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Ein neues Lese- und Vorlesevergnügen von Usch Hollmann mit heiter-ironischen Weihnachtsgeschichten Anspruch und Wirklichkeit des Umgangs mit der Weihnachtszeit klaffen ja bekanntlich in vielen Familien auseinander. Usch Hollmann schildert deshalb das Verhalten und die kleinen Schwächen ihrer Mitmenschen bei ihren teils modernen, teils nostalgischen Weihnachtsritualen mit humorvollem Verständnis. Vom "Weihnachtsmuffel" bis zum "Weihnachtsfreak" werden sich viele Leser in den unterschiedlichen Geschichten wiederfinden. Von dem Trend, Weihnachtsgeschichten entweder mit hämischem Sarkasmus oder tränenschwangerer Sentimentalität zu durchtränken, hat sich Usch Hollmann nicht anstecken lassen. Im Gegenteil, wie in Hollmanns drei "Lisbeth"-Büchern geht es wieder sehr kurzweilig zu, denn - wie nicht anders zu erwarten - verlaufen alle Aktivitäten rund um die Weihnachtszeit deutlich anders als geplant. Neben der Titel gebenden Erzählung "Stille Nacht light" enthält der Band neue, aber auch einige bereits in früheren, zumeist vergriffenen Ausgaben erschienene Erzählungen, wie z. B. "Spekulatius und Springerle". Aber auch über ein paar neue weihnachtliche "Lisbeth-Geschichten" können sich die Usch Hollmann-Fans freuen. So finden sich in diesem Band sowohl längere als auch kurze, für jede Stimmung passende, teils heitere, teils besinnliche Weihnachtsgeschichten, die sich besonders auch zum Vorlesen eignen. Die eingestreuten, von der Autorin erprobten Weihnachtsrezepte verlocken zum Nachkochen und -backen.
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Seitenzahl: 215
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DIE AUTORIN: Seit 1993 hat Usch Hollmann mit ihrer münsterländischen Kunstfigur „Lisbeth“ zunächst mit wöchent li chen Kolumnen bei verschiede nen Lokalsendern eine große Hörerschaft erobert und mit zahlreichen Live-Auftritten ihr Pub likum begeistert. In der Folge sind ihre „Büchskes“ zu regionalen Best sellern geworden. Im münsterischen Solibro Verlag (früher NW Verlag) erschienen in zusammen bislang zwölf Auflagen. Hallo Änne, hier is Lisbeth ... (1996), Wat is uns alles erspart geblieben! (1998) und Dat muss aber unter uns bleiben! (2006). Zwei anrührenden Weihnachtserzählungen mit dem Titel Spekulatius und Springerle (2002, vergriffen) bewiesen, dass ihr auch leise Töne gelingen. Ein Kinderbuch mit dem Titel Stoffel lernt spuken (mit einer Übersetzung ins Plattdeutsche von Käthe Averwald) liegt seit 2004 vor. Ein weiteres Lesevergnügen, Aber das wär’ doch nicht nötig gewesen! Heitere Geschichten vom Feiern, erschien 2008. Im neuesten Buch, Stille Nacht light. Weihnachtliche Erzählungen (2012), sind bereits bekannte, aber vor allem neue kurzweilige Weihnachtsgeschichten von Usch Hollmann zusammengefasst. Viele Jahre trat sie parallel mit der von ihr gegründeten Kabarettgruppe Fünf freche Frauen auf. Im Jahre 1999 wurde ihr für ihr vielseitiges Engagement der Kulturpreis des Kreises Steinfurt zugesprochen.
