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Hintergründiger Humor, witzige Dialoge, großartiges Gespür für Land und Leute. Aschaffenburg ehrt mit einem Festival den Expressionisten Ernst Ludwig Kirchner, der hier geboren wurde. Doch dann erschüttern Mordanschläge das kulturelle Treiben. In der Künstlerszene macht sich Angst breit. Die Opfer waren heiße Anwärter auf den hochdotierten Kirchner-Preis. Geschahen die Morde aus Missgunst? Oder hat es jemand auf das Preisgeld abgesehen? Journalist Paul Stiller recherchiert im städtischen Kulturbetrieb. Er trifft auf lebensfrohe Freigeister, leichtlebige Modelle, skurrile Künstler – und einen skrupellosen Täter.
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Seitenzahl: 543
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Peter Freudenberger, Jahrgang 1960, ist fest mit der Main-Region verwurzelt. Er ist Journalist, schrieb für Zeitungen in Würzburg und Miltenberg. Seit Langem ist er als leitender Redakteur in seiner Heimatstadt Aschaffenburg für das »Main-Echo« tätig.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
©2020 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: mauritius images/Torsten Krüger
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Susann Säuberlich, Neubiberg
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-696-8
Main Krimi
Originalausgabe
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Ȇberall lauert Gefahr in einer
vordergründig heilen und hellen Welt.«
»Überall tun sich Abgründe auf.«
»Alles ist mit allem verbunden.«
»Und überall lauert ein irrealer Realismus.«
Lutz Liebstöckl
Herzerweichend trotzig blickt das kleine Huhn den Betrachter an. So lebensecht, als wollte es davonlaufen aus dem Bild, in dem es festgehalten ist. Mit der blutrot versinkenden Sonne im Hintergrund deutet der Künstler in seiner ganz eigenen Art an: Überall lauert Gefahr in einer vordergründig heilen Welt.
(E.Kautz über »Das Küken« von Liebstöckl)
Das Huhn spielte im Leben von Lutz Liebstöckl stets eine besondere Rolle.
Gern hatte er als Kind der Großmutter zugesehen, wie sie im Gehege hinter dem Siedlungshaus am Rande der Stadt das Geflügel fütterte. Noch aufregender war es, wenn der Großvater ein Huhn auswählte, ihm auf dem Hackklotz mit der Axt den Kopf abschlug und es danach augenzwinkernd losließ. Es flatterte ein Stück den Gartenweg hinab, abrupt verstummt, verzweifelt die Flügel schlagend, als könne es so dem Tod entrinnen. Beide Handlungen, das Füttern und das Schlachten, standen für die Macht des Menschen über die Kreatur, die ihm ausgeliefert war– auf Gedeih und Verderb. Und von der er zugleich zu leben vermochte.
Ebenfalls im Kindesalter hatte Liebstöckl seine Leidenschaft für das Malen entdeckt. Damals unternahm er erste Versuche, das Huhn und sein Sterben auf Papier zu bannen. Von diesen frühen Zeugnissen seiner Kunst war aber nichts mehr belegt. Voller Neid dachte er später an den Expressionisten Ernst Ludwig Kirchner, dessen Kinderkritzeleien vermutlich dank stolzer Eltern erhalten geblieben waren und sogar den Tod des großen Künstlers überdauert hatten. Die krakeligen Dampfloks besaßen heute einen astronomischen Wert, den Liebstöckls Strichhühner freilich nie erreicht hätten, selbst wenn der Vater, ein gehobener Finanzbeamter, sie nicht im Kamin verschürt hätte.
In der Kommunionklasse hatte der Pfarrer Münzer Liebstöckls erste künstlerische Huhnphase beendet, nachdem er einige Buntstiftentwürfe von Schlachtszenen im Religionsheft entdeckt hatte.
»Was sollen die grausamen Bilder?«, hatte er mit weihwässriger Tinte hineingeschrieben und die Unterschrift der Eltern verlangt.
Am selben Abend hatte der Vater drei Dinge getan, die dem sparsamen und gutmütigen Familienmenschen allerhand Kraft abrangen: Ende Mai noch einmal ein Kaminfeuer angezündet, dem neunjährigen Lutz eine Tracht Prügel verabreicht und ihm strikt verboten, unbeaufsichtigt den Großvater zu besuchen.
Der Malerei blieb Liebstöckl aber treu. Dabei war es keinem seiner Kunstlehrer am humanistischen Gymnasium gelungen, das Talent zu entdecken, das in ihm schlummerte, regelmäßig aus ihm herausbrach und sich auf Papier doch ganz offensichtlich manifestierte. Seine Kunstnoten kamen über »ausreichend« nie hinaus. Er hatte sich damals mit dem Gedanken getröstet, dass dieselben Lehrerbanausen sicher auch Kirchners frühe Züge nicht besser benotet hätten. Zudem konnte »ausreichend« auch »ausreichend gut« bedeuten.
Nach dem Abitur war ihm freilich klar geworden, ausreichend für den Lebensunterhalt würde seine Malerei nie sein. Er hatte daher beschlossen, wie sein Vater die Beamtenlaufbahn einzuschlagen, aber einen Zweig gewählt, der ihm neben dem Beruf genug Zeit ließ, seiner Berufung zu frönen. Liebstöckl wurde Lehrer.
Die Rechnung ging auf, zumal er sich für Latein als Lehrfach entschieden hatte– eine tote Sprache, in der sich abgesehen von gelegentlichen Marotten in der Aussprache nichts mehr veränderte. Was er an Zeit für die Unterrichtsvorbereitung sparte, widmete er dem Malen. So zählte er bald zu den produktivsten Aquarellisten im süddeutschen Raum.
Zugleich hatte Liebstöckl ein Sujet gefunden, das er mit keinem anderen Künstler teilte– das Huhn.
Anfangs hatte er sich noch der Vielfalt der bäuerlichen Idylle verschrieben. Mägde mit Kopftüchern, Leinenröcken und Holzschuhen beim Heumachen oder beim Melken von geflecktem Vieh. Barfüßige Kinder mit Schürzen, die Gänse zum Wasser und Schweine in den Koben treiben. Bauern in grünen Joppen und polierten Stiefeln mit dem Ochs beim Pflügen, Bäuerinnen in Spessarttracht, wie sie den Speck schneiden, Kleinkinder stillen oder bei Sonnenuntergang Arm in Arm mit dem Bauern auf der Bank vor der Hütte sitzen.
Doch dann erzielte ein Aquarell im Serviceclub der Rotalions, deren Mitglied er war, einen durchschlagenden Erfolg. Es war eine Reminiszenz an seine Kindheit, »Großmutter beim Hühnerfüttern«, wobei er die Szene in einen Bauernhof bei Breitendiel, vielleicht auch Beuchen oder Buch, verlegt hatte. Plötzlich bestellte jeder im Freundeskreis ein Bild dieser Art.
Liebstöckl lieferte zunächst einige Variationen, ließ dann die Großmutter weg und reduzierte die Zahl der Hühner nach und nach bis auf zwei oder gar nur ein Exemplar. Ihr Sterben thematisierte er freilich nicht mehr, zu gut erinnerte er sich an die Schmach, die ihm das eingetragen hatte. Nie sollte ein Huhn den Tod von seiner Hand finden, auch nicht in der Kunst.
Bald gingen ihm die Huhnvorlagen in den Biologiebüchern der Schulbibliothek und im schier unerschöpflichen Internet aus. Er durchstreifte das Mainviereck, die Spessarttäler und die lichten Höhen des Odenwalds. So war er eines Tages im Bachgau auf Schloters Eierfarm gestoßen.
Liebstöckl war sofort begeistert gewesen. Tausend Hühner in sämtlichen Altersstufen. Fortlaufend wurden die alten gegen junge ersetzt, nach gut zwei Jahren waren alle ausgetauscht. Ein unerschöpfliches Reservoir. Allesamt weiß, wie er es bevorzugte, wegen des Schattenspiels im Gefieder.
Der alte Schloter hatte ihm nie erlaubt, das Gehege zu betreten, um die Legehennen nicht zu verstören. Er hatte ihm aber einen Platz direkt am Zaun zugewiesen, den er mit seiner Staffelei und dem Dreibeinhocker beziehen durfte. Er lockte die Hühner mit der begehrten Körnermischung eines Kleinheubacher Futterfabrikanten in seine Nähe. Ging ihm der Vorrat zur Neige, zerkrümelte er die Müsliriegel, die er beim selben Futterfabrikanten für sich selbst bezog. »Vitalkorn– der gesunde Start in einen lebendigen Tag«.
Elf Jahre verbrachte Liebstöckl jede freie Minute am Rande der Farm. Die Hühner bereicherten sein Leben, nicht nur durch den materiellen Erfolg, sondern auch durch die vielen Glücksmomente, die er ihnen verdankte.
Das friedliche Bild, das sich soeben bot, wäre ein solcher Augenblick gewesen, wenn er es hätte miterleben können. Mit einem elektrischen Summen öffnete sich eines der Rolltore. Von einer Zeitschaltuhr gesteuert, gab es die Luke der Stallabteilung frei, in der Schloter die noch nicht geschlechtsreifen Hennen hielt, Küken eigentlich, gut zwanzig Wochen alt. Da sie noch nicht legten, hatten sie das Privileg, die Freiheit früher zu genießen als die älteren.
Jetzt drängten die ersten zur Öffnung, reckten die Hälse, streckten den Kopf hinaus und zogen ihn wieder zurück. Sie schienen zu blinzeln, misstrauisch oder geblendet.
Die Sonne hatte sich schon ein gutes Stück über die sanften Ausläufer des Odenwalds im Osten gestemmt, träge, als falle ihr das Aufgehen so schwer wie Liebstöckls Großmutter einst das Aufstehen, wenn sie es im Kreuz hatte. Die Luft leuchtete honigfarben im frühen Sonnenlicht, das aus dem Bach im Talgrund feine Nebelfäden sog. Am Ufer, nur von einer Streuobstwiese und dem Freilandgehege vom Bach getrennt, lag Schloters Eierfarm. Ein verspäteter Steinkauz segelte darüber hinweg und verschwand im Geäst eines alten Apfelbaums.
