Stieg Larssons Erbe - Jan Stocklassa - E-Book

Stieg Larssons Erbe E-Book

Jan Stocklassa

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Beschreibung

Am 28. Februar 1986 wird der schwedische Premierminister Olof Palme in Stockholm auf offener Straße erschossen. Der künftige Autor der Millennium-Trilogie, Stieg Larsson, zu diesem Zeitpunkt noch Illustrator bei der antifaschistischen Zeitung Expo, beginnt intensive Recherchen zu dem Attentat aufzunehmen, das bis heute unaufgeklärt ist. Seine Ermittlungen setzt er über Jahre hinweg fort – bis zu seinem frühen Tod im Jahr 2004. Erst 2014 stößt der Journalist und Dokumentarfilmer Jan Stocklassa auf das persönliche Archiv von Larsson. Er erhält Zugang zu dem Nachlass und entdeckt in zwanzig Pappkartons die privaten Ermittlungen Larssons zum Mordfall Olof Palme. In seinem Buch erzählt Stocklassa die bislang unbekannten Recherchen des Bestsellerautors als eine faszinierende True-Crime- Story.

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JAN STOCKLASSA

TRUE CRIME

Aus dem Schwedischen vonUlrike Brauns

Die schwedische Originalausgabe ist 2018 unter dem Titel »Stieg Larssons arkiv« bei Bokfabriken, Malmö, Schweden, erschienen.

1. eBook-Ausgabe 2018

© 2018 Jan StocklassaFirst published by Bokfabriken, SwedenPublished by arrangement with Nordin Agency AB, Sweden© 2018 Europa Verlag GmbH & Co. KG,Berlin · München · Zürich · WienBildnachweis: Archiv Expo S. 23. Die Auszüge aus Stieg Larssons Briefen und seine Unterschrift sind mit freundlicher Genehmigung von Searchlight Magazine Ltd bzw. Stiftelsen Expo wiedergegeben. In manchen Fällen war es nicht möglich, den Urheber zu ermitteln.Der Verlag bedauert dies.

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur,Zürich, unter Verwendung eines Fotosvon © picture alliance/Scanpix/Jan CollsiööÜbersetzung: Ulrike BraunsRedaktion: Alexandra LöhrLayout & Satz: Robert Gigler, München

Konvertierung: BookwireePub-ISBN: 978-3-95890-249-7

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.www.europa-verlag.com

Für Berra und Marianne, wo immer ihr seid!

INHALT

Vorwort

Prolog

Teil 1 | STIEG

Tag des Mordes

Der Hass

Der Fluchtweg

Sherlock Holmér

Victor

Die Klage des Staatsanwalts

Severin

Tiefer im Archiv

Status quo

Nach Tschernobyl

Alfa-Hans

Stiegs Hinweise 1

Das Warten auf etwas Gutes

Protokoll

Café Severin

Holmér macht Schluss

Nein, nein, ja

Auftrag Olof Palme

1987

Die Sterne richten sich aus

Warnungen über Warnungen

Die Palme-Hasser

Der Mittelsmann

Mittelsmann zwischen was und wem?

Deep Wedin

Gerry

Die extreme Rechte

Operation Blinddarm

Der Große Journalistenpreis

Hans II

Ebbe nimmt Anlauf

Zweifel

Täterprofil

Der passende Mörder

Der Mörder

Trophäe

Viele Jahre, eine Anklage

Südafrika 1996

Kling und Klang in Afrika

Letzte Chance

Stiegs wichtigster Kampf

Eva

Eine neue Aufgabe

Sieben Stockwerke

Stieg ist tot

Teil 2 | AUF STIEGS SPUREN

Rorschach

Space Syntax

Der Palme-Hasser

Die toten Kinder 1

Die toten Kinder 2

Die zweifache Witwe

Der Bibliothekar

Die Analyse

Lisbet 1

Anna-Lena

Lisbet 2

Zum Archiv

OCR

Moscow Mule

GT

Mit dem Mittelsmann

Der Mittelsmann – erster Tag

Der Mittelsmann – zweiter Tag

Der Mittelsmann – dritter Tag

Die Lieferung

Raketen, die nie wiederkehren

The New Yorker

Das Phantombild

Studie des Mordens

Die toten Kinder 3

Die Überschreitung des Rubikon

Das Zentrum der Finsternis

Die Perücke

Die italienische Ausführung

Patsy

Deep state

Cui bono?

Vernommen

Schwedens Retter

Der Entschluss

Jakob und Lída

Jakob – erster Tag

Jakob – zweiter Tag

Das Grab

Zurück zum Tatort

Lost

Alija

»M«

Der Revolver

Epilog

Nachwort

Danksagung

Personenverzeichnis

Angst kriege ich in Schweden. Weißt du, da ist es irgendwie so leer, alle sind betrunken. Und alles funktioniert. Wenn man an einer roten Ampel hält und den Motor nicht ausmacht, bleiben die Leute stehen und sprechen dich darauf an. Geht man zu einem Medizinschränkchen und öffnet es, hängt da ein kleines Schild, auf dem steht: »Wenn Sie Selbstmordgedanken haben, rufen Sie …« Im Fernsehen zeigen sie Ohrenoperationen. Solche Dinge machen mir Angst.

Lou Reed in Blue in the Face – Alles blauer Dunst

VORWORT

Die Welt war mal so einfach. Pluto ist ein Planet. Milch ist gesund. Diesel besser als Benzin. Wer direkt nach dem Essen schwimmen geht, muss mit Krämpfen rechnen und läuft Gefahr, zu ertrinken. Der Mord an Schwedens Ministerpräsident Olof Palme wird nie aufgeklärt werden. Aber alte Wahrheiten werden immer häufiger auf die Probe gestellt, und auch jetzt ist es wieder so weit. Die neue Wahrheit lautet: Der Mord an Olof Palme steht vor der Aufklärung.

Im Jahr 2008 fing für mich alles mit dem Schwedischsten an, was es gibt laut schwedischer Kriminalliteratur: einer ermordeten Frau an einem See in Småland. Ein Fall, der mich auf die Idee brachte, ein Buch über Tatorte zu schreiben. Ein knappes Jahr später zeigte sich, dass die Aufklärung just dieses Mordes ebenfalls sehr schwedisch war. Die Polizei fand heraus, dass es sich bei dem Mörder um einen Elch handelte. Zu jenem Zeitpunkt hatte ich meine ursprüngliche Idee längst über Bord geworfen und befand mich bereits tief in dem Abenteuer, das diesem Buch zugrunde liegt.

Fünf Jahre später fand ich Stieg Larssons vergessenes Archiv und betrat eine Welt, die prall gefüllt schien von Menschen und Geschehnissen direkt aus Stiegs Romanen. Figuren, die so extrem waren wie Lisbeth Salander und Alexander Zalachenko. Nur echt. Mörder und ihre Opfer. Spione, die andere Spione ausspionieren. Ermordete Frauen und Kinder. Gehackte Computer, geheime Mitschnitte, verdeckte Operationen. Und Tode. Viele brutale, plötzliche Tode.

Stieg Larssons Millennium-Trilogie hat sich weltweit mehr als 80 Millionen Mal verkauft, dabei war das Schreiben von Krimis gar nicht seine zentrale Beschäftigung. Er widmete sein gesamtes Leben dem Kampf gegen den sich ausbreitenden Rechtsextremismus. Schon Anfang der 1990er-Jahre warnte er vor der neugegründeten Partei Sverigedemokraterna (Die Schwedendemokraten). Der Partei, die fünfundzwanzig Jahre später eine der stärksten drei Parteien Schwedens ist und die politische Landschaft umgeschrieben hat.

Stiegs anderes großes Projekt waren seine privaten Recherchen zum Mordfall Olof Palme. An seinen Archivunterlagen lässt sich leicht ablesen, dass sein Fokus auf dem Rechtsextremismus lag, aber seine Nachforschungen fast nahtlos in den Palme-Mord übergingen und sich zu konkreten Theorien formten, die er an die Polizei weiterleitete.

Ich habe Stiegs Theorien weiterverfolgt, tiefer gegraben und neue Puzzleteile finden und zuordnen können. Das Bild, das dabei entstand, erklärt nicht nur eine Reihe sonderbarer Umstände des Mordes. Es liefert das Motiv. Ich glaube, ich habe eine gute Vorstellung davon, was vor dem Mord am Abend des 28. Februar 1986 geschah und wer sich am Tatort aufhielt. Ich präsentiere eine mögliche Auflösung, und Sie können anhand der Tatsachen, die ich vorlege, Ihre eigenen Schlüsse ziehen.

Sie halten einen Dokumentarroman in den Händen. Geschrieben wie ein spannendes Abenteuer, aber mit nur einem Anspruch: die Wahrheit wiederzugeben. Knapp dreißig Seiten stammen aus Stiegs Feder – in Form von Briefen oder Notizen. Viele der Dialoge sind Wort für Wort mitgeschrieben, andere sind Dramatisierungen, basierend auf Dokumenten aus Stiegs Archiv und mehr als hundert Interviews. Im Nachwort gehe ich auf das Material ein und darauf, wie ich damit umgegangen bin. Wer sich tiefer einarbeiten will, sollte zu dem tausendseitigen Bericht der Prüfungskommission und einem Buch von Gunnar Wall oder Lars Borgnäs greifen – zwei der führenden Experten auf dem Gebiet des Palme-Mordes. Es gibt Unmengen an Material. Aber ich muss eine Warnung aussprechen: Seien Sie vorsichtig! Der Mordfall Olof Palme ist wie ein hartnäckiger Virus mit hoher Ansteckungsgefahr.

Es hat fast etwas Ironisches, dass es ausgerechnet in Schweden einen unaufgeklärten Mord an einem Ministerpräsidenten gibt. In einem Land, in dem alles vermessen ist und alles erklärt werden kann, gibt es eine offene Wunde, gegen die kein Mittel zu helfen scheint. Aber das wird sich nun ändern.