Usch Hollmann
Stille Nacht light
1.Matthias Menne: „Also, wenn Sie mich fragen ...“Neues vom „Nörgler“ bei radio Antenne Münster (1995-1996)Münster: Solibro (ehem. NW-) Verlag 1996ISBN 978-3-9802540-5-2
2.Usch Hollmann: „Hallo Änne, hier is Lisbeth ...“Die besten Telefongespräche der Quasselstrippe aus dem Münsterland. Münster: Solibro Verlag 7. Aufl. 2006 [1996]ISBN 978-3-9802540-6-9
3.Usch Hollmann: „Hallo Änne, hier is Lisbeth ...“Texte & Lieder von Usch HollmannMünster: Solibro (ehem. NW-) Verlag 1997a) CD: ISBN 978-3-932927-11-9 b) MC: ISBN 978-3-932927-12-6
4.Usch Hollmann: „Wat is uns alles erspart geblieben!“Neue Geschichten von Lisbeth aus dem MünsterlandMünster: Solibro Verlag 2. Aufl. 2005 [1999] ISBN 978-3-932927-13-3
5.Augustin Upmann / Heinz Weißenberg: BullemännerMünster: Solibro Verlag 2003ISBN: 978-3-932927-19-5
6.Helge Sobik: Urlaubslandsleute... jede Menge Vorurteile für die ReiseMünster: Solibro Verlag 2. Aufl. 2006 [2006]ISBN: 978-3-932927-30-0
7.Usch Hollmann: „Dat muss aber unter uns bleiben!“Noch mehr Geschichten von Lisbeth aus dem MünsterlandMünster: Solibro Verlag 2006ISBN 978-3-932927-31-7
8.Helge Sobik: Urlaubslandsleute 2... noch mehr Vorurteile für die ReiseMünster: Solibro Verlag 2007ISBN: 978-3-932927-34-8
9.Usch Hollmann: „Aber das wär’ doch nicht nötig gewesen!“Heitere Geschichten vom FeiernMünster: Solibro Verlag 2008ISBN 978-3-932927-41-6
10. Usch Hollmann: Stille Nacht lightWeihnachtliche GeschichtenMünster: Solibro Verlag 2012ISBN 978-3-932927-51-5
Usch Hollmann
WeihnachtlicheGeschichten
eISBN 978-3-932927-83-6 (epub)
1. Auflage 2012 / Originalausgabe
© SOLIBRO® Verlag, Münster 2013 [2012]Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, MünchenMotiv Weihnachtsmann (U1): © Penelope Edgar/CorbisMotiv Hund (U4): © iStockphoto.com/walikFoto der Autorin: © Kerstin Heil, Münster
www.solibro.de
Die Autorin
Stille Nacht light
Weihnachten am 24. September
Weihnachten ohne Geschenke?
Friede, Freude, frohes Fest?
Spekulatius und Springerle
Eine glückselige Weinnacht
Lisbeths Feiertage
Weihnachten hier und annerswo
Es ist nichts schwerer zu ertragen, als eine Reihe von üppigen Tagen
Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum, wie grün sind deine Nadeln
Frohes Fest – danke gleichfalls
Rezepte
Anzeigen
Es regnete den ganzen Tag. Novemberwetter! Trotz Regenschirm kam ich durchnässt und durchgefroren nach Hause. Ich hängte Mantel und Mütze zum Trocknen an die Garderobe, zog die Schuhe aus und holte ein paar alte Zeitungen aus dem Korb für Altpapier, denn – das hatten wir schon als Kinder gelernt – nasse Schuhe soll man mit Zeitungspapier ausstopfen.
Ich riss eine Seite heraus und wollte sie eben zusammenknüllen, da fiel mein Blick auf eine dicke Überschrift: „Jubel über den ersten Schnee in den Bergen!“ Wie ungerecht – und bei uns im Flachland schüttet es wie aus Eimern! Ich ballte das Papier zu einer lockeren Kugel zusammen und stopfte damit den linken Schuh aus.
Ehe ich mit der nächsten Seite und dem rechten Schuh ebenso verfahren konnte, fesselte mich eine zweite, deutlich kleiner aufgemachte Zeile:
„Weihnachtsmuffel haben’s schwer“.
Wer oder was sind Weihnachtsmuffel? Neugierig fing ich an zu lesen.
In einem ausführlicher Artikel hatten sich namhafte Soziologen, Psychologen und Anthropologen viele kluge, nachvollziehbare Gedanken gemacht und waren sich darin einig geworden, dass – Zitat: „Unsere altüberlieferten Weihnachtsrituale einen Fluss von Emotionen auslösen, der Menschen miteinander verbindet“. Deshalb gelte man schnell als „Weihnachtsmuffel“, also als Außenseiter, wenn man Gemeinschaft und Nähe nicht aushalten könne und deshalb brauche man möglicherweise sogar psychologische Hilfe stellung. Den „Weihnachtsfreaks“ hingegen, die der Ansicht sind, dass Weihnachtsgeschenke – viele Geschenke! – als „Kitt für ein friedliches Zusammenleben“ unerlässlich sind, sei in diesen Wochen dringend eine adventliche Entschleunigung anzuraten. Das Fest der Liebe könne sonst durch vorweihnachtlichen Stress schnell zu einem Desaster ausarten.
Nachdenklich glättete ich die schon arg zerfledderte Zeitung und überlegte: Bin ich ein Weihnachtsmuffel? Womöglich sogar eine Außenseiterin? Kann ich Gemeinschaft und Nähe gut aushalten?
Ich riss eine weitere Seite heraus und stopfte sorgfältig auch den zweiten Schuh aus.