Der archaische Vogel, das Licht, der Nebel über dem von Weiden und Eschen gesäumten Bach, die Einsamkeit des Hühnerhofs– ein Bild, wie es Liebstöckl niemals hätte besser malen können.
Endlich ergriff eine der angehenden Legehennen die Initiative. Berta623 löste sich von den anderen, wagte sich auf die Rampe, die ins Freilandgehege führte. Eben hatte sie noch einen der potenziellen Feinde über den Stall fliegen sehen. Doch etwas anderes war stärker als ihre Furcht: die Gier. Da draußen war der Zweibeiner, der die wunderbaren Körner besaß. Sie sah ihn nicht, die Distanz war zu groß, aber alle sonstigen Sinne sagten es ihr. Instinktiv begann sie, sich zu beeilen, um ihn vor den anderen zu erreichen.
Am Fuß der Rampe verlor sie fast den Halt, flatterte leicht und zeterte ärgerlich.
Verflixt, jetzt waren die Konkurrentinnen aufmerksam geworden. Es rappelte auf den Metallplatten, sie drängten hinterher. Als sei sie vor ihnen auf der Flucht, wetzte Berta623 über die schorfige Wiese. Bei jedem Tritt ruckte ihr Kopf nach rechts und links, damit sie den Weg besser im Blick hatte. Erst auf die letzten Meter verlangsamte sie ihr Tempo. Etwas stimmte nicht mit dem Zweibeiner.
Sie hatte ihn gut erzogen, was ihr nicht schwergefallen war, denn er war gelehrig, wie alle seine Artgenossen. Ja, es ließen sich Zeichen von Intelligenz an ihnen entdecken. Nicht umsonst hatte der Urhahn sie wie das Huhn mit einem aufrechten Gang gesegnet. Ihre Flügel waren allerdings stark zurückgebildet und im Grunde zu nichts zu gebrauchen– außer zum Verteilen der Körner.
In der kurzen Zeit ihres Hoflebens hatte sich Berta623 bei ihm mit einem Basis-Dressurprogramm begnügt. Wenn sie sich näherte, hatte er zu zeigen, dass er sie erkannte. Sein Gesicht sollte sich rot färben, dabei musste er die Winkel seines flachen, aber breiten Schnabels nach oben ziehen. Das Wichtigste aber: Sobald sie den Zaun erreichte, hatte er den mageren Flügel durch die Maschen zu strecken, mit seiner Kralle die Körner vor sie hinzustreuen und ein paar seiner unverständlichen Gurgellaute auszustoßen. Zu echter Kommunikation waren diese Wesen nicht fähig, Berta623 bezweifelte, dass es ihr je gelingen würde, ihm die Grundzüge ihrer Sprache zu vermitteln.
Die alten Legehennen, erfahrener im Umgang mit den Zweibeinern, zeterten oft, das Huhn werde von ihnen für dumm gehalten. »Du dummes Huhn«, wollten sie herausgehört haben. Über eine solche Verblendung konnte Berta623 nur hellauf gackern. Sie war nicht dumm. Die Zweibeiner waren es; dieser jedenfalls. Er hatte offensichtlich alles verlernt, was sie ihm beigebracht hatte. Keine Begrüßung heute. Dabei sah sie ihn abwechselnd mit dem einen und dem anderen Auge deutlich auf der anderen Seite des Zaunes. Sie war nah genug. Er lag faul am Boden. Kein rotes Gesicht, kein verbogener Schnabel, kein Gurgeln– und kein Flügel, der sich durch die Maschen schob.
Er bewegte sich überhaupt nicht. Und er verströmte einen verstörenden Geruch, ganz ähnlich dem der Hühner, die vor einigen Tagen der Fuchs, der Erzfeind, gerissen hatte. War das nicht der Hauch des Todes?
Berta623 zögerte, gackerte grollend, reckte den Hals und wand den Kopf schneller nach rechts und links, um einen besseren Überblick zu bekommen.
Die anderen hatten sie fast eingeholt. Da entdeckte sie die Kralle des Zweibeiners. Sie lag dicht am Zaun und hielt den Rest des Körnerkekses, den Berta623 noch lieber mochte als die losen Krumen. Entschlossen, ihren Vorsprung zu nutzen, reckte sie den Kopf nach vorn, stieß den Schnabel durch eine Masche. Sie erreichte eben den Körnerkeks und begann zu picken. Die Kralle des Zweibeiners ließ die Beute los, doch Berta623 hütete sich, sie auf ihre Seite des Zaunes zu ziehen. In dieser Position kam nur sie allein an das leckere Futter heran. Die anderen gackerten gierig und hackten die Schnäbel in ihr Gefieder. Doch sie wich nicht zur Seite, ihre Krallen scharrten Staub nach hinten, um die Neider zu vertreiben. Sie ließ sich auch vom ungewohnten Geschmack der Krümel nicht abhalten und pickte weiter. Sie war ja nicht dumm.
1
Die Kaffeemaschine hätte sogar Tote aufgeweckt. Stiller döste nur noch leicht vor sich hin, doch das Fauchen des Milchschäumers in der Küche unter dem Schlafzimmer riss ihn vollends aus dem Schlaf. Auf dem Bauch liegend, hob er sein Nokia 6210 vom Boden auf und sah aufs Display. Kurz nach halb sieben!
Brummend tastete er nach Ruth. Ihre Betthälfte war leer, aber noch warm. Also hatte er doch nicht geträumt. Sie war vor einer Weile vorsichtig aufgestanden und hatte die Tür leise hinter sich zugezogen. Auch ihr gedämpftes Summen unter der Dusche im Bad nebenan war keine Einbildung gewesen.
Stiller schwang sich aus den Federn. Sonst waren es die Kinder, die ihn pünktlich um sieben um die Nachtruhe brachten. Die Wände in diesem alten Häuschen am Legatplatz waren wie aus Pappe.
Er rubbelte mit der Hand über die Stirn und das wuschelige Haar. Was hatte Ruth heute früh geplant? Sie hatte es ihm am Abend erzählt, aber schlaftrunken, wie er war, fiel es ihm nicht mehr ein.
Das Fauchen des Milchschäumers hatte längst wieder aufgehört, als Stiller barfuß die Treppe herunterkam und die Küchentür öffnete. Ruth stand am alten Kiefernbüfett und drückte eine Weißbrotscheibe in den Toaster. Sie hatte ihm den Rücken zugedreht– und sah umwerfend aus. Sie trug den Minirock mit dem leicht verschwommenen Muster, wie Aquarellfarben, die jemand auf nasses Papier getropft hatte, dazu das Top in passendem Türkis, das ihre schmale Taille betonte. Den kräftigen roten Schopf hatte sie mit einem breiten grünen Haarband gebändigt.
Ruth drehte sich um und verharrte überrascht, als ihr Blick auf Stiller fiel. »Guten Morgen.« Sie lächelte. »Ich hab dich gar nicht kommen hören. Hab ich dich etwa aufgeweckt?«
»Guten Morgen.« Das Top betonte auch ihren Busen. Stiller löste sich vom Türrahmen, umrundete den Tisch und nahm sie in den Arm. »Keine Sorge, ich bin hellwach.« Was nicht ganz stimmte. Er drückte sie an sich. »Du siehst ja total scharf aus. Was hast du denn vor?«
Sie lachte. »Im Augenblick offensichtlich nicht ganz dasselbe wie du.« Sie wand sich aus seinen Armen. »Du hast mir gestern wieder mal nicht zugehört. Ich muss nach Frankfurt zum Flughafen. Den Spanier abholen.«
»Stimmt.« Es fiel ihm wieder ein. »Den Spanier.« Angeblich ein feuriger Liebhaber! Stillers Blick wanderte an Ruth hinab und blieb am Saum ihres Minirocks hängen. »Muss ich mir Sorgen machen?«
Sie schubste ihn leicht zur Seite. »Mach dir lieber einen Kaffee.« Das Weißbrot sprang aus dem Toaster. »Ich hab kaum noch Zeit fürs Frühstück.«
Stiller studierte die Knöpfe am Kaffeeautomaten. Er würde sich nie an dieses Ding gewöhnen. Auch Ruth benutzte es nur, wenn sie es eilig hatte, sonst zog sie, wie er, frisch gebrühten Kaffee vor. Er entschied sich für einen doppelten Espresso und ließ ihn heraus, während Ruth Butter und ein Glas ihrer Johannisbeermarmelade auf den Tisch stellte.
Kaum hatte sie sich gesetzt, sprang sie noch einmal auf und schaltete das Radio ein. »Verkehrsfunk«, sagte sie. »Ich will nicht am Offenbacher Kreuz im Stau stecken bleiben und den Flieger verpassen.«
»Hm.« Stiller war von Ruths Eifer nicht sonderlich begeistert. Ausgerechnet sie hatte es übernommen, diesen spanischen Künstler vom Flughafen abzuholen und in der kommenden Woche zu betreuen. Wie hieß er noch?
Stiller spürte in seinem morgenmüden Hirn nach dem Namen. Irgendwie hatte der komisch geklungen. Seit Tagen war von ihm die Rede. Der Mann war ein Star auf der internationalen Kulturbühne und der Stargast der bevorstehenden Kirchner-Woche in Aschaffenburg. Die örtliche Kunstszene war völlig aus dem Häuschen, seit er sich angekündigt hatte. Besser gesagt, die halbe Kunstszene, nämlich ihr weiblicher Teil. Und das lag weniger an seinem Ruf als neoexpressionistischer Maler. Der Spanier hatte einen noch größeren Ruf als Womanizer. Dieser Mann– eine Woche lang zusammen mit seiner Frau…
Wortlos nahm Stiller seinen doppelten Espresso und den Toast und setzte sich zu Ruth an den Tisch.
