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Der Beginn der neuen mitreißenden Saga von Bestsellerautorin Corina Bomann: Eine Berliner Klinik im Aufbau. Eine junge Krankenschwester vor der Herausforderung ihres Lebens.
Berlin, 1919. Nach Kriegsende lastet der Verlust ihres Verlobten schwer auf der jungen Krankenschwester Hanna. Nur ihre Berufung an die neu gegründete Klinik Waldfriede in Zehlendorf kann sie von ihrem privaten Kummer ablenken, denn nichts will sie mehr, als Menschen in Not zu helfen. Bis das Waldfriede seine Tore für die ersten Patienten öffnen kann, vergehen allerdings Monate voller harter Arbeit, knapper Lebensmittel und Ungewissheit. Ermutigt durch das unerschütterliche Vertrauen des sympathischen Klinikleiters Dr. Conradi übersteht Hanna diese schwere Zeit – doch gerade als sich das Waldfriede wie ihr neues Zuhause anfühlt, stellt ihre Vergangenheit sie erneut auf harte Bewährungsproben. Und auch die Klinik scheint unter keinem guten Stern zu stehen: Immer wieder bringen finstere Intrigen und Schicksalsschläge die hoffnungsvolle Zukunft des Hauses in Gefahr …
Nach wahren Begebenheiten: Inspiriert von der Chronik einer Krankenschwester erzählt Erfolgsautorin Corina Bomann von der Geburtsstunde der Berliner Waldfriede-Klinik.
Entdecken Sie die weiteren Bände der mitreißenden Waldfriede-Saga:
1. Sternstunde. Die Schwestern vom Waldfriede
2. Leuchtfeuer. Die Schwestern vom Waldfriede
3. Sturmtage. Die Schwestern vom Waldfriede
4. Wunderzeit. Die Schwestern vom Waldfriede
Alle Bände der Saga sind auch einzeln lesbar.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 787
Corina Bomanns Romane sind mit einer Gesamtauflage von über zwei Millionen Exemplaren nicht aus den Bestsellerregalen wegzudenken. Mit ihren beliebten historischen Sagas steht sie regelmäßig auf Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste – so zuletzt mit den Bänden Die Farben der Schönheit. Sophias Triumph und Die Frauen vom Löwenhof. Mathildas Geheimnis. Mit ihrer neuen Romanreihe um die Berliner Klinik Waldfriede erfüllt sie sich einen Herzenswunsch: Inspiriert durch die echte Chronik des Hauses, von deren Existenz sie während eines Aufenthalts dort erfuhr, möchte sie der Klinik und ihrer ereignisreichen Geschichte ein Denkmal setzen und macht sie zum Schauplatz einer großen historischen Saga. Corina Bomann lebt in Berlin-Zehlendorf – in direkter Nachbarschaft zur Waldfriede-Klinik.
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Corina Bomann
STERN-STUNDE
DIE SCHWESTERN VOM WALDFRIEDE
ROMAN
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Cover: bürosüd GmbH
Covermotiv: Magdalena Russocka, Natasza Fiedotjew / Trevillion Images; buerosued.de
Redaktion: Kristina Lake-Zapp
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-28243-1V003
www.penguin-verlag.de
Für alle heilenden und helfenden Hände des Waldfriede, früher wie heute.
Die Autorin hat im vorliegenden Roman tatsächliche Ereignisse aufgegriffen, die sich in einer bestimmten Gegend zu einer bestimmten Zeit abspielten. Zahlreiche tatsächliche Abläufe und handelnde Personen sind verändert, ergänzt und in ihren Verschränkungen sämtlich romanhaft gestaltet.
Dieser Roman ist also ein Werk der Fantasie, in dem Fakten und Fiktion, Geschehenes wie Erfundenes, eine untrennbare künstlerisch verfremdete Einheit bilden.
Es war einer der wärmsten Tage des Sommers 1916, als sie auf den See hinausfuhren. Die Luft flirrte vor Hitze, und Libellen huschten über das Wasser hinweg, auf der Suche nach Beute.
Mit ruhigen, kräftigen Zügen ruderte Martin, während Hanna am anderen Ende des Bootes lag und die linke Hand nach den Wellen ausstreckte. Ihre Fingerspitzen berührten sachte die Wasseroberfläche, ihr Blick verlor sich in den feinen, glitzernden Wellenlinien, die sich schließlich mit dem Fahrwasser des Bootes vermischten.
Der Ruf eines Kuckucks drang aus der Ferne zu ihnen herüber. Wie hatte Hannas Großmutter immer gesagt? Am Morgen Sorgenkuckuck, am Mittag Trauerkuckuck und am Abend Glückskuckuck.
Die Mittagsstunde war vorbei, aber der Abend noch fern. Trauer war es allerdings nicht, was sie in diesem Augenblick fühlte. Sie hätte für alle Zeiten hier verharren können, zusammen mit dem Mann, den sie mehr liebte als ihr eigenes Leben.
Nach einer Weile ließ Martin die Ruder los, und das Boot kam zum Stehen. Sanft schaukelte es auf dem Wasser.
Hanna schaute zu ihrem Verlobten. Wie immer, wenn sie sein Gesicht betrachtete, strömte ein warmes Gefühl der Geborgenheit durch ihre Brust. Wie ein Prinz aus dem Märchen wirkte er mit seinem rotblonden Haar, das von goldenen Strähnen durchzogen war. Seine Augen, grün wie Smaragde, funkelten, und seine sinnlich geschwungenen Lippen waren zu einem Lächeln verzogen. In seinem leicht offenen weißen Hemd, dessen Ärmel über die muskulösen Unterarme hochgekrempelt waren, strahlte er geradezu im Sonnenlicht.
»Wollen wir nicht weiterfahren?«, fragte sie, während sie zu ihm hinüberglitt.
»Nein«, antwortete er mit einem schelmischen Funkeln in den Augenwinkeln. »Hier habe ich dich endlich ganz für mich.« Er legte den Arm um sie und küsste sie. Als sie den Kopf auf seine Brust bettete, hörte sie den kraftvollen Schlag seines Herzens. Seine Wärme umfing sie, und wie immer, wenn sie bei ihm war, konnte sie die schwere Arbeit und das Leid der Patienten hinter sich lassen, mit dem sie tagtäglich konfrontiert war.
Die Arbeit im Sanatorium Friedensau war ihre Bestimmung, aber manchmal träumte sie davon, die Tage einfach nur mit Martin zu verbringen, auf einer einsamen Insel oder so wie jetzt in einem kleinen Boot.
Eine Weile verharrten sie schweigend, lauschten dem Wind, der die Bäume am Ufer zum Rascheln brachte, und sogen die von Heu- und Blütenduft geschwängerte Sommerluft in ihre Lungen.
Als sich eine Wolke über die Sonne schob, fiel ein Schatten auf das kleine Boot. Vielleicht ist es doch der Ruf des Trauerkuckucks, dachte Hanna.
»Wann musst du gehen?«, fragte sie leise. Sie sah ihn an und ließ eine Hand zwischen die Knopfleiste des Hemdes gleiten, unter den Stoff, wo sie seine Haut und seine Brusthaare spürte.
Der Einberufungsbefehl lag bereits ein paar Wochen zurück. Als Adventist hatte Martin aus moralischen Gründen den Dienst an der Waffe verweigert, doch es hatte ihm nichts genützt. Der Brief, der ihm den Termin seiner Abreise mitteilte, war gestern Abend bei ihm eingetroffen.
»Schon am Montag«, gab er zurück.
Montag. Dann hatten sie nur noch diesen Nachmittag und den morgigen Sonntag für sich. Viel zu wenig Zeit.
»Musst du denn wirklich gehen?« Hanna spürte, wie sich die Angst in ihre Brust krallte wie ein klauenbewehrtes Ungeheuer. »Wenn du nun nicht am Bahnhof erscheinen würdest …«
»Dann würde man mich sofort vors Kriegsgericht stellen und wahrscheinlich erschießen.« Martin seufzte schwer. Sie wusste um seine Angst, auch wenn er versuchte, vor ihr den Tapferen zu spielen. »Es ist nur der Sanitätsdienst. Mit den Kämpfen habe ich nichts zu tun.«
Hanna bezweifelte das. Auch Feldlazarette waren nicht gegen Angriffe gefeit. Es galt zwar als verabscheuungswürdig, sie anzugreifen, aber im Laufe des Krieges, der nun schon zwei Jahre wütete, waren bereits so viele abscheuliche Dinge geschehen, dass auch das nicht mehr ausgeschlossen war. An der Front gab es keine Sicherheit.
»Du musst mir versprechen, dass du gut auf dich achtgibst.« Hannas Blick wurde dringlich. »Wenn dir etwas zustößt, kann ich nicht weiterleben.«
Er zog sie an sich und gab ihr einen Kuss. »Ich werde auf mich aufpassen, das verspreche ich dir. Und du gib acht auf dich. Nicht dass du dir einen anderen suchst.«
Hanna versetzte ihm einen Knuff gegen die Brust. »Du weißt, dass ich keinen anderen lieben kann. Ich liebe nur dich, Martin Bergau, nur dich!«
»Und ich liebe dich!« Martin lächelte und küsste sie erneut, diesmal leidenschaftlicher denn je. Eine nie gekannte Begierde wallte in Hanna auf. Sie hatte sie schon des Öfteren verspürt, wenn sie mit Martin zusammen war, doch sie hatten ihr nicht nachgeben können, weil ihnen ihr Glaube vorgab, bis zur Hochzeitsnacht damit zu warten.
»Die Zeit wird vergehen wie nichts«, sagte er, als er sich von ihr gelöst hatte. »Und vielleicht ist der Krieg schon in einigen Monaten vorbei.«
Hanna spürte, wie Tränen in ihre Augen stiegen. »Ich wünschte, das wäre er bereits«, sagte sie. »Dann könnten wir endlich heiraten und …« Er verschloss ihren Mund mit seinen Lippen und streichelte mit den Fingerspitzen ihre Wange.