Der Palme-Mord wird endlich aufgeklärt. Olof Palme wurde nicht von Christer Pettersson ermordet, sagt Krister Petersson, neuer Staatsanwalt und Voruntersuchungsleiter der Palme-Ermittlungen. Und ich stimme ihm zu. Ich bin davon überzeugt, dass Stieg Larssons Recherchen zur Auflösung beitragen werden. Und hoffentlich auch dieses Buch.

Wenn Sie diese Zeilen lesen, hat die Polizei Zugang zu meinen Nachforschungen erhalten und damit die Möglichkeit, maßgebliche Beweise zu finden, die dazu führen können, dass eine Person zur Rechenschaft gezogen wird. Mindestens eine.

In einem oder zwei Jahren lautet die neue Wahrheit hoffentlich so: Der Mordfall Olof Palme ist aufgeklärt.

Jan Stocklassa, September 2018

PROLOG

Stockholm, 20. März 2013

Die Scheibenwischer kämpften gegen den schweren Schnee. Seit ich geparkt hatte, waren nicht mehr als fünfzehn Minuten vergangen, und doch war es dem Schneesturm gelungen, meinen dunkelroten Volvo unter derselben Schneedecke zu verbergen wie den Rest der Umgebung. Die Geräusche waren gedämpft, und der Anblick der wirbelnden Flocken erschwerte die Sicht, obwohl ich wusste, dass ich mich auf dem Parkplatz der flachen Mietlagerhalle befand.

Als ein schwaches Motorgeräusch erklang, wischte ich mit der Hand über die beschlagene Seitenscheibe; ein kleines Rinnsal lief mir die Handkante entlang bis in den Jackenärmel. Ein silberner Kombi hatte rechts neben mir geparkt. Bevor ich den Motor abstellen konnte, hatte sich bereits die Tür des anderen Wagens geöffnet. Der Mann hatte die Kapuze seines Parkas aufgesetzt, das Gesicht hinter einem langen Schal verborgen. Er deutete über mein Auto hinweg zum Eingang. Als ich ihn erreichte, hatte er schon den Türcode eingetippt. Offenbar war es nicht die richtige Kombination, denn der Mann holte sein Handy heraus und rief jemanden an. Die Minuten, die wir dort standen, vergingen so langsam wie ein schwedischer Wahlkampf. Das Archiv lag seit zehn Jahren im Tiefschlaf und schien keinerlei Ambition zu haben, allzu bald daraus erwachen zu wollen. Doch dann glitt die Schiebetür endlich beiseite und ließ uns erst in eine Luftschleuse und dann in einen warmen, trockenen Flur mit starken Leuchtröhren und sich schier endlos aneinanderreihenden Rolltoren aus Blech. Nach der Eiseskälte war es hier fast gemütlich.

So ohne Kapuze, Mütze und Schal erkannte ich, dass es wirklich Daniel Poohl von der Zeitschrift Expo war, der mich hereingelassen hatte. Wir schüttelten uns die Hände und liefen dann den langen Flur entlang, nahmen die Treppe zum ersten Stock und bogen in einen identisch wirkenden Gang, wo Daniel vor einem der Rolltore stehen blieb. Nichts als ein kleines Blechschild mit einer eingestanzten anonymen Ziffernkombination verriet, dass wir angekommen waren. Nichts deutete darauf hin, dass sich hinter diesem Tor ein Schatz verbarg, der den Weg zu etwas unschätzbar Wertvollem weisen würde.

Das Tor rollte sich scheppernd ein, und zum Vorschein kam ein bis zum Bersten gefüllter Raum: Regale reichten vom Boden bis zur Decke, darin Umzugskartons. In der Mitte standen in zwei schmalen Reihen übereinandergestapelte Kartons bis vor unsere Füße. Ich warf einen Blick auf die schmale Seite eines Kartons, dort standen mit dickem Schwarzstift die Worte, die bestätigten, dass ich endlich am Ziel meiner langen Suche angelangt war: Stiegs Archiv.

Zusammen hoben Daniel und ich den obersten Karton herunter. Er hielt den Deckel auf, und ich zog ein paar altmodische braune Hängemappen heraus. Jede Mappe war oben akribisch mit sehr kleiner, leserlicher Handschrift gekennzeichnet. Auf denen in meiner Hand stand: WACL, 33-Jähriger, Resistance International, Südafrika-Spur und Christer Pettersson. Sofort kribbelten meine Finger, als wären die Mappen elektrisch geladen. Allein die Stichpunkte verdeutlichten schon, dass sich die Dokumente, die ich in den Händen hielt, mit dem Mord an Schwedens Ministerpräsidenten Olof Palme beschäftigten.

Es war so viel mehr Material, als ich zu hoffen gewagt hatte, und ich fragte mich, ob ich überhaupt alles durcharbeiten könnte.

Daniel holte mich zurück in die Wirklichkeit. Trotz seiner erst einunddreißig Jahre war er bereits Chefredakteur und Geschäftsführer von Expo und hatte sein Leben dem Kampf gegen Rassismus und Intoleranz gewidmet. Er war zuständig für das Archiv und machte deutlich, dass ohne seine Einwilligung nicht ein Blatt das Gebäude verlassen und ich niemandem verraten durfte, wo sich das Lager befand.

Also musste ich vor Ort lesen, aber es gab keinen Platz auf der Welt, an dem ich lieber gewesen wäre als im fensterlosen Flur dieses Flachbaus, auf einem Umzugskarton sitzend, während draußen ein Schneesturm wütete. Die Zeit war knapp, ich würde nur einen Bruchteil des Materials sichten können, und die Chance, schon irgendwelche Schlussfolgerungen zu Stiegs Gedanken zu ziehen, war minimal.

Hinter mir lag bereits ein langer, holpriger Weg. Ich konnte auf eine Reihe gescheiterter Versuche blicken, den Mord an Olof Palme aufzuklären, für die ich jede freie Sekunde meines Lebens geopfert hatte. Und jetzt hatte mich dieser Weg doch noch vorangebracht und zum vergessenen Archiv eines der bekanntesten Schriftsteller der Welt geführt. Es war einer von wenigen verbliebenen Strohhalmen, nach denen es sich zu greifen lohnte. Stieg war wohl der Ansicht gewesen, dass der südafrikanische Geheimdienst unter Mithilfe schwedischer Rechtsextremisten dahintersteckte. Ich hingegen war davon überzeugt, dass ein Amateur die Tat begangen hatte. Das passte nicht zusammen.

Trotzdem wollte ich dranbleiben. Das Material seines Archivs wirkte viel zu interessant, um es außer Betracht zu lassen. Damals wusste ich noch nicht, dass meine Nachforschungen mich und andere in Gefahr bringen würden, weil wir es mit Extremisten, Geheimagenten, Sündenböcken und Mördern zu tun bekamen.

Stieg hatte einen siebenseitigen Brief an Gerry Gable, den Chefredakteur von Searchlight geschickt, Großbritanniens führender Zeitschrift gegen Rassismus und Vorbild für Expo. Der Brief entstand keine drei Wochen nach dem Mord an Olof Palme.

Stockholm, 20. März 1986

Lieber Gerry, liebe Freunde,

der Mord am schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme ist, um ganz ehrlich zu sein, einer der unglaublichsten und erstaunlichsten Mordfälle, die ich je zu betreuen hatte.

Erstaunlich, weil die Geschichte ständig Haken schlägt und zu verblüffenden neuen Erkenntnissen führt, die bis zum nächsten Redaktionsschluss schon wieder übertrumpft werden. Unglaublich durch das politische Ausmaß und weil zum ersten Mal, soweit ich weiß, ein Staatsoberhaupt ermordet wurde, ohne dass es auch nur die geringste Spur eines Täters gibt. Entsetzlich – Morde sind immer entsetzlich –, weil das Opfer der Ministerpräsident war, ein von den Schweden aufrichtig geliebter und geschätzter Mensch, egal ob man nun Sozialdemokrat war oder (so wie ich selbst) nicht.

Seit in den frühen Morgenstunden des ersten März bei mir das Telefon geklingelt, mein Chefredakteur mir vom Mord erzählt und mich an meinen Schreibtisch abkommandiert hat, herrscht in meiner Welt ein ständiges Chaos. Du kannst dir vermutlich vorstellen, wie dein Leben aussähe, wenn du über den Mord an Frau Thatcher berichten müsstest, deren Mörder ohne jede Spur davongekommen wäre.

Und dazu der Schock. In jenen frühen Samstagmorgenstunden, während sich die Neuigkeit langsam im noch schlafenden Schweden verbreitete, traf ich Menschen, die spontan ihre Häuser verließen, mit blassen und verkniffenen Gesichtern. In der Redaktion sah ich erfahrene Kriminalreporter – Männer und Frauen, die das alles schon so häufig miterlebt hatten –, die mitten im Satz zu tippen aufhörten, sich auf ihre Arme stützten und in Tränen ausbrachen.

Ich selbst weinte an jenem Morgen. Als mich das verzweifelte Gefühl eines Déjà-vus überkam und ich einsehen musste, dass dies schon der zweite Ministerpräsident war, den ich innerhalb von weniger als drei Jahren verlor. Der erste war Maurice Bishop von Grenada – ein Mann, den ich mehr geliebt, respektiert und dem ich mehr getraut habe als den meisten. Nicht schon wieder.

Dann, nachdem sich die Trauer gelegt und Olof Palme unter der Erde war, erkannten die Journalisten mit einem Mal, dass dieser Mordfall ein wahres Kriminalrätsel wie aus dem Lehrbuch ist. Was für eine Story.