Sie hatte sich die Zeitung herangezogen. Jetzt sah sie auf. »Warum bist du denn so muffig? Wenn du willst, leg dich wieder ins Bett. Meinetwegen hättest du nicht aufstehen müssen. Du hast doch frei.«
Himmel, auch daran hatte er nicht mehr gedacht. Stattdessen war er noch früher aufgestanden als üblich, das verbesserte seine Laune nicht. »Ehrlich gesagt– ach, egal.«
»Was ist los? Raus damit.«
»Ehrlich gesagt, wundere ich mich ein wenig über deinen Aufzug.« Er mühte sich ein schräges Lächeln ab, während er Marmelade auf den Toast strich. »Du willst nach Frankfurt, um diesen Edelpinsel abzuholen, und dabei siehst du aus, als hättest du ein Date.«
»Na, hör mal!« Ruth klang eher belustigt als verärgert. »Das ist nicht irgendein Maler. Der Spanier ist der führende Aquarellist in Europa. Wie, meinst du, sollte ich ihn treffen? Muss ich mir einen Sack überziehen? Ich hab den offiziellen Auftrag vom Kirchner- und Kultur-Klub. Der erste Eindruck ist der wichtigste. Pablo soll uns nicht für Hinterwäldler halten.«
Stiller verkniff sich die Bemerkung, die ihm dazu auf den Lippen lag. Der Rummel um Ernst Ludwig Kirchner erschien ihm tatsächlich eher provinziell. Gerade mal die ersten fünf Jahre seines Lebens hatte Kirchner in Aschaffenburg zugebracht. Wirklich gelebt und gewirkt hatte er hier nie. Trotzdem war ein Fanclub entschlossen, daraus eine »Marke« für die Stadt zu entwickeln: die AKW. Die Aschaffenburger Kirchner-Woche sollte überregionales Aufsehen erregen mit diversen Ausstellungen, Künstlerwettbewerben und einem Festakt.
»Pablo«, wiederholte er stattdessen, froh, dass er wenigstens den Vornamen wiederhatte. »Der Spanier heißt Pablo?« Er spielte den Überraschten. »Vielleicht auch noch Picasso?« So etwas Ähnliches war es jedenfalls.
»Ha, ha, ha.« Ruth schien sich nun doch zu ärgern. »Du weißt es doch genau, er heißt Piazola.« Sie lispelte das»z«. »Pablo heißt übersetzt übrigens Paul.« Sie zwinkerte ihm zu. »Vielleicht hab ich deshalb den Auftrag bekommen.«
Stiller schluckte. »Begeistert bin ich trotzdem nicht. Ich kenne seinen Ruf. Der Typ nimmt jede Frau mit, die nicht bei drei auf dem Baum ist.«
Ruth schob ihren Teller geräuschvoll zur Seite. »Was soll das denn heißen? Denkst du da etwa an mich?«
Er hob besänftigend die Hände. »Nein, so war das nicht gemeint. Entschuldige. Aber ich habe gehört, dass er mit allen Frauen was anfängt, die ihm über den Weg laufen.«
»Da hast du vermutlich wieder nicht richtig zugehört.« Ruth umschloss ihre Tasse mit beiden Händen und hob sie hoch. »Er fängt nur was mit den Frauen an, die er malt. Und seine Modelle sind höchstens halb so alt wie ich.« Sie trank.
»Dann bin ich ja beruhigt.« Hoppla, hoffentlich hatte Ruth das nicht falsch verstanden. Mit ihren vierzig Jahren und ihrer Figur wirkte sie alles andere als alt. »Ich meine, beruhigt, dass er nur etwas mit seinen Modellen anfängt.«
Ruth bedachte ihn über den Rand ihrer Tasse hinweg mit einem schelmischen Lächeln. »Allerdings hat er mich gefragt, ob ich ihm nicht mal Modell sitze.«
»Untersteh dich!« Stiller war nicht mehr beruhigt.
»Reizen würde es mich schon.« Sie strahlte ihn an, dann wurde sie ernst. »Was denkst du eigentlich von mir?«
»Dass du eine höchst attraktive Frau bist. Also, ich würde bei dir schwach werden.«
Hinter seinem Rücken platzte Charlotte in die Küche. »Na, ihr Turteltäubchen?«, flötete sie. »Stör ich euch vielleicht?«
»Nein!« Stiller klang gereizter, als er es wollte.
Charlotte war das nicht entgangen. »Was hat er denn?«, erkundigte sie sich besorgt bei Ruth.
»Frag ihn besser selbst.« Ruth kniff ein Auge zu. »Ich glaube, dein Vater ist eifersüchtig.«
Charlotte umrundete den Tisch, setzte sich an Ruths Seite und musterte sie kurz. »Du siehst ja total scharf aus, Mama.«
»Dir fällt es also auch auf«, knurrte Stiller. »Deine Mutter hat ein Date mit einem spanischen Aktmaler.«
»Wow.« Charlotte war beeindruckt. »Stimmt ja, heute kommt Pablo Piazola. Meinst du den?«
»Ich hole ihn vom Flughafen ab«, stellte Ruth richtig.
»Wow«, wiederholte Charlotte. »Darf ich mit? Den würde ich irre gern mal kennenlernen.«
Stiller sah sie entsetzt an. Das Kind war sechzehn!
Ruth lachte. »Du musst zur Schule. Aber vielleicht kann er kommende Woche eure Kunstklasse besuchen.«
»Wow!«
Stiller schnaufte. »Noch ein ›Wow‹ und…« Sein Nokia klingelte. Er sah sich um und entdeckte es am Kaffeeautomaten, wo er es abgelegt hatte.
»Bleib sitzen.« Ruth griff hinter sich und reichte ihm das Handy, wobei sie einen kurzen Blick aufs Display warf. »Es ist Kleinschnitz.«
Stiller runzelte die Stirn, während er das Gespräch annahm. Kleinschnitz war sein Freund und als Zeitungsfotograf sein Arbeitskollege. Zwei Gründe, nicht schon morgens um sieben anzurufen.
»Ich bin’s, Peter«, sagte Kleinschnitz überflüssigerweise. »Du bist schon auf? Sehr gut.«
»Von wegen sehr gut. Wäre ich nicht schon auf, hättest du mich jetzt aus dem Schlaf gerissen.«
»Hör zu«, schnarrte Kleinschnitz aus dem Handy. »Was ich dir zu sagen habe, wird dich aufmuntern. Es gibt eine Leiche.«
»Eine Leiche?«, echote Stiller. Ruth und Charlotte starrten ihn neugierig an. »Davon gibt’s viele. Schau mal in die Todesanzeigen…«
»Das ist keine natürliche Leiche. Die Kripo ist vor Ort und die Spurensicherung schon unterwegs.«
»Was heißt ›schon unterwegs‹? Woher weißt du das so schnell?«
»Informantenschutz«, erklärte Kleinschnitz ausweichend.
»Ein Mord?«
Charlotte ließ ein weiteres »Wow« hören.
»Abwarten«, wiegelte Kleinschnitz ab. »Alles kann ich auch nicht wissen. Ich bin nicht der Fotograf aus dem Omen. Kennst du Schloters Eierfarm bei Wenigumstadt?«
»Klar kenn ich die.«
»Da liegt unser Toter.«
»Das heißt…«
»…eine männliche Leiche, ja. Schwing dich in deine Franzosenchaise und fahr los. Wir treffen uns dort.«
Irritiert sah Stiller zu Ruth. »Es gibt nur ein Problem: Ich hab den Kangoo nicht. Den braucht Ruth.« Er warf ihr einen fragenden Blick zu, worauf sie ihre Kaffeetasse scheppernd abstellte.
»Okay.« Kleinschnitz hatte das Geräusch richtig gedeutet. »Das ist kein Problem. Ich hol dich ab. In zehn Minuten bin ich da. Tschö mit ö.«
»Aufgelegt.« Stiller sprang auf. »Ich muss rasch duschen.«
»Eine Sekunde, Paul.« Ruth hielt ihn zurück. »Was soll das? Du hast dir die nächsten Tage freigenommen. Du wolltest mich bei den Vorbereitungen für die Kirchner-Woche unterstützen. Du wirst dir doch jetzt nicht die Berichterstattung in einem Mordfall ans Bein binden?«
Stiller senkte verlegen den Blick. »Das hab ich natürlich nicht vergessen. Ich will nur mal nachsehen, was da passiert ist. Vielleicht ist es ja gar kein Mord.«
»Ich kenne das.« Hilfesuchend wandte sich Ruth an Charlotte. »Wenn er erst mal drinsteckt, kriegen wir ihn hier nicht mehr zu sehen.« Sie drehte sich wieder Stiller zu. »Vor allem nachts…«
»Ruth, bitte.« Er flehte fast. »Eine Leiche. Das lesen die Leut! Ich muss dahin.«
Ruth seufzte. »Zum Glück habe ich ja den Spanier.«
»Was heißt denn das jetzt wieder?«
»Du hältst es mit den Leichen, ich mit den Lebenden. Jedem das Seine.«
»Viel Spaß«, schnaubte Stiller und stürmte aus der Küche.
»Dir auch!«, rief ihm Ruth hinterher. »Und wenn du schon bei Schloter bist, bring wenigstens ein Dutzend Eier mit.« Sie wurde noch etwas lauter. »Heute Abend gibt’s Tortilla! Und zwar ganz scharfe!«
»Wow«, schmetterte Charlotte.
***
Schloters Eierfarm lag gleich unterhalb der Straße, die nach Westen aus Wenigumstadt hinausführte. Kleinschnitz ließ den alten Buick in den Erschließungsweg hineinrollen, während Stiller die Lage peilte.
Das Gewimmel von Menschen und Fahrzeugen wirkte unübersichtlich. Wenn es eine Ordnung gab, blieb sie Stiller verborgen. Am Wegrand reihten sich mehrere Streifenwagen auf, dazwischen zwei metallgraue VW-Busse der Kriminaltechnik, ein Notarztwagen und ein Rettungsfahrzeug, einige noch mit blinkendem Blaulicht. Uniformierte Polizei und Sanitäter liefen zwischen den Wagen hin und her. In der Einfahrt zur Gärtnerei, die der Eierfarm gegenüberlag, hatte sich eine Gruppe Schaulustiger versammelt, in Schach gehalten von einem korpulenten Polizisten, den Stiller schon an der Körperform als Mike Staab erkannte, seinen alten Schachkumpel aus dem »Café Fischer«.