»Wenn ich wiederkomme, gehen wir zu Pastor Schubert. Sofort. Er wird uns sicher trauen.«
Hanna wusste, dass sie etwas erwidern sollte, doch auf einmal war sie wie gelähmt, starr, brachte kein einziges Wort heraus. »Hast du gehört, Hanna?«, fragte er. Seine Augen weiteten sich, als würde er etwas Furchterregendes sehen.
»Hanna!«, rief er, packte ihre Arme und rüttelte sie. »Hanna!«
»Hanna!«
Das Bild von Martin, dem See und dem Sonnenlicht wurde von Dunkelheit verschluckt. Nur die Stimme blieb, aber es war nicht mehr seine Stimme, die nach ihr rief. Ein Traum, dachte Hanna. Es war nur ein Traum.
Im nächsten Augenblick spürte sie, dass jemand heftig an ihrer Schulter rüttelte.
»Hanna, wach auf!«, drängte die Stimme, die einer Frau gehörte.
Hanna zwang sich, die Augen zu öffnen. Noch immer war es dunkel, bis auf den kleinen Lichtpunkt, der über ihrem Gesicht schaukelte.
»Was ist los?«, fragte sie schlaftrunken und versuchte, die bleierne Schwere ihrer Lider abzuschütteln.
»Sie haben Martin gebracht!«
Die Erwähnung seines Namens ließ den Schlaf von ihr abfallen.
»Martin?«, fragte sie ungläubig.
»Ja. Ein Transport mit Verletzten ist angekommen. Martin ist darunter.«
Verletzte? Hanna schoss in die Höhe. Martin war verletzt? Das konnte nicht sein!
Rasch sprang sie aus dem Bett. Jetzt erkannte sie, dass es Schwester Christel war, die sie geweckt hatte. Sie trug ein dickes Wolltuch über ihrem Schwesternkleid. Hanna erinnerte sich, dass sie zum Nachtdienst eingeteilt worden war.
Seit der Krieg immer schlimmer wurde und die Front sich nach Belgien verlagert hatte, kamen manchmal auch nachts Patienten zu ihnen, Soldaten, die während der Kampfhandlungen verletzt wurden.
Die Erstversorgung erfolgte natürlich in den Feldlazaretten, doch sobald die Soldaten transportfähig waren, wurden sie in andere Häuser gebracht, um gänzlich zu genesen.
Hanna betete täglich dafür, dass die erlösende Nachricht vom Kriegsende bald eintreffen und Martin zurückkehren würde.
Hatte Gott sie endlich erhört?
Hastig schlüpfte Hanna in ihr blau-weiß gestreiftes Schwesternkleid und zog ihre Stiefeletten an. Ihre Gedanken rasten. Martin verletzt … Was war passiert? Hatte ihn eine Kugel getroffen? Oder gar Schlimmeres?
Sie verzichtete darauf, sich die Schwesternhaube aufzusetzen, und stürmte aus dem Raum. Christel folgte ihr.
Das Schwesternheim lag ein Stück vom Sanatorium entfernt. Draußen fiel ihr Blick auf einen Lastwagen, ein schattenhaftes Ungetüm im Lichtschein der Sanatoriumsfenster. Männer waren dabei, Kameraden von der Ladefläche zu helfen.
Hannas Herz begann zu rasen. Die freudige Aussicht, Martin wiederzusehen, rang in ihrer Brust mit der Furcht vor dem, was ihm geschehen war.
Möglicherweise würde die Verletzung dafür sorgen, dass er nicht mehr zurück an die Front musste. Und was wäre schon dabei, wenn er Narben davontrug? Sie würde ihn immer lieben!
Als sie stehen blieb, um einen der Soldaten nach Martin zu fragen, hörte sie Schwester Christel rufen: »Er ist schon drinnen!«
Hanna zuckte zusammen. Sie hatte ganz vergessen, dass ihre Kollegin hinter ihr war. Mit gerafften Röcken rannte sie die Treppe hinauf. Sogleich huschte ihr Blick über die Gesichter der Männer, die im Foyer saßen. Einige hatten Kopfverbände, anderen waren Arme oder Beine amputiert worden. Ein Mann hatte ein Auge verloren, das andere blickte leer durch sie hindurch.
Martin war nicht unter ihnen.
»Komm mit!« Schwester Christel fasste sie am Arm und zog sie zu den Krankenzimmern.
»Wie schlimm ist es?« Die Worte wollten kaum über Hannas Lippen kommen.
»Das siehst du gleich«, sagte Christel. Der Blick, den sie ihr zuwarf, verhieß nichts Gutes. Sie drückte Hannas Arm und eilte weiter.
Die Tür des Krankenzimmers stand offen. Dr. Erich Meyer, der Leiter der Klinik, und ein Pfleger standen vor einem Bett. Darauf lag ein Mann, der sowohl den linken Arm als auch das linke Bein verloren hatte. Die Stümpfe waren mit dicken Verbänden versehen. Die Gesichtszüge des Patienten waren schmerzverzerrt, seine Augen geschlossen.
Nein, das war nicht ihr rotblonder Prinz mit den starken Armen und dem wunderbaren Lächeln!
Hannas Kehle schnürte sich zu, und für einen Moment vermochte sie kaum das Zimmer zu betreten. Dann richtete der Verletzte den Blick auf sie. Seine Augen leuchteten auf, sein Mund, der ihr ganz anders vorkam als sonst, verzog sich zu einem Lächeln.
»Hanna!«, brachte er krächzend hervor. »Meine Hanna!«
Die Stimme war immerhin geblieben. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, wusste nur, dass es tatsächlich Martin war, der da vor ihr lag. Ihr Magen krampfte sich zusammen, und der bittere Geschmack nach Galle füllte ihren Mund.
Martin streckte die rechte Hand aus. Sie sah vollständig aus, war aber ebenfalls dick verbunden. »Hanna, komm zu mir, damit ich dich richtig sehen kann.«
Hanna rang die Übelkeit und das Entsetzen nieder und machte einen Schritt nach vorn. Der Pfleger, der damit beschäftigt war, ihn zu betten, trat beiseite, und auch Dr. Meyer nickte ihr zu und wandte sich ab.
Als sie ihren Verlobten von Nahem sah, schnappte sie entsetzt nach Luft. Er war offenbar nicht zum ersten Mal verletzt worden. Neben den frischen Blessuren hatte er noch einige andere davongetragen, die inzwischen vernarbt waren. Mehrere Schnitte hatten die Unterlippe geteilt und verliehen seinem Mund einen grotesken Ausdruck.
Zitternd streckte nun auch sie die Hand aus, die Martin ergriff und mit unvermuteter Kraft an seine Lippen zog.
»Ich habe dich so vermisst, mein Liebling«, flüsterte er.
Ein Schauer überlief Hanna. Sie liebte Martin, ja, aber ihn so zu sehen, übertraf ihre schlimmsten Befürchtungen.
Eine Träne rollte über ihr Gesicht. »Ich dich auch«, gab sie zurück. »Um Himmels willen, was ist nur mit dir passiert?«
»Beim Abtransport der Verletzten gab es einen weiteren Angriff«, erklärte Dr. Meyer mit leiser Stimme. »Granaten gingen auf die Sanitäter nieder, die Splitter haben das Bein und den Arm so stark zerfetzt, dass sie amputiert werden mussten.«
Martin nickte matt. Sein Blick wanderte zu den Stümpfen. »Ich erinnere mich nur an einen grellen Blitz. Als ich wieder zu mir kam, war bloß noch die Hälfte da.«
Hanna presste die freie Hand auf den Mund. Schluchzer würgten sie, doch sie wollte vor Martin unbedingt die Fassung bewahren. Er war hier, war wieder zu Hause. Nichts anderes zählte.
»Vielleicht sollten wir Sie eine Weile allein lassen«, schlug Dr. Meyer vor und bedeutete dem Pfleger, mitzukommen. »Wenn etwas ist, wir sind nebenan.«
Am liebsten hätte Hanna den Arzt gebeten, dazubleiben, so erschrocken war sie über Martins Zustand.
»Ich dachte schon, dass dieser Tag nie kommen würde«, sagte Martin, als die beiden Männer draußen waren. Auch in seinen Augen glitzerten nun Tränen. »Deine Briefe waren das Einzige, an das ich mich klammern konnte. Ich habe so sehr darauf gehofft, endlich nach Hause zu können.«
»Jetzt bist du hier«, sagte Hanna und schluckte die Tränen hinunter. Noch immer wusste sie nicht so recht, was sie tun sollte. Hätte er lediglich einen Verband oder eine Krücke gehabt, wäre sie glücklich gewesen und hätte ihn überschwänglich geküsst. Doch nun empfand sie Ekel und auch ein wenig Angst, dass er wie Glas zerbrechen würde, wenn sie ihn berührte.
»Endlich können wir heiraten!«
Hanna spürte, wie sich etwas in ihr zusammenzog. »Du solltest erst einmal richtig gesund werden«, gab sie vorsichtig zurück. »Ich glaube nicht, dass der Pastor dir erlaubt, so vor den Altar zu treten.«
»Das wird ihm egal sein. Einem verletzten Soldaten wird er den Wunsch, endlich mit seiner Liebe verbunden zu sein, nicht abschlagen, oder?«
Hanna zögerte. Ihr Martin, ein friedlicher Mann, der nicht einmal eine Waffe in die Hand hatte nehmen wollen, war von Granaten zerfetzt worden und würde nie wieder der Alte sein. Das Letzte, woran sie jetzt denken wollte, war die Hochzeit.
»Du willst mich doch noch, oder?« Ein flehender Ausdruck trat auf sein Gesicht.
