähte sie ihn vorsichtig von der Seite her an.

»Verstehe!« Sein Blick war auf den Boden gerichtet. Ohne das Schritttempo zu ändern, stapfte er weiter voran.

»Ich plane eigentlich nicht viel. So wie es sich ergibt, passt es für mich«, setzte sie nach. Aber stimmte das wirklich? Elsa hätte dem jetzt so nicht zustimmen wollen, doch sie wollte vorerst nichts von sich preisgeben.

Sie sah Viktor an, um seine Reaktion auf ihre Erwiderung zu sehen, aber da war nichts Besonderes. Er ging neben ihr her und setzte dabei wie gewohnt den Stock ein.

»Schön ist es hier.« Mehr fiel ihnen an Gesprächsstoff nicht ein.