Stiller und die Tote im Bus - Peter Freudenberger - E-Book

Stiller und die Tote im Bus E-Book

Peter Freudenberger

4,4

Beschreibung

Im morgendlichen Linienbus nach Aschaffenburg stirbt die als bösartig bekannte Hedda Kunkel - umgebracht mit dem Gift der 'Braunen Witwe'. Der mutmaßliche Mörder der 74-Jährigen ist schnell ausgemacht: ihr Ex-Schwiegersohn Max Schwind. Doch den Journalisten Paul Stiller beschleichen Zweifel an dessen Täterschaft. Er gerät in einen Strudel irritierender Gefühle und abenteuerlicher Ereignisse - bis sein eigenes Leben bedroht ist.

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Peter Freudenberger, Jahrgang 1960, ist fest in der Main-Spessart-Region verwurzelt. Er arbeitet seit dem Abitur für Zeitungen in Würzburg, Miltenberg und seiner Heimatstadt Aschaffenburg. Sein Credo: Ein Journalist darf die Menschen seines Verbreitungsgebietes durchaus etwas lieben. Der humor- und liebevolle Blick auf die Region spiegelt sich (trotz aller Spannung) in den Figuren seines ersten Kriminalromans.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

© 2014 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagzeichnung: Heribert Stragholz eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-687-4 Main Krimi Originalausgabe

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»Seit dreißig Jahren versuche ich nachzuweisen,

dass es keine Kriminellen gibt, sondern

normale Menschen, die kriminell werden.«

George Simenon

»Maigret suchte, erwartete, belauerte vor allem den Riss.

Mit anderen Worten: den Augenblick, in dem hinter dem

Spieler der Mensch zum Vorschein kommt.«

George Simenon, »Maigret und die Zwillinge«

1

Wolfi Schreck war als Busfahrer nicht zimperlich. Aber er hätte nie gedacht, dass er jemals einen Fahrgast ins Jenseits befördern würde.

Sicher, Schüler-Schreck nannten ihn die Kollegen. Meine Güte, seit einunddreißig Jahren saß er hinterm Steuer, fuhr die immer gleichen Linien ab, an denen sich höchstens mal die Nummern änderten, wenn es den hohen Herren der Stadtwerke einfiel. Seit einunddreißig Jahren alle drei Wochen Frühschicht. Schülerverkehr. Jeder Lehrer hätte sich da schon einen Herzinfarkt genommen. Aber ein Busfahrer kann das nicht bringen. Er muss ruhig bleiben und im Rückspiegel zugucken, wie die Blagen auf den Sitzen herumturnen, die schmutzigen Schuhe auf die Polster legen. Wie sie die Scheiben beschmieren, mit Filzschreibern die Lehnen bekritzeln. Immer sind sie laut und frech. Neuerdings spucken sie. Ekelhaft.

Als er anfing, hatte Schreck noch Probleme damit, sich anpöbeln zu lassen und dabei ruhig zu bleiben. Aber die Gören haben Eltern, die sich beim geringsten Vorfall bei den Stadtwerke-Herren beschweren. Da bekommt ein Fahrer nie recht. Man muss so einen Rotzlöffel nur mal an der Jacke festhalten, wenn er sich vorne aus dem Bus zwängen will und die Leute beim Einsteigen anrempelt. Schon hat man eine Körperverletzung am Hals. Mein Gott, vorne ist eben der Einstieg! Vorschrift ist Vorschrift. Aber nein, ein Fahrer bekommt nie recht.

Er durfte noch nicht mal laut werden, ihnen die Meinung sagen: »He, lass das Spucken, oder ich komm hinter!« Manchmal wuchtete er sich an den Haltestellen trotz seiner hundertzwölf Kilo bedrohlich flink aus dem Fahrersessel, sprang mit einem wilden Satz in den Gang und stemmte die Fäuste in die Hüftringe. Er hätte einen guten Clown abgegeben mit seinem Haarkranz und der Kegelform seines Körpers. Aber die Blagen kriegen ja gleich Depressionen, können nicht mehr lernen, brauchen teure Behandlungen. Und die Stadtwerke sollen zahlen. Im dritten Stock in der Werkstraße2 stapeln sich die Briefe mit Schadensersatzforderungen. Hinter dem Stapel sitzen die hohen Herren und drohen mit einem Höflichkeitsseminar für Busfahrer. Für die Fahrer, nicht für die Schüler etwa! Jesus Maria, sollen sie halt spucken. Wolfi Schreck sagt nichts mehr.

Mit den Jahren fand er seinen Weg, sich zu wehren. Ein Ruck beim Anfahren, einen Tick zu schnell in die Kurve, an der Ampel scharf bremsen. Beim Wolfi Schreck im Bus halten die sich schön fest. Wenn's die ein paarmal gegen die Lehnen und Haltestangen gebeutelt hat, dann vergeht ihnen schon das Herumalbern. Ganz still werden die und klammern sich an Schlaufen und Griffe. Außerdem freut's die drei Bankleute, die immer oben auf der Schweinheimer Höh' einsteigen und auf der Plattform hinten am Ausstieg stehen, wenn ihnen die Mädels von der Maria-Ward-Schule in die Arme fallen. Schüler-Schreck– gar nicht mal so schlecht.

An jenem Montag, an dem Schreck seinen ersten Fahrgast ins Jenseits befördern sollte, hatte er den Schülerverkehr schon hinter sich. Es war an diesem Morgen besonders übel gewesen. Ein trüber Novembertag, ein kalter, feiner Regen. Beschlagene Scheiben. Wenn's regnet, kommen natürlich noch mehr Schüler auf die Idee, sie müssten mit dem Bus fahren. Das Schlimmste aber ist der Geruch. Heiliger Strohsack, ein Bus voll nasser Schüler, das stinkt wie Hundepisse.