»Natürlich will ich dich!«, entgegnete sie und schämte sich ihrer Gedanken. Das schlechte Gewissen brachte sie schließlich dazu, sich über ihn zu beugen und ihn zu küssen. Wenn sie die Augen schloss, war es wie früher. Seine Lippen waren zwar etwas rissig, fühlten sich aber immer noch warm an. Doch als sie die Augen wieder öffnete und ihn ansah, kehrte die Realität zurück.
»Ich werde den Pastor fragen«, versprach sie. »Aber jetzt musst du dich ein wenig erholen. Ich werde schon dafür sorgen, dass du …« Sie stockte, als ihr klar wurde, welche Worte ihr auf der Zunge lagen. Dass du wieder auf die Beine kommst. Doch das würde er nicht mehr, er würde nie wieder auf die Beine kommen. Bestenfalls in einen Rollstuhl. Die Tränen konnte sie nun nicht mehr aufhalten.
»In deiner Nähe werde ich ganz schnell wieder gesund«, versicherte ihr Martin und wischte ihr mit der verbundenen Hand vorsichtig über die Wangen. Hanna fragte sich, ob er ihr ihre Gedanken ansehen konnte. »Aber in der Werkstatt wirst du mir jetzt wohl zur Hand gehen müssen.«
»Das tue ich doch ohnehin schon«, gab Hanna zurück und schniefte. »Es macht mir nichts aus, das weißt du doch.«
Martin nickte und befeuchtete kurz mit der Zunge seine Lippen. »Du würdest eine gute Hausmeisterin abgeben bei deinem Technikverständnis. Ich habe schon immer gesagt …«
Plötzlich ging ein Ruck durch seinen Körper. Er griff sich an den Hals und bäumte sich auf.
»Was ist mit dir?«, fragte Hanna ängstlich und umklammerte Martins Hand.
Er riss die Augen weit auf und rang krampfhaft nach Atem.
»Dr. Meyer!« Ihre Stimme wurde schrill. »Dr. Meyer, kommen Sie schnell!«
Der Arzt kam angelaufen, gefolgt von dem Pfleger, der ihn begleitet hatte. Entgegen seiner sonst so ruhigen Art wirkte seine Miene auf einmal angespannt.
»Er bekommt keine Luft mehr!«, stieß Hanna angsterfüllt hervor.
»Lungenembolie!«, hörte sie den Doktor sagen, dann wandte er sich an Hanna. »Bitte verlassen Sie das Zimmer!«
»Aber ich möchte bei ihm sein!«, widersprach sie. »Ich muss bei ihm sein!« Sie begann zu schluchzen, doch da spürte sie auch schon die kräftigen Arme des Pflegers auf ihren Schultern, die sie zur Tür hinausschoben.
»Lass mich los!«, schrie sie und versuchte, zurück ins Zimmer zu gelangen. »Ich muss zu ihm! Ich muss zu ihm!«
Der Pfleger zog sie mit sich durch den Gang und drückte sie auf eine der Wartebänke vor der Station.
»Hanna!«, sagte er und sah ihr fest in die Augen. »Du kannst jetzt nicht bei ihm sein!«
»Aber jemand muss Dr. Meyer assistieren!«
»Das mache ich. Lass den Doktor seine Arbeit machen und beruhige dich. Ich sage dir Bescheid, wenn du wieder zu ihm kannst.«
Alles in Hanna schrie danach, sich loszureißen und zu Martin zu stürmen, aber natürlich hatte der Pfleger recht. Wenn Dr. Meyer seine Arbeit gut machen wollte, brauchte er keine weinende Schwester im Raum.
Sie nickte und sackte auf der Bank in sich zusammen. Der Pfleger eilte zurück ins Krankenzimmer. Für eine ganze Weile konnte sie nichts anderes tun, als mit leerem Blick an die Wand gegenüber zu starren. Das Ticken der Stationsuhr wurde übertönt von allen möglichen Geräuschen, doch Hanna sah, wie der Zeiger unerbittlich weiterrückte. Drei Minuten vergingen, fünf, dann zehn. Schwestern eilten an ihr vorbei, Patienten wurden an ihr vorübergeschoben oder humpelten an Krücken den Gang entlang. Hin und wieder öffnete sich die Stationstür, doch Hanna hatte kaum noch Kraft, aufzublicken. Ihr Bauch und ihre Brust schmerzten vor Angst.
Lungenembolie, hatte Dr. Meyer gesagt. Hanna wusste, dass es Lebensgefahr bedeutete, wenn sich ein Blutgerinnsel löste und in die Lungenarterien wanderte. Aber das konnte nicht sein. Martin war immer gesund gewesen …
Als die Zeiger der Uhr auf kurz vor eins gerückt waren, öffnete sich die Stationstür erneut, und Dr. Meyer erschien. Er wirkte abgekämpft, sein Körper leicht gebeugt. Auf seinem Kittel prangten gelblich rote Flecke.
Hanna sprang auf. »Kann ich zu ihm? Geht es ihm besser?«
Dr. Meyer senkte den Kopf. Es fiel ihm sichtlich schwer, die richtigen Worte zu finden.
»Es tut mir wirklich leid, ich … ich konnte nichts mehr für ihn tun.«
Die Worte waren wie Regentropfen, die vor Hanna auf den Boden fielen, während sie unter einem Vordach stand. Sie erreichten sie nicht wirklich, obwohl sie wusste, dass sie da waren.
Ungläubig schüttelte sie den Kopf. »Das ist nicht möglich. Ich … ich habe ihn gesehen, er war doch auf dem Weg der Genesung!«
»Das ist richtig, aber bei Thromben ist das so eine Sache. Er hat lange gelegen, und der Transport war alles andere als bequem …«
»Ich will ihn sehen!«, fiel sie ihm ins Wort und ballte entschlossen die Fäuste. Dr. Meyer hatte sie nie belogen, dennoch glaubte sie ihm kein Wort.
Der Arzt senkte den Kopf und trat beiseite. Hanna stürzte durch die Stationstür und rannte zu Martins Zimmer.
Er lag auf dem Bett ausgestreckt, das Krankenhemd war von seiner Brust gerissen. Jetzt sah sie, dass er auch auf dem Rest seines Körpers Verletzungen und Narben hatte.
»Martin!«, rief sie, doch er regte sich nicht. Eine Spur blutigen Schaums klebte an seinem Kinn und den blau unterlaufenen Lippen. Seine grünen Augen starrten leblos an die Decke, verblasst wie zwei welke Blätter.
»Schwester Hanna, tun Sie sich das nicht an«, hörte sie Dr. Meyer hinter sich sagen. Doch es war zu spät. Der Anblick brannte sich ihr unauslöschlich ins Gedächtnis ein.
Und plötzlich war es, als würde sich ein tonnenschweres Gewicht auf ihre Brust senken. Ein klagender Laut entfuhr ihr. Hastig schlug sie die Hand auf den Mund, um ihn zu ersticken. Ihre Knie wurden weich, während sich der Rest ihres Körpers verkrampfte. Wie eine Ertrinkende schnappte sie nach Luft.
»Schwester Hanna?«, hörte sie die sorgenvolle Stimme von Dr. Meyer, doch alles wirkte auf einmal weit weg. Ihr Gesichtsfeld zog sich langsam zusammen, die Welt verschwamm an den Rändern. Ihr Herz pochte wie wild, ihr ganzer Körper begann zu zittern. Sie spürte, wie ihre Beine nachgaben. Jetzt sterbe ich, dachte sie, dann wurde ihr schwarz vor Augen.
»Es war der 29. Dezember 1919, ein kalter Wintertag, an dem Dr. Conradi und seine Gattin nebst Bruder H. F. Schubert, Bruder Stahl und Schwester Maria Kuch im ›Waldsanatorium‹in Berlin-Zehlendorf-West anlangten, um das Haus für die Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten zu übernehmen, das nunmehr den Namen ›Sanatorium und Klinik Waldfriede‹ tragen sollte.«
»Ergab die oberflächliche Besichtigung des Sanatoriums auch ein leidlich befriedigendes Ergebnis, so stellte sich doch bald heraus, dass die Anstalt, die während des Krieges als Lazarett gedient hatte, stark verwohnt war und einer gründlichen Überholung bedurfte.«
(Chronik des Krankenhauses Waldfriede, 1920)
»Ja, selbst als der Kaufvertrag bereits unterzeichnet war, drohten Intrigen aller Art und selbst Beschlagnahme durch Behörden zur Unterbringung von Flüchtlingen. Es war, als ob sich alles gegen das Zustandekommen der in Aussicht genommenen Anstalt für unsere Gemeinschaft verschworen hatte …«
(Aus den Erinnerungen von Dr. Louis Eugene Conradi, 1920)
Friedensau, 1. Dezember 1919
Seit einer halben Stunde berieten sie nun schon. Unruhig rutschte Hanna auf dem Stuhl herum. Sie war sich nicht sicher, was sie hier sollte, fürchtete jedoch, dass der Grund, aus dem die Oberin noch immer mit Dr. Meyer zusammensaß, kein guter war.
Wahrscheinlich wollen sie mich entlassen oder zumindest versetzen, dachte sie und rieb sich bang die Hände. In ihrem Magen wühlte die Angst, ihre Füße waren kalt. Kein Wunder bei dem eisigen Wind, der durch den Gang wehte. Aber es waren nicht allein die Temperaturen, die sie erschauern ließen.
Seit jener schrecklichen Nacht, in der Martin gestorben war, fiel es ihr immer schwerer, Patienten zu pflegen. Eine Zeit lang hatte sie es auf ihre Trauer geschoben, doch selbst als ein Jahr herum war, blieb ein Schatten in ihr, der ihre Arbeit mehr und mehr trübte. Handgriffe, die ihr früher nichts ausgemacht hatten, wurden mit jedem Tag zu einer immer größeren Belastung.