Er folgte den Blicken der Gaffer. Am Zaun des Hühnergeheges war ein halbes Dutzend Menschen zugange, vermutlich die Spurensicherung. Komplett in weiße Overalls gehüllt, wirkten sie wie riesige Legehennen.
»Da ist der alte Schloter.« Kleinschnitz wies mit dem Kinn auf einen hageren Greis in grünen Latzhosen, der mitten in der Hühnerwiese stand und telefonierte. »Ich kenn den ewig. War mit seinem Sohn auf der Schule.«
»Aha?« Damit war ja wohl klar, woher Kleinschnitz so früh von dem Toten gewusst hatte.
Ein paar versprengte Hennen flitzten und flatterten über die abgewetzte Wiese. Völlig aus dem Häuschen durch den Auflauf von Menschen und Maschinen fanden sie den Weg zum Hühnerstall nicht mehr. Mit dem freien Arm dirigierte der alte Schloter seine Helfer, die sie einfangen sollten, während er selbst weiter ins Handy sprach. Stiller fiel auf, dass er eine rote Strickmütze trug, obwohl es um kurz nach halb acht schon ordentlich warm war.
»Mit dem will ich reden«, sagte er. »Kannst du mich ihm vorstellen?«
»Grundsätzlich ja.« Kleinschnitz schnaubte verbiestert. »Wenn ich hier jemals einen Parkplatz finde.«
Stiller kannte seinen Tick, bloß keinen Schritt zu viel zu gehen.
Als sie an Schloters Zufahrt vorbeikamen, spurtete eine Streifenbeamtin mit blondem Pferdeschwanz auf den Buick zu und klopfte ans Beifahrerfenster. Stiller hatte den Presseausweis schon gezückt und drückte ihn gegen die Scheibe– mit einem Lächeln, das er für einnehmend hielt. Die erhoffte Wirkung blieb aus, die Frau winkte ihnen, weiterzufahren.
Unmittelbar vor dem Bachufer lenkte Kleinschnitz den Buick kurz entschlossen in eine Wiese und stellte ihn unter einer Esche ab. »Schatten«, sagte er. »was willst du mehr?« Er schnappte die Fototasche, die er zwischen sich und Stiller auf die Sitzbank geschoben hatte, und stieß die Fahrertür auf. »Schlag keine Wurzeln«, rief er ungeduldig.
Stiller fragte sich, was größer war: Kleinschnitz’ Abneigung zu laufen oder seine Angst, ein gutes Motiv zu verpassen. Er schlug die Tür zu und beeilte sich, hinterherzukommen.
Auf dem Weg zur Zufahrt kam ihnen schon die Beamtin entgegen, die sie weitergeschickt hatte. »Sie da«, sie deutete auf Kleinschnitz, »dürfen fotografieren. Aber bleiben Sie auf jeden Fall außerhalb der Absperrung.«
Enttäuscht betrachtete Kleinschnitz das rot-weiße Flatterband, das am Straßenrand gespannt war. Die Stelle am Zaun, an der sich die weißen Spurensucherhennen scharten, lag gut hundert Meter weg am Fußende des Grundstücks.
Stiller reckte den Hals. Er hatte noch keinen Leichenwagen entdeckt, und richtig: Am Boden wölbte sich die graue Plane, mit der sie den Toten abgedeckt hatten. Darüber war bereits ein Pavillon aufgestellt, um die Spuren zu schützen.
»Und Sie«, die Beamtin wandte sich an Stiller, »gehen da rüber. Zu den anderen.« Ihr Arm wies auf die Einfahrt zur Gärtnerei.
Stiller wehrte sich. »Das muss ein Missverständnis sein. Wir beide gehören zusammen.« Wieder hielt er den Presseausweis hoch.
Sie winkte ab. »Ich weiß, wer Sie sind. Die Kollegen nennen Sie die Zeitungsapostel. Peter und Paul.« Sie zog die Mundwinkel hoch, als handele es sich um einen Witz, über den sie nicht recht lachen konnte. »Trotzdem, die Anweisung kommt von Hauptkommissar Strobel. Er kann Sie hier jetzt nicht gebrauchen.«
»Okay, dann hör ich mich dort mal um.« Stiller trabte los, während Kleinschnitz einige Überblickbilder schoss und dann sein riesiges Teleobjektiv auf die Kamera steckte.
Mike Staab schritt schwergewichtig vor den Schaulustigen auf und ab, sah sie nicht an, sprach nicht mit ihnen, als habe er mit allem nichts zu tun.
Stiller stellte sich ihm in den Weg. »Servus, Mike«, begrüßte er ihn. »Gut, dass du hier bist. Glück im Unglück.«
»Ich platze gleich vor Glück«, gab Staab zurück. Da war was dran, sein Bauch schien die Uniformjacke fast zu sprengen. »Uns hast du jedenfalls gerade noch gefehlt. Woher weißt du überhaupt so früh Bescheid?«
Stiller umging die Antwort. »Das macht mich doch wohl nicht verdächtig?«
Staab tat, als müsse er darüber nachdenken.
»Seit wann bist du denn schon hier?« Stillers Kopf nickte in Richtung Eierfarm.
»War einer der Ersten.«
»Dann kannst du mir sicher erzählen, was genau hier los ist.«
Staab ließ die Augen im Kreis rollen wie Roulettekugeln und heftete sie dann auf die Schaulustigen, die bei Stillers letztem Satz zwei Schritte näher gerückt waren. »Bist du von Sinnen?«, zischte er und setzte laut hinzu: »Auskunft gibt’s nur von der Pressestelle.« Er signalisierte einem Kollegen auf der anderen Straßenseite, ihn abzulösen, packte Stiller am Ellbogen und schob ihn fort. »Schon gefrühstückt?«, fragte er, nachdem sie sich gebührend von der Menge entfernt hatten.
Stiller schüttelte den Kopf. »Fast.«
»Wie ich.« Staab fingerte zwei Schokoriegel aus der Brusttasche seiner Jacke, reichte einen an Stiller weiter und wickelte den anderen aus. »Um das klarzustellen: Von mir weißt du nichts. Und es wird nichts veröffentlicht, was du nicht offiziell hast.«
»Du kennst mich doch.«
»Eben.«
Stiller stopfte den Schokoriegel in seine Umhängetasche und zog den Stenoblock heraus.
»Tu das weg.« Staab sah sich schnell um. »Iss deinen Schokoriegel.«
Stiller gehorchte brav. »Also?«
»Männliche Leiche.«
»Deswegen bin ich ja hier«, sagte Stiller. »Aber hat sie auch einen Namen?«
Staab überlegte. »Nachher sagen sie es dir ja doch. Unter Vorbehalt: Liebstöckl.«
Stiller versuchte zu pfeifen, was ihm wie immer misslang. »Etwa der Liebstöckl?«
»Ich weiß nicht, wie viele du kennst. Aber der hier heißt Lutz Liebstöckl. Kunstmaler oder so. Muss in der Region wohl ’ne ziemliche Berühmtheit gewesen sein.«
»Das kannst du wohl sagen.« Stiller war geschockt. Hatte Ruth nicht erzählt, dass Liebstöckl irgendetwas mit der Kirchner-Woche zu tun hatte? Er musste sie so bald wie möglich verständigen.
Staab runzelte die Stirn. »Hast du ihn näher gekannt?«
»Ich selbst nicht. Woran ist er denn gestorben? Was Medizinisches?«
»Wie man’s nimmt. Sieht jedenfalls nicht nach einer natürlichen Todesart aus.«
»Jemand hat ihn umgebracht?«
Staab schwieg.
»Was war denn die Tatwaffe?«
Staab schob ihn noch ein Stück weiter weg. »Nur unter uns: ein Müsliriegel. Höchstwahrscheinlich.«
Stiller kniff misstrauisch die Augen zusammen. »Willst du mich verschaukeln?«
»Also, ich riskiere hier Kopf und Kragen für dich. Aber wenn du das gar nicht möchtest…« Staab drehte sich zur Eierfarm um.
»Schon gut.« Stiller hielt ihn zurück. »Ein Müsliriegel.« Er dachte nach. »Vergiftet?«
Staab zuckte die Schultern. »Da drüben arbeitet die Spurensicherung. Die Leiche ist noch warm, und wann es eine Obduktion gibt, steht in den Sternen.«
»Warum schließt ihr dann einen natürlichen Tod aus? Herzinfarkt zum Beispiel…«
»Sollte vielleicht so aussehen. Aber wenn es so wäre, dann erklär uns mal das tote Huhn, das auch von dem Müsliriegel gefuttert hat.«
Stiller hatte von einem toten Huhn noch nichts gewusst, verstand aber, worauf Staab hinauswollte. »Du sagst, die Leiche ist noch warm. Wann war denn der Todeszeitpunkt?«
»Sag mal, hast du mir nicht zugehört? Davon weiß ich nichts.«
»Wer hat ihn denn gefunden– und wann?«
»Wir sind gegen halb sieben verständigt worden.«
»Von?«
»Da fragst du am besten den Eigentümer. Der alte Schloter muss hier irgendwo stecken.« Staab ließ den Blick über die Hühnerwiese schweifen.
»Hat er–«
»Paul«, unterbrach ihn Staab. »Dazu kann ich dir beim besten Willen keine Auskunft geben. Wie gesagt, frag den Eigentümer. Das hättest du doch sowieso getan. Und jetzt lass uns besser zurückgehen. Ich werde gebraucht, und die anderen schöpfen schon Verdacht…«
»Geh du ruhig vor.« Stiller peilte die Lage. Schloter war immer noch auf der Hühnerwiese unterwegs, jenseits der Absperrung. Dort kam er nicht an ihn heran. Kurz entschlossen wandte er sich dem Büro- und Ladengebäude zu, das zur Straße hin Rücken an Rücken an die Ställe angebaut war.