Aber es war vorbei. Geschafft für heute. Er konnte seinen eigenen Motor wieder drosseln. An der Endhaltestelle in Schweinheim nahm er sich einen Kaffee aus der Thermoskanne, einen mit viel Zucker. Er sollte den Zucker besser weglassen, dachte Schreck und sah an sich hinunter auf seinen Bauch, der beim Sitzen so weit vorsprang, dass er die Tasse darauf abstellen konnte. Aber ein süßer Kaffee in der ersten Pause nach dem Schülerverkehr– gleich ging's ihm wieder besser. Nur seine Musik fehlte noch. Er schaltete das Radio ein. Volltreffer: Die Wildecker Herzbuben sangen »Wir sind rund, na und«.

Bis zur Rückfahrt in die Stadt ließ er die Türen offen, damit sich der Gestank verziehen konnte. Der Wind trieb Regen in den Bus.

Im Rückspiegel betrachtete er die Fahrgäste, die schon eingestiegen waren. Ein gutes Dutzend, meist Stammkunden. Natürlich die beiden Erlöserschwestern aus der Gutwerkstraße auf dem Weg zur Betsingmesse in der Sandkirche. Wie jeden Morgen, selbst bei diesem Wetter, Grundgütiger. Dann ein paar »Spätberufene«, wie er diejenigen nannte, die wohl erst nach acht zu arbeiten anfingen. Wenn sie arbeiteten. Seit Neuestem gehörte der Veterinär aus dem Landratsamt zu den Stammkunden der Linie4. Schreck grinste. Der hatte seinen Lappen weg. Noch sechs Wochen. Kommt in den besten Familien vor. Bloß einem Busfahrer darf das nicht passieren. Auf keinen Fall.

Auf der Plattform, dem Ausstieg gegenüber, hatte sich ein schlaksiger Jugendlicher ans Fenster gelehnt, Typ FH-Student. Stöpsel im Ohr, rhythmisches Kauen. Ekelhaft, wenn jemand mit offenem Mund auf einem Kaugummi knatschte. Aus dem Radio jodelten die Zillertaler »Glaub net, dass du was B'sondres bist«. Schreck drehte lauter. Der Schlaksige auf der Plattform starrte ungerührt in den Regen hinaus und kaute.

Gleich hinter der Plattform, wo man die Beine bequem ausstrecken kann, saß ein Fremder. Ein hagerer Mann, markantes Gesicht mit scharfen Linien. Furchen fast. Gebrochene Nase. Der hat's auch nicht immer leicht gehabt. Jetzt zog er den Mantel am Kragen zu und warf vorwurfsvolle Blicke abwechselnd zur Seite auf die offene Tür und nach vorne zum Fahrer. Er hustete ein paarmal. Liebes bisschen, was musste der sich auch genau da hinsetzen? Trotzdem drückte Schreck auf den Knopf und schloss die Tür, es ging ja jetzt los.

Er lächelte beim Starten sogar in den Rückspiegel, obwohl das von hinten kaum zu sehen war und ohnedies nichts brachte. Nach einunddreißig Jahren machte er sich nichts mehr vor. Noch nie ist einer gekommen und hat gesagt: »Danke, dass Sie mich gesund und lebendig von hier nach da gebracht haben.« Im Vorjahr hatten ihm die Stadtwerke-Herren eine Karte geschrieben– dreißig Jahre unfallfrei. Mehr Anerkennung durfte ein Busfahrer nicht erwarten. Die Karte kam im blauen Umschlag. Eine Sekunde lang war er erschrocken, hatte befürchtet, es sei die Kündigung. Sie hatten den Busbetrieb gerade in eine GmbH umgewandelt, fünf Kollegen mussten gehen. Das ist der Lohn.

»Nächste Haltestelle: Hensbachstraße«, verhieß die verführerische Stimme vom Band. Noch einmal lächelte Schreck in den Rückspiegel, als er die Busbucht ansteuerte. Der Schrecken über die vermeintliche Kündigung hatte nur eine Sekunde gewährt. Immerhin ein Vorteil, mit einunddreißig Dienstjahren war er praktisch unkündbar. Wenn er nicht gerade einen Fahrgast ins Jenseits beförderte.

Genau in diesem Augenblick stieg die Alte ein.

Er sah sie, als die Tür aufschwang, und wusste: Es würde Ärger geben. Die Alte gehörte zu den Stammkunden auf dieser Linie. Jeden Montag fuhr sie von Schweinheim über den Hauptbahnhof zum Waldfriedhof im Stadtteil Leider. »Leider/Waldfriedhof« hieß die Endhaltestelle dort. Einunddreißig Busfahrerjahre hin oder her, das brachte ihn noch immer zum Schmunzeln. Dieser bedauernde Unterton. »Leider/Waldfriedhof«, das klang, als wär's auf dem Dämmer Friedhof besser. Oder im Strietwald, da liegt die Endhaltestelle am Knast. Oder die Haibacher Linie, die führt über das Klinikum. »Leider/Waldfriedhof?« »Nein, Lieber/Geburtsklinik.«

Die Alte fuhr jeden Montag einmal durch die Stadt bis zum Waldfriedhof. Leider. Denn es gab meistens Ärger mit ihr. Sie suchte ihn. Das ging schon los, wenn sie beim Einsteigen nicht die Erste war. Ungeduldig zischte und schnaufte sie den Vorderleuten ins Ohr, klopfte ihnen mit dem Knauf ihres Stockschirms auf den Rücken, schwang ihnen die Einkaufstasche in die Kniekehlen, trat ihnen auf die Fersen. Sie war weit über siebzig, aber drahtig. Zäh und zänkisch. Wehe, ihr Stammplatz, der Einzelsitz vor der Fläche am Ausstieg, war besetzt. Sie zeterte so lange, bis sie sich durchgesetzt hatte– buchstäblich. Selbst wenn noch zig andere Plätze frei waren. Auf dem Weg nach hinten herrschte sie Fahrgäste an, die im Gang standen und nicht rasch genug den Bauch einzogen. Egal, ob einer nach links oder rechts auswich, garantiert wollte sie sich auf dieser Seite vorbeischieben. Dabei heißt die Regel: rechts gehen, links stehen!

Alle paar Wochen beschwerte sie sich bei den Stadtwerke-Herren: Einmal hatte der Bus vier Minuten Verspätung, ein andermal war er ihr vor der Nase weggefahren, zwei Minuten zu früh nach ihrer Uhr. Dann wieder sei er an ihr vorbeigefahren, habe sie einfach stehen lassen. Es stimmte ja, manche Kollegen machten sich diesen Spaß mit unbequemen Kunden, wenn es keine Zeugen gab, Schreck wusste das. Er nie. Er hielt nach Vorschrift.