Seit Kriegsende war Friedensau kein Lazarett mehr, sondern nur noch ein reines Sanatorium. Das bewahrte sie allerdings nicht davor, sich weiterhin um an Leib und Seele versehrte Männer kümmern zu müssen.
Als sie eines Tages an das Bett eines Soldaten trat, dem man Erholung in ihrem Haus verordnet hatte, tauchte plötzlich wieder Martin vor ihrem inneren Auge auf, wie er verstümmelt und nach Luft ringend im Krankenbett lag.
Der Patient hatte nicht einmal Ähnlichkeit mit ihrem Verlobten, trotzdem begann ihr Herz zu rasen, und sie bekam Atemnot. Ihre Ohren rauschten, dann fiel sie, genau wie in Martins Todesnacht, an seinem Krankenbett in Ohnmacht.
In der darauffolgenden Zeit häuften sich Vorfälle wie dieser. Dr. Meyer hatte sie untersucht und kein körperliches Leiden gefunden, doch am Tag danach war sie wieder zusammengebrochen, als sie sich um den Soldaten kümmern sollte.
Die Oberin sprach von Hysterie, Dr. Meyer erkannte, dass ihre Seele unter dem Trauma des Verlusts litt. Ihm war es zu verdanken, dass sie von den Versehrten ferngehalten wurde.
Doch konnte das auf Dauer so weitergehen? Was taugte eine Krankenschwester, die nicht jeden Kranken pflegen konnte? Manche Kolleginnen tuschelten bereits hinter ihrem Rücken und behaupteten, dass sie sich nur vor der Arbeit mit den Soldaten drücken wollte.
Ihre einzige Stütze war ihre jüngere Schwester Leni, die sie an schwierigen Tagen in den Arm nahm und tröstete. Mit Leni konnte sie über ihre Ängste reden, ohne fürchten zu müssen, dass sie sie für verrückt hielt.
Weitere Minuten verstrichen. Schließlich hielt Hanna es nicht länger aus, stand auf und schlich zur Tür. Kurz vergewisserte sie sich, dass niemand in der Nähe war, dann drückte sie das Ohr ans Holz.
»Sind Sie sicher?«, fragte die Oberin gerade. »Sie wird auch in Ihrem Haus mit Versehrten zu tun bekommen. Was, wenn sie auch vor ihnen zurückschreckt?«
Hanna biss sich auf die Lippe. Genau das hatte sie befürchtet. Doch was bedeutete »in Ihrem Haus«?
Was Dr. Meyer entgegnete, verstand sie nicht. Er redete stets sehr leise, und man musste gut aufpassen, wenn er eine Anweisung gab.
»Dann holen Sie sie mal herein«, vernahm sie eine dunkle Stimme, die nicht Dr. Meyer gehörte.
Eilig zog sich Hanna zurück und setzte sich wieder auf den Stuhl gegenüber der Tür. Im nächsten Augenblick erschien Oberin Sickesz’ Gesicht im Türspalt. Ihre Züge waren hart, ihre Augen wachsam und ihr Verstand so scharf wie die gefalteten Kanten ihrer Haube, die auf dem grau melierten Haar saß.
»Du kannst reinkommen, Hanna«, sagte sie streng und öffnete die Tür.
Hanna stand auf, straffte die Schultern, strich ihre Schürze glatt und trat ein.
»Guten Morgen«, grüßte sie und machte einen kleinen Knicks.
Dr. Meyer brummte etwas und nickte. Im Sessel neben ihm sah sie Dr. Conradi.
»Guten Tag, Schwester Hanna«, sagte er, erhob sich und streckte ihr die Hand entgegen. »Ich freue mich, Sie zu sehen.«
Sie war ein paarmal an ihm vorbeigelaufen, wenn er im Operationssaal zu tun hatte. Er war Mitte dreißig, hatte braunes Haar und überragte sie um gut einen Kopf. Der Schnurrbart über seinen vollen Lippen stand ihm hervorragend. Seine braunen Augen blickten sie überraschend herzlich an.
»Ich mich auch«, gab sie zögerlich zurück und wunderte sich darüber, dass er sie bei den wenigen Begegnungen überhaupt wahrgenommen hatte. Schließlich war sie nur eine Schwester von vielen.
»Setz dich«, sagte die Oberin.
Hanna nahm auf dem zweiten Sessel vor dem Schreibtisch Platz und faltete sittsam die Hände im Schoß. Mittlerweile fühlten sie sich wie Eiszapfen an. Wie peinlich zu wissen, was die Oberin Dr. Conradi alles über sie erzählt hatte!
Erst jetzt bemerkte sie, dass der jüngere Arzt einige Papiere vor sich liegen hatte. Hanna erkannte ihren Namen und wusste, dass es sich um ihre Akte handelte, in die all ihre Verdienste, aber auch all ihre Verfehlungen eingetragen wurden.
»Sie stammen aus Magdeburg?«, begann Dr. Conradi. »Geboren am 10. Juli 1895.«
Hanna nickte.
»Seit wann sind Sie in Friedensau?«
Das hätte er eigentlich meiner Akte entnehmen können, ging es ihr durch den Sinn, doch laut antwortete sie: »Seit 1913.«
»Dann sind Sie hier ausgebildet worden?«
»Ja, Herr Doktor.« Hannas Gedanken wanderten kurz zurück zu ihrem ersten Tag im Sanatorium. Als Stadtkind war ihr die Gegend ein wenig karg und trübe vorgekommen, doch nach einer Weile hatte sie die Vorzüge ländlicher Ruhe zu schätzen gelernt.
Und da war Martin gewesen. Ein Jahr jünger als sie, aber bereits groß und breitschultrig wie sein Vater. Sie hatte in ihm zunächst nur den Hausmeistersohn gesehen. Zwei Jahre später hatte er begonnen, sie vorsichtig zu umwerben.
Zu Kriegsbeginn hatte er nicht zu den Leichtsinnigen gehört, die mit wehenden Fahnen für den Kaiser in den Krieg gezogen waren. Aber dann, im Jahr 1916, hatte man ihn eingezogen.
Hanna schloss kurz die Augen, um den Gedanken zu vertreiben. Als sie sie wieder öffnete, warf Dr. Conradi gerade einen Blick auf die Papiere, dann sah er sie erneut an und sagte: »Ich habe gehört, Sie interessieren sich für Technik.«
Hanna wurde rot und blickte zu Dr. Meyer. Der saß mit vor der Brust verschränkten Armen da, ohne eine Miene zu verziehen.
»Mein … mein Verlobter war der Sohn des Hausmeisters. Er hat seinem Vater in der Werkstatt geholfen und mir ein paar Dinge gezeigt …« Sie brach ab, überlegte kurz, dann fügte sie hinzu: »Aber ja, ich interessiere mich für Technik.«
»Sie hat manchmal kleine Reparaturen in den Patientenzimmern vorgenommen, wenn der Hausmeister nicht abkömmlich war«, brachte die Oberin an.
Das war damals, als Martin fort war und seinen kränkelnden Vater nicht mehr unterstützen konnte. Wilhelm Bergau hatte der Tod seines Sohnes derart mitgenommen, dass sich seine Krankheit rapide verschlechterte und er ihm nur drei Monate später ins Grab folgte.
Dr. Conradi lächelte sie an. »Sie haben vielleicht schon gehört, dass wir ein Krankenhaus gekauft haben. In Zehlendorf, das liegt in der Nähe von Berlin.«
Hanna hatte von dem neuen Krankenhaus gehört. Aufgrund seiner Lage nahe der Hauptstadt würde es dem Sanatorium in Friedensau gewiss den Rang ablaufen.
»Wären Sie denn interessiert, zu uns zu kommen?«, fragte Dr. Conradi. »Wir benötigen eine Schwester, die sich nicht vor technischen Geräten scheut«, führte er weiter aus. »Würden Sie einen Röntgenkurs belegen?«
Aus einem ersten Impuls heraus hätte Hanna beinahe abgelehnt.
»Diese Strahlen sind gefährlich«, hatte eine ältere Schwester behauptet. »Möglicherweise kann man dann keine Kinder mehr bekommen.«
Welche Kinder?, dachte Hanna bitter. Martin ist tot, und ich werde nie heiraten. Da ist es wohl egal. Außerdem wäre das die Gelegenheit, den Blicken und dem Getuschel zu entfliehen.
Sie blickte in Dr. Conradis erwartungsvolles Gesicht.
»Sie werden nicht nur für die Aufnahmen bei den Patienten zuständig sein«, erklärte dieser, »Sie müssen auch die Filme entwickeln und zudem leichte Schlosserarbeiten übernehmen. Fühlen Sie sich dem gewachsen?«
Hanna zögerte. Mit Dr. Conradis Angebot tat sich eine große Chance für sie auf. Röntgenapparat, Schlosserarbeiten … das klang gut. Dann brauchte sie nicht mehr an die Betten zu treten, nicht mehr die Stümpfe der Verstümmelten einzureiben. Nicht mehr das Schreien der körperlich und seelisch versehrten Männer zu hören …
»Sie dürfen natürlich eine Weile überlegen«, fuhr Conradi fort. »Wenn Sie sich dafür entscheiden, für mich zu arbeiten, müssten Sie spätestens Anfang Februar in Zehlendorf anfangen.«
Hanna blickte zu Dr. Meyer und Oberin Sickesz. Die Miene der Oberin war unbewegt, auch Dr. Meyer hatte seine Haltung nicht verändert.
Dr. Conradi lächelte sie freundlich an. Er wirkte so viel angenehmer als jeder andere Arzt, mit dem sie es bisher zu tun hatte. Sie erwiderte sein Lächeln und antwortete entschlossen: »Ich brauche keine Bedenkzeit. Ich sage Ihnen zu. Und ich belege auch gern den Röntgenkurs.«
***
Eine halbe Stunde nach dem Gespräch im Sanatorium machte sich Louis Conradi auf den Weg zum Magdeburger Bahnhof. Er hatte die Einladung von Dr. Meyer zum Mittagessen ausgeschlagen, denn er musste unbedingt seinen Zug nach Berlin erwischen.