Manchmal erinnert die Geschichte mehr an einen temporeichen Roman von Robert Ludlum. An anderen Tagen eher an Agatha Christie, nur um sich schon wieder zu einem Krimi à la Ed McBain zu wandeln, gewürzt mit komödiantischen Elementen, die direkt von Donald Westlake stammen könnten. Die Stellung des Opfers, der politische Winkel, der unbekannte Mörder, die Spekulationen, die Spuren, die ins Nirgendwo führen, die Ankunft und Abfahrt von Staatsoberhäuptern und Königen, die Spuren von Autos, die Gerüchte, die Spinner und die Ich-habe-es-schon-immer-gewusst-Typen, die Telefonate, die anonymen Hinweise, die Festnahme und das Gefühl, dass endlich alle fehlenden Teilchen an ihren Platz fallen – nur um dann doch wieder im Sande zu verlaufen und zu noch größerer Verwirrung zu führen.

Darüber werden noch Bücher geschrieben werden. Für gewöhnlich wird jemand, der ein Staatsoberhaupt ermordet hat, innerhalb der ersten Sekunden oder Minuten nach der Tat gefasst oder getötet. Normalerweise werden die Ermittlungen im selben Moment aufgenommen und abgeschlossen. Nicht so in diesem Fall. Hier haben wir es mit einem Ministerpräsidenten zu tun, der mit seiner Frau zu einem nächtlichen Spaziergang aufbricht, ohne jegliches Sicherheitspersonal im Umkreis mehrerer Kilometer. Und mit einem Mörder, der sich in Luft auflöst.

Wie beginnt man Ermittlungen, wenn man buchstäblich Tausende Verdächtige hat, aber keinen einzigen Anhaltspunkt?

Entschuldige dieses anfängliche Geblubbere. Eigentlich wollte ich das alles gar nicht schreiben. Vielmehr wollte ich mich seit dem Palme-Mord bei dir melden. Ich habe sicher acht oder neun Briefe an dich angefangen, aber keinen einzigen zu Ende gebracht. Warum? Ganz einfach, weil jedes Mal, bevor ich ihn abschließen konnte, etwas Neues, Überraschendes aufgedeckt wurde, das die Story wieder in eine neue Richtung trieb. Deshalb muss ich ständig zerreißen, was ich schon zu Papier gebracht habe, und von vorn beginnen.

Dieser Brief ist also kein Artikel, sondern eher ein Versuch, dich über das zu informieren, was im Zusammenhang mit diesem Mord Fakt und was Fiktion ist. Nachdem ich nun seit drei Wochen ununterbrochen damit beschäftigt bin, habe ich das große Problem, die nötige Distanz zu dem Thema aufzubringen. Und da die Ermittlungen heute Nacht offenbar endgültig in eine Sackgasse geführt haben, ist dieser Brief wohl eher ein Weg, meine Gedanken zu ordnen und die Geschichte zusammenzufassen. Falls du in der nächsten Ausgabe etwas über den Mordfall schreiben willst, kann dir diese Zusammenfassung vielleicht von Nutzen sein. Ich werde versuchen, nur Relevantes zu berücksichtigen.

Zunächst: Was ist passiert und was wissen wir über den Mord?

Wenige Minuten nach dreiundzwanzig Uhr am Abend des 28. Februar verließ Palme das Grand-Kino in Begleitung seiner Frau und seines ältesten Sohnes. Die Idee zum Kinobesuch entstand im Laufe des Freitags; Palme erwähnte das Vorhaben gegenüber einem Journalisten gegen zwei Uhr nachmittags, allgemein bekannt war es jedoch nicht.

Der Ministerpräsident hatte, wie so oft, seinen Leibwächtern gesagt, er bräuchte ihre Dienste am Abend nicht. Das war nicht ungewöhnlich; alle wussten, dass Palme gern am Abend auf eigene Faust spazieren ging, wenn er nicht gerade im Dienst war oder es keine Gründe für besondere Sicherheitsvorkehrungen gab. Es ist jedoch unklar, ob der Geheimdienst über seine Abendpläne informiert war oder nicht. Vor dem Kino verabschiedete sich das Ehepaar Palme von seinem Sohn und beschloss – es war eine klare, für die Jahreszeit normal kalte Nacht –, zu Fuß nach Hause zu gehen. Wenige Minuten nach der Verabschiedung drehte sich der Sohn zufällig nach seinen Eltern um und bemerkte einen Mann, der ihnen folgte; er beschrieb später die Kleidung des Mannes, die mit der Kleidung des Mörders übereinstimmte, konnte aber das Gesicht des Mannes nicht sehen.

Ein weiterer Zeuge begegnete wenig später dem Ministerpräsidenten und blieb stehen, als er den Politiker erkannte. Ihm fiel auf, dass ein Mann dem Ehepaar folgte; außerdem gingen seiner Aussage nach zwei weitere Männer vor dem Ministerpräsidenten her. Er hatte den Eindruck, dass sie alle zusammen unterwegs waren, weshalb er daraus schloss, dass es sich bei den drei unbekannten Männern um Leibwächter von Palme handelte.

Der Ministerpräsident und seine Frau bogen in den Sveavägen, überquerten die Straße, betrachteten die Auslage in den Schaufenstern und setzen dann ihren Weg fort. An der Ecke Sveavägen und Tunnelgatan näherte sich der Mörder dem Ministerpräsidenten und schoss ihm eine Kugel des Kalibers .357 Magnum in den Rücken.

Laut Polizei deutet alles auf einen Auftragsmord hin. Die Journalisten scheinen derselben Meinung zu sein – allerdings unter Vorbehalt.

Der Mörder schoss nur ein einziges Mal, aber mit einer der stärksten Handfeuerwaffen der Welt. Jeder, der sich auf dem Gebiet auskennt, weiß, welch verheerende Folgen eine einzige Kugel verursacht.

Der Fluchtweg des Täters, gezeichnet von Stieg Larsson am 2. März 1986

Wie sich zeigte, traf die Kugel den Ministerpräsidenten mitten in den Rücken, durchtrennte sein Rückgrat, zerfetzte Lunge, Luft- und Speiseröhre und trat dann aus seinem Körper aus, indem sie ein Loch von der Größe eines Huts in seinen Bauch riss. Der Tod trat auf der Stelle oder binnen Sekunden ein. Die Kugel, obwohl nicht dafür bekannt zu splittern, war extra ummantelt, wohl um eine schusssichere Weste durchdringen zu können.

Der Mörder schoss ein weiteres Mal, diesmal auf Lisbet, Olof Palmes Frau, aber offenbar nicht in der Absicht, sie zu töten. Der Schuss hätte ihre Schulter getroffen, wenn sie sich nicht in diesem Moment abgewandt hätte. So schlug die Kugel auf Achselhöhe durch ihren Mantel und trat auf der anderen Seite wieder aus, verursachte dabei aber nur oberflächliche Verbrennungen. Davon ausgehend, kann man durchaus die Professionalität des Mörders anzweifeln, wenn man annimmt, dass der zweite Schuss ebenfalls hätte töten sollen, der Mörder aber ein Amateur war und nervös wurde. Andere wiederum sehen genau darin den Beweis für einen Auftragsmord, da der zweite Schuss nur der Abschreckung dienen und verhindern sollte, dass Lisbet Palme dem Mörder folgte.

Nach dem Mord floh der Täter entlang eines offenbar „ausgeklügelten Fluchtwegs“, und zwar nahm er die Stufen am Ende der Tunnelgatan, was es unmöglich machte, ihm mit dem Auto zu folgen.

Bis hierhin handelt es sich um konkrete Fakten in Übereinstimmung mit der offiziellen Version der Polizei. Alles Weitere ist problematisch.

Mehrere Zeugen lieferten sehr vage Beschreibungen des Mörders, oft widersprüchliche. Die häufigste und somit wohl zutreffendste Beschreibung des Schützen lautet wie folgt: ein weißer Mann zwischen dreißig und vierzig, mittelgroß mit breiten Schultern. Er trug eine graue, spitz zulaufende Mütze mit Ohrenklappen, einen dunklen, hüftlangen Mantel und eine dunkle Hose. Mehrere Zeugen berichteten, er hätte eine Handgelenkstasche getragen, in der man für gewöhnlich Geld oder seinen Pass verwahrt.

Bei den folgenden Punkten decken sich eine Reihe der Zeugenaussagen:

1. Lars, ein etwa fünfundzwanzigjähriger Mann, traf am Ende der Tunnelgatan auf den Mörder, ohne jedoch von ihm bemerkt zu werden, da sie einander auf gegenüberliegenden Seiten eines Baustellenwagens passierten. Lars zögerte ein paar wertvolle Sekunden lang – weniger als eine Minute –, bis er sich entschied, die Verfolgung aufzunehmen. Zu diesem Zeitpunkt wusste er noch nicht, dass es sich bei dem Opfer um den Ministerpräsidenten handelte. Er folgte dem Mann schnellen Schrittes die sechsundachtzig Stufen hinauf, doch als er oben angelangte, war der Mörder bereits spurlos verschwunden. Instinktiv folgte Lars der David Bagares gata wo er eine Viertelstunde später auf

2. ein Paar traf, das ihm zu Fuß entgegenkam. Er fragte sie, ob ein Mann an ihnen vorbeigelaufen sei, und das Paar bekräftigte dies; seither sei ungefähr eine halbe Minute vergangen, und er wäre weiter der Straße gefolgt. Lars berichtete später, wie sehr es ihn verwirrt habe, dass es ihm nicht gelungen war, den Mann ein weiteres Mal zu sehen, wo er doch nur so einen winzigen Vorsprung gehabt hatte.

3. Eine vierte, nicht namentlich genannte Zeugin, die aber unter „Sara“ bekannt wurde, steuerte am nächsten Morgen neue Hinweise bei. Sara, eine zweiundzwanzigjährige Künstlerin mit Spezialisierung auf Porträtzeichnungen, war zum Zeitpunkt des Mordes auf der Smala gränd unterwegs, die nur einen Steinwurf von der David Bagares gata entfernt liegt. Dort traf sie auf einen Mann, dessen Beschreibung auf die des Mörders passte. Der Mann schien es eilig zu haben, zögerte jedoch ein paar Sekunden bei ihrem Aufeinandertreffen. Als Sara später zu Hause das Radio einschaltete, erfuhr sie vom Tod von Olof Palme. Sofort sah sie eine Verbindung zwischen dem Mord und dem Mann, den sie gesehen hatte, und fertigte eine Zeichnung von ihm an, die später die Grundlage für das offizielle Phantombild der Polizei schuf.