Nein, ich bin zwar kein ausgesprochener „Weihnachtsfreak“, aber ein „Weihnachtsmuffel“ bin ich deshalb noch lange nicht. Ich kann Nähe gut aushalten. Ich freue mich sogar darauf, meine Familie und gute Freunde um mich zu haben. Die Vorweihnachtszeit jedoch empfinde ich seit langem als eher belastend und überhaupt nicht gemütlich, geschweige denn besinnlich, trotz Adventskranz und Kerzenlicht und Plätzchenbacken. Immer diese Hektik, von der man sich allzu leicht anstecken lässt. Wenn ich nur an den von angesagten Stilberaterinnen jährlich neu verordneten Deko-Stress für den Tannenbaum denke: Unsere seit immer und ewig verwendeten roten Kerzen und Kugeln gelten inzwischen als bestenfalls grenzwertig, seien aber genau genommen ein absolutes „No-go“. In diesem Jahr sei eine violette Deko ein „Must-Have“.
Frechheit – was fällt diesen Tussis ein? Wer ernennt sie überhaupt zu „angesagten Stilberaterinnen“? Das jahrzehntelang totgesagte Lametta als Schmuck für den ultimativen Tannenbaum sei hingegen wieder „mega-in“, seit es der chemischen Industrie gelungen ist, die glänzenden, spaghettilangen Fäden aus umweltfreundlichen Substanzen herzustellen. Jedoch gelte das Dekorieren der Christbaumzweige mit Engelhaar aus weißglänzender Glaswolle als ein absolut unverzeihliches „Not-to-do“.
Wie bitte? Ich liebe Engelhaar – seit den längst vergangenen Kindertagen gehört Engelhaar zu unserem Weihnachtsbaum, und das soll ich mir ausreden lassen? Soweit kommt das noch …
Bin ich ein Weihnachtsmuffel, wenn mich die vielen Weihnachtsfeiern anöden? Und die Dauerberieselung mit Weihnachtsliedern in den Kaufhäusern? Und die vielen Weihnachtsmärkte, die alle mehr oder weniger dasselbe anbieten?
Wer immer mir in dieser Zeit über den Weg läuft, klagt über fehlende Geschenkideen, über die jährliche wachsende Flut von Bettelbriefen in den Briefkästen – und alle fühlen sich gehetzt und genervt und überfordert. Und ich?
Ich las den Artikel noch einmal sorgfältig durch. Also das mit der adventlichen „Entschleunigung“, wozu die Soziologen, Psychologen und Anthropologen raten, das nehme ich mir schon seit Jahren vor. Ich will mich nicht immer wieder von vorweihnachtlicher Hektik anstecken lassen – aber meistens bleibt der gute Vorsatz auf der Strecke und ich hetze doch wieder mit einer endlos langen Einkaufsliste durch die Läden. Aber dieses Jahr soll alles anders werden. Dieses Jahr ziehe ich das mit der Entschleunigung durch, aber hallo! Ihr Soziologen, Psychologen und Anthropologen: Auch wenn ich weiß Gott kein „Weihnachtsfreak“ bin – bei mir fallen eure mahnenden Worte auf fruchtbaren Boden! Jetzt gleich fange ich mit der adventlichen Entschleunigung an.
Ich stellte meine mit Zeitungspapier vorschriftsmäßig ausgestopften Schuhe zum Trocknen auf die Kellertreppe und goss mir erst einmal einen Wintertee mit Zimt- und Bratapfelaroma auf. Schluss mit Stress und Hektik!
Am nächsten Tag bummelte ich – total entspannt im Hier und Jetzt – durch die Stadt. Auch das Wetter hatte sich beruhigt. Weder Bratwurstdüfte noch aufdringliche Weihnachtsmänner konnten mich aus der Ruhe bringen. Und wen treffe ich im Gewühle? Eine Schulfreundin aus längst vergangenen Tagen – Marlies. So eine Überraschung!
„Gehen wir einen Kaffee trinken?“
„Na klar, obwohl – eigentlich habe ich keine Zeit. Wer hat zwei Wochen vor Weihnachten als Hausfrau und Mutter schon Zeit und Muße zum Kaffeetrinken?!“ Marlies machte einen gestressten Eindruck, und ich sah das Treffen mit ihr als eine günstige Gelegenheit, mein erst kürzlich erworbenes neues Wissen über die Notwendigkeit einer adventlichen Entschleunigung an den Mann bzw. – in diesem speziellen Falle – an die Frau zu bringen.
Es gelang mir, sie davon zu überzeugen, dass wir aus mehreren Gründen die unverhoffte Gelegenheit zu einer gemütlichen Plauderstunde nutzen sollten.