Der Fahrer des Sanatoriums lenkte das hauseigene Automobil auf einem holprigen Feldweg an der alten Klappermühle vorbei, dem Wahrzeichen Friedensaus, dann bog er auf die Landstraße ein. Dreißig Kilometer lagen vor ihnen, und der Wagen war nicht mehr der schnellste.
Ein Lächeln lag auf Louis’ Gesicht, als er an das Gespräch mit Dr. Meyer, der Oberin und Hanna Richter zurückdachte.
Er hatte seine neue Röntgenschwester hin und wieder durch die Gänge eilen sehen, aber gesprochen hatte er zuvor noch nie mit ihr. Als Dr. Meyer mit der Bitte auf ihn zukam, eine Schwester zu übernehmen, die angesichts von bestimmten männlichen Patienten die Nerven verlor, hätte er nicht gedacht, dass es um sie ging. Hanna Richter wirkte kompetent und keineswegs wie ein scheues Reh. Laut Erich Meyer war sie ein freundliches Mädel, neugierig und gelehrig, nur manchmal ein wenig eigensinnig, was in seinen Augen keine nachteilige Eigenschaft darstellte. Aber wer konnte schon in die Köpfe der Menschen blicken? Jedenfalls bot sie einen hübschen Anblick: schlank, mit feinen Zügen, einer kleinen Nase, dunkelblonden, leicht störrischen Locken und blauen Augen. Ihre Nerven würden in seinem Haus hoffentlich an Stärke gewinnen.
Als der Fahrer schließlich vor dem Magdeburger Bahnhof hielt, bedankte sich Louis, steckte dem Mann ein paar Münzen zu und stieg aus. Eine kühle Brise erfasste ihn. Seit Tagen fiel die Temperatur beständig. Würden sie Schnee bekommen?
Außer ihm waren nur wenige andere Passagiere am Gleis. Er rieb sich die Hände, blies seinen warmen Atem hinein und schaute auf die runde Uhr an einem der Tragbalken des Bahnhofsdachs. Kurz vor halb elf. Wenn sich der Zug nicht sonderlich verspätete, dürfte er rechtzeitig zum Innenministerium kommen.
Mittlerweile war mehr als ein Jahr vergangen, seit er sich mit Dr. Meyer und Heinrich Schubert vom Ostdeutschen Verband auf die Suche nach einem passenden Gebäude für ihr Vorhaben gemacht hatte. Wenn er schon nicht die Chance bekam, als Missionsarzt nach Afrika zu gehen, wollte er wenigstens die Möglichkeit nutzen, die ihm die Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten geboten hatte: ein Krankenhaus zu errichten, in dem nach christlichen Regeln gelebt und gearbeitet wurde.
»Es ist an der Zeit für dich, mein Sohn«, hatte er wieder die dunkle, strenge Stimme seines Vaters im Ohr. »Ein eigenes Haus ist deinen Fähigkeiten angemessen. Außerdem brauchen wir Adventisten ein großes Hospital in Deutschland. Enttäusche mich nicht.«
Die Suche hatte sich von Anfang an schwierig gestaltet. Es gab nur wenige Häuser, die für eine Klinik geeignet waren. Die meisten waren entweder zu weit weg von einer Großstadt oder zu heruntergekommen.
Das Waldsanatorium von Valerie Ziegelroth, in Zehlendorf gelegen, war der erste Lichtblick gewesen. Es bot alles, was er sich wünschte: eine gute Anbindung an den Verkehr, die direkte Nähe zu Berlin, gleichzeitig unberührte Natur in der Nähe. Mit der Krummen Lanke gab es in der Nachbarschaft sogar einen See, um den die Patienten flanieren konnten.
Doch Frau Ziegelroths Preisvorstellungen waren unverschämt gewesen. Siebenhundertdreißigtausend Mark für ein Sanatorium, das durch die Nutzung als Kriegslazarett verschlissen war. Dr. Hauffe, der es im Auftrag von Frau Ziegelroth mehr schlecht als recht führte, würde es nicht halten können.
Conradi hatte gespürt, dass man einen Dummen suchte, dem man das Geld aus der Tasche ziehen konnte. Gleichzeitig hatte ihn der Anblick des Hauses zutiefst berührt. Vor seinem geistigen Auge erschien bereits, was daraus werden könnte.
Meyer und er hatten versucht zu verhandeln. Doch der Prokurist, ein kleiner Mann mit Kneifer auf der Nase, war starrköpfig, ebenso wie die Frau, die er vertrat. Die Verhandlungen wurden eingestellt. Conradi war die Aufgabe zugefallen, das Scheitern dem Ostdeutschen Verband mitzuteilen.
Dessen Büro hatte er gerade verlassen, als auf dem Potsdamer Bahnhof eine junge Frau auftauchte. Sie war die Sekretärin von Heinrich Schubert, mit dem er kurz zuvor noch gesprochen hatte. »Dieses Telegramm ist eben gekommen«, erklärte sie völlig abgehetzt, während sie ihm einen Umschlag reichte. »Herr Schubert hofft, dass ich Sie noch erwische, bevor Ihr Zug kommt.«
Louis öffnete das Telegramm.
+++ BITTENUMWEITEREVERHANDLUNGEN +++ MÜSSENVERKAUFEN! +++
Unterzeichnet war es vom Prokuristen des Ziegelrothschen Sanatoriums. Damals hatte er sein Glück kaum fassen können. Das Ziel war greifbar nah!
Doch nun, etwas mehr als ein Jahr später, war diese Vorladung des Innenministeriums gekommen. Was wollte man von ihm?
Das Pfeifen des Zehn-Uhr-dreißig-Zuges riss ihn aus seinen Gedanken. Wenig später schob sich das Ungetüm über die Gleise und kam mit einem schwerfälligen Schnaufen zum Stehen. Wie Nebel waberte der Dampf über das Gleis, als Louis Conradi in den Waggon einstieg.
Am Nachmittag klarte es ein wenig auf. Golden leuchtete die Sonne, die um diese Jahreszeit viel zu schnell versank, in den Fenstern des Innenministeriums.
Louis beeilte sich, die Stufen hinaufzukommen. Unterwegs war der Zug aufgehalten worden, und für einen Moment hatte er schon gefürchtet, er würde zu spät kommen. Doch nun war er endlich hier.
Sein Magen schmerzte vor Aufregung, aber er wusste, dass er sich nichts anmerken lassen durfte. Ministerien waren Haifischbecken, da musste man sehen, dass man nicht zu tief ins Wasser geriet und gegen alles gewappnet war.
In der ersten Etage angekommen, meldete er sich im Sekretariat des Ministerialbeamten Gunter Wiedemann, der das Ressort Gesundheit verantwortete. Als er in dessen Büro gerufen wurde, sah er, dass Wiedemann nicht allein war. Zwei weitere Herren waren ebenfalls anwesend, ein älterer mit weißem Bart und ein Mann in seinem Alter mit akkurat gezwirbeltem, rotblondem Kaiser-Wilhelm-Bart. Der jüngere namens Joachim Feldten stellte sich als Anwalt im Dienste des Ministeriums vor, der ältere, Johann Veit, als Vertreter des Bürgermeisters von Zehlendorf.
Wiedemann selbst hatte eine Glatze und einen etwas speckigen Nacken, der über den Kragen quoll.
»Sie sind also Dr. Conradi, der neue angehende Klinikleiter.« Der Ministerialbeamte kam lächelnd auf ihn zu, doch Louis war der abschätzige Unterton nicht entgangen.
»Das bin ich«, antwortete er und war einmal mehr froh darüber, dass der Kaufvertrag für das Haus mittlerweile rechtskräftig gesiegelt war.
»Nun, da haben Sie einen guten Fang gemacht. Das alte Sanatorium ist wirklich schön. Es hat sicher noch andere Interessenten gegeben.«
»Worauf wollen Sie hinaus?«, fragte Louis und blickte zu den anderen Herren, die ihn genau musterten.
»Sie wissen ja, dass wir derzeit viele Flüchtlinge aus den französischen Grenzgebieten in die Stadt bekommen. Das Sanatorium hätte ihnen gut als Heim dienen können.«
Louis wollte gerade richtigstellen, dass es außer ihm keine Interessenten gegeben hatte, als Wiedemann auch schon fortfuhr: »Aber Sie haben es klug angestellt und einen Kaufvertrag geschlossen.«
»Das entspricht dem üblichen Prozedere.«
Wiedemann ließ sich Zeit mit einer Erwiderung. Die anderen beiden Herren sagten nichts. Er faltete die Hände auf der Tischplatte, über einem Dokument, das auffällig Louis’ Kaufvertrag ähnelte.
»Sie gehören den Adventisten an, nicht wahr?«
»Ja.« Conradi konnte seinen Unmut kaum noch zügeln. Was wollte dieser Wiedemann von ihm?
»Ich habe mir sagen lassen, dass Sie den Samstag als Sabbat feiern. Handelt es sich bei Ihrer …« Louis sah ihm deutlich an, dass er nach einem Begriff suchte, der keinen Affront auslöste, »… Ihrer Gemeinschaft«, fuhr der Beamte schließlich fort. »Handelt es sich um eine Abspaltung des Judentums?«
Louis ballte die Fäuste, bis ein leises Knacken ertönte. Jedem anderen hätte er die Meinung gegeigt, doch hier war mehr Feingefühl angebracht, wollte er nicht enteignet werden. Wer konnte schon sagen, was in dieser jungen Republik an neuen Verordnungen geschaffen werden würde?