Diese vier Zeugen, herausgefiltert aus über zehntausend Hinweisen und Aussagen, werden als glaubwürdig eingestuft und haben unstrittige Fakten beigetragen.

4. Ein fünfter Zeuge – der nicht für ausreichend glaubwürdig gehalten wurde – ist ein Taxifahrer, der mit seinem Wagen in der Snickarbacken stand, als ein Mann an ihm vorbeirannte und in einen grünen oder dunkelblauen Passat stieg, der offenbar auf ihn wartete. Der Wagen fuhr sofort schnell davon.

Die Smala gränd trifft auf die Snickarbacken, und es ist möglich, dass die Beobachtungen des Taxifahrers mit dem Fluchtweg des Mörders in Verbindung stehen; trotzdem werfen sie ein paar Fragen auf. Laut Taxifahrer tauchte der Mann ungefähr zehn bis fünfzehn Minuten nach dem Mord auf; es dauert aber nur drei bis vier Minuten, um die Strecke laufend zurückzulegen.

Außerdem nennt der Fahrer nicht die Smala gränd, die in die Snickarbacken mündet, sondern eine ganz andere, eine falsche Straße.

Trotzdem deutet die Beweiskette darauf hin, dass der Mörder tatsächlich das Taxi passiert hat, was die Polizei zu der Annahme verleitete, dass der Fahrer vielleicht geschlafen und sich deshalb bei der Zeitangabe geirrt hat. (Seine Aussage führte trotz allem zu einer landesweiten Fahndung nach einem grünen oder dunkelblauen Passat, besonders weil er auch Teile des Kennzeichens erinnerte, nur leider nicht das vollständige.)

Aus all diesen Angaben schloss die Polizei, dass es sich um eine geplante Hinrichtung handelte, und der Täter nicht allein gehandelt hatte. Allerdings hat sich die Polizei nicht offiziell dazu geäußert, welche Gruppierung sie genau hinter dem Attentat vermutet.

Erste kritische Frage:

Was wäre passiert, wenn der Ministerpräsident statt nach Hause zu spazieren mit seinem Sohn zur U-Bahn gegangen wäre und so niemals den idealen Ort für den Mord erreicht hätte?

War es ein wohldurchdachter Plan, hätte der Mörder sein Vorhaben einstellen oder weitere Fluchtfahrzeuge haben müssen, die auf ihn warteten, was noch mehr Helfer bedeuten würde.

Wie bereits erwähnt, gibt es mehrere Zeugenaussagen, deren Beobachtungen die letztere Version sogar bekräftigen würden. (Allerdings stellen sowohl Polizei als auch Journalisten diese Aussagen sehr infrage, wenige der Zeugen wirken vertrauenswürdig.)

1. Ein Mann, der zum Zeitpunkt des Mordes die Tunnelgatan entlangging, allerdings auf der gegenüberliegenden Straßenseite des Sveavägen, traf auf zwei Männer mittleren Alters, die aus der Richtung des Tatorts kamen und weiterliefen.

2. Zwei weitere Zeugen bekräftigen diese Aussage, denn ihnen fielen zwei Männer auf, die in die Drottninggatan einbogen und sich dort trennten.

3. Eine vierte Zeugin erzählt, dass sie eine oder zwei Minuten später einen Mann allein die Drottninggatan herunterlaufen sah. Der Mann blieb plötzlich stehen, winkte einem Wagen, der anhielt, damit er einsteigen konnte, und dann „eilig davonfuhr“.

Und an dieser Stelle stecken die Ermittlungen fest. Sicher, es gibt zahllose Theorien und Berichte, aber nichts davon kann direkt mit dem Mord in Verbindung gebracht werden.

Sackgasse. Schluss, Aus, Ende!

Die meisten der oben angeführten Punkte wurden während der ersten beiden Tage nach dem Mord aufgenommen (manche nur wenige Minuten danach). Dann meldeten sich die Sonderlinge und die Ich-war’s-Typen, eine Vielzahl weniger oder gar nicht glaubwürdiger Zeugen und – selbstverständlich – jede Menge anonyme Anrufe. Bei terroristischen Angriffen, zumindest denen von „links“, bekennt sich die verantwortliche Organisation auf überzeugende Art und Weise innerhalb einer Stunde zu der Tat. Nicht in diesem Fall.

Viele wollten die Tat für sich beanspruchen, darunter „Kommando Christian Klar“, „Kommando Holger Meins“, die Ustascha sowie verschiedene rechtspopulistische und neonazistische Gangs. Aber niemand davon gilt als glaubwürdig.

Nach dem Mord war Schweden über mehrere Tage wie belagert. Die Flugplätze waren gesperrt, die Grenzkontrollen wurden verschärft, die Fähren und Häfen durchsucht. (Selbstverständlich nutzt so etwas wenig, denn auf einen durchkomponierten Mord folgt selbstverständlich eine genauso durchkomponierte Flucht.)

Drei Tage nach dem Mord wurde ein Polizist festgenommen, weil man ihn verdächtigte, an dem Mord beteiligt gewesen zu sein; er war ein rechtsextremer Kauz, der bekannt dafür war, auch privat bewaffnet herumzulaufen; zudem hatte er kein wirklich wasserdichtes Alibi. Nach zwei Tagen wurde er jedoch wieder freigelassen, und die Polizei verkündete, er habe nichts mit dem Mord zu tun.

Dann, gut zehn Tage nach Palmes Tod, wurde ein anderer Mann wegen Beihilfe zum Mord festgenommen.

Er wurde später als der dreiunddreißigjährige Victor Gunnarsson identifiziert, ein Mitglied der Europäischen Arbeiterpartei (EAP). Fast vierundzwanzig Stunden lang sah es sehr vielversprechend aus, besonders weil sich die Polizei mit einer Stellungnahme zu Wort meldete, dass sie den Mörder gefunden hätte. (Es hieß nicht mehr „Beteiligung am Mord“, sondern „Mörder“.) Für Victor sprach Einiges.

- Er ist offenbar ein rechtsextremer Spinner und nachweislich besessen vom Ministerpräsidenten, der mehrfach gesagt hat, dass „er erschossen gehört“, und darüber hinaus bereits aufgefallen war, weil er Palme während öffentlicher Wahlveranstaltungen und Demonstrationen verfolgte.

- Er befand sich zum Tatzeitpunkt in der Nähe. Verschiedene Quellen behaupten, dass er im selben Kino war wie der Ministerpräsident.

- Er kann nicht beweisen, wo er war, und hat die Polizei offenbar in mehreren ausschlaggebenden Punkten angelogen.

- Er besitzt eine graue Mütze und einen Mantel, die den Kleidungsstücken des Mörders gleichen.

- Als ehemaliger Angestellter verschiedener Sicherheitsfirmen wurde er im Umgang mit Waffen geschult und weiß, wie man einen Revolver abfeuert.

- Ein Zeuge hat ihn als den Mann identifiziert, der unmittelbar nach dem Mord in einer direkten Nebenstraße der Tunnelgatan versucht hat, ein Auto anzuhalten, um mitgenommen zu werden.

- Er wurde dabei beobachtet, wie er zehn bis zwölf Minuten nach dem Schuss ein Kino betrat, eine halbe Stunde nachdem der Film angefangen hatte.

- Man weiß, dass er mit einer bislang noch nicht identifizierten, rechtsextremen, religiösen, antisemitischen Gruppierung mit Sitz in Kalifornien zu tun hatte, wo er phasenweise lebte.

Einen Tag lang richtete sich die gesamte Aufmerksamkeit des Landes auf die EAP; ich selbst habe mehrere Artikel über die Partei geschrieben, und eine Aufklärung des Falles schien endlich in greifbarer Nähe.

Doch dann, nur wenige Stunden bevor Gunnarsson dem Untersuchungsrichter vorgeführt werden sollte, wurde er wieder auf freien Fuß gesetzt. Warum? Weil der Zeuge, der gesehen hatte, wie er nach dem Mord ein Auto angehalten hatte, um mitgenommen zu werden, plötzlich nicht mehr hundertprozentig sicher war, dass es sich dabei wirklich um Gunnarsson gehandelt hatte.

Was uns zum heutigen Tag bringt: Heute hat die Polizei ihre tägliche Pressekonferenz eingestellt, weil es nichts Neues mehr zu berichten gibt. Eine Sackgasse.

Eine Überlegung: Es ist sehr gut möglich, dass Gunnarsson erneut festgenommen wird; laut Staatsanwalt haben sie zwar nichts gegen ihn in der Hand, aber er bleibt eine Person von Interesse.

So viel kann man zu diesem Zeitpunkt sagen. Selbstverständlich könnte ich sicher zweihundert Seiten mit Spekulationen füllen – wie gesagt, bestimmt werden Bücher über diesen Fall geschrieben (vielleicht sollte ich mich des Themas annehmen) –, es gibt jedoch nichts Gehaltvolles mehr hinzuzufügen.

Wir haben einen toten Ministerpräsidenten und einen Mörder, der spurlos verschwunden ist.

Die Spekulationen gehen in viele Richtungen. Zum Beispiel könnten südafrikanische Interessen eine Rolle beim Mord gespielt haben. Die Palme-Kommission, an der Palme maßgeblich beteiligt war, hatte eine Kampagne gestartet, die sich gegen Waffenhändler richtete, die Geschäfte mit dem Apartheitsregime machten.