Wir fanden einen Platz in der hintersten Ecke eines Cafés. „Zwei Tassen Kaffee bitte“, und schon ging es los: „Wie geht es dir? Was machen die Kinder? Wohnt ihr immer noch im elterlichen Haus?“ Fragen über Fragen, hin und her. „Und wie geht’s deinem Mann, Ludger?“ Marlies seufzte. „Auf den bin ich im Moment nicht gut zu sprechen, der macht mich zu all dem Weihnachtsstress noch zusätzlich nervös … dabei hat er mir gestern eine ‚Stille Nacht light‘ angekündigt.“
Stille Nacht light? „Wie muss man sich die vorstellen?“
Marlies seufzte wieder.
„Er will Weihnachten kochen.“
„Und? Das ist doch eigentlich ein nettes Angebot. Was spricht dagegen?“
„Was dagegen spricht? Ludger hält sich für den hiesigen Eckart Witzigmann. Und das, obwohl er nicht täglich Schickimickifutter in einem feudalen Fresstempel für zahlungskräftiges Publikum kocht, sondern höchstens alle Jubeljahre mal in der hauseigenen Küche etwas für die hauseigenen Esser brutzelt, streng nach Rezepten aus dem Internet und getreu seinem Motto: Wer lesen kann, kann auch kochen. Um ehrlich zu sein: Meistens kocht er erstaunlich gut, aber es misslingt natürlich auch einiges, und – das ist das eigentliche Problem – er hat kein Gespür für die erforderlichen Mengen. Meistens kocht er Portionen, mit denen man das halbe Vaterland verköstigen könnte.“
„Aber ihr habt doch bestimmt eine Gefriertruhe, warum frierst du den Überschuss nicht ein?“
„Darf ich nicht. Durch den Prozess des Einfrierens gingen wertvolle Aromen flöten, behauptet Ludger … so ein Quatsch, aber er lässt es sich nicht ausreden. Und deshalb müssen wir oft, wenn Ludger gekocht hat, drei Tage hintereinander dasselbe essen, bis es uns zum Hals heraushängt. Aber zu seiner Rechtfertigung zitiert er immer Wilhelm Buschs Witwe Bolte: Wofür sie besonders schwärmt, wenn es wieder aufgewärmt. Unsere Geschmacksnerven müssten verkümmert sein.“
Marlies kam in Fahrt. Wir bestellten zwei weitere Tassen Kaffee.
„Und jetzt hat er sich zu Weihnachten als Koch angeboten, angeblich um mich zu entlasten. Ich solle einmal ganz entspannt und ohne Küchenstress Weihnachten feiern können. Außerdem hätten wir bei den vielen Weihnachtsessen alle zugenommen, deshalb wäre in diesem Jahr zum Fest der Liebe ‚Stille Nacht light‘ angesagt, besonders was das Essen anbetrifft: Vorspeise light, Hauptgericht light, Nachtisch light. Und davor graut mir.“
Sie verdreht die Augen zur Decke.
„Und besonders graut mir davor, dass er sich vorgenommen hat, uns mit einem Sauerbraten zu verwöhnen. Ulrike, ich bitte dich: Weihnachten und Sauerbraten! Zu Weihnachten gibt es in deutschen Esszimmern oder Küchen entweder Kartoffelsalat mit Würstchen oder Gänsebraten – oder neuerdings Fleischfondue, aber doch niemals Sauerbraten. Aber er bleibt stur: Seine Mutter hätte traditionell an Weihnachten immer Sauerbraten zubereitet, mit Rosinen in der braunen Tunke und mit Klößen als Sättigungsbeilage. Und schon damals hätte der Sauerbraten am zweiten Tag – aufgewärmt! – noch besser geschmeckt als am ersten. Fräulein, bitte zwei Glas Prosecco.“
Ich wollte protestieren, aber da fiel mir mein guter Vorsatz in Bezug auf die vorweihnachtliche Entschleunigung ein, also hielt ich den Mund.
„Ich seh’ es kommen, dass wir vom 25. Dezember bis Silvester Sauerbraten essen müssen. Deshalb hält sich meine Vorfreude auf eine Stille Nacht light sehr in Grenzen.“
Wir prosteten uns zu: „Auf die adventliche Entschleunigung.“
„Ludger sieht sich jede Kochsendung im Fernsehen an, obwohl er an den Fernsehköchen insgesamt kein gutes Haar lässt. Die bieten nach seiner Ansicht den Zuschauern nur sogenannte ‚haute cuisine‘ an, lauter Schickimicki-Kram, was weiß ich – Kotelett vom Wellensittich mit Morchelsoße – und dabei reden sie ohne Punkt und Komma – laberlaberlaber. Herr Laver müsse eigentlich Laber heißen, und der kleine Lichter mit seinem lächerlichen Schnurrbart und dessen verbale Diarrhö mit rheinländischem Akzent geht Ludger erst recht auf die Nerven.“
Marlies war nicht mehr zu bremsen.