Als er die Tür öffnete, bimmelte eine altmodische Glocke. Dabei wirkte der Verkaufsraum modern. Er war menschenleer, Stiller hatte Zeit, sich umzusehen.
Die Theke war als Vitrine aus Stahl und Glas gestaltet, ordentlich reihten sich darin die Eierschachteln auf. Die Regalwände rechts und links waren vom selben Designer gestaltet worden wie die Theke. Hier lag alles, was Schloters Farm sonst noch rund ums Ei verkaufte: Eiernudeln, Eierlikör, Eierkuchen und das komplette Zubehör wie Eierkocher, -becher, -löffel, natürlich Eieruhren, gestrickte Eierwärmer, bevorzugt in der Form von Hühnern, Salz- und Pfefferstreuer…
Eine Tür seitlich der Theke ging auf, eine Frau trat ein. »Entschuldigen Sie bitte, dass Sie warten mussten. Aber Sie sehen ja, was hier los ist.«
»Kein Problem.« Stiller stellte sich vor und fragte nach Schloter.
Die Frau reagierte abweisend. »Ich weiß nicht, ob mein Vater Zeit für Sie hat. Hier geht es drunter und drüber.«
Oha, die Tochter! Stiller hatte sie für eine Verkäuferin gehalten.
»Außerdem glaube ich nicht, dass er mit Ihnen reden will«, fuhr sie fort. »Wir haben mit alldem nichts zu tun. Und wir können keine Negativschlagzeilen gebrauchen.«
Stiller war insgeheim anderer Meinung. Sicher hatte der alte Schloter nichts gegen die Publicity, die ihm diese Geschichte einbrachte.
Laut sagte er: »Genau deshalb wäre es gut, wenn er mit mir reden würde. Sie wissen ja, wie schnell die Menschen die unmöglichsten Schlüsse ziehen. Es ist bestimmt besser, wenn er die Gelegenheit nutzt und sich gleich dazu äußert.«
Sie seufzte. »Also gut, ich frage ihn. Warten Sie hier.«
Stiller trat an das Regal neben der Seitentür, durch die die Frau verschwunden war. Aber er kam nicht dazu, das Warenangebot näher zu betrachten. Aus seiner Umhängetasche klang gedämpftes Bellen– der Handyklingelton, den er für Chefredakteur Rex Bausback vergeben hatte. Rasch zog er das Nokia heraus und nahm an. »Ich höre?«
»Na, so was!« Bausback klang verdutzt. »Sie gehen ausnahmsweise mal ran, wenn ich anrufe? Noch dazu an Ihrem freien Tag…«
Stiller biss sich auf die Unterlippe. Er hätte den Anruf wirklich ignorieren sollen. »Ich dachte, wenn Sie so früh etwas von mir wollen, muss es wichtig sein.« Er zog eine Grimasse.
»Richtig gedacht. Die Sache ist etwas heikel. Es gibt einen Toten.«
Doch nicht noch einen? Stiller schwieg abwartend.
»Es handelt sich um einen sehr bedeutenden Künstler. Gesellschaftsrelevant. Ich kenne ihn aus meinem Club.«
Also doch nicht noch einen. Bausback wusste demnach schon Bescheid. »Liebstöckl?«, fragte Stiller.
»Sie kannten ihn? Umso besser. Ja, leider, er ist tot. Wissen Sie, wo Schloters Hühnerfarm liegt?«
Aber sicher wusste Stiller das. »Da bin ich im Moment.«
Bausback legte eine kurze Pause ein, aufrichtig verblüfft. »Sie sind schon vor Ort? Sie verstehen es, mich zu überraschen, Herr Stiller. Das ist, ja, wie soll ich sagen? Lobrelevant.«
Lobrelevant? Gewöhnlich versetzte es Bausback in Rage, wenn sich Stiller in die Berichterstattung über einen Mordfall einmischte. Das war Sache des Redaktionsteams »Martinshorn«.
»Sind Sie noch dran?« Bausback wartete, bis Stiller ein »Hm« ins Handy gebrummelt hatte, dann kam er zur Sache. »Ich würde es sehr zu schätzen wissen, wenn Sie die Berichterstattung übernähmen.« Er dehnte das»ä«. »Das braucht einen Kollegen mit Erfahrung und Fingerspitzengefühl.«
Wieder nahm Stiller das Handy vom Ohr und betrachtete es ungläubig. War Bausback krank? War ein anderer am Telefon, der ihn nur imitierte? Solche Worte hatte er noch nie von ihm gehört, nicht einmal im Traum.
Bausback schien Stillers Schweigen als Zögern zu deuten. »Liebstöckl verkehrte in den besten Kreisen, gesellschaftlich und künstlerisch. Noch dazu war er eine tragende Säule der bevorstehenden Kirchner-Woche.«
»Ich weiß nicht…« Stiller beschloss, ihn noch ein wenig zappeln zu lassen. »Eigentlich habe ich frei. Wegen der Kirchner-Woche übrigens.«
»Ist mir klar, Sie müssen Ihre Frau unterstützen.« Bausback bemühte sich um einen verständnisvollen Ton. »Herr Stiller, sagen Sie ihr, ich mache das wieder gut. Es geht vermutlich sowieso nur um ein paar Tage. Sie müssten auch nichts anderes übernehmen. Und Sie bekämen jede personelle Unterstützung, die Sie brauchen.«
Das hörte sich nicht schlecht an. »Ich rede mit Ruth.«
Bausback nahm es als Zustimmung. »Also abgemacht. Kommen Sie gleich zu mir, wenn Sie da draußen fertig sind. Ich fahre sofort in die Redaktion. Dann kann ich Ihnen noch ein paar Hintergrundinfos geben. Haben Sie mit dem alten Schloter schon gesprochen? Wenn nicht, kann ich ihn vielleicht–«
»Er kommt gerade«, unterbrach Stiller. Die Seitentür öffnete sich, der Greis in der grünen Latzhose erschien im Rahmen.
»Grüßen Sie ihn von mir«, rief Bausback und legte auf.
Stiller steckte das Handy weg, stellte sich vor und übermittelte folgsam Bausbacks Grüße.
Der Alte nickte kurz und winkte Stiller ins Nebenzimmer. Er ging voraus und ruckte bei jedem Schritt leicht den Kopf hin und her. Unwillkürlich musste Stiller an ein Huhn denken.
Das Büro war im Gegensatz zum Verkaufsraum eher spartanisch eingerichtet. Der einzige Luxusgegenstand war ein gewaltiger Sessel aus Leder, in den sich Schloter fallen ließ. Mit einer ausladenden Geste wies er Stiller einen hölzernen Bürostuhl vor dem Schreibtisch zu.
Während Stiller sich setzte, musterte er sein Gegenüber unauffällig. Schloter hatte eine markante Nase, fast schnabelartig. Die rote Wollmütze, die er nicht abgenommen hatte, ähnelte einem Kamm. Hundebesitzern wurde nachgesagt, sie glichen sich im Laufe der Jahre immer mehr ihren Haustieren an. Schloter gelang das offenbar auch mit seinen Hühnern.
»Ich habe nicht viel Zeit. Sie können sich das denken.« Schloter sprach mit einer kratzigen Fistelstimme, was den huhnartigen Eindruck noch verstärkte. Stiller fuhr sich rasch mit der Hand über den Mund, um sein Lachen zu verbergen. »Aber ich will die Presse nach Kräften unterstützen. Im Gegenzug«, Schloter hob belehrend den Zeigefinger, »erwarte ich freilich eine geneigte Feder.« Er lachte, es klang wie ein Krähen.
Stiller kramte Stift und Stenoblock aus der Tasche. »Das Wichtigste zuerst– vielleicht wissen Sie zufällig, wer den Toten gefunden hat?«
»’türlich«, kiekste Schloter.
Stiller nickte ihm aufmunternd zu.
»Das war ich selbst.« Schloter beugte sich vor. »Das hat mir schon eine peinliche Befragung der Kripoleute eingebracht. Und wenn die mit der Arbeit hier fertig sind, soll ich mitkommen. Angeblich fürs Protokoll.« Sein Kopf ruckte. »Ich bin ein unbescholtener Mann. Das ist ein erstklassig geführter Betrieb hier, Eins-a-Eierqualität. Alles ist sauber, die Ställe genauso wie die Bücher, da gibt es nix. Wär schön, wenn Sie das einfließen lassen könnten. Was kann ich dazu, wenn hier ein Toter liegt? Und die behandeln mich wie einen Verdächtigen, unerhört! Darüber sollten Sie schreiben.«
Stiller ging nicht darauf ein. »Wann haben Sie ihn denn gefunden?«
Schloter lehnte sich wieder zurück. »So Viertel nach sechs. Um sechs geht der Kükenstall auf, automatisch. Ich trau der Technik nicht. Ich hab’s mir angewöhnt, etwas später nach dem Rechten zu sehen. Hier geht alles mit rechten Dingen zu, schreiben Sie das.«
»Aber liegt der Fundort nicht am anderen Ende des Geländes?«
»’türlich. Ich bin ja auch nicht hier vorn rein, sondern hinten bei den Ställen. Die Küken sind ganz verstört rumgerannt, und unten am Zaun gab’s ’nen regelrechten Auflauf. Da musste ich ja wohl nachschauen. Als ich näher kam, sind sie alle auseinandergestoben. Nur eins blieb liegen, bin mal gespannt, wer mir das ersetzt. Dann erst hab ich Liebstöckl daliegen sehen.«
»Sie kannten ihn?«
»’türlich. Er war so etwas wie’n Dauergast hier.« Schloters Hand wedelte vage. »Kommt jede Woche her, mindestens einmal. Seit zehn Jahren, wenn nicht länger.« Die Hand blieb kurz in der Luft hängen. »Oder besser, er kam.«
»War er ein Hühnernarr?«
»Wie man’s nimmt. Er malte die Hennen. Immer und immer wieder. Sonst verstand er wenig von ihnen.«
Stiller suchte nach Fragen, die sich nicht mit »’türlich« beantworten ließen. »Woraus schließen Sie das?«
»Na ja.« Schloter schob die Mütze etwas hoch und kratzte sich mit dem Zeigefinger an der Schläfe. »Er hat bis zuletzt geglaubt, die Hennen würden einen Hahn brauchen, um Eier zu legen.« Er krähte. »Verstehen Sie?«
»Verstehe.«
»Oder: Wir haben tausend Hühner hier, und wissen Sie, was der mich fragt?« Die Zeigefingerspitze löste sich von der Schläfe und kreiste ein paarmal in der Luft. »Ob sie alle Namen hätten. Einen Namen! Als wären’s putzige Haustierchen.«
»Und?« Stiller schmunzelte. »Haben sie?«
»’türlich.« Schloter bemerkte nicht, wie Stiller zusammenzuckte. »Berta eins bis tausend.« Er legte eine Kunstpause ein. »Das war ein Spaß jetzt.«
»Hatte er irgendwelche Verletzungen?« Stiller kam aufs Thema zurück.