Genauso die kurdische PKK, die in den vergangenen zwei Jahren drei politische Morde auf schwedischem Boden begangen hat. Bislang waren die Opfer „Verräter“ aus den eigenen Reihen, aber eine populäre (und ziemlich rassistische) Theorie hält sie für die Schuldigen. Aus welchem Grund? Weil ihr Büro in der schwedischen Hauptstadt in der David Bagares gata liegt, wo der Mörder spurlos verschwand. (Die Theorie berücksichtigt selbstverständlich nicht, warum ein Mörder so dumm sein sollte, sich in den eigenen Büroräumen zu verstecken, die nur zwei Minuten vom Tatort entfernt liegen.)

Wie dem auch sei: Das sind die Hintergründe. Falls es etwas Neues gibt, rufe ich dich gern an, sofern du Interesse hast. Du kannst all das selbstverständlich jederzeit als Hintergrundinformation nutzen.

Ich lege dir noch ein Bild von Gunnarsson bei, muss dich aber darauf hinweisen, dass sein Anwalt alle ausländischen Medien verklagen will, die das Bild veröffentlichen (ich war einer der wenigen Journalisten, denen es gelang, das Bild zu sichern, was zu einer Sensationsnachricht innerhalb der europäischen Medien führte, bevor Gunnarsson freigelassen wurde).

Okay, pass auf dich auf,

Stieg

TEIL 1STIEG

TAG DES MORDES

Stockholm, 28. Februar 1986

Es war der Tag, an dem der schwedische Ministerpräsident sterben würde, und Stieg kam, wie gewöhnlich, zu spät mit einer Zigarette in der Hand zur Arbeit. Er beschloss, die Treppen zu nehmen, um eine halbe Minute zu sparen, denn der neue Aufzug war unerklärlich langsam. Die Stufen machten ihm nichts aus, obwohl er bis nach ganz oben musste. Die brennende Zigarette in der rechten Hand begrenzte ein wenig die mögliche Sauerstoffaufnahme, aber er war gerade mal einunddreißig und strotzte vor Energie. In der linken Hand hatte er seine abgetragene Aktentasche, die allerdings bis auf wenige Blätter leer war. Er joggte hinauf, angetrieben von einer Mischung aus Koffein und Nikotin.

Tidningarnas Telegrambyrå (TT) war Schwedens führende Nachrichtenagentur und vor einem knappen Jahr in das frisch renovierte Gebäude am Kungsholmentorg gezogen, das früher einmal die Brauerei St. Eriks beherbergte. Die Zahl der Mitarbeiter und die technische Ausstattung waren vergleichbar mit der des Schwedischen Rundfunks oder der größten Tageszeitung Dagens Nyheter. Die Redaktion nahm das gesamte siebte Stockwerk ein, und genau wie alle, die zu Besuch kamen, musste auch Stieg einmal quer durch das offene Großraumbüro. Der leicht industrielle Touch passte gut zu Stiegs Charakter. Direkt an den Eingangsbereich schloss eine lange Reihe Faxgeräte der Marke Toshiba an. Jeder wusste, dass es unnötig viele waren, aber in der Yuppie-Ära der Achtzigerjahre war es wichtig – selbst für eine Nachrichtenredaktion –, zu zeigen, dass man mehr wollte. Zur Linken lagen die Büros der angesehensten Mitarbeiter TTs und die der mittleren Führungskräfte. Stieg versuchte, sich unsichtbar zu machen, aber sein Chef, Kenneth Ahlborn, rief ein etwas zu lautes »Guten Morgen«, als dass Stieg es hätte ignorieren können.

»Du bekommst ihn heute, versprochen!«

Stieg hatte bereits drei Deadlines versäumt, ein strengerer Chef hätte vermutlich längst einen anderen Ton angeschlagen. Selbst Kenneths Nachsicht kannte Grenzen, und heute musste Stieg einfach liefern.

Ein Stockwerk über der Redaktionsetage befand sich eines der größten Nachrichtenarchive Schwedens. Lange Reihen mit Regalen, die sich mit wuchtigen Steuerrädern über Schienen am Boden bewegen ließen. Auch dies ein imposanter Anblick, allerdings auf andere Art beeindruckend als die Faxgeräte. Stieg ging an der Kurzseite der Regale entlang, bog hinter dem letzten ein und betrat durch eine Tür das Büro. Der kleine fensterlose Raum, aber mit Glasfront zu den Archivregalen, ließ sich am besten mit dem Wort funktional beschreiben. Stieg teilte ihn mit Ulla, der verantwortlichen Archivarin, und wechselnden Aushilfen, die einen Platz zum Arbeiten brauchten. Trotz der Abgeschiedenheit wusste jeder, der mit ihm Kontakt aufnehmen wollte, wo er zu finden war, und sein durchgesessener Besuchersessel, den er von zu Hause mitgebracht hatte, wurde öfter aufgesucht als die schicke Sofagruppe ein Stockwerk tiefer.

Dieser Tag war speziell. Es war der letzte Freitag des Monats, und alle mussten sich zur Redaktionskonferenz einfinden, eine Idee des neuen Geschäftsführers – um »mehr direktes Feedback von der Basis zu bekommen«, wie er sich ausgedrückt hatte. Dabei fand der Informationsfluss in sehr einfacher, nach unten abfallender Richtung statt, was Stieg durchaus zugutekam. Die Position seines unmittelbaren Chefs war stark, und ihm war es möglich, Stieg weitestgehend aus dem Zentrum des Geschehens herauszuhalten, sodass er sich ganz auf das Thema konzentrieren konnte, für das er brannte: den Kampf gegen den Rechtsextremismus.

Über seine eigentliche Aufgabe als Illustrator hinaus sollte Stieg manchmal längere Reportagen schreiben, häufig über Themen, die ihn besonders interessierten, und wenn danach noch Zeit blieb, widmete er sich dem, was ihm wirklich wichtig war: einer Übersicht über den schwedischen Rechtsextremismus und dessen Verbindungen ins Ausland. Er konnte sich kaum erinnern, wann er damit angefangen hatte, aber der Kampf gegen Intoleranz und Ungerechtigkeit war definitiv schon seit der frühen Jugend Teil seines Lebens. Eine Kindheit mit einem Großvater mütterlicherseits, der alles hasste, was mit Nationalsozialismus und Rechtsextremismus zu tun hatte, war sicherlich prägend, aber Stiegs Engagement war sogar größer als das seines Großvaters. Er hatte sein Leben dem Kampf gegen den Rechtsextremismus verschrieben.

Er kam zu spät zur Redaktionskonferenz, bei der er nur zeigen musste, dass er sich als Teil der Geschäftsvision sah, damit er sich so schnell wie möglich wieder in sein stilles Kämmerlein zurückziehen konnte. Es war zehn Uhr morgens, früh für ihn, weshalb seine vertrautesten Kollegen ihn überrascht ansahen, als er den Konferenzraum betrat. Die Tür wurde hinter ihm geschlossen, er ließ sich atemlos auf einen freien Platz sinken, während der Geschäftsführer breit lächelnd alle willkommen hieß.

Die Konferenz an sich barg keine Überraschungen. Die Redaktionsleitung setzte stark auf die Devise, dass Wiederholung die Mutter des Wissens war, und Stieg war sich ziemlich sicher, dass die Bilder des Unternehmensplans 1986 schon zum vierten Mal gezeigt wurden, wenn auch in anderer Reihenfolge. Davon abgesehen, hatte das flackernde Licht des Overheadprojektors etwas sehr Einschläferndes.

Überraschend war nur, dass am Ende einer der Redakteure daran erinnerte, dass sich die Journalisten der Redaktion am Abend im Restaurant Tennstopet einfinden sollten, wo sie herzlich willkommen wären. Das Wort Journalisten implizierte, dass sich niemand ohne den Titel »Journalist«, »Reporter« oder »Redakteur« anmaßen sollte zu erscheinen.

Für Stieg war dieser Freitag außergewöhnlich, denn Eva und er wollten den Abend zusammen verbringen. Sie hatten nicht geplant, auswärts essen zu gehen, sondern zusammen zu kochen oder eine Pizza zu holen. Das bedeutete für Stieg, die Uhr im Blick zu behalten und die Redaktion nicht später als um sieben zu verlassen. Nun, allerspätestens um acht. Die nächste U-Bahnstation, Rådhuset, lag nur einen Block entfernt, von dort brauchte er weniger als eine halbe Stunde nach Rinkeby. Ansonsten stand an diesem Tag nichts an. Er musste eine Illustration fertigstellen, die verdeutlichte, wie die schwedische Wirtschaft von der Familie Wallenberg gesteuert wurde, einer der mächtigsten Eigentümerstrukturen auf dem Weltfinanzmarkt. Die ökonomischen Tiefschläge des letzten Jahrzehnts hatten das Imperium zwar erschüttert, trotzdem verliefen die Bande noch immer quer durch die schwedische Gesellschaft, durch anonyme Stiftungen, Firmen und Verbände, die auf dem Papier nichts mit der Familie zu tun hatten, aber nahestehende Schlüsselpersonen aufwiesen.

Nach sorgfältiger Überlegung hatte Stieg einen Kartenausschnitt von Stockholms Innenstadt gewählt. Drei Adressen, die im Umkreis von einem Kilometer voneinander lagen, waren eingekreist: das Industrihuset auf Östermalm, der Burmanska palatset (unter anderem der Sitz des schwedischen Arbeitgeberverbandes) in Blasieholmen und ein Gebäude in der Birger Jarlsgatan 6, in dem zahlreiche Organisationen, Firmen und Gesellschaften angesiedelt waren. Über den Ausschnitt legte er eine Übersicht mit so vielen Pfeilen, um die Verbindungen zu markieren, dass sogar einem Verschwörungstheoretiker schwindelig geworden wäre, hätte Stieg sie nicht alle unterschiedlich gestrichelt oder in Graustufen markiert. An Vierfarbdruck war nicht zu denken. Technisch war er zwar seit wenigen Jahren möglich, aber nur ein paar der Abendzeitungen verwendeten ihn, die jedoch nicht zu den größten Kunden von TT gehörten.