Diesmal sah er sie und wusste, er hätte sie stehen lassen und weiterfahren sollen. Schwarz lagen ihre Augen in den Höhlen, das gelbliche Haar, feucht vom Regen, stand ihr zerzaust vom Kopf ab, der Schirm baumelte ungeöffnet am linken Handgelenk. Die Rechte krallte sich in die billige Einkaufstasche, die sie ihm hinstreckte, als könne er durch das abgewetzte Kunstleder hindurch die Seniorenkarte entdecken, die sie sonst unendlich langsam herauszukramen pflegte, umso langsamer, je mehr Fahrgäste hinter ihr warteten. Ihr brauner Wollmantel war an der Brust aufgerissen, offensichtlich fehlte ein Knopf, der Schal hing herunter. Sie zitterte.

»Er will mich umbringen!«, schrie sie Schreck entgegen. Obwohl sie schwankte, war sie doch mit wenigen Schritten an seiner Seite. Eine zähe Alte! Sie hielt vor der Kasse, stützte die Schirmhand auf den Sperrbügel und stierte in den Bus, als wollte sie eine Ansprache an die Fahrgäste halten. Aber sie schnaufte schwer, pfeifend holte sie Atem.

»Mein Schwiegersohn… Er will mich umbringen.«

Im Anfahren blickte Schreck seitlich zu ihr hinauf, sah die weiten, schwarzen Pupillen, den weißen, schaumigen Speichel auf ihren Lippen. Schweiß rann ihr über die Stirn und die knochigen Wangen. Sie musste getrunken haben. »Almenrausch«, sangen die Kastelruther Spatzen wie auf Bestellung.

»Aus dem Weg!«, herrschte die Alte die junge Mutter an, die ihr Kind auf den Sitz hinter der Fahrerkabine gehoben und sich daneben in den Gang gestellt hatte.

Wieder schwankte sie, als der Bus durch den Kreisel an der Rhönstraße fuhr, klammerte sich mit der Schirmhand an der Schulter eines Spätberufenen fest, der sie ansah und die Stirn runzelte. Ihre Rechte ließ die Tasche nicht los. Dann wankte sie weiter nach hinten.

»Er hat mich gestochen!« Sie schrie noch immer, war aber doch kaum zu verstehen. Ihre Zunge schien ihr nicht mehr zu gehorchen. »Geschochen, von hin-nen.« Wieder rang sie nach Luft.

Im Rückspiegel sah Schreck, wie der Veterinär den Kopf hob. Wollte er den Samariter spielen? Da brauchte er sich keine Hoffnungen zu machen: Egal, wer die Alte von hinten gestochen hatte, sie würde sich niemals von einem Tierarzt helfen lassen!

»Nächste Haltestelle: Altenwohnheim«, hauchte die Stimme vom Band. Ein merkwürdiger Kontrast zum schrillen, atemlosen Gekreische der Alten: »Er ha' mir wa' Schpisses in'n Arm geschochen!«

Etwas Spitzes in den Arm gestochen, reimte sich Schreck zusammen. Er ließ die Augen nicht mehr vom Rückspiegel, entgegen allen Vorschriften. Die Alte hatte die hintere Plattform erreicht. Der hagere Fremde erhob sich, packte sie an den Schultern und schob sie auf den Sitzplatz, den er frei gemacht hatte. Sie schüttelte den Kopf, sagte etwas zu dem Mann, das vorne nicht zu hören war. Als er sich abwenden wollte, hielt sie ihn mit der Linken am Ärmel fest. Er machte sich frei, fast sanft, und stieg gerade noch aus dem Bus, bevor sich die Tür wieder schloss.

»Schwieger'ohn! Umbringe'!«, gurgelte die Alte. Ihre Augenlider hingen nach unten. Unvermittelt übergab sie sich. Wie blankes, grünes Wasser ergoss sich das Erbrochene auf den Boden. Der Schlaksige auf der Plattform schaute weg und kaute weiter.

Hundsverreck! Wer würde das aufwischen? Schreck wusste nicht, was er tun sollte, er starrte nur in den Spiegel, achtete kaum noch auf die Straße. Wie in Zeitlupe rutschte die Alte jetzt vom Sitz. Krampfartig zog sich ihr Körper am Boden zusammen, bäumte sich noch einmal auf, sank zurück und blieb bewegungslos liegen.

»Da!«, rief die junge Mutter hinter dem Fahrer entsetzt und wies mit dem Finger nach vorne. Schreck löste den Blick vom Rückspiegel, sah durch die Scheibe, erkannte gerade noch die Bremslichter des Wagens, der vor ihm stand. Er reagierte sofort, trat das Bremspedal so kräftig durch, dass ihm der Knöchel schmerzte. Die Erlöserschwestern schrien auf, das Kind auf dem Sitz hinter der Fahrerkabine stieß gegen die Plexiglasscheibe, die junge Mutter klammerte sich an die Halteschlaufe, durch die sie ihre Hand gesteckt hatte. Im Radio sang Hansi Hinterseer »Schön war die Zeit mit dir«.

Und dann sah Schreck im Rückspiegel die Alte kommen. Auf dem Rücken liegend, den Kopf voran, schlitterte sie durch den Gang nach vorne. Die Erlöserschwestern schrien erneut auf und bekreuzigten sich. Fast wäre der rutschende Körper der jungen Mutter mit voller Wucht in die Beine geschossen, doch sie zog sich in letzter Sekunde wie eine Turnerin an der Schlaufe hoch. Die Alte rauschte ungebremst unter ihr hindurch und prallte mit einem dumpfen Schlag gegen die Radiokonsole. Hansi Hinterseer verstummte. Plötzlich herrschte Stille im Bus. Schreck hörte nur noch das Kind hinter sich schluchzen.