»Nein. Wir sind eine christliche Gemeinschaft. Wir unterscheiden uns von der Evangelischen Landeskirche darin, dass wir den Samstag als Ruhetag heiligen und nicht den Sonntag.«
»Wie es die Juden auch tun.«
»Wie es in der Bibel steht!« Louis’ Stimme wurde energischer. Wer war dieser Mann, dass er ihm von Gottes Gesetz erzählen wollte!
»Aber Sie sind eher ein Verein als eine Kirche«, setzte Wiedemann nach. Der jüngere Mann neben ihm stieß ein spöttisches Lachen aus.
Louis ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Das liegt an unserer bislang noch geringen Mitgliederstärke. Wir leben nach den Regeln Gottes und der Bibel. Daran gibt es nichts zu rütteln.«
»Und in diesem Geist wollen Sie auch das Krankenhaus führen?«
»Wir führen es im Geiste der Nächstenliebe!«, erklärte er mit Nachdruck. »Und nach den neuesten Erkenntnissen der Wissenschaft. Darin unterscheiden wir uns nicht von katholischen oder anderen evangelischen Häusern. Außerdem spielt die Religion bei der Behandlung der Patienten keine Rolle für uns. Wir helfen jedem Menschen, egal, welcher Anschauung und welchen Glaubens er ist.«
Wiedemann blickte auf das Blatt unter seinen Händen.
»Es ist an und für sich ein kleiner Skandal, dass Frau Ziegelroth dem Amt Zehlendorf nicht das Vorkaufsrecht gewährt hat. Wir können es uns nicht leisten, ein Gebäude wie dieses verkommen zu lassen.«
Vater im Himmel, hilf mir, ruhig zu bleiben, dachte Conradi.
»Mit Verlaub, aber das Haus stand sehr lange zum Verkauf, und es gab keine anderen Bewerber. Das Amt Zehlendorf hätte es nicht zum Preis von siebenhundertdreißigtausend Mark gekauft, oder?« Louis sah den Ministerialbeamten scharf an. Der wich seinem Blick aus. »Ich habe keineswegs vor, dieses Gebäude verkommen zu lassen. Derzeit ist dort noch Dr. Hauffe tätig, doch sobald er das Waldsanatorium geräumt hat, werden wir es in Besitz nehmen und mit dem Aufbau beginnen. Die Baupläne sind bereits erstellt. Wenn ich gewusst hätte, in welcher Angelegenheit Sie mich sprechen wollen, hätte ich sie mitgebracht!«
Die Stille, die seinen Worten folgte, war durchdringend.
»Zwei Jahre«, sagte Wiedemann schließlich. »Sie haben zwei Jahre, um das Haus zum Laufen zu bringen.«
Louis schüttelte den Kopf. So etwas hatte er ja noch nie gehört!
»Es ist unser Recht, Gebäude zu enteignen, die unserer Meinung nach einen größeren Nutzen fürs Gemeinwohl bringen könnten«, fügte der Ministerialbeamte hinzu. »Ich verstehe, dass aufgrund der schlechten Wirtschaftslage ein Jahr zu kurz wäre, aber zwei Jahre sollten genügen.«
Louis starrte auf den Hut in seinen Händen. Die Machtlosigkeit, die ihn ergriff, war kaum zu ertragen, doch er wusste, dass er Stärke zeigen musste. »Ich habe verstanden«, sagte er. Seine Stimme klang erstaunlich fest. »Und ich versichere Ihnen, dass wir das Haus im kommenden Jahr eröffnen werden.«
»Es geht nicht nur um die Eröffnung, sondern auch um die Bilanz.«
»Auch diese wird stimmen.« Louis erhob sich. Wiedemann hatte seinen Standpunkt klargemacht, er wusste nun, woran er war. »Wenn Sie mich nun entschuldigen würden? Mein Zug fährt in einer knappen Stunde. Alles Weitere können wir gern schriftlich erörtern.«
Er nickte den beiden stummen Beisitzern zu, dann verabschiedete er sich und verließ das Haus.
Draußen atmete er tief durch und wischte sich übers Gesicht. Was bildete sich dieser Wiedemann ein? Und was hatte der Zehlendorfer dort zu suchen? War ihm plötzlich eingefallen, dass das alte Sanatorium doch etwas wert war? Wollte er es sich deshalb unter den Nagel reißen? Flüchtlinge! Soweit er informiert war, gab es nicht viele davon in Berlin. Wiedemanns Behauptung war ganz klar ein Vorwand, vermutlich, um günstig oder gar umsonst an das Gebäude zu kommen.
Auf der Treppe vor dem Gebäude blieb Louis kurz stehen. Ihm war schwindelig, sein Herz raste.
Die Sonne war hinter dem Horizont verschwunden, nur ein schmaler Streifen Rot leuchtete über den Hausdächern. Louis blickte hinauf zum Himmel, wo die ersten Sterne zu leuchten begannen.
Wir werden es schaffen, sagte er sich. Wir werden eines der besten Krankenhäuser rings um Berlin aufbauen, und dann kann sich dieser Wiedemann seine Enteignungspläne an den Hut stecken!
Und plötzlich wusste Conradi auch genau, welchen Namen seine Klinik tragen sollte: Waldfriede.
Friedensau, 9. Februar 1920
Die Abendsonne senkte sich bereits dem Horizont entgegen, als Hanna zu der kleinen Werkstatt lief, die seit Martins Tod verschlossen geblieben war. Der jetzige Hausmeister hatte es vorgezogen, sich in einem der neueren Nebengebäude niederzulassen, wodurch dieser Ort immer noch war wie damals, als ihr Verlobter hier noch seinem Vater zur Hand ging.
Außer ihm kannte nur sie das Versteck des Zweitschlüssels. Hanna bückte sich, lockerte einen Stein in der Mauer und zog ihn heraus. Dann setzte sie den Stein wieder an seine Stelle und schloss auf. Vorsichtig öffnete sie die Tür.
Alles war noch so wie in dem Jahr, als Martin in den Krieg gezogen war. Da hing sein Kittel, den er bei der Arbeit getragen hatte, da standen seine Arbeitsschuhe. Wenn ihr im Sanatorium alles zu viel oder sie wieder von Panik überfallen wurde, zog sich Hanna an diesen Ort zurück und spürte ihm nach, seiner Wärme, seinen Worten. Den Träumen, die sie miteinander gesponnen hatten.
Diesmal setzte sie sich nicht auf seinen Schemel, und sie vergrub auch nicht wie sonst das Gesicht in seinem Kittel. Stattdessen tastete sie über das oberste Brett des Spindes und zog das Notizbuch hervor, das Martin dort zwischen Gebrauchsanweisungen und Dokumenten gelagert hatte. Es war abgegriffen, der Schnitt mit Fingerabdrücken übersät. Mitten in der Arbeit hatte Martin manchmal danach gegriffen, um eine Idee zu notieren. Dabei war es ihm egal gewesen, ob er gerade Öl oder Schmutz an den Händen hatte.
Hanna betrachtete die verfärbten Papierkanten und strich über die Abdrücke. Martins Spuren. Das Einzige, was neben ihren Erinnerungen von ihm bleiben würde. Für immer. Sie würde sein Notizbuch mitnehmen nach Zehlendorf, als Andenken an die Zeit mit ihm.
Mit Tränen in den Augen presste sie das Büchlein an ihre Brust. Konstruktionszeichnungen befanden sich darin, Erfindungen, die nun nicht mehr gebaut werden würden. Martin hatte von einem Leben als Ingenieur geträumt. Die Krankenpflege war für ihn nur eine Zwischenstation gewesen. Er wollte dafür sorgen, dass die Arbeit der Ärzte und Schwestern in den Hospitälern leichter wurde. Damit auch Hanna es leichter hatte.
Zitternd atmete Hanna durch. Ihre Knie fühlten sich weich an, aber sie wollte sich ihrem Schmerz nicht ergeben. Stattdessen wollte sie Martin noch einmal besuchen, um sich von ihm zu verabschieden.
Das Büchlein in der Hand, lief sie zu dem kleinen Friedhof, der sich ebenfalls auf dem Grundstück des Sanatoriums befand. Sie passierte die alte Klappermühle und erreichte wenig später den eingezäunten Gottesacker. Er war den Verstorbenen ihrer Gemeinschaft vorbehalten. Seit der Eröffnung des Sanatoriums im Jahre 1901 hatten hier einige Schwestern, Pfleger und andere Mitarbeiter ihre letzte Ruhe gefunden.
Die Reihen der Gräber mit den identischen Holzkreuzen hatten sich durch den Krieg vervielfacht, doch Hanna hätte Martins Grab nicht mal mit verbundenen Augen verfehlt.
Eisiger Wind spielte mit ihren Haarsträhnen, als sie vor dem Grabhügel haltmachte und ein kleines Gebet sprach. Anschließend öffnete sie die Augen und schaute auf das Kreuz mit seinem Namen und den kleinen Strauß aus Fichte und Stechpalmenzweigen, den sie ihm zum Jahreswechsel gebracht hatte. Die Blätter wirkten schon etwas trocken, und einige der Nadeln waren abgefallen, aber die Beeren leuchteten unvermindert in hellem Rot.
Sie zögerte, wie immer, wenn sie vor seinem Grab stand. Der Pastor behauptete, der Tod wäre wie ein Schlaf, aus dem man bei der Auferstehung in einem neuen, unversehrten Körper erwachte.
Was brachte es, wenn sie Martin von ihrem Leben erzählte? Wäre es nicht angebrachter, darauf zu warten, dass sie ihn wiedersah?
Nach einer Weile begann sie trotzdem zu sprechen.