Stieg zündete sich eine neue Zigarette an und stellte seine Kaffeetasse neben das Zeichenpapier und die Gewichte, die es an Ort und Stelle hielten. Wenn die Asche zu lang wurde, fiel sie oft auf das Blatt, dann blies er sie für gewöhnlich fort oder schob sie mit der einen in die andere Hand und klopfte sie in eine der leeren Kaffeetassen. Die meisten Kollegen gingen früh zum Mittagessen, Stieg hingegen arbeitete, bis die Gedanken träge wurden und er dringend etwas für den Blutzuckerspiegel tun musste. Also holte er sich schnell ein Käsebrötchen mit Gurke aus der Cafeteria.

Als Stieg das nächste Mal auf die Uhr schaute, war es bereits halb sechs. Allerhöchste Zeit, die Illustration fertig zu zeichnen. Um einen Aufschub zu bitten, war keine rechte Alternative, denn so würde sich auch die Veröffentlichung seines nächsten Artikels verzögern, mit dem er eins seiner Herzensthemen so aufbereiten wollte, dass es einer breiten Öffentlichkeit zugänglich wurde.

Stieg legte probeweise Marcus Wallenbergs Spruch Esse, non videri über einen Teil der Karte. Sein, aber nicht gesehen werden stimmte definitiv mit der Botschaft über versteckte Bande überein, aber ohne Übersetzung würde es niemand verstehen, und mit noch mehr Text wäre die ganze Illustration zu unübersichtlich. Er beschloss, so lange zu bleiben, bis er fertig war, was in zwei oder drei Stunden der Fall sein sollte. Dann würde er es gerade noch rechtzeitig nach Hause schaffen, bevor Eva den Glauben an ein gemeinsames Abendessen verlor.

Vermutlich war es ein magisches Zeichenbrett, denn kaum saß Stieg vor den Linien und Symbolen, verflog die Zeit nur so. Plötzlich war es nach acht, und er musste einsehen, dass ein sofortiges Einschreiten nötig war. Er nahm den Hörer seines leicht abgegriffenen Ericsson-Telefons – ein Dialogmodell – ab und überlegte beim Klang der Drehscheibe, wie er Eva erklären sollte, dass er doch nicht vor Mitternacht heimkäme, sie also ihren gemeinsamen Abend vertagen müssten.

Das Gespräch war gar nicht so schlimm, weil Eva seine Erklärungen immer nachvollziehen konnte; er kämpfte dennoch lange mit seinem schlechten Gewissen. Es dauerte gut zehn Minuten, bis er wieder seinen Rhythmus gefunden hatte, aber jetzt würde im Laufe des Abends immerhin die Illustration fertig werden.

Im Hintergrund lief ein Stockholmer Lokalsender. Eine Organisation namens Societas Avantus Gardiae brachte ein Theaterstück. Wenn Stieg aufmerksam zugehört hätte, wäre ihm nicht entgangen, dass der Moderator seine Zuhörer dazu aufforderte zu raten, welcher Staatsmann ermordet werden würde, nur um dann zu betonen, dass es nicht Gustav III. war, obwohl das Stück just von den Vorbereitungen dieses Mordes handelte. Stieg brauchte jedoch etwas Leichtes, das ihn nicht ablenkte, weshalb er sich einen Sender suchte, der ununterbrochen Popmusik spielte.

Als er sich endlich nach dem Schalter am schweren gusseisernen Fuß seiner Tischlampe streckte und das Licht löschte, war es zwanzig nach elf. Fast zeitgleich wurde auf dem Sveavägen der tödliche Schuss auf den schwedischen Ministerpräsidenten abgefeuert. Davon nichts ahnend, grübelte Stieg, ob er wohl noch die nächste Bahn nach Rinkeby erreichen würde.

DER HASS

Der Hass trieb mehr als zwanzig Jahre zuvor schon erste Keime. Wenige stellten infrage, dass Olof Palme einer von Schwedens einflussreichsten Politikern aller Zeiten war, aber seinen Weg bis an die Spitze säumten viele Kämpfe, bei denen er sich viele Feinde machte.

Olof Palme hatte 1969 den Posten des Ministerpräsidenten und Parteivorsitzenden von Tage Erlander übernommen, der dreiundzwanzig Jahre lang im Amt gewesen war – ein Weltrekord. Bei Erlanders letzter Wiederwahl hatten die Sozialdemokraten mehr als fünfzig Prozent der Stimmen bekommen. Es war unmöglich für Palme, an dessen enorme Popularität anzuknüpfen. Da er noch dazu unübersehbar der Oberschicht entstammte, beäugten ihn besonders die Arbeiter und eher linksorientierten Parteigenossen misstrauisch. Und dann verlor er 1976 die erste Wahl seit vier Jahrzehnten für die Sozialdemokraten.

Die Niederlage gab ihm jedoch die Möglichkeit, sich um das zu kümmern, was ihm besonders am Herzen lag: die Außenpolitik. Olof Palme war ein Freund der Entwicklungsländer und kämpfte für die Rechte der Schwachen. Er erzählte gern von seiner ersten politischen Aktion, als er mit ein paar Freunden Blut spendete, um Geld für den Kampf gegen die Apartheid in Südafrika zu sammeln.

Sein Engagement innerhalb der Außenpolitik ging jedoch oft über einfache Beziehungen zu den Großmächten hinaus. Er verärgerte die damalige Sowjetunion, als er im April 1975 die tschechoslowakische Marionettenregierung als »Kreatur der Diktatur« bezeichnete und im Dezember 1979 den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan verurteilte.

Während des Kalten Krieges provozierte er die USA, die zweimal sogar ihre diplomatischen Beziehungen zu Schweden einstellten. Das erste Mal, nachdem Palme 1968 Seite an Seite mit dem in Moskau ansässigen Botschafter Nordvietnams in Stockholm an einem Fackelzug gegen den Vietnamkrieg teilnahm. Das zweite Mal, als Palme die Bombardierung Hanois an Weihnachten 1972 kritisierte und das Vorgehen der USA mit den schlimmsten Massakern des zwanzigsten Jahrhunderts verglich.

Viele sahen Palmes – und damit Schwedens – Politik als dritten Weg; er hatte eigene Pläne, um den Kalten Krieg zu beenden. Durch die sogenannte Palme-Kommission, deren Vorsitzender er war, versuchte er, unterstützt von anderen führenden Politikern aus der ganzen Welt, die nötigen Voraussetzungen zur Abrüstung zu schaffen, damit die Erde ein sichererer Ort wurde. Die USA interessierten sich nur mäßig für diesen Weg, weshalb diese Alternative einen leisen Tod starb; weil aber die damalige Sowjetunion Interesse daran gezeigt hatte, wuchs das Misstrauen gegen Palme in Schweden und auch im Ausland. Man verdächtige ihn, Laufbursche der Russen zu sein.

Zwischen 1980 und 1982 war er UNO-Vermittler im Krieg zwischen Iran und Irak, ein unseliger Auftrag, der von Anfang an zum Scheitern verurteilt war, und als bekannt wurde, dass er sich aktiv für schwedische Waffenhersteller, allen voran Bofors, einsetzte, um deren Exporte nach Indien zu sichern, war er für viele ein Heuchler. Erst setzte er sich für Abrüstung und Frieden ein, nur um dann den schwedischen Waffenexport zu unterstützen und so Arbeitsplätze zu sichern.

In Schweden wurde die Kritik laut, dass das Land weder Zeit noch Mittel hatte, sich als das Gewissen der Welt aufzuspielen, und dass sich der Ministerpräsident auf die Innenpolitik konzentrieren sollte, wo sich Palmes Position geschwächt hatte. Durch seine Rhetorik und seine geschickten Machtspielchen hatte er sich politische Feinde im linken wie rechten Lager gemacht.

Gegen seinen Willen musste er den alten Vorschlag der Sozialdemokraten – den eines Arbeitnehmerfonds – umsetzen, dass ein Teil des Unternehmensgewinns in Aktienfonds an die Angestellten ging. Kritiker nannten dies Oststaatensozialismus, mehrere Unternehmen verließen daraufhin das Land.

Aber es war nicht nur die Politik, die seine Gegner verärgerte. Olof Palmes Zugehörigkeit zur Oberschicht hatte viele seiner sozialdemokratischen Parteifreunde misstrauisch gestimmt, während die Konservativen fanden, er habe seine Klasse verraten. Außerdem brachte sein Auftreten die Menschen gegen ihn auf. In Debatten war Palme ungeduldig und wirkte arrogant, wenn er seine weniger ehrgeizigen Gegner niedermachte. Mit einem geschätzten IQ von 156 gehörte er zu dem Bruchteil der Gesellschaft, die man Genies nennen konnte. Dabei lag sein IQ unter dem Dolph Lundgrens, dessen IQ 160 beträgt, aber über dem aller anderen Politiker Schwedens. Palme machte gegenüber seinen Gegnern keinen Hehl daraus, wie bewusst ihm seine intellektuelle Überlegenheit war.

Lange Zeit gehörte er zu den Günstlingen der kulturellen Welt, wurde oft als VIP-Gast zu Premieren geladen. Doch nachdem dem weltberühmten Filmregisseur Ingmar Bergman 1976 Steuerhinterziehung vorgeworfen und er auf erniedrigende Art von der Polizei direkt im schwedischen Nationaltheater verhaftet worden war, sank Palmes Beliebtheit auch hier und mit ihr die Zahl solcher Einladungen.

Auch in der Medienbranche hatte Palme mächtige Feinde. Zusätzlich zu der Tatsache, dass sich die Mehrheit der schwedischen Zeitungen zwar unabhängig, aber konservativ präsentierte, war es Palme gelungen, sich den einflussreichsten schwedischen Journalisten zum Feind zu machen. Jan Guillous Enthüllung, dass die sozialdemokratische Partei mit Olof Palme an ihrer Spitze den militärischen Nachrichtendienst IB genutzt hatte, um unter anderem mutmaßliche kommunistische Sympathisanten zu ermitteln und zu registrieren, erinnerte nur zu deutlich an die Watergate-Affäre. Allerdings spielte Palme seine Karten besser aus als der amerikanische Präsident Nixon. Die Folge der Enthüllung war, dass Palme seinen Posten behielt, während Guillou und sein Journalistenkollege Peter Bratt wegen Spionage zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt wurden.