Zu seinen Füßen lag die Alte auf dem Rücken. Völlig reglos, selbst ihre Brust hob und senkte sich nicht mehr. Ihr Körper wirkte seltsam verkrümmt, ihre Augen waren wieder weit aufgerissen. Fäden von Erbrochenem rannen ihr aus den Mundwinkeln. Die Einkaufstasche war unter ihren Arm gerutscht, die rechte Hand hatte endlich losgelassen und wies anklagend auf Wolfi Schreck. Es gab keinen Zweifel: Sie war…

2

Er dachte: Ich brauche nur einen guten Einstieg, und es läuft von allein. Paul Stiller hatte seine Gedanken schon nach wenigen Minuten aus der Redaktionskonferenz verabschiedet und ihnen erlaubt, über dem Artikel zu grübeln, den er nachher schreiben wollte. Es ging um den geplanten Neubau des Hauptbahnhofs. Irgendetwas lief da zwischen dem Investor und der Stadtverwaltung.

Die Hälfte der Kollegen war längst weggetreten, schätzte er. Es war eine dieser typischen Morgenkonferenzen: unverbindliches Gerede, keine greifbaren Ergebnisse, im Grunde nur ein Podium für die Selbstdarsteller. Die hatten im Augenblick Konjunktur. In einem guten Jahr würde der stellvertretende Chefredakteur das Feld räumen. Das war kein Posten, den die Verlagsleitung ausschreiben würde. Sie würde einen Nachfolger ausdeuten– einen, der auffiel. Darum ging es hier. Auffallen, aber nicht anecken.

Paul Stiller fühlte, wie seine Gedanken – ganz gegen ihre Gewohnheit– in den Raum zurückkehrten. Sie verweilten kurz an der Zimmerdecke und musterten den ovalen Konferenztisch, um den sich gut zwei Dutzend morgenmüde Redakteure versammelt hatten. Bis auf wenige junge waren es vorwiegend Männer in den mittleren Jahren, wie Stiller, oder älter. Seine Gedanken konzentrierten sich auf Chefredakteur Rex Bausback, der seinen Platz am einen Ende des Ovals hatte, hörten seine scheinbar beiläufige Bemerkung und wussten plötzlich, dass sie heute bleiben würden.

»Da wir gerade bei der Blattkritik sind«, Rex Bausback fuhr sich mit der Hand durch sein blondes, wie immer leicht struppiges Haar, »was fällt Ihnen eigentlich zum Thema ›Die gute Nachricht‹ ein, Frau Saalbach?«

Die Themen der Konferenz hingen gewöhnlich vom Zufall ab. An diesem Montag trug der Zufall einen Namen: Fenia Saalbach. Die Volontärin der Landkreisredaktion war dem Hinweis eines Lesers auf unlautere Geschäftspraktiken des BMW-Hauses Kleespieß nachgegangen. In der aktuellen Ausgabe stand zu lesen, was sie an unangenehmen Fakten zusammengetragen hatte.

»Ich– ich verstehe nicht…« Sie wirkte überrascht, nicht ängstlich.

Warum auch? Ihr Artikel war erstaunlich professionell. Dabei hatte die Volontärin, wie Stiller vermutete, von den älteren Kollegen außer ein paar Telefonnummern kaum Hilfe bei der Recherche bekommen.

»Sie verstehen nichts von guten Nachrichten?« Bausback riss die Augen auf. Das sollte Verzweiflung darstellen. Stillers Gedanken kringelten sich an der Zimmerdecke. »Etwas in dieser Art hatte ich heute Morgen bei der Lektüre Ihres Beitrags schon befürchtet!«

Heute Morgen. Also hatte einer der Kleespieß-Brüder den Chefredakteur schon beim Frühstück angerufen. Das BMW-Haus war der zweitwichtigste Anzeigenkunde des Blattes, es hatte Niederlassungen im gesamten Verbreitungsgebiet der Zeitung.

»Die Familie Kleespieß leistet einen unschätzbaren Beitrag zur wirtschaftlichen Bedeutung unserer Region.« Bausback hatte den Ton eines Fremdenführers. »Das sind Fakten, die darstellungsrelevant sind.« Das Wort »relevant« in allerlei Kombinationen war eine seiner Lieblingsfloskeln, Stiller hatte es sich angewöhnt, die Wortschöpfungen zu notieren. »Doch davon lese ich bei Ihnen keine Silbe. Stattdessen nur Gewerkschaftslyrik. Wie sind Sie überhaupt an dieses Thema gekommen, Frau Saalbach?«

»Ich hatte den Auftrag…«

Stiller senkte den Kopf. Es genügte ihm, dass seine Gedanken dieses Schauspiel mit ansehen mussten. Wie kam das schwächste Glied der Redaktion an diesen Stoff? Blöde Frage. Wer sich einmal die Finger verbrannt hat, hält sich beim nächsten Mal lieber fern und schaut zu, wie andere die schmerzhafte Bekanntschaft mit heißen Eisen machen.

Fenia Saalbach hatte dann ja auch voll hingelangt. Entweder war sie höchst mutig oder zutiefst naiv. Es ging hier nicht um Erfahrung! Auch wenn sie mit ihren vierundzwanzig Jahren gerade erst der Uni entschlüpft war: Kein erwachsener Mensch legt gleich die flache Hand auf die Herdplatte, um festzustellen, ob sie glüht. Er weiß, dass zunächst eine Fingerspitze genügt. Das tut vielleicht ein bisschen weh, aber wenn man sich daran gewöhnt hat, lässt sich wunderbar nachlegen– bis am Ende doch die ganze Geschichte im Blatt steht.

»Sie hätten mit mir sprechen müssen, Frau Saalbach. Und zwar bevor dieser Text blattrelevant wurde.«

Wieder suchte sie sich zu verteidigen. »Ich habe den Artikel von zwei Kollegen gegenlesen lassen. Mein Redaktionsleiter hat ihn abgesegnet.«

Naiv? Der Leiter der Landkreisredaktion nannte sie »Röschen«. Natürlich hintenrum. Stiller wusste gar nicht, wie sie zu diesem Namen kam. Er erkannte nichts »Röschenhaftes« an ihr, nichts, was er dafür hielt. Dass sie schön war, blieb ihm nicht verborgen: schwarze Haare, dunkle Augen, sinnlicher Mund– sicher ein Erbe ihrer Mutter, die aus Italien stammte. Aber sie plante keineswegs, ihre Karriere mit dem Aussehen zu betreiben, das hatte sie in den ersten Monaten ihres Volontariats gezeigt. Sie war fleißig, intelligent und kritisch. Eher mutig. Vielleicht machte das anderen Angst.