»Ich werde nach Zehlendorf gehen. Du erinnerst dich bestimmt nicht an Dr. Conradi, aber er hat mir angeboten, als Röntgenassistentin in dem neuen Krankenhaus zu arbeiten.« Sie machte eine kurze Pause, dann fuhr sie fort: »Du hast einmal gesagt, ich würde eine gute Hausmeisterin abgeben. Das hier ist ähnlich. Ich wünschte, ich könnte dir das Röntgengerät zeigen.«
Tränen liefen über ihre Wangen. Auf einmal fiel es ihr schwer, Martin zurückzulassen.
»Ich werde dein Büchlein mitnehmen, du weißt schon, das mit deinen Erfindungen. Vielleicht werden sie eines Tages Wirklichkeit. Und wenn nicht … dann sind sie bei mir gut aufgehoben.«
Sie wischte sich mit dem Handrücken über das nasse Gesicht.
»Ich liebe dich, Martin, und es tut mir so leid, dass wir nicht heiraten konnten. Ich … ich schäme mich für meine Gedanken, doch inzwischen weiß ich, dass ich dich geheiratet hätte, egal, was der Krieg aus dir gemacht hat … Aber jetzt muss ich nach vorn schauen. Fortgehen. Ich werde dich niemals vergessen.«
Eine Weile stand sie noch schweigend vor dem Grab, derart in Gedanken versunken, dass sie die Welt um sich herum nicht bemerkte. Dann spürte sie plötzlich eine sanfte Berührung an der Hand. Ohne sich umzuwenden, wusste sie, dass Leni neben sie getreten war.
Ein Blick zur Seite bestätigte ihre Vermutung. Ihre Schwester war etwas kleiner als sie und hatte die gleichen störrischen blonden Haare. Doch damit hörten die Ähnlichkeiten auch schon auf. Leni war rundlicher und hatte ein fülligeres Gesicht, während Hannas Züge beinahe schon kantig waren. Außerdem hatte Leni die Nase ihres Vaters geerbt, während Hannas der ihrer Mutter ähnelte.
»Sie suchen dich schon überall«, sagte ihre Schwester leise.
Hanna nickte. »Ich wollte mich nur von ihm verabschieden.«
»Das dachte ich mir, deswegen bin ich hier.« Die Blicke der Schwestern trafen sich. Über ihnen, in der Ferne, stießen ein paar Krähen krächzende Laute aus. »Komm wieder mit rein«, sagte sie. »Es ist Zeit fürs Abendessen, und du musst noch packen.«
Hanna nickte und warf einen letzten Blick auf das Grab. »Kümmerst du dich darum, dass er hin und wieder Blumen bekommt?«, fragte sie.
»Natürlich«, versprach Leni.
Hanna sagte Martin still Lebewohl, dann ließ sie sich von ihrer Schwester ins Haus ziehen.
Nach dem Abendessen begaben sie sich gleich in ihr Zimmer und fingen an, Hannas Sachen zu packen.
Viel an Besitz hatte keine von ihnen, dennoch füllte sich die Teppichstofftasche zusehends.
»Ich wünschte, ich könnte mit dir kommen«, sagte Leni seufzend. »Zehlendorf ist sicher herrlich. Vornehme Villen, elegant gekleidete Menschen. Und dann die Nähe zu Berlin. Das klingt sehr aufregend!«
»Wenn es nach unseren Eltern geht, ist es das Sündenbabel schlechthin«, gab Hanna zu bedenken. Sie wusste, dass ihre Eltern Lenis Ansicht über ihre neue Wirkungsstätte nur bedingt teilten. Sie hatte die beiden kurz nach der Jahreswende noch einmal in Magdeburg besucht. Es war ihnen nicht recht gewesen, dass sie nach Zehlendorf ging, so nah an Berlin, doch sie konnten nichts dagegen tun. Hanna war volljährig und unverheiratet, die Entscheidung lag bei ihr.
»Unsere Eltern waren noch nie dort!«, entgegnete Leni mit einem verträumten Lächeln. »Ich stelle es mir wunderbar vor: die Lichtspielhäuser, die Autos und die Leuchtreklamen …«
»Ich glaube kaum, dass ich viel nach Berlin kommen werde«, sagte Hanna. »Aber wenn, dann werde ich dir auf jeden Fall berichten, was es dort zu sehen gibt.«
»Möglicherweise wird dort irgendwann ein Mann auf dich aufmerksam«, bemerkte Leni und knuffte sie in die Seite. »Vielleicht sogar ein Arzt.«
»Ich werde vorrangig mit Kranken zu tun haben«, bremste Hanna die Begeisterung ihrer Schwester. »Außerdem gibt es im Waldfriede keinen anderen Arzt als Dr. Conradi.« Und außerdem gibt es für mich keinen anderen Mann als Martin, fügte sie in Gedanken hinzu.
»Du glaubst doch wohl nicht, dass Dr. Conradi eine Klinik von der Größe allein betreiben kann!«, hielt Leni dagegen. »Irgendwann wird er Assistenten brauchen. Junge, hoffnungsvolle Mediziner, unverheiratet …«
»Keiner von denen wird wie Martin sein«, gab Hanna steif zurück, während sie sein Notizbuch verstaute. »Nach ihm wird es keinen Mann mehr für mich geben.«
Leni presste die Lippen zusammen, dann trat sie zu Hanna und legte ihr den Arm um die Schultern. »Entschuldige bitte. Ich … ich habe es nur scherzhaft gemeint.«
»Schon gut.« Hanna zwang sich zu einem Lächeln.
»Du wirst bestimmt eine ganz wunderbare Röntgenschwester«, fuhr Leni fort und küsste sie auf die Wange. »Und wenn du mal für ein paar Tage freibekommst, reisen wir beide in die Sommerfrische, ganz allein.«
»Du kommst natürlich zu mir«, sagte Hanna. »Dann fahren wir zum Wannsee und lassen es uns gut gehen.«
»Und bis dahin schreibst du mir?«
»Das mache ich.«
Hanna zog Leni in ihre Arme. Die Eltern loszulassen, fiel ihr nicht schwer, die Trennung von Leni dagegen schmerzte sie doch sehr. Wer wusste schon, wann sie sich wiedersehen würden?
Zehlendorf, 10. Februar 1920
Bei ihrer Ankunft in Zehlendorf am folgenden Abend fand Hanna tatsächlich wundervolle Häuser vor – weiße Villen mit großen Fenstern und weitläufigen Gärten. Menschen in eleganten Kleidern gab es ebenso wenig wie blühende Parks, aber noch herrschte ja der Winter, der Blumen und schöne Kleider unter Schnee und Wollmänteln verbarg.
Hanna hatte gehofft, dass sich das Krankenhaus im Ortskern befinden würde, doch ein Passant, den sie nach dem Weg fragte, schickte sie nach Westen, in Richtung Zehlendorfer Stadtrand.
Nach und nach wurde es immer einsamer. Schon bald waren kaum noch Häuser zu sehen. Vor dem Horizont erhob sich ein dunkler Wald. Die Straße war sandig und ausgefahren wie die Feldwege rings um Friedensau.
Verunsichert blieb Hanna stehen und zog einen Zettel aus der Tasche. »Waldsanatorium, Alsenstraße 97, Zehlendorf« stand darauf. War sie irgendwo falsch abgebogen? Oder hatte man sich einen Scherz mit ihr erlaubt?
Ein Schauer rann über ihren Nacken. Die Nächte konnten empfindlich kalt sein, und sie trug nur ihre Schwesterntracht unter dem Lodenmantel und einen kratzenden Schal um den Hals. Entschlossen schob sie den Zettel in die Tasche und setzte sich wieder in Bewegung, wobei sie ein paar blonde Haarsträhnen zurückstrich, die unter ihrer Haube hervorlugten.
Unter ihren schon etwas ausgetretenen Schuhen knirschte es leise, durch die nahen Bäume pfiff ein eisiger Wind.
Da flammte ein Lichtschein zwischen den Bäumen auf.
Hanna ging geradewegs darauf zu und spürte plötzlich wieder Pflaster unter den Füßen. Wahrscheinlich war sie tatsächlich irgendwo falsch abgebogen.
Im schwindenden Tageslicht erblickte sie schließlich einen Zaun. Dahinter erhob sich ein finster wirkendes Gebäude mit Spitzdach und zahlreichen kleinen Erkern. Das orangefarbene Licht zwischen den Bäumen spiegelte sich in den oberen Fenstern. Wie ein Krankenhaus sah es nicht aus, eher wie eine riesige Villa.
Doch dann bemerkte Hanna das Schild am Torpfosten: »Waldsanatorium Dr. Ziegelroth«. Offenbar war man noch nicht dazu gekommen, das Schild auszutauschen.
Als sie das Tor aufstieß, ertönte ein markerschütterndes Quietschen. Die Angeln mussten unbedingt geölt werden! Ein weiteres Geräusch ließ sie innehalten. Es klang wie Schritte, nur viel schneller. Einen Atemzug später schoss ein Schatten auf sie zu, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Bellen.
Mit einem Aufschrei sprang Hanna zurück. Der stinkende Atem des Tieres schlug ihr entgegen, sein scharfes Gebiss schnappte nach ihrer Hand.
»Aus!«, befahl sie energisch.
Der Hund erstarrte, doch er hörte nicht auf zu knurren und hielt die Augen unverwandt auf Hanna gerichtet, als wollte er sie jeden Augenblick anspringen.
Hannas Mund wurde trocken. Sollte sie sich lieber umdrehen und wegrennen?
»Prinz!«, schallte da eine Männerstimme über den Hof. »Zurück!«
Wenig später tauchte der Mann auf, eine Petroleumlaterne in der Hand.
Der Hund zog sich mit gekrümmtem Buckel in seine Hütte zurück.
Erst jetzt merkte Hanna, dass sie wie Espenlaub zitterte. Der Mann sagte etwas zu ihr, was sie zunächst nicht verstand. Dann erkannte sie das Gesicht von Dr. Conradi. Seine braunen Locken hingen ihm ein wenig wirr ins Gesicht, und sein Schnurrbart wirkte nicht mehr so akkurat geschnitten wie damals im Dezember. Bartstoppeln breiteten sich auf seinem Kinn aus.