»Wer? Liebstöckl? Verletzungen? Wann?«
»Als Sie ihn gefunden haben.«
»Nicht dass ich wüsste. Aber Schaum vorm Mund. Das Küken auch. Ich denk mal: vergiftet.«
»Er war schon tot?«
»’türlich. Mausetot. Ich hab schon viele Leichen gesehen, glauben Sie mir.« Schloter breitete machtlos die Arme aus. »Ich hab ihn gerufen. Nichts. Ich hab durch den Zaun gelangt und seine Hand gefasst. Nichts. Kein Puls. Dann hab ich sofort den Notruf abgesetzt und rumtelefoniert. Ich hab mein Handy immer bei mir, da bin ich ganz modern. Vielleicht können Sie das für Ihren Bericht gebrauchen.« Er krähte abermals. »Ein guter Ei-Produzent sollte auch ein iPhone haben.«
Stiller dachte nach. »Also war Liebstöckl schon eine Weile da. Kam er immer so früh?«
»Morgens, mittags, abends, das wechselte ständig. Das hing von der Jahreszeit ab. Und vom Licht, wie er behauptet hat.«
»Also kam er nicht regelmäßig zur gleichen Uhrzeit. Niemand konnte vorhersagen, dass er heute früh hier malen würde.«
Schloters Kopf ruckte, was Zustimmung bedeuten sollte. »Bei uns hat er sich jedenfalls nie angekündigt. Höchstens ganz am Anfang. Aber das schließt ja nicht aus, dass er anderen davon erzählt hat.«
Da hat er recht, dachte Stiller. Dennoch, etwas passte nicht. »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, kam er hierher, um die Hennen zu malen.«
»Da haben Sie mich wirklich richtig verstanden.«
»Um viertel sieben war er tot, vermutlich vergiftet. Also muss er schon vor sechs da gewesen sein. Da sind aber noch alle Hennen im Stall. Der öffnet sich doch erst um sechs, wie Sie sagen.«
»Die Hennen bleiben sogar bis neun im Stall, die sollen ja legen. Wir wollen doch nicht jeden Tag Ostereiersuchen spielen. Außerdem bekämen wir Ärger mit der Hygieneaufsicht. Um sechs dürfen nur die Küken raus.«
»Was hat Liebstöckl dann vor sechs hier gemacht?«
»Sie denken an ein Schäferstündchen oder so was?« Schloter presste seinen Rücken gegen die Stuhllehne und steckte die Daumen unter die Träger seiner Latzhose. »Nein, das war nicht ungewöhnlich, dass er so früh dran war. Schauen Sie sich nachher selbst an, was er alles dabeihatte. Staffelei, Klappstuhl, Malkästen, Zeichenpapier in allen Größen, Pinsel, Läppchen, Schwämme, Wasserflaschen und Schälchen… Hühnerfutter nicht zu vergessen.« Schloter ließ die Hosenträger schnalzen. »Das hat ’ne halbe Ewigkeit gedauert, bis der alles aufgebaut hatte. Hin und wieder hat er auch deshalb früher losgelegt mit Malen, weil er das Morgenlicht einfangen wollte, wie er sagte. Genauso ist er manchmal abends noch dagesessen, wenn alle Hennen längst wieder im Stall waren. Da war’s dann das Abendrot.«
»Wissen Sie, ob Liebstöckl irgendwelche Feinde hatte?«
»Also, da hab ich keine Ahnung. Sein Privatleben ging mich nichts an.«
»Aber Sie selbst kamen gut mit ihm aus?«
Abrupt beugte sich Schloter wieder vor. »Jetzt fangen Sie auch an, so zu fragen. Wehe, wenn ich da auch nur die geringste Andeutung lese, verstanden? Ich hab meinen Anwalt schon angerufen.« Er klopfte drohend auf sein iPhone. Schnell schob er nach: »Nur zur Vorsicht, damit das klar ist.«
»Das ist nicht persönlich gemeint«, entschuldigte sich Stiller. »Es gehört zu meinem Beruf, das zu fragen.«
Schloter entspannte sich, sein Zeigefinger kreiste erneut über der Schläfe. »Abgesehen von seiner komischen Fragerei stand nichts zwischen uns. Ich hab ihm persönlich erlaubt, hierherzukommen, wann immer er wollte, um die Hennen zu malen. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Fremde machen die Hühner kirre. Aber im Lauf der Zeit haben sie sich wohl an ihn gewöhnt. Außerdem hatte er immer Futter dabei, da waren die ganz scharf drauf.«
»Hatte er einen Schlüssel zum Gelände?«
»’türlich nicht! Da hätten die Viecher vollends durchgedreht und weniger gelegt. Das ist ’ne Eierfarm und keine Kunstwerkstatt oder so. Schloters Eierfarm, die beste weit und breit. Artgerechte Freilandhaltung. Eier und Eierprodukte nur von glücklichen Hühnern, die lass ich mir nicht so einfach verrückt machen. Das können Sie getrost alles schreiben.«
»Mal sehen, ob ich es einbauen kann.« Stiller war klar, dass er das nicht tun würde. Er blätterte in seinem Stenoblock, um die Notizen noch einmal durchzugehen.
»War’s das?« Schloter schien das Gespräch beenden zu wollen. Er deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Die Kripo dürfte langsam auf mich warten. Eigentlich sollte ich ja mit keinem reden, bevor das Protokoll unterschrieben ist…«
»Keine Sorge.« Stiller klappte den Stenoblock zu. »Ich schreibe meinen Bericht ohnedies erst, wenn ich auch die offiziellen Stellungnahmen habe. Kann ich Sie tagsüber erreichen, wenn es noch eine Frage gibt?«
»’türlich.« Schloter kramte auf seinem Schreibtisch herum und zog einen Flyer der Hühnerfarm aus dem Papierwust. »Da steht meine Handynummer drauf. Und die Preisliste übrigens auch.«
Beinahe hätte Stiller vergessen, dass er noch einen Auftrag hatte. »Das ist gut. Ich wollte noch Eier kaufen.«
»Nehmen Sie die von den Junghennen.« Schloter tippte auf die Preisliste. »Unser Renner. Drei Euro das Dutzend. Zwei Euro für Sie.«
Stiller lehnte das Angebot freundlich ab. »Danke, sehr nett, aber ich zahle den normalen Preis. Das hat sonst ein leichtes G’schmäckle.«
Damit brachte er Schloter wieder zum Krähen. »Wenn Sie wüssten, wer hier alles Rabatt kriegt. Und egal, was sie kosten, unsere Eier haben einen Eins-a-Geschmack, kein G’schmäckle.« Er erhob sich, umrundete den Schreibtisch, während Stiller ebenfalls aufstand, und öffnete die Tür zum Verkaufsraum. »Ein Dutzend Junghennen-Eier für Herrn Stiller«, rief er hinein. »Aufs Haus!«
Stiller hob abwehrend die Hand, aber Schloter griff drahtig zu und schüttelte sie. »Das ist völlig unverbindlich. Betrachten Sie es als Neukundenwerbung, das machen wir so bei wichtigen Multiplikatoren.« Er schob Stiller rückwärts durch die Tür, erst dann ließ er die Hand los. »Aber noch mal, achten Sie darauf, was Sie schreiben. Ich will keinen Ärger, verstanden?« Ohne eine Antwort abzuwarten, zog er die Tür zu.
Stiller drehte sich um und prallte fast mit Kleinschnitz zusammen. Der war gehörig in Fahrt. »Hier steckst du also! Verschwindest einfach so mir nichts, dir nichts, ohne mir Bescheid zu geben. Ich suche dich da draußen wie verrückt.«
»Ich hab dir doch gesagt, dass ich mit Schloter sprechen wollte.«
»Aber ich sollte dich mit ihm bekannt machen.« Kleinschnitz deutete auf den Eierkarton, der auf der Theke bereitstand. »Und dann baggerst du ihn auch noch um Eier an. Dabei bin ich hier der Stammkunde.«
Stiller wandte sich an Schloters Tochter. »Geben Sie die Eier meinem Kollegen. Ich nehme ein Dutzend normale. Zum Ladenpreis, bitte.«
Mit ihren Eierkartons traten sie vor die Ladentür. Draußen wirkte alles wie vorher. Stiller sah das Fahrzeuggewirr am Straßenrand und die Schaulustigen schräg gegenüber, die Gruppe war noch etwas gewachsen. Der Fundort der Leiche war durch die Stallgebäude verdeckt.
Kleinschnitz hatte sich wieder beruhigt. »Was jetzt?«
»Hast du gute Bilder?«
»Was heißt ›gut‹?« Kleinschnitz bleckte wie üblich die Zähne. »Es geht um ›brauchbar‹, und davon habe ich jede Menge. Sieht richtig spektakulär aus mit der Spurensicherung und so. Ich hab gleich noch ein Video gedreht, die Onliner werden begeistert sein.«
»Der Fundort ist noch abgesperrt?«
Kleinschnitz nickte. »Das dauert noch.«
»Dann schau ich ihn mir auf dem Weg zum Wagen im Vorbeigehen an«, entschied Stiller. »Lass uns hier verschwinden. Bausback wartet auf uns in der Redaktion.«
»So früh?« Kleinschnitz riss theatralisch die Augen auf.
2
Die Redaktion wirkte wie ausgestorben. Die Grabesstille nach dem hektischen Auftrieb auf der Eierfarm erinnerte Stiller daran, wie früh es noch war. Das Gros der Redakteure kam frühestens um neun, eher später– je nach Ressort.
Sonja Wagner schien die Einzige zu sein, die schon auf dem Posten war. Sie hatte die Tür zum Sekretariat offen stehen lassen, dadurch hatte sie von ihrem Schreibtisch aus einen Blick auf den Aufzug und das Treppenhaus. Sie telefonierte, als Stiller und Kleinschnitz den Flur betraten. Rasch hob sie die freie Hand und schnipste mit den Fingern wie ein Schulkind. Der Ausdruck ihres runden Gesichts ließ keinen Zweifel aufkommen: Es war wichtig. Das Telefonat aber auch, sie sprach weiter, bis Stiller und Kleinschnitz vor ihrem Schreibtisch standen.
»Gell, du meldest dich dann? Ja? Furchtbar, gell! Ciao, ciao.« Sie legte auf und sah hoch. »Das war die Chefsekretärin des Oberbürgermeisters. Herr Bausback hat mich gebeten, das Rathaus zu verständigen. Liebstöckl. Tot. So ein kreativer, fähiger Mensch. Er hat mir außerdem aufgetragen, Sie gleich abzufangen, wenn Sie kommen.«
»Liebstöckl?« Stiller zog die Augenbrauen hoch.
Kleinschnitz versetzte ihm mit der Kamera einen Stoß in den Rücken. Es war gefährlich, Sonja Wagner zu vergrätzen. Nur wer Bausbacks Assistentin auf seiner Seite hatte, kam in diesem Medienhaus weiter.
Sie sah Stiller verständnislos an. »Wie?« Dann lachte sie verlegen, ihre bleichen, runden Backen erröteten leicht. »Ach so, ja, gell? Nein, Bausback. Er will Sie unbedingt gleich sprechen.«
»Wir waren sowieso auf dem Weg zu ihm. Er hat mich vorhin angerufen.«
»Und da kommen Sie echt sofort?« Sie spielte die Überraschte. »Das ist ja ganz was Neues. Nur gut, dass mein Vertrauen in Sie grenzenlos ist. Ich habe Sie zwar nicht wirklich erwartet, aber trotzdem schon einen Kaffee gekocht. Doppelt stark, wie Sie ihn mögen.« Wie ein Ball sprang sie hinterm Schreibtisch hervor, kullerte zur Bürotür Bausbacks und klopfte, bevor sie sie einen Spalt öffnete. »Herr Stiller ist hier. Und Herrn Kleinschnitz hat er gleich mitgebracht.«
»Sollen reinkommen!«, rief Bausback von drinnen.
Sie stieß die Tür ganz auf und ließ Stiller und Kleinschnitz passieren. »Ich hole den Kaffee.«
»Gibt’s auch Gebäck?«, fragte Stiller über die Schulter. »Ich hab noch nicht gefrühstückt.«
»Ich schau in der Kantine vorbei«, versprach sie.
Stiller wollte weitergehen und rempelte gegen Kleinschnitz, der plötzlich stehen geblieben war. Dann erstarrte er selbst. Er war schon eine Weile nicht mehr in Bausbacks Büro gewesen. Dennoch hatte er nicht mit der Veränderung gerechnet, die ihn erwartete.
Der Raum sah aus wie ein Trödelladen für Wald-und-Wiesen-Malerei. Die Wände waren dicht an dicht mit Bildern behängt, alle im selben Format. Die Motive variierten zwar, doch im Stil glichen sie sich. Schneebedeckte Bergkegel oder schroffe Felshänge, eingerahmt von Wäldern aus hochstämmigen Kiefern und Tannen. Im Vordergrund öffneten sich Lichtungen, Wiesen mit Blumentupfen in Rot- und Gelbtönen. Sträucher und Hecken, auch sie mit hineingetupften Blütenflecken, säumten die Lichtungen am Rand der eher dunklen Nadelwälder. Vor dem Fenster stand eine massive Staffelei aus Stahl, mehrfach verstrebt, wie von einem Hobbyschlosser zusammengeschweißt und festgeschraubt für alle Ewigkeit.
Bausback lehnte am Fensterbrett, eine Art Skalpell in der einen Hand, eine riesige Palette aus Plexiglas in der anderen. Er hatte sich eine Baskenmütze über das sonst so struppige Bürstenhaar gezogen. Nachdenklich betrachtete er die Leinwand, die in die Staffelei gespannt war, von der Stiller und Kleinschnitz aber nur die Rückseite sahen.
»Kommen Sie nur herum«, forderte Bausback sie auf.
Wortlos folgten sie.
»Das verschlägt Ihnen die Sprache, nicht wahr? Ich bin selbst beeindruckt, hätte es nie für möglichkeitsrelevant gehalten, dass solch ein Talent in mir schlummert.«
Wovon spricht er?, dachte Stiller.
»Es war die Idee meiner Frau. Sie hatte mir vorgeschlagen, den Bob-Ross-Kurs im Baumarkt zu besuchen. Ich habe zwar den ganzen Tag für ein Bild gebraucht, für das dieser Ross, Gott hab ihn selig, nur eine halbe Stunde benötigte. Aber meine Familie, was soll ich sagen, mein gesamter Freundeskreis war vom Ergebnis überwältigt.«
»Das bin ich auch«, versicherte Kleinschnitz in einem undefinierbaren Ton.
»Jedenfalls habe ich mir spontan das komplette Bob-Ross-Equipment angeschafft. Fast tausend Euro. Aber das krieg ich schnell wieder rein, wenn sich die Bilder erst einmal verkaufen.«
Wenn! Stillers wiegende Kopfbewegung sollte Bausbacks Zuversicht bestärken.
»Inzwischen schaffe ich ein Bild in zweieinhalb Stunden. Ich hab die drei besten probeweise für den Kirchner-Publikumspreis eingesandt. Anonym.« Bausback kratzte mit dem Skalpell etwas Farbe von einer Wiese. »Und außer Konkurrenz, versteht sich. Offiziell darf ich mich nicht bewerben, ich gehöre ja zum Orga-Team der AKW. Wie Ihre Frau, Herr Stiller. Haben Sie schon mit ihr gesprochen?«
»Nein«, antwortete Stiller kurz angebunden. Er hatte unterwegs versucht, Ruth anzurufen, aber die Nummer war besetzt gewesen. Auf die Rückrufbitte per SMS hatte sie bisher nicht reagiert.
Bausback ging nicht weiter darauf ein. »Na, was sagen Sie dazu?« Das Skalpell tippte auf die Leinwand. »Ich hab das Gefühl, da fehlt noch etwas.«
Das Gemälde zeigte ein Tal zwischen bewaldeten Hängen. Die unvermeidlichen Büsche schufen den Übergang zu Wiesenböschungen beiderseits eines breiten grauen Streifens in der Talsohle.
Kleinschnitz deutete auf den Streifen. »Was ist das? Eine Autobahn?«
»Sind Sie blind?«, versetzte Bausback beleidigt. »Das ist ein See. Sehen Sie nicht die feinen Schaumkronen an den Felsen hier und da?«
»Ich hab’s für Risse im Asphalt gehalten. Mörderisch für meinen Buick.«
Bausback sog hörbar die Luft ein. »Ich gebe zu, Wasseroberflächen sind nicht meine Stärke. Ich habe mich schon bei Arielle für eine Fortbildung angemeldet. Sie beherrscht das Wasser wie niemand sonst. Das Problem ist nur, sie ist auch für den Kirchner-Preis nominiert.« Bausback setzte die Palette auf einer Ablage an der Staffelei ab und steckte das Skalpell in einen Köcher. »Das, Herr Stiller, ist auch der Grund, weshalb ich Sie hergebeten habe.« Er wies auf den Besprechungstisch, den er, der Staffelei zuliebe, in die dunkle Ecke des Büros verfrachtet hatte, wartete, bis sich Stiller und Kleinschnitz gesetzt hatten, und nahm dann ihnen gegenüber Platz.
»Sie wissen ja Bescheid– Liebstöckl ist tot. Dieser Verlust allein ist mit Worten kaum zu beschreiben. Ein edler, kunstsinniger Mensch, mit einem Wort: hochachtungsrelevant. Das trifft freilich auf nahezu alle Künstler zu. Aber es kommt noch schlimmer.« Bausback senkte leicht die Stimme. »Ich verrate Ihnen ein Geheimnis. Liebstöckl war nicht nur nominiert, er war erster Anwärter auf den Kirchner-Publikumspreis.«
Als wollte sie Bausback die Gelegenheit verschaffen, die Bedeutung seiner Worte noch etwas nachhallen zu lassen, klapperte Sonja Wagner mit dem Servierwagen ins Büro. Schweigend sah ihr das Trio zu, wie sie Tassen, Teller und Löffel verteilte, Kaffeekanne, Milch und Zucker umhob und zuletzt ein Brotkörbchen mit Croissants in der Mitte des Tischs platzierte. Beifallheischend sah sie in die Runde.
Stiller tat ihr den Gefallen. Überschwänglich begeistert rief er: »Croissants! Sie sorgen für mich wie eine Mutter, Sonja.«
Ihre Mundwinkel schnellten nach oben. »Die sind aber für alle gedacht.« Sie drohte mit dem Zeigefinger und zog sich samt Servierwagen diskret zurück.