Stiller hatte sich leicht über den Notizblock gebeugt, den er immer bei sich trug, und kritzelte das Wort »blattrelevant« auf das Papier. Plötzlich spürte er ihren Blick, hielt in der Bewegung inne und biss sich auf die Unterlippe. Suchte sie Hilfe?

Wieso gerade bei ihm? Es saßen Redakteure am Tisch, die weitaus größeren Einfluss hatten als er. Der wabbelige Blattmacher der Politik mit seiner schorfigen Halbglatze, den Hängebacken, dem Doppelkinn und den Schuppen auf den Schultern des schwarzen Rollkragenpullovers war ein Schwager des Chefredakteurs. Als Bausbacks rechte Hand, vielleicht auch mehr, galt die Kulturchefin. Die Fleisch gewordene, oder besser: die Haut-und-Knochen-gewordene Intellektuelle. Selbst dieser Ringertyp, der die Landkreisredaktion leitete und dem Landrat die Reden schrieb, die er hinterher breit im Blatt abfeierte, hatte Gewicht bei Bausback, weil er nie widerborstig war. Ohnedies wäre es seine Aufgabe gewesen, sich vor die Volontärin zu stellen, da sie seiner Redaktion zugeteilt war.

»Es ist eine grundsatzrelevante Regel, auch die andere Seite zu hören, das sollten Sie eigentlich wissen, Frau Saalbach.« Bausback lehnte sich zurück, steckte den Daumen der rechten Hand unter das Revers seines Cordsakkos. Er trug Cordsakkos mit ledergeschützten Ellenbogen, das hatte er sich wohl bei den Journalisten in amerikanischen Siebziger-Jahre-Filmen abgeguckt. Mit der Linken strich er über den sauber gestutzten Kinnbart und fuhr nach der Kunstpause fort: »Audiatur et altera pars.«

»Ich habe den Brüdern Kleespieß angeboten, zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen.« Fenia Saalbach klang zornig. »In einem eigenen Artikel! Aber sie haben das abgelehnt.«

Stiller machte sich klar: Mit der »anderen Seite« war kein Kleespieß, sondern die Anzeigenabteilung im eigenen Haus gemeint. Als er »grundsatzrelevant« notierte, schaute sie wieder zu ihm herüber, er fühlte es. Er sah auf, wollte ihr ein aufmunterndes Lächeln zuwerfen, aber sie hatte den Blick bereits wieder gesenkt.

Er fragte sich, wie sie ihn sehen mochte.

Für einen Mittvierziger hatte er sich ganz gut gehalten, bildete er sich jedenfalls ein. Gut, er lief immer leicht zerknittert herum, kämpfte ständig mit dem Bauchansatz. Er trug bevorzugt Schwarz, was ihn schlanker, zugleich aber stets etwas düster wirken ließ. Früher hatte er ein breites Kreuz, die Frauen standen darauf, doch neuerdings ließ er die Schultern ein wenig hängen. Er lachte gern und nahm die Falten in den Augenwinkeln dafür als Zeugen. Die Falten störten ihn nicht– mit einer einzigen Ausnahme: Die senkrechte Furche über der Nasenwurzel, denn sie war erst mit dem Ärger in der Redaktion gewachsen.

Immer häufiger gab es Streit, ohne den vielleicht auch sein Haar noch so schwarz wie einst wäre. Doch er verstand sich mit dem Grau recht gut, zumal seine Frau mehrmals angemerkt hatte, es mache ihn »gefährlich interessant«. Er wusste allerdings ihren schelmischen Unterton nicht genau einzuordnen. Nicht anfreunden wollte er sich mit einer neuen Veränderung: Sein Haar begann schütter zu werden. Beim Friseur weigerte er sich neuerdings, sich den Haarschnitt im Spiegel von hinten zeigen zu lassen. Der Gedanke, er könnte eines Tages herumlaufen wie der Blattmacher der Politik, erschreckte ihn. Der hatte den Kampf gegen die Natur nicht einfach nur verloren. Er hatte vor dem Ergrauen, dem Haarausfall und dem Übergewicht bedingungslos kapituliert.

Gequält krümmte der Chefredakteur seinen Oberkörper über den Konferenztisch, streckte sein Gesicht in die Richtung der Volontärin, die ihm am anderen Ende des Ovals gegenübersaß. »Das ist nun schon Ihr dritter Beitrag in Folge, in dem Sie Ihre negative Weltsicht ausbreiten.« Scharf, als schneide er die Worte mit einem Seziermesser aus der Luft, schob er nach: »Frau Saalbach!«

Stiller sah zu ihr hin. Sie wirkte unbeteiligt, als ginge es gar nicht um sie, wie sie da saß, den Kopf leicht geneigt hielt und sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich. Dann hob sie die Augen und warf ihm erneut einen Blick zu– diesmal blieb kein Zweifel. Eine Sekunde nur, aber es entging ihm nicht: Um ihre Lippen spielte Spott.

Galt das ihm? Er verstand selbst nicht, weshalb er so gleichgültig geworden war. Vor zwanzig Jahren war er wie sie gewesen: fleißig, scharfzüngig, mutig. Das hatte ihn weit gebracht, er trug die Verantwortung für die Lokalredaktion Aschaffenburg. Doch inzwischen erdrückten ihn die Routine, der Verwaltungskram, der ihm zunehmend die Zeit fraß, die Oberflächlichkeit, die wachsende Einsicht, dass er weder den Beruf noch die Welt verbessern konnte.

Vielleicht sah sie deshalb zu ihm herüber. Die Machtdemonstration galt ihr– stellvertretend für die älteren Kollegen, die geblieben waren oder bleiben wollten wie sie. Nur nicht anecken: Bausback hatte mehr Angst vor einer klaren, eindeutigen Stellungnahme als die Politiker und Anzeigenkunden, die er im Golfclub traf. Daher zog er alles Oberflächliche der tiefgründigen Recherche vor. Das verstand er unter »guten Nachrichten«.