»Schwester Hanna?«, wiederholte der Arzt. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Hat der Hund Sie verletzt?«
»Nein, es ist alles in Ordnung, ich bin nur erschrocken.« Hanna legte die rechte Hand auf die Brust und versuchte, sich zu beruhigen.
»Entschuldigen Sie bitte, unser Prinz ist recht diensteifrig«, erklärte Conradi. »Sie haben sich gut gegen ihn behauptet.« Er lächelte sie an.
»Wir hatten zu Hause immer einen Hund. Mein Vater sagte, man müsse Tieren nur die Stirn bieten und dürfe keine Angst zeigen.«
»Und Sie haben keine Angst?«
»Ich habe Respekt«, antwortete Hanna. »Angst hilft einem bei Hunden nicht, die riechen das, und dann ist man geliefert.«
Conradi lachte auf, dann sagte er: »Hier treiben sich ab und zu Leute herum, die ein Auge auf unser Baumaterial geworfen haben. Etliche Male schon haben sie versucht, etwas zu stehlen.«
»Das tut mir leid«, brachte Hanna hervor.
»Nun, kommen Sie doch erst mal rein, Sie müssen ja ganz durchgefroren sein!«
Ohne den Hund aus den Augen zu lassen, folgte sie Dr. Conradi über eine breite Holzplanke, die über die abgehauene Treppe gelegt war, zur Haustür. Bevor sie eintrat, legte Hanna den Kopf in den Nacken und schaute an der Fassade hinauf. Die Wände waren mit Wildem Wein bewachsen, von dem im Moment nur kahle Ranken und ein paar traurige erfrorene Blätter zu sehen waren.
Dr. Conradi führte sie erst durch einen kleinen Vorraum, der früher vermutlich als Aufnahme gedient hatte, dann bogen sie ab in einen finsteren Gang. Die Luft war feucht und kaum wärmer als draußen. Ein muffiger Geruch ging von den Tapeten aus. In der Ferne glomm schwach eine Karbidlampe.
»Momentan kommt es immer wieder zu Streiks, und die Folge ist, dass wir keinen Strom haben«, erklärte der Doktor. »Leider können wir auch nicht heizen, denn die Kondensleitung der Heizung ist marode und muss erneuert werden.«
Martin hätte sie vielleicht reparieren können, schoss es Hanna durch den Kopf, doch sie vertrieb diesen Gedanken rasch wieder.
Der Arzt ging ihr voran in einen kleinen Raum, der ebenfalls von einer Gaslampe erhellt wurde. Hier gab es kaum Möblierung und anstelle eines Ofens nur einen Feuerkorb, in dem eine Flamme über glimmenden Kohlen loderte. Die Leute, die sich darum scharten, waren für sie im ersten Moment nichts weiter als Schatten, doch sobald sich ihre Augen an das dämmrige Licht gewöhnt hatten, erkannte sie zwei Männer und drei Frauen, die sie erwartungsvoll anblickten.
Die ältere, Schwester Maria Kuch, war ebenso wie Hanna Krankenschwester. Sie stammte ursprünglich aus Friedensau, wo sie einander kennengelernt hatten, war dann aber nach Hamburg gegangen. Die strohblonde Frau mit den Sommersprossen auf der Nase musste Conradis Ehefrau Catherine sein. Soweit Hanna wusste, stammte sie aus Skodsborg in Dänemark.
Die dritte im Bunde war ein blasses, brünettes Mädchen mit ausdrucksvollen dunklen Augen, vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Sie musterte Hanna neugierig.
Von den Männern erkannte sie Carl Rohleder. Er war früher einmal Pfleger in Friedensau gewesen, war dann aber nach Greiz in Thüringen gegangen.
Seinen Nebenmann hatte sie zuvor noch nie gesehen.
»Seht, wer zu uns gefunden hat!« Conradi stellte die Laterne auf einem kleinen Tisch ab.
Hanna deutete einen Knicks an. »Guten Abend.«
»Guten Abend, du musst Schwester Hanna sein«, sagte Catherine Conradi mit leichtem Akzent und reichte ihr die Hand. »Wie war deine Reise?«
»Gut, danke«, antwortete Hanna und erwiderte den Händedruck. »Aber der Zug hatte leider sehr viel Verspätung.«
»Ja, die Streiks«, sagte Dr. Conradi, der sich zu seiner Ehefrau gesellt hatte. »Alles brodelt und gärt in den Straßen. Wollen wir hoffen, dass nichts Schlimmeres vom Zaun gebrochen wird.«
Als der Zug durch die Stadt gefahren war, hatte sie Barrikaden gesehen und zwei Männer von irgendwelchen Auseinandersetzungen mit der Polizei reden hören.
»Schwester Maria dürfte dir bekannt sein«, fuhr Frau Conradi fort und blickte zu den beiden Männern. »Genauso wie Pfleger Rohleder. Georg Bridde kennst du noch nicht, oder?«
Hanna schüttelte den Kopf.
»Bruder Bridde wird sich in der ersten Zeit unserer Kontobücher annehmen«, sagte Conradi. »Er kommt aus der Schweiz und hat dort Erfahrungen mit der Buchhaltung gesammelt.«
Der Buchhalter reichte ihr mit einem freundlichen Lächeln die Hand.
Frau Conradi nickte dem unbekannten Mädchen zu. »Und das hier ist Else Rogel. Sie hilft bei den Reinigungsarbeiten.«
Die Angesprochene erhob sich und reichte ihr die Hand. Sie war recht klein, wirkte eher wie ein Kind. Doch der Händedruck war der einer erwachsenen Frau.
»Freut mich, Schwester Hanna«, sagte sie. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Hanna erwiderte es.
»In den nächsten Tagen werden weitere Helferinnen dazustoßen«, fuhr Dr. Conradi fort. »Einige von unseren Mädchen, die hier bereits tätig sind, kommen aus Zehlendorf, es sind die Töchter von Gemeindemitgliedern. Und irgendwann werden wir unsere eigenen Schwestern ausbilden.«
Hanna bemerkte, dass Frau Conradi ihrem Mann einen zweifelnden Blick zuwarf.
»Nimm doch Platz«, sagte sie dann und erhob sich. »Es wird gleich Zeit fürs Essen. Sicher bist du ganz ausgehungert.«
Zusammen mit Else verließ sie den Raum.
»Na, setz dich schon!«, forderte Schwester Maria Hanna auf und deutete auf einen Schemel, der in der Dunkelheit kaum auszumachen war. Hanna ließ sich darauf nieder.
Draußen schlug erneut der Hund an. Alarmiert erhob sich Dr. Conradi, doch das Tier gab sofort wieder Ruhe. Schritte ertönten. Wenig später erschien eine weitere Frau in der Tür.
»Schwester Ida!«, wurde sie von Dr. Conradi begrüßt. »Wie war es in der Stadt?«
»Unruhig«, gab sie zurück, während sie ihren Schal ein wenig lockerte und ein Päckchen auf den Tisch neben der Tür legte. »Die Leute haben den Verstand verloren.«
Schwester Ida streckte die Hände dem Feuer entgegen. Dann bemerkte sie Hanna. »Oh, verzeih, dich habe ich gar nicht gesehen.«
»Das ist Hanna Richter«, stellte Maria sie vor. »Unsere neue Schwester hier am Waldfriede.«
»Freut mich, Hanna«, sagte Ida und reichte ihr die Hand. »Ich bin Ida. Ida Juckel. Ich komme wie Schwester Maria aus Hamburg.«
Hanna erwiderte Idas Lächeln.
Im nächsten Augenblick kehrten Frau Conradi und Else zurück. Else hielt die Lampe, während Frau Conradi das Tablett trug. Darauf standen eine Terrine und einige Schüsseln. Der Geruch von gekochten Möhren und Graupen überlagerte kurz den allgegenwärtigen stockigen Geruch.
»Normalerweise essen wir im Speisesaal, aber am Abend sind wir so eine kleine Gruppe, da bleiben wir vorerst hier, wo es einigermaßen warm ist«, erklärte sie und stellte das Tablett auf einen provisorischen Tisch.
»Ich helfe Ihnen«, sagte Schwester Maria und erhob sich. Sie verteilte die Schüsseln, die Frau Conradi befüllte. Die Wärme des Graupenbreis drang durch die Keramik und vertrieb die Taubheit aus Hannas Fingern.
Sie musste sich zwingen, nicht zu schlingen. Es mochte vielleicht einfacher Graupenbrei sein, aber in diesem Augenblick schmeckte er überaus köstlich. Sie hatte seit Stunden nichts gegessen.
Als der erste Hunger gestillt war, sah sich Hanna erneut in dem dunklen Raum um, doch sie konnte noch immer kaum etwas erkennen.
»Du wirst dir das Zimmer mit Schwester Maria und Schwester Ida teilen«, erklärte Conradis Ehefrau, während Else die Schüsseln einsammelte. »Wir haben leider noch nicht viele Räume bewohnbar gemacht, und da unsere Heizung nicht funktioniert, müssen wir uns gegenseitig wärmen.«
»Das ist mir recht, danke«, antwortete Hanna und unterdrückte ein Zähneklappern. Jetzt, wo ihr Magen voll war, kam die Müdigkeit, und auch die Kälte spürte sie jetzt stärker.
»Carl, sei doch bitte so gut und bring unsere neue Schwester zu ihrem Zimmer«, sagte Frau Conradi, dann wandte sie sich wieder an Hanna. »Nimm dir einen Backstein aus der Feuerschale im Keller, damit du es einigermaßen warm im Bett hast.«
Schweigend folgte Hanna dem Pfleger zur Kellertreppe. Auch hier nistete der Muff in allen Ecken, und der Schmutz knirschte unter ihren Schuhen.