Jan Guillou war kein leichter Gegner. Nur wenige Jahre später versuchte er, Olof Palme in Verbindung mit der Geijer-Affäre zu bringen, die nachwies, dass schwedische Politiker, allen voran der Justizminister Lennart Geijer, Sex mit Prostituierten hatten. Palme kam um Haaresbreite davon, weil er mithilfe zweier treuer Männer – Polizeipräsident Hans Holmér und Verleger Ebbe Carlsson – ein in Teilen nicht wahrheitsgetreues Dementi schrieb.

Guillous letzter Angriff auf Palme trug den Namen Harvard-Affäre und wurde nie abgeschlossen, richtete sich aber an Palme privat. In einem live gesendeten Radiointerview fragte Guillou, ob Palme das Stipendium, das sein Sohn Joakim von der amerikanischen Eliteuniversität Harvard als Dank für Palmes dortige Vorlesung bekam, nicht versteuern müsste. Olof, der sonst fast nie eine Antwort schuldig blieb, zögerte diesmal etwas zu lange, um glaubwürdig zu sein. Nach und nach drohte eine Medienaffäre.

Kaum hatte sich der Hass auf Palme in den unterschiedlichen Schichten der Bevölkerung etabliert, war er nicht mehr aufzuhalten. Und dann starteten die Feldzüge. Die Zeitungen veröffentlichten Karikaturen von Palme mit schiefer Nase, schlechten Zähnen und dunklen Ringen unter den Augen. Selbstverständlich gab es auch jene, die an seinem Aussehen nichts auszusetzen fanden. Eine der Frauen zum Beispiel, die behauptete, eine Affäre mit Palme gehabt zu haben, war die amerikanische Schauspielerin Shirley MacLaine. Gerüchte über Palmes angebliche außereheliche Affären wurden verbreitet und übertrieben.

Viele der schwedischen Tageszeitungen publizierten großflächige Anzeigen, die sich direkt gegen Olof Palme und seine Politik richteten. Darin wurde zum ersten Mal das Wort »Palmeismus« verächtlich verwendet, ohne dass sich die jeweiligen Blätter zu der erfundenen Ideologie positionieren mussten. Klar war, dass es starker finanzieller Mächte bedurfte, die Millionenbeträge aufzubringen, die solche Anzeigen kosteten; dabei wurden sie von der Schauspielerin Gio Petré und dem zuvor unbekannten Arzt Alf Enerström aufgegeben. Gleichzeitig verkaufte die Zeitschrift Contra, mit unverhohlen rechtem Einschlag, Zielscheiben mit Palmes Karikatur in der Mitte.

Im September 1985 stand die nächste Wahl an, die wieder eine sozialdemokratische Regierung hervorbrachte. Auf einer der Wahlpartys der Moderaten wurde zur allgemeinen Erheiterung eine Puppe, die Olof Palme darstellen sollte, herumgeworfen.

Am 3. November 1985 erschien im Svenska Dagbladet ein Kommentar des Fregattenkapitäns Hans von Hofsten, in dem er der Politik des Ministerpräsidenten gegenüber der damaligen Sowjetunion sein Misstrauen und das einer Vielzahl von Kollegen aussprach.

Olof Palme stand unter Druck. Man munkelte, dass er zurücktreten und einen Posten bei der UN annehmen wollte. Er war müde und hatte dazu auch allen Grund. Schwedens brillantester und einflussreichster Politiker aller Zeiten spürte aus allen Richtungen Gegenwind. Der Weg nach vorn war nicht mehr frei. Es war der 28. Februar 1986.

DER FLUCHTWEG

Stockholm, 1. März 1986

»Palme wurde ermordet.«

Mit dieser schrecklichen Nachricht wurde er geweckt. Eva war schon eine Stunde vor ihm aufgestanden, hatte das Radio angestellt und sich gewundert, warum alle drei Sender Trauermusik spielten. Dann war das Programm plötzlich für eine Sondersendung unterbrochen worden.

Sie aßen nichts zum Frühstück, tranken nur eine Tasse Kaffee in der spartanischen Küche. Stieg rief Kenneth bei TT an, um nachzufragen, ob sie schon mehr wussten, als in den Nachrichten gesagt wurde, aber anstatt einer Antwort kam die Aufforderung, dass er sich in der Redaktion einfinden sollte. Und zwar sofort. Eva beschloss, ihn zu begleiten. Sie war ruhelos und konnte sich nicht vorstellen, allein zu Hause zu bleiben.

Der Bahnhof in Rinkeby war so leer wie an jedem gewöhnlichen Samstag. Sie liefen eine gefühlte Ewigkeit am Bahnsteig auf und ab, bis die U-Bahn endlich einfuhr, und waren nach einer knappen halben Stunde am Hauptbahnhof. Stieg verließ nicht wie sonst an der Haltestelle Rådhuset die U-Bahn. Er wollte noch ein bisschen Zeit mit Eva verbringen, ehe er in die Redaktion ging, wo sicher die Hölle los war. Sie nahmen den Ausgang zur Vasagatan und bogen rechts in die Tunnelgatan ein. Nach einem fünfminütigen Spaziergang entlang der nichtssagenden Straße erblickten sie einen Streifenwagen direkt neben einer Menschentraube, die an der Ecke des Skandiahuset standen. Da erst kamen sie zu der Gewissheit: Der schwedische Ministerpräsident war mitten in Stockholm auf offener Straße ermordet worden.

Als sie den Tatort erreichten, fiel ihnen die Stille auf. Sicher hundert Menschen hatten sich um den kleinen abgesperrten Bereich versammelt. Niemand sprach laut, niemand gestikulierte groß, wer weinte, tat dies leise. Die schwedische Art, Trauer zu zeigen. Immer mehr Menschen blieben stehen – zum Teil mit Rosen in den Händen –, andere gingen, aber all dies geschah schweigend.

Eva und Stieg gingen bis zum Flatterband vor, mit dem der Tatort gesichert war, wo ihnen bewusst wurde, wie nah sie dem Ort waren, an dem Palme gestorben war. Sein Blut war über die kalten Betonplatten geflossen und zu dunklem rotem Eis gefroren. Die Lache war größer, als man vermutet hätte. Entlang der Absperrung lagen Blumen, überwiegend Rosen, einige waren in den abgesperrten Bereich geworfen worden. Trotz der Kälte blieben sie eine ganze Weile regungslos stehen. Die Stille wurde nur von den sporadischen Durchsagen über den Polizeifunk unterbrochen.

Von ihrem Standort aus konnten sie weit in beide Richtungen des Sveavägens sehen. In der Tunnelgatan standen vielleicht 50 Meter hinter der Einmündung ein paar Bauwagen, die die Sicht teilweise versperrten. Hinter den Bauwagen ragte der Brunkebergsåsen in die Höhe.

Es war gerade mal neun Uhr morgens, und doch war klar, dass es ein langer Tag in Schweden werden würde. Viele weitere Menschen würden herkommen und Blumen ablegen. Vielleicht würde sogar der Mörder an diesen Ort zurückkehren, wenn ein Quäntchen Wahrheit in der alten Redensart steckte, dass ein Täter immer an den Tatort zurückkehrt.

Im Aufzug auf dem Weg zur TT-Redaktion versuchte Stieg, seine niedergedrückte Stimmung in produktives Denken zu verwandeln. Er rechnete nicht damit, dass sein kleiner Umweg zur Arbeit ins Gewicht fiel, weil es sicher ein paar Stunden dauern würde, bis sich die Redaktion einen Überblick über das Geschehen verschafft hatte, um eine oder mehrere Illustrationen bei ihm in Auftrag zu geben. Er würde vermutlich bis in die Morgenstunden bleiben müssen, um irgendetwas fertigzustellen.

Die Stimmung am Tatort war fast ehrfürchtig und still gewesen. Die Intensität, die ihn begrüßte, als er die Redaktion betrat, stellte einen klaren Kontrast dar. Es schien fast, als wäre alles verfügbare Personal einbestellt worden, damit gesichert war, dass TT die Führung bei der Berichterstattung über den Mord einnahm. Alle waren damit beschäftigt, die wenigen Informationen zu sammeln, die es gab. In wenigen Stunden würden einige von ihnen bereits schreiben, aber die Informationssammlung würde weitergehen, besonders wenn es der Polizei nicht gelang, einen Verdächtigen festzunehmen. Und mit jeder Stunde, die verging, verringerte sich die Wahrscheinlichkeit, dass der Fall schnell aufgeklärt würde, das wusste jeder Polizist. Und Journalist.

Bereits eine Stunde nach seiner Ankunft hatte Stieg eine Aufgabe bekommen, die ihn für den Rest des Tages beschäftigen sollte und vielleicht sogar bis in die Nacht, je nachdem, was an Informationen noch dazukam. Er sollte eine Karte von der Umgebung des Grand-Kinos und des Tatorts anfertigen, die nach Bedarf mit weiteren Details angereichert werden konnte. Es war eine Hilfe, dass Eva und er gerade den Tatort gesehen hatten, obwohl noch nicht sicher war, welche Informationen auf die Karte sollten. Es bestand die Gefahr, dass viel Text genau um den Tatort und das Grand angesiedelt werden musste, während die Ränder der Karte freiblieben. Außerdem könnte es Bedarf an einer englischen Version geben, bei der der umfangreichere Text zu berücksichtigen war, der durch die Übersetzung entstehen würde. Der Druck der ausländischen Medien war bereits groß, und TT gehörte zu ihren wichtigsten Quellen in Schweden.

Auf einer Stadtkarte markierte Stieg die Orte, von denen er bereits wusste, dass das Ehepaar Palme sie passiert hatte. Bevor er zu zeichnen anfing, befreite er den Tisch von alten Kaffeetassen und unnötigen Papierstapeln; außerdem holte er sich einen frischen Kaffee, statt den bereits kalt gewordenen auszutrinken. Dann legte er einen auf das richtige Format vergrößerten Kartenausschnitt auf den Tisch und platzierte ein durchsichtiges Blatt DIN-A3-Zeichenpapier darüber. Mit Gewichten stellte er sicher, dass das Blatt wenige Zentimeter von der ihm zugewandten Tischkante liegen blieb. Dann kontrollierte er mithilfe des T-Lineals, dass es auch wirklich parallel zur Kante ausgerichtet war. Rechts von ihm lag der Bogen mit Haftbuchstaben, -linien und -symbolen. Er zeichnete zunächst die Konturen der Viertel und Straßen auf. Diese versah er mit selbsthaftenden Schraffuren, damit sich unterschiedliche Untergründe schneller erfassen ließen. Mit einem Skalpell schnitt er sie exakt zurecht und nutzte den Griff dieses Werkzeugs, um Blasen unter der Folie herauszudrücken. Stieg war kein großer Fan der eher technisch anmutenden Schraffuren, aber die Verwendung war der letzte Schrei, deshalb musste er sich wohl oder übel fügen.

Stunde um Stunde strömten weitere Informationen herein, die seine Kollegen streng nach Aussagen von Polizei, Medien und Öffentlichkeit trennten. Als Stieg endlich eine schwedische und eine englische Version der Karte fertiggestellt hatte, war bereits seit mehreren Stunden der zweite März.

SHERLOCK HOLMÉR

Stockholm, 1. März 1986

Die Ermittlungen im Mordfall Olof Palme konnten keinen schlechteren Anfang nehmen. Der Täter entkam ohne größere Probleme, obwohl mehrere Streifenwagen in der Nähe waren und der erste innerhalb weniger Minuten am Tatort eintraf. Die vorgenommenen Absperrungen waren viel zu klein, sodass die Patronen erst am Folgetag des Mordes von Zivilpersonen außerhalb der Sperrzone gefunden wurden. Gut möglich, dass andere Spuren dadurch ebenfalls verloren gingen.

In der Leitstelle kam es zu Verzögerungen, sodass die landesweite Fahndung erst um 02.05 Uhr rausging. Aus der Meldung ging hervor, dass es sich um zwei Täter handelte. Da in der Nacht ein heilloses Chaos vorherrschte, war schnell klar, dass ein starker Mann an der Spitze der Ermittlungen nötig war. Dazu standen drei zur Auswahl:

Terroristische Verbrechen und solche mit Verbindungen zu ausländischen Mächten fielen in den Zuständigkeitsbereich der schwedischen Sicherheitspolizei: Säpo. Sven-Åke Hjälmroth, der damalige Chef, war nach einer turbulenten Phase an diese Stelle gewählt worden, um die Wogen zu glätten. Weil er seine berufliche Karriere bei der Post begonnen hatte, verpasste man ihm den wenig schmeichelhaften Namen »der Postbote«.

Zweite Möglichkeit war die Landeskriminalpolizei, in deren Aufgabenbereich besondere Ereignisse fielen, zu denen man den Mord am Ministerpräsidenten definitiv zählen konnte. Außerdem war die Landesmordkommission, Schwedens geballte Kompetenz auf dem Gebiet der Mordaufklärung, der Landeskriminalpolizei untergeordnet. Chef der Landeskriminalpolizei war der steinharte Tommy Lindström, der innerhalb kürzester Zeit zum Günstling der Medien avancierte; man hatte ihm den Spitznamen Tommy Turbo gegeben, nachdem er mit 174 Stundenkilometern in eine Radarkontrolle geraten war. Außerdem nannte man ihn Super Cop, vermutlich wegen seines Hangs, sich an den Ermittlungen zu beteiligen, obwohl er über keine Polizeiausbildung verfügte.

Dritte Möglichkeit war die Lokalpolizei, in diesem Fall die Polizeibehörde der Provinz Stockholm, die verantwortlich war für gewöhnliche Kriminalität – wie zum Beispiel Mord auf offener Straße. Hans Holmér war Bezirkspolizeipräsident Stockholms, allerdings konnte er weder eine Polizeiausbildung noch Ermittlungserfahrung bei Gewaltdelikten vorweisen.

Die Säpo und der verantwortliche Intendant Alf Karlsson hatten bei ihrem Auftrag, den Ministerpräsidenten zu beschützen, komplett versagt. Würde man ihr die Ermittlungen übertragen, bedeutete dies, sie ermittelten trotz eigenem Verschulden. Mediale Kritik war vorprogrammiert. Blieben also noch Landeskriminalpolizei und die Stockholmer Lokalpolizei als mögliche Alternativen.

Tommy Lindström war sich nicht zu schade, anzupacken, und liebte es, im Mittelpunkt zu stehen, aber im Mordfall des Ministerpräsidenten wählte er eine andere Taktik. Nachdem er gleich frühmorgens über den Mord informiert worden war, entschied er, sich wieder hinzulegen und erst einmal zu Hause zu bleiben, um seinen Geburtstag zu feiern. Er aß Torte, packte den Feldhockeyschläger aus, den er von seinen Söhnen geschenkt bekam, und ließ sich Zeit. Gegen halb elf erreichte er sein Büro, aber da war die Verantwortung für den Fall bereits an jemand anderen vergeben worden.

Als Hans Holmér die Nachricht um 07.35 Uhr bekam, befand er sich nach eigenen Angaben mit seiner Freundin Åsa im Hotel Scandic in Borlänge. Eigentlich wollte er am Folgetag an seinem achtzehnten Vasalauf in Folge teilnehmen, setzte sich stattdessen aber ins Auto und fuhr zurück nach Stockholm. Bei seiner Ankunft wurde ihm die Mordermittlung übertragen. Wie dieser Entschluss getroffen wurde, wusste niemand, aber dass dies nicht ohne die Unterstützung der obersten politischen Ränge geschehen war, war allen klar.

Hans Holmér erfüllte viele der Anforderungen, die an den Leiter der wichtigsten Mordermittlung Schwedens aller Zeiten gestellt wurden. Er war unerschrocken, entschlossen und kannte den Polizeibetrieb nur zu gut durch seine Zeit als Chef der Säpo und der Bezirkspolizei. Sein politisches Netzwerk war umfassend, besonders mit Blick auf die regierende sozialdemokratische Partei. Zusammen mit seinem engen Freund Ebbe Carlsson hatte er Olof Palme oft aus der Klemme geholfen. Die IB-Affäre und die Geijer-Affäre waren nur zwei Beispiele für Verstrickungen, die zum Rücktritt des Ministerpräsidenten hätten führen können und die Hans Holmérs Loyalität und Härte auf die Probe stellten. Und jedes Mal hatten er und Ebbe Carlsson Palme bewiesen, dass sie schwere Krisen abwenden konnten. Jetzt war Holmérs langjähriger Auftraggeber ermordet worden, und es war an ihm, den oder die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

Um 10.50 Uhr am Samstag, dem 1. März, betrat Hans Holmér das Polizeipräsidium, um die Ermittlungen im Mordfall Olof Palme zu übernehmen. Er hatte bereits die Anfrage des Justizministeriums, ihm einen Beobachter zur Seite zu stellen, akzeptiert, und Staatssekretär Harald Fälth hatte einen Ministerialrat hinübergeschickt, der den Ermittlungen beiwohnen sollte. Dass ein Regierungsrepräsentant an einer Ermittlung beteiligt war, verstieß an und für sich gegen die schwedische Verfassung, aber außergewöhnliche Umstände erforderten außergewöhnliche Maßnahmen.

Medien und Öffentlichkeit warteten auf Neuigkeiten, also beraumte Holmér die erste von vielen Pressekonferenzen an. Nach einer sehr kurzen Einweisung durch seine Mitarbeiter beschloss er, eine der gesuchten Personen aus der landesweiten Fahndung herauszunehmen, sodass in dem neuen Text nur noch von einem Täter die Rede war. Seine Beweggründe behielt Holmér für sich.

Es war zwölf Uhr, als Holmér den Presseraum des Polizeipräsidiums betrat und so selbstsicher die erste Pressekonferenz führte, dass ihm noch vor Jahresende der Titel »Schwede des Jahres« verliehen wurde.

Der Druck war enorm. Holmér trug die Verantwortung über die Ermittlungen in einem Mordfall, auf den die ganze Welt blickte. Viele hatten damit gerechnet, dass er einen seiner qualifiziertesten Ermittler zum Fahndungsleiter ernennen würde, doch zur Überraschung aller übernahm er selbst diese Rolle, obwohl er keinerlei Erfahrungen mit Mordfällen hatte. Innerhalb der Ermittlungsgruppe, die nach nur einem Tag schon mehr als zweihundert Mann stark war, gab es definitiv genügend andere Polizisten, um dieses Manko auszugleichen.

Besonders an den ersten Tagen herrschte große Unsicherheit. Der Mord an Olof Palme hätte den Auftakt zu etwas viel Größerem markieren können. Vielleicht den Anfang eines Putschs. Das Erste, um das sich Holmér kümmerte, war sein eigener Schutz. Statt sich in die Hände der nun kompromittierten Säpo zu begeben, stellte er vier private Leibwächter an, denen er zu hundert Prozent vertraute. Ein paar von ihnen hatten der sogenannten Baseballliga angehört, einer anonymen Gruppe von Polizisten, die statt einer Uniform Baseballkappen trugen und Anfang der Achtzigerjahre bei der Aufklärung der Ausschreitungen in der Stockholmer Innenstadt geholfen hatten.

Dann versicherte sich Holmér, dass die Regierung hinter ihm stand. Dafür war es notwendig, den neuen Ministerpräsidenten des Landes, Ingvar Carlsson, aufzusuchen. Bereits zwei Tage nach dem Mord fand dieses Treffen statt.