Als habe er Stillers Gedanken gelesen, kam Bausback zum Punkt: »Wo bleibt das Positive, Frau Saalbach?« Zweifelsohne hatte er im Germanistik-Studium Kästner gestreift. »Die guten Nachrichten sind auflagenrelevant, nicht die schlechten.« Wieder lehnte er sich zurück. »Die Leser suchen Positives in der Zeitung. Dass die Welt schlecht ist, das wissen sie von alleine. Sie erwarten die gute Nachricht.«

Stiller schaute zu Fenia Saalbach hinüber, gespannt, ob sie seinen Blick erwidern würde. Über ihre Schulter hinweg sah er, wie die Tür hinter ihr aufflog und die Redaktionssekretärin in den Konferenzraum eilte. Sonja Wagner störte aus einem bedeutenden Grund, das ließ nicht nur die Eile erkennen. Sie hatte vor Aufregung rote Flecken auf den Wangen– was aufgrund ihrer langjährigen Berufspraxis nur selten vorkam. Schweigend durchquerte sie den Raum und legte einen Zettel vor Rex Bausback ab.

Der betrachtete das Papier, sah dann verwirrt in die Runde und erklärte: »Ich lese hier, es gibt eine Tote… In einem Stadtbus der Linie4… Mutmaßlich Mord… Könnte sich um einen Giftanschlag handeln.«

Zum ersten Mal an diesem Morgen kam Leben in die Konferenz. Stiller achtete nicht darauf. Ein Giftmord, sagte er sich. Das ist doch wirklich eine gute Nachricht! Instinktiv hob er die Hand und sagte laut: »Ich mach das.« Dann sammelte er seine Gedanken, die ihn vorwurfsvoll betrachteten: Zu allem auch das noch. Als müsse er sich entschuldigen, fügte er hinzu: »Die Stadtredaktion ist ja wohl zuständig.«

Er erhob sich, ohne darauf zu warten, dass der Chefredakteur die Konferenz für beendet erklärte. Fenia Saalbach ließ ihm ihren Blick folgen, während er das Oval umrundete und der Tür zustrebte.

Röschen! Er hasste Mobbing. Und er hasste Resignation. Er würde diesen Mordfall übernehmen, er hatte seit Jahren keinen Mord mehr gehabt. Und er würde die Volontärin aus der Landkreisredaktion herausholen. Augenblicklich.

»Fenia«, wandte er sich unter der Tür zu ihr um, »ich brauche Sie später.«

»Moment mal!«, fuhr der Landchef auf.

Stiller wandte sich ihm ruhig zu. »Tut mir leid! Aber Mord kommt hier nicht so oft vor, das ist ausbildungsrelevant.«

Er lächelte, als die Tür hinter ihm und der Sekretärin ins Schloss fiel, und fügte für sich selbst hinzu: »…und absolut leserrelevant!«

»Was haben wir an Informationen?«, fragte Stiller, als er mit Sonja Wagner den Gang entlang zum Treppenhaus lief.

»Nicht viel mehr als das, was ich aufgeschrieben habe«, sagte sie. »Eine Frau stirbt im Bus der Linie4. Es sieht so aus, als sei sie umgebracht worden. Möglicherweise mit Gift.«

»Weiß man, wer die Frau ist?«

»Leider nein. Als ich den Anruf bekommen habe, war die Polizei noch gar nicht da.«

»Wer hat überhaupt angerufen?«

»Ein Bekannter von mir. Fährt neuerdings mit dem Bus zur Arbeit. Er möchte nicht…«

»Schon gut.« Stiller hielt ihr die Glastür zum Treppenhaus auf. »Verraten Sie mir nur eines, Sonja: Ist er vertrauenswürdig?«

Ihre großen hellblauen Augen funkelten ihn durch ihre Brille an. Ihr fast weißes Haar erinnerte ihn daran, wie lange sie schon im Sekretariat arbeitete. Sie wusste, worauf es ankam– besser als mancher Redakteur. Stiller merkte, dass er sie verletzt hatte.

»Ich hab ja nur gefragt«, fuhr er freundlich fort. »Ich meine, woher will er denn wissen, dass die Frau möglicherweise umgebracht wurde?«

»Er ist eine Art Arzt«, sagte sie. »Ein lieber Freund!« Sie errötete. »Mehr darf ich aber wirklich nicht…«

»Was hat er sonst noch gesagt?«

»Der Bus steht genau auf der Kreuzung Schweinheimer Straße und Ringstraße. Es gibt einen Mordsstau.« Sie kicherte. Trotz ihrer neunundfünfzig Jahre hatte sie sich einen kindlichen Humor bewahrt. »Mordsstau– klingt das arg unpassend?«

Stiller antwortete nicht, musste aber grinsen. »Wie lange ist das her?«

»Der Tod? Das weiß ich nicht.«

»Dass er angerufen hat.«

»Fünf Minuten vielleicht. Wieso?«

Sie waren ein Stockwerk tiefer, Stiller legte die Hand auf den Türgriff und hielt kurz inne. »Da kennen wir schon den möglichen Todeszeitpunkt. Der Anruf ist fünf Minuten her, die Polizei war noch nicht vor Ort– es könnte also gegen halb neun gewesen sein.« Er stieß die Tür auf und ließ sie wieder vorgehen. »Ich prüfe das gleich alles nach. Welcher Fotograf hat denn Dienst?«

»Zwei«, sagte sie, »Peter Kleinschnitz und Jürgen Breunig.«

»Ich will das mit Peter machen«, sagte Stiller und blieb stehen. Sie waren vor seinem Zimmer angekommen. »Also gut, Sonja.« Er rieb sich über die Schläfe. »Ich rufe kurz bei der Polizei an und lasse mir die Tote bestätigen. Würden Sie Peter Kleinschnitz auftreiben und ihn bitten, dass er hier vorbeikommt und mich mitnimmt? Wir fahren mit seinem Wagen.« Er wies auf die Fensterfront entlang dem Gang, über die sich ein Netz aus Wasseräderchen spannte. Es regnete, und er war mit dem Rad da.