Bausback übernahm es, den Kaffee auszuschenken. »Wo war ich?«
Stiller gab ihm die Stichworte. »Liebstöckl, Anwärter, Publikumspreis.«
»Steht das Ergebnis denn schon fest?«, warf Kleinschnitz ein. »Die Preisverleihung ist doch erst in zehn Tagen oder so.«
»Die Preisverleihung, ja.« Bausback löffelte unablässig Zucker in seine Tasse, während er sprach. »Aber die Abstimmung läuft nur bis zum Beginn der Kirchner-Woche. Um exakt zu sein, sie endet heute Abend.«
Stiller wusste Bescheid. Jeder Bewerber um den Publikumspreis hatte drei Arbeiten eingereicht. Vier Wochen lang waren sie im Kirchner-Geburtshaus ausgestellt gewesen, damit die Besucher sie besichtigen und ihr Votum abgeben konnten. Morgen sollten die Bilder einer anderen Ausstellung Platz machen: Kirchner-Adaptionen von heimischen Künstlern.
Bausback war mit dem Löffeln fertig und begann zu rühren. »Nach dem Zwischenstand von gestern Abend war Liebstöckls Vorsprung so groß, der wäre heute gar nicht mehr einzuholen gewesen. Und jetzt– ist er tot. Wahrscheinlich vergiftet, wie der alte Schloter sagt, der mich vorhin verständigt hat.«
Kleinschnitz fuhr verblüfft auf. »Was, Sie auch?«
So viel zum Thema Informantenschutz, dachte Stiller. Diesem Schloter schien kein Mittel zu schade zu sein, um Öffentlichkeit zu bekommen. Möglicherweise war er aber auch wirklich nur um den Ruf seines Betriebs besorgt.
»Nun, ich kaufe neuerdings meine Frühstückseier bei ihm«, erläuterte Bausback. »Jedenfalls, meine Herren, worauf ich hinauswill: Spielen wir doch einmal den Fall durch, jemand habe Liebstöckl umgebracht. Den ersten Anwärter auf den Kirchner-Publikumspreis. Wenn die Leser das erfahren, worauf werden Sie wohl als Erstes schließen?« Er ließ die Kaffeetasse hin und her pendeln und richtete sie dann gebieterisch auf Stiller.
»Ich weiß, was Sie sagen wollen. Die Leute könnten schließen, dass einer der anderen Bewerber den Mord begangen haben könnte. Möglicherweise der oder die Nächstplatzierte.« Stiller zog sich ein Croissant an Land und biss herzhaft hinein.
»Treffer!« Bausback nippte an seinem Kaffee und setzte die Tasse ab. »Sie wissen ja, wie schnell die Leute reden und urteilen. Eine Woche vor der Preisverleihung kommt der erste Anwärter unter mysteriösen Umständen ums Leben– das ist gerüchterelevant.«
Stiller schüttelte energisch den Kopf. »Theoretisch reden die Leute so. Aber praktisch haut das nicht hin.«
Bausback steckte die Hand unter die Baskenkappe und rubbelte sein Haar, ein Zeichen, dass er ungehalten war. »Einerseits hör ich das gern. Andererseits ist das wieder typisch für Sie«, in der üblichen Schärfe schob er ein »Herr Stiller« nach. »Was soll denn da nicht hinhauen an meiner Theorie?«
»Erstens«, Stiller hob den Zeigefinger, »was soll das für ein Motiv sein? Ein anderer Bewerber bringt den Anwärter auf den ersten Kirchner-Publikumspreis der Stadt Aschaffenburg um. Kann mir mal jemand sagen, warum?«
»Habgier?« Bausback ahmte Stiller nach und reckte den Zeigefinger. »Der Preis ist mit zehntausend Euro dotiert. Geltungssucht?« Jetzt war der Mittelfinger dran. »Das ist, wie Sie richtig sagen, die erste Preisverleihung. Die bringt dem Preisträger eindeutig mehr Beachtung als die zehnte Wiederholung, das ist auf Jahre erinnerungsrelevant. Neid?« Bausback klappte den Ringfinger auf. »Wer gönnt dem anderen schon den Erfolg. Missgunst?« Er ließ den kleinen Finger folgen. »Da ist vielleicht jemand der Meinung, Liebstöckl habe den Preis gar nicht verdient. Oder er hält ihn für schlechter als sich selbst und will sich für die ungerechte Auszeichnung rächen. Das sind schon mal vier gute Gründe. Und wenn ich erst nachdenke, fallen mir bestimmt noch weitere ein.«
»Wir reden hier von Künstlern. Von edlen, hochachtungsrelevanten Menschen, wie Sie vorhin selbst gesagt haben.« Stiller grinste in sich hinein. »Sind diese kunstsinnigen Seelen aus so niederen Beweggründen eines Mordes fähig? Habgier, bei zehntausend Euro– das glaubt doch niemand.«
»Bleiben noch drei weitere Motive«, beharrte Bausback. »Jeder Künstler für sich ist sicher untadelig, davon bin ich überzeugt. Aber untereinander– das ist eine Schlangengrube. Sie als Mann einer Künstlerin sollten das doch wissen.«
Stiller hatte durchaus mitbekommen, dass es in der Kunstszene immer wieder Eifersüchteleien und Rivalitäten gab. Aber Mord war ein anderes Kaliber. Zudem hatte er noch einen weiteren Einwand. »Wer außerhalb des Vorbereitungsteams konnte überhaupt wissen, dass Liebstöckl erster Anwärter auf den Publikumspreis war? Das Abstimmungsergebnis bleibt bis zur Preisverleihung unter Verschluss. Die anderen Bewerber sollten somit keine Ahnung davon gehabt haben.«
Der Einwand schien Bausback zu beunruhigen. »Genau genommen kennt sogar nur das Preisgericht den Stand der Abstimmung«, präzisierte er. »Die Experten-Jury, die auch über den Kirchner-Fachpreis entscheidet.«
»Da gehören Sie selbst aber gar nicht dazu.« Stiller hatte erneut abbeißen wollen, stattdessen legte er das Hörnchen auf den Teller. »Wie haben Sie es denn erfahren, dass Liebstöckl vorn liegt?«
Bausback wand sich etwas. »Gut, ich kenne einen aus der Jury persönlich«, gab er schließlich zu. »Aus dem Serviceclub. Er ist bei den Rotalions, wie ich. Und wie Liebstöckl übrigens.«
»Könnte Ihr Informant auch anderen…?«
Bausback zuckte die Schultern.
Stiller überlegte. »Damit wird es kompliziert. Wenn Liebstöckl wirklich wegen seiner Platzierung ermordet wurde, was ich nicht glaube, müsste der Täter davon gewusst haben. Eigentlich ein kleiner Kreis. Aber wir haben keine Ahnung, wie weit sich die Nachricht durch Indiskretion verbreitet hat. Im Grunde kämen damit alle möglichen Künstler in Frage.«
»Soweit sie sich selbst um den Preis beworben haben«, ergänzte Kleinschnitz und bleckte seine Zähne. »Sonst würden auf einen Schlag all die schönen Motive wegfallen.«
Bausback erbleichte.
»Erst recht, wenn sie sich außer Konkurrenz beworben haben«, stimmte Stiller zu. Unterm Tisch trat er Kleinschnitz auf den Fuß. »Wenn das kein Motiv ist! So talentiert sie auch sind, sie müssten machtlos zusehen, wie irgendein hergelaufener Pinsel den Publikumspreis einheimst.«
»Jetzt reicht es aber!«, rief Bausback empört. »Sie wollen doch nicht andeuten, dass auch ich…?«
»Andeuten?« Stillers Augenbrauen tanzten auf und ab. »Ich folge nur Ihrem Gedanken. Die Kripo wird das auch tun. Sie sollten Strobel so rasch wie möglich über diesen Verdacht informieren.«
Bausbacks Hand wedelte energisch durch die Luft. »Unnötig. Er wird im Zuge seiner Ermittlungen sicher von allein darauf stoßen.«
»Wer weiß. Sie können ihm jedenfalls Zeit ersparen.«
In Bausbacks Gesicht kehrte etwas Röte zurück. »Sie müssen verstehen, für mich ist das verschwiegenheitsrelevant. Ich kann doch nicht outen, dass mich ein Clubbruder mit vertraulichen Informationen versorgt. Unmöglich, Stiller, aber…« Er versuchte, seine Hand auf Stillers Unterarm zu legen, doch der packte schnell das Croissant und biss hinein. »Vielleicht könnten ja Sie…? Sie hätten es theoretisch von Ihrer Frau erfahren haben können.«
»Sie gehört auch nicht zur Jury.« Niemals würde Stiller Ruth da hineinziehen. »Aber ich muss sowieso mit Strobel reden, wenn er da draußen fertig ist. Ich werde ihn kurzerhand fragen, ob es stimmt, dass Liebstöckl auf Platz eins der Preisanwärterliste stand. Woher ich das hab, bleibt meine Sache.«
»Sehr gut.« Jetzt hatte es Bausback doch geschafft, seine Hand auf Stillers Unterarm zu legen. »Ich wusste, dass ich den richtigen Mann für die Berichterstattung ausgewählt habe.«
Kleinschnitz hüstelte. »Wie er mir auf der Fahrt hierher erzählt hat, kriegt er jede personelle Unterstützung, die er wünscht.«
»Oh. Richtig.« Bausback schien diese Zusage bereits wieder zu bereuen. »Sie sind natürlich mit an Bord.« Er stand schnell auf, als befürchte er, es könnten noch weitere Wünsche geäußert werden. »Dann mal husch, husch ans Werk. Sie haben sicher viel zu tun. Und ich auch.« Er schaute sehnsüchtig zu seiner Staffelei. »Irgendetwas fehlt da noch. Sie sehen, ich habe auch einiges herauszufinden. Halten Sie mich auf dem Laufenden, meine Herren.«
Seine Herren trennten sich im Flur. Kleinschnitz hatte vor, die Fotos vom Fundort der Leiche einzulesen und zu bearbeiten, Stiller musste eine Reihe von Telefonaten führen.
Noch auf dem Weg in sein Büro versuchte er es bei Ruth, erneut erfolglos. Die Nummer war wieder besetzt. Immer noch? Nein, Ruth neigte nicht zu Dauergesprächen. Wahrscheinlich hatte er jedes Mal einfach nur Pech. Aber warum rief sie dann nicht zurück?