„Und er beklagt pausenlos, dass die Fresspäpste nie – aber auch wirklich nie! – zeigen, wie man einen guten Sauerbraten macht. Der ist denen nicht fein genug. Woher bekommt er jetzt ein Rezept für Sauerbraten? Ludgers Mama hat ihres natürlich mit ins Grab genommen“.
Marlies nahm einen weiteren großen Schluck Prosecco.
„Ist das nicht sowieso ein psychologisches Phänomen, dass Männer immer am liebsten das essen, was sie von Mamas Küche her kennen? Jede junge Hausfrau hat mit ihren kulinarischen Angeboten an den jungen Gatten in den ersten Ehejahren einen schweren Stand. Meine Art Sauerbraten hat bis heute jedenfalls keine Gnade gefunden bei Ludger – deshalb werde ich mich für den Rest meines Lebens hüten, noch einmal einen anzubieten.“
Ich unterbrach ihren Redefluss mit dem Hinweis, man könne beim Metzger doch schon fertig eingelegten Sauerbraten kaufen, aber Marlies winkte ab.
„Vergiss es, bei Ludgers Mama hätte es nie im Leben einen Sauerbraten mit von fremder Hand zubereiteter Beize gegeben. Eine Sauerbratenbeize selber herzustellen ist für eine gute Hausfrau Ehrensache.“
„Und nach welchem Rezept wird Ludger nun vorgehen?“
„Er hat sich wieder eines aus dem Internet gegoogelt … da gebe es mindestens dreißig verschiedene Rezepte, sagt er. Ich bin gespannt, ob sich sein Computerkurs wenigstens diesbezüglich gelohnt hat.“
„Noch einen Prosecco?“
Marlies schaute auf ihre Armbanduhr und erschrak.
„Nein, ich muss mich beeilen … Fräulein, zahlen. Ich lade dich ein, weil du mir so geduldig zugehört hast. Also das mit der Entschleunigung klingt gut, aber dieses Jahr wird bei mir wohl noch nichts daraus.“
„Und wie erfahre ich, wie das mit der Stillen Nacht light gelaufen ist? Das interessiert mich jetzt nämlich brennend.“
„Gib mir deine Telefonnummer, ich werde dir von dem zu erwartenden Desaster berichten … fröhliche Weihnachten – und danke für das Plauderstündchen.“
Weg war sie.
Auch ich stürzte mich wieder in den Trubel, aber getreu meinem guten Vorsatz absolut entschleunigt. Bis zum 24.12. ließ ich mich weder von vorweihnachtlichen Sonderangeboten, Prospekte verteilenden Weihnachtsmännern noch von „Jingle bells“ blockflötenden Musikschülern aus der Ruhe bringen. Ein Bogen Papier mit dem Aufdruck „Entschleunigung“ mit einem roten Ausrufezeichen dahinter klebte an unserer Küchentür, und der Advent verlief insgesamt beschaulich. Die Weihnachtsgans* geriet vorschriftsmäßig, meine Familie genoss das Zusammensein und es irritierte niemanden, dass ich den Tannenbaum wieder mit den bestenfalls als „grenzwertig“ eingestuften, uns aber vertrauten roten Kerzen und Kugeln geschmückt hatte.
Am ersten Weihnachtstag gegen Abend klingelte das Telefon.
„Hallo Ulrike, hier ist Marlies … Hast du die adventliche Entschleunigung durchgehalten? Glückwunsch! Du wolltest doch wissen, wie die Stille Nacht light bei uns verlaufen ist, oder?“
„Ich bin gespannt.“
„Um ehrlich zu sein: Es lief nahezu perfekt! Zumindest, was den Sauerbraten betrifft. Der ist weg, ratzfatz!“
„Ihr müsst also nicht bis Silvester Sauerbraten essen? Was ist passiert?“
„Hast du Zeit? Dann erzähle ich dir alles der Reihe nach.“
Ich machte es mir mit dem Hörer am Ohr auf dem Sofa bequem.
„Es fing damit an, dass in allen Rezepten aus dem Internet für einen typisch rheinischen Sauerbraten Pferdefleisch empfohlen wird. Aber da machte unsere Tanja Theater. Die befindet sich mit ihren vierzehn Jahren nämlich gerade mitten in der Pferdephase, hat ihr Zimmer mit Pferdepostern tapeziert, liest nur Pferdebücher, geht drei Mal in der Woche zum Voltigieren – und nun solle sie an Weihnachten „Trabtrab“ essen? ‚Papa, ich hasse dich‘. So weit wollte Ludger es zum Fest der Liebe nun doch nicht kommen lassen, also ging er brav zum Metzger seines Vertrauens und kaufte einen riesigen Brocken Rindfleisch. Im Internet hatten sie nämlich freundlicherweise eingeräumt, dass man Sauerbraten notfalls auch mit Rindfleisch zubereiten kann. So weit, so gut. Um die vielen Zutaten für die Beize zu besorgen, zog er einen ganzen Nachmittag durch sämtliche Lebensmittelläden der Stadt. Als er mit der Zubereitung anfing, mussten wir alle die Küche verlassen. Der Grund dafür: Die Beize verlange volle Konzentration, denn von ihr hinge das Gelingen eines guten Sauerbratens ab. Nach einer viertel Stunde roch das ganze Haus bis unters Dach nach Essig, aber ich habe mich nicht eingemischt. Ich wurde erst biestig, als ich anschließend das Schlachtfeld in der Küche aufräumen durfte und mein größter Kochtopf mit der Beize und dem eingelegten Braten für den Rest der Woche den Kühlschrank blockierte. Um es kurz zu machen: Das Thema Sauerbraten ist bei uns bis in alle Ewigkeiten gestorben. Ludgers Sauerbraten war nämlich ungenießbar. Viel zu sauer und viel zu weich, das Fleisch war eine einzige Matsche.“ Sie lachte unbekümmert.
„Peinlich, peinlich … und was hat Ludger dazu gesagt?“
„Der war natürlich mindestens so sauer wie sein Sauerbraten, aber er machte einen auf unschuldig. Er hätte sich genau an die Anweisungen aus dem Internet gehalten und könne schließlich nichts dafür, wenn die da Blödsinn veröffentlichen.“
„Und was hast du mit dem vielen Fleisch gemacht? Muss euer Hund jetzt bis Silvester Sauerbraten fressen?“
„Wo denkst du hin, noch nicht einmal der mochte ihn. Der hat bloß die Rosinen gefressen. Aber das ist tatsächlich ein Problem: wohin mit soviel ungenießbarem Fleisch? Klein schneiden und durchs Klo spülen geht nicht wegen der Ratten in der Kanalisation. Ich habe ihn in Zeitungspapier eingepackt und in der Restmülltonne entsorgt. Aber mach dir keine Sorgen – wir sind nicht verhungert, die Vorspeise war okay, ebenso die Klöße aus dem Päckchen und der Rotkohl aus der Dose. Dafür war der Nachtisch sowohl lecker als auch light, wenn auch nicht besonders festlich: Apfelschnee* mit Zimt.“
Wir lachten beide.
„Und jetzt ist bei uns im wahrsten Sinne des Wortes Stille Nacht, allerdings nicht so light wie angekündigt. Tanja hat sich mit ihren neuen Pferdebüchern in ihr Zimmer verkrochen und Ludger schmollt, sitzt aber schon wieder am PC und googelt sich Rezepte für weitere Weihnachtsmenüs raus. Ich hab mir ’ne Flasche Wein aufgemacht und fühle mich endlich total entschleunigt. Aber nächstes Jahr fange ich mit der Entschleunigung schon am 1. Adventssonntag an. Man darf den Erkenntnissen der Soziologen, Psychologen und Anthropologen, was Weihnachten betrifft, ruhig vertrauen. Wie gut, dass wir uns getroffen haben …“
Wir plauderten noch eine Weile, wünschten uns gegenseitig „Frohen Rest“ und nahmen uns vor, in Kontakt zu bleiben.
Eine Stunde später klingelte das Telefon wieder. Wir hatten uns gerade eine CD mit Weihnachtsliedern aufgelegt und Bing Crosby besang seinen Traum von „White Christmas“. „Hier ist noch mal Marlies … Du, ich habe eben beim Aufräumen im Altglas eine leere Flasche Essigessenz gefunden … Stell dir vor, Ludger hat den Sauerbraten mit Essigessenz zubereitet. Als ich ihn darauf ansprach, fragte er mich doch tatsächlich, worin denn – bitteschön! – der Unterschied zwischen Essig und Essigessenz bestünde. Ich habe ihm geraten, auch diese Wissenslücke via Internet zu schließen … Soviel zum Thema ‚Wer lesen kann, kann auch kochen‘. Und das mit der ‚Stillen Nacht light‘ ist endgültig abgehakt. Es sieht übrigens im Moment so aus, als gäbe es stattdessen eine ‚Stille Nacht white‘ – es hat nämlich angefangen zu schneien“.
„Oh, das trifft sich gut“, sagte ich und hielt den Hörer in die Nähe des CD-Players.“ Ich schließe mich den Worten von Bing Crosby an, kannst du ihn hören?“
Er war gerade bei der letzten Textzeile angelangt, und ich sang mit: „May your days be merry and bright, and may all your Christmasses be white ... bzw. light“.
*siehe dazu den Anhang mit Rezepten
*siehe dazu den Anhang mit Rezepten
Gibt es nicht in fast jeder Familien ein Mitglied, das – um es vorsichtig auszudrücken – ein bisschen aus der Spur läuft? Einen spleenigen, skurrilen Typen, ein Original?
In unserer Familie jedenfalls gibt es solch ein Exemplar, unseren Onkel Hubert. Nicht, dass er ein wirklicher Exzentriker wäre, nein, seine Macken sind zwar zahlreich, aber durchaus liebenswert, weswegen wir, seine Verwandten, ihn ganz besonders gern mögen. Und seine „ehemalige Verlobte“, wie er bisweilen unsere Tante Uta nennt, mit der er seit fast vierzig Jahren verheiratet ist, ist aus ähnlichem Holz geschnitzt.
Neben anderen Besonderheiten schätzen wir z. B. ihre Art, Glückwünsche oder Urlaubskarten zu formulieren, wovon ich als Nichte besonders profitiere.
Onkel Hubert und Tante Uta sind zu ihrem Leidwesen kinderlos, was sich aber für mich durchaus als Vorteil erweist, da sie mich offensichtlich so sehr in ihre Herzen geschlossen haben, dass kein Geburtstag, kein Weihnachtsfest vergeht, ohne dass sie an mich denken.
Einmal erhielt ich eine Weihnachtskarte, auf der Vorderseite bedruckt mit „Frohes Fest“ und Tannenzweigen und Kerzen und Goldflitter und allem nur erdenklichen Weihnachtskitsch. Auf der Rückseite warnte eine kleine Notiz in Onkel Huberts Handschrift: „Vorsicht, diese Karte wurde aus 100% recyceltem Toilettenpapier gefertigt – nach dem Lesen bitte gründlich die Hände waschen.“
Tante Uta liebt es, Kartengrüße in Reimform zu verschicken. Mal kurz und knapp, wie „Was nützen Dir Grüße von Hinz und Kunz? Stattdessen sei herzlich gegrüßt von uns“, mal ausführlicher. Als ihr einmal ihres Rheumas wegen ein Aufenthalt in einer Kurklinik verordnet worden war, erhielt die Verwandtschaft einen Lagebericht mit folgendem Inhalt:
„Wer alt und krank und schicksalsergeben,
kann hier vielleicht nochmal etwas erleben.
Doch wenn der Masseur mit starken Händen
traktiert die Gegend deiner Lenden,
möchtest du an die Decke springen
und hörst vor Schmerz die Englein singen.
Und sonst? Kurschatten? Nein, lieber nicht –
die Auswahl erleichtert dir den Verzicht.
Drum rate ich Kranken und allen Gesunden,
Kurkliniken möglichst weit zu umrunden!“
Nachdem Onkel Hubert sich zur Anschaffung eines Computers und gleichzeitig zur Teilnahme an einem Computerkursus entschlossen hatte – „Man muss ja mit der Zeit gehen, auch wenn’s schwerfällt“ – blieben die Postkartengrüße aus. Dafür erreichten mich Urlaubsberichte per E-Mail von seinem Laptop, auf die ich mit der Zeit genauso erwartungsvoll lauerte, zumal sie detaillierter waren.
Die erste von vielen Mails kam von einer Kreuzfahrt, zu der er und Tante Uta sich von wohlmeinenden Freunden hatten überreden lassen. Eine Kreuzfahrt sei der absolute Hit, den man sich besonders im etwas fortgeschrittenen Alter nicht entgehen lassen solle – wenn man es sich denn leisten könne.
Tante Uta und Onkel Hubert konnten es sich leisten, aber besonders Tante Uta hatte sich lange gegen die Teilnahme an solchen Reisen gewehrt. Sie hatte gegen Kreuzfahrtschiffe generell große Vorbehalte, nicht nur der desaströsen Umweltschäden wegen, die dieses verursachen, sondern auch, weil sie sie für „schwimmende Altersresidenzen“ hielt. Was sie dennoch bewogen hatte, an einer solchen Schiffsreise teilzunehmen, blieb uns allen ein Rätsel. Aber wir freuten uns auf entsprechende Mails, besonders als sich schon nach ein paar Tagen herausstellte, dass Kreuzfahrten, entsprechend Tante Utas Befürchtungen, sich doch nicht als der absolute Hit erwiesen.
Onkel Hubert schrieb – nach Utas Diktat – unter anderem:
„Das tollste Erlebnis auf hoher See
ist die tägliche Schlacht am kalten Büffet,
wenn bei effektvoll gedimmtem Licht,
der Käpten launige Grußworte spricht.
Einhundert Rollatorgestützte Senioren,
eröffnen den Einzug der Gladiatoren,
die sich mit Kampfgeist und Siegeswillen,
unter Hauen und Stechen die Teller füllen.“
Zahlreiche ähnliche Schilderungen folgten, und die ganze Verwandtschaft hatte ihr Vergnügen daran.
Ab Anfang Mai jedoch bekamen Onkel Huberts Mails eine völlig andere Klangfarbe.
„Ihr Lieben alle. Eure Tante Uta hat vom Arzt den dringenden Rat erhalten, ihres Rheumas wegen den norddeutschen Winter künftig zu meiden und stattdessen von Oktober bis März den wärmeren Süden vorzuziehen. Wir haben uns schon um eine entsprechende Winterresidenz gekümmert und werden in diesem Jahr erstmalig testen, ob die südliche Wärme ihr guttut. Ab Oktober sind wir dann mal weg (s. Anhang). Euer Onkel Hubert.“
Der „Anhang“ zeigte eine hübsche kleine Finca unter blauem Himmel vor blauem Meer und weißem Strand.
Ich erschrak und mailte zurück, wie leid es mir Tante Utas wegen tue, fügte aber hinzu:
„Und was wird aus Weihnachten?“
Weihnachten ohne Onkel Hubert und Tante Uta ist für mich nämlich unvorstellbar, schon wegen der heißersehnten „Quatschgeschenke“, die ich jährlich von ihnen erhalte, wenn ich sie am Spätnachmittag des Heiligen Abends besuche.
Tante Uta liebt Weihnachten. Sie ist, um es im heutigen Sprachgebrauch zu formulieren, ein „Weihnachts freak“. Sie gestaltet das Fest noch immer wie „anno dunnemals“, wie sie es selber nennt. Also mit Tannenbaum und Weihnachtsliedern und einem Besuch der Christmette – und mit Geschenken. Sie selber wollen zwar absolut keine Geschenke – Kind, wir haben doch alles! – aber sie lieben es, selber Geschenke zu machen, sorgfältig ausgesuchte „Quatschgeschenke“. Es handelt sich dabei immer um irgendeinen mehr oder weniger originellen Tinnef. Einmal war es eine geschmacklose Spieldose aus Taiwan mit schrecklich falsch geklimperten Weihnachtsliedern, ein anderes Mal eine chinesische Schneekugel mit nur notdürftig bekleideten, mandeläugigen Engelchen darin. Im letzten Jahr fand ich in meinem Päckchen einen feuerroten Flaschenöffner, der bei Benutzung zuerst ein gluckerndes Geräusch und dann das bierselige Lachen von Homer Simpson ertönen lässt. Der war in der Folge bei jeder zu öffnenden Bierflasche natürlich der Clou im Freundeskreis, zumindest bei den Fans der Zeichentrickserie aus dem Fernsehen.
An irgendeiner Stelle des Päckchens ist immer ein Geldschein versteckt, den es zu entdecken gilt und den ich nach Gutdünken verwenden darf. Aber das „Quatschgeschenk“ ist mir immer noch wichtiger. Jedes Jahr freue ich mich darauf. Und damit soll nun Schluss sein, wenn die beiden womöglich irgendwo in der Pampa weilen, wo es keine Quatschgeschenke zu kaufen gibt?
Ich fürchtete um meine größte Weihnachtsfreude.
Onkel Hubert mailte postwendend zurück – wobei postwendend vielleicht nicht der korrekte Ausdruck ist:
„Liebe Nichte. Keine Panik, ich denke mir was aus. OH“
Damit war ich zunächst beruhigt. Onkel Hubert, auf dessen originelle Einfälle Verlass ist, würde eine Lösung finden.
Dennoch wartete ich sehnsüchtig auf die nächste Mail – und nachdem sie eintraf, entspannte sich ein geradezu hektischer Mailverkehr zwischen ihm und mir.