»Und wenn schon alles weggeräumt ist, bis Sie hinkommen?« Sie sah fast ängstlich zu ihm auf. »Nicht dass Sie mir… oder meinem– Bekannten…«

3

Konnten sich die Leute kein besseres Wetter aussuchen, wenn sie schon unter ungeklärten Umständen aus dem Leben scheiden mussten? Mike Staab fröstelte, obwohl er den Allwetter-Anorak trug. Der Regen war in der letzten halben Stunde immer feiner geworden, aber er hörte nicht auf. Die Tröpfchen vereinten sich auf der grünen Uniform zu Rinnsalen, und wenn er, wie eben, den Kopf nach hinten legte, floss ihm kaltes Wasser von der Dienstmütze in den Kragen. Er kniff die Augen leicht zusammen und sah zum Himmel. Grau. Kein Lichtblick. Ein ungesundes Wetter. Eigentlich genau das richtige für einen mysteriösen Todesfall. Die alte Frau hatte sich das sowieso nicht ausgesucht.

Er fühlte sich langsam zu alt für diesen Dienst, sah sich auch schon nach etwas anderem um. Hatte kürzlich wegen einer Abordnung zur Kripo nachgefragt. So gesehen bot ihm dieser Fall eine Gelegenheit: Wie immer im November lagen einige Innendienstler krank im Bett. Und hier hatte Hauptkommissar Strobel die Leitung übernommen. Er war bekannt dafür, bewährten Kollegen eine Chance zu geben.

Staab war immer wieder verblüfft, woher all die Menschen kamen. Und wie rasch. Es konnte passieren, was wollte, in wenigen Minuten wimmelte es von Schaulustigen. Selbst bei einem Wetter wie diesem blieben sie zäh kleben, wenn sie erst einmal da waren, und lockten andere an. Es waren vielleicht schon zwanzig, als er keine fünf Minuten nach dem Notruf mit seinem Partner Norbert Syndikus eintraf, die erste Streife, kurz bevor dann die Kripo mit Strobel kam. Sie sperrten sofort den Gehsteig auf der Seite des Stadtbusses. Die Gaffer hielten sich an die Sperrung. Aber hier, auf dem Gehsteig gegenüber, standen inzwischen mehr als fünfzig herum, schätzte er– in kleinen Grüppchen, paarweise oder einzeln. Sie gestikulierten, schüttelten die Köpfe oder glotzten einfach nur den Bus an. Die meisten würden erst gehen, wenn die Leiche weggebracht war.

Das waren beileibe nicht nur Rentner, die sich morgens langweilten und hier eine Chance sahen, die Zeit bis zum Frühschoppen totzuschlagen. Es gab mehrere Grüppchen dieser Frauen um die vierzig, die sich dreimal die Woche zum Prosecco-Frühstück treffen– vermutlich in dem neuen Café am Südbahnhof. Mütter mit kleinen Kindern waren dabei, was Mike Staab besonders verwerflich fand, Studenten der nahen FH, Arbeiter, die gerade aus der Nachtschicht der Airbag-Fabrik schräg gegenüber kamen, Beamte der staatlichen Baubehörde weiter unten, zu erkennen an den altmodischen dunkelblauen Mänteln, ein Haufen Bürokaufleute mit kurz geschnittenen Haaren, glatt rasiert. Bleiche Wangen, wie gepudert. Ein paar von ihnen hatten Mobiltelefone am Ohr– oder sie hielten sie vor sich hin, um Bilder vom Bus zu schießen. Schwarze Schirmkuppeln wölbten sich über ihnen.

Die meisten Gesichter stellten Betroffenheit zur Schau. Mike Staab mochte das nicht leiden. Sollten sie doch offen dazu stehen, was sie wirklich hier hielt: Neugier. Sensationslust. Sie sehnten sich nach diesem Schauer, den viele Menschen erleben, wenn sie das Leid und Unglück anderer betrachten. Sie empfanden die Macht der Ohnmächtigen– zu sehen, dass es noch Schwächere, noch Armseligere gibt. Das Mitgefühl auf ihren Mienen war jedenfalls unecht. Staab musste schon Schaulustige befragen, die tatenlos zugesehen hatten, wie mitten in der Fußgängerzone ein Mensch zusammenbrach und hilflos liegen blieb, bis nach Minuten endlich der Strauß-Apotheker hinzusprang.

Mike Staab zog ein Duplo aus der Brusttasche des Anoraks, packte es aus und schob es auf zwei Bissen in den Mund. Seit er nicht mehr rauchte, brauchte er diese Schokoriegel. Die Uniform spannte schon. Er knüllte das Papier zusammen, ließ es durch den Rost eines Gullys fallen und näherte sich einer Mutter, die ein weinendes Kleinkind im Buggy sitzen hatte.

»So gehen Sie doch weiter«, sagte er. »Ihr Kind friert. Hier gibt es gar nichts zu sehen!«

Sie schaute ihn kurz an, verärgert über die Störung, schob dann den Buggy um die Gruppe der Bürokaufleute herum und hielt wieder.

Er regte sich nicht auf. Solange sie auf dem Gehsteig blieben und niemanden behinderten, waren ihm die Hände gebunden. Trotzdem: Die alte Frau hatte sich nicht nur ein unpassendes Wetter ausgesucht zum Sterben, sondern auch einen unpassenden Ort. Sicherheitstechnisch gesehen. Der Bus stand auf der Brücke, die über die Ringstraße führt. Er blockierte die Fahrspur von Schweinheim stadteinwärts. Hinter ihm parkten ein Sanka und ein Leichenwagen, zwischen die der Notarzt noch seinen Golf gequetscht hatte. Er hatte das Blaulicht eingeschaltet, ebenso wie die beiden Streifenwagen, die den stehenden Konvoi an den Enden einrahmten. Das blaue Licht zuckte über den nassen Asphalt und gab dem düsteren Novembermorgen und den Gesichtern der Zuschauer etwas Gespenstiges.

Die Kollegen aus den Streifenwagen waren damit beschäftigt, den Verkehr im Wechsel auf der Gegenfahrbahn vorbeizuleiten. Natürlich gab es einen gewaltigen Stau, zumal die meisten Fahrer ihre Autos nur rollen ließen, um ihre Sensationslust zu befriedigen. Gaffer hinterm Steuer– eine gefährliche Kombination. Norbert Syndikus und ein anderer Beamter schirmten den Bus ab, er selbst hatte nur darauf zu achten, dass die Passanten nicht auf die Straße liefen.

Zwischen den Schaulustigen hindurch warf Mike Staab einen Blick auf die Ringstraße unter der Brücke. In Tieflage fraß sie sich parallel zur Bahnlinie Aschaffenburg–Miltenberg im Halbkreis von Süd nach Nord um die Stadt. Bis zur Schießhausbrücke im Osten war sie schon vorgedrungen, es fehlten nur noch ein paar hundert Meter bis zum Ringschluss im Norden. Auch da unten floss der Verkehr dicht und langsam. Das lag an den notorischen Nörglern. Um das Chaos auf der Brücke nicht zu vergrößern, waren die Ausfahrtsrampen gesperrt, die vom Ring zur Schweinheimer Straße hinaufführten. Aber immer wieder hielten Autos an der Sperre, diskutierten die Fahrer mit den Verkehrspolizisten. Hinter ihnen mussten alle anderen anhalten: Auch der Ring hatte nur eine Spur in jede Richtung.

Weiter hinten erkannte Staab den roten Amischlitten, der sich langsam in Richtung Brücke schob. Sein Gesicht hellte sich auf. Das Auto war so bekannt wie sein Fahrer, Peter Kleinschnitz. Dieser Zeitungsfotograf hatte eine Schwäche für die Benzinschlucker der siebziger Jahre. Staab kannte ihn von zahlreichen Einsätzen. Bei großen Sachen war er gewöhnlich mit einem Schreiberling unterwegs, den Staab von Zeit zu Zeit im Schachcafé traf: Paul Stiller. Die beiden waren als Duo legendär. Sie hatten diese Spitznamen…

Mike Staab hob das Funkgerät und rief die Streife unten an der gesperrten Abfahrt. »Bei euch hält gleich ein feuerroter Buick ›Park Avenue‹. Es müssten zwei Reporter drinsitzen. Ihr könnt sie durchlassen.«

»Durchlassen?«, schnarrte es aus dem Funkgerät. »Sind die was Besonderes?«

»Stimmt genau«, sagte Staab. »Es sind sozusagen zwei Heilige, zwei Zeitungsapostel. Sankt Peter und Paul.«

*

Das Gespräch im Buick hatte wenig Heiligmäßiges.

»Wir hätten besser dein Rad nehmen sollen!« Peter Kleinschnitz stierte so eindringlich auf die Wagenkolonne vor sich, als wollte er sie mit den Augen wegschieben. Er hatte immer Angst, zu spät zu kommen, das beste Motiv zu verpassen.

Stiller saß auf dem Beifahrersitz und grinste. »Du wolltest doch nicht im Ernst auf meinem Gepäckträger sitzen. Oder auf meiner Stange…«

Der Fotograf bleckte seine großen Zähne. »Na ja, wenn du zwanzig Jahre jünger wärst, Süßer.«

»Schade, dass du mir das damals nicht gestanden hast. Aus uns hätte was werden können.«

Der Wagen schob sich leise vorwärts, der Scheibenwischer übertönte das sanfte Brummen des Motors. Die Federung quietschte, wenn Kleinschnitz beschleunigte oder bremste. An der Ausfahrt der Ringstraße versperrte ihnen ein Streifenbeamter den Weg und hob die Hand. Kleinschnitz kurbelte das Seitenfenster herunter.

»Presse. Fragen Sie mich jetzt bloß nicht, wo ich meinen Ausweis…«

»Ich weiß schon«, sagte der Beamte grinsend und musterte die beiden Journalisten, als vergleiche er sie vor seinem inneren Auge mit den Fahndungsfotos entsprungener Zuchthäusler. »Sie werden da oben erwartet.«

Kleinschnitz ließ das Fenster offen und gab Gas. »Der Mann hat gelacht!« Er schüttelte den Kopf. »Da oben liegt eine Tote. Es ist kalt. Es regnet. Wie kann dieser Mann lachen?«

»Es ist mir ein Rätsel«, sagte Stiller. »An deinem Charme liegt es jedenfalls nicht. Der ist zum Weinen.«

Sie kannten den bärigen Polizisten, der sie oben empfing: Mike Staab. Er warf einen zweifelnden Blick auf den breiten Buick und beugte sich zum Fahrerfenster herab.

»Du kannst hinter dem Streifenwagen parken«, sagte er zu Kleinschnitz. »Pass halt auf, dass der Schlitten nicht zu sehr im Weg steht, sonst gibt's Ärger.«

»Keine Sorge. Das passt schon.« Kleinschnitz nickte in Richtung Bus. »Ist die Tote noch drin?«

»Ich hab sie nicht rauskommen sehen.«

Kleinschnitz fuhr den Wagen rasch zur Seite, stellte ihn ab, kurbelte das Fenster hoch und griff die Fototasche, die er auf der Sitzbank zwischen sich und Stiller abgestellt hatte. Während der Fahrt benutzte er sie als Armlehne.

»Schließ du bitte ab, vergiss es nicht.« Kleinschnitz hatte immer eine zweite Kamera-Ausrüstung im Wagen hinter der Sitzbank– und höllische Angst, dass sie ihm jemand während eines Termins aus dem Auto holen könnte. Die Tür fiel mit einem satten Geräusch ins Schloss, und er rannte zum Bus.

Stiller sah ihm nach. Von hinten hatte Kleinschnitz eindeutig Ähnlichkeit mit Otto Waalkes. Das lange, schon schüttere, graublonde Haar, die eher schmalen Schultern, der hopsende Gang, wenn er es eilig hatte. Selbst an diesem kalten Vormittag trug er nur eine ärmellose Regenweste über dem Hemd– eine gefütterte allerdings mit vielen Taschen, in denen er das Fotozubehör verstaute.

Stiller zog den Schlüssel ab und verschloss den Buick. Er schlenderte zu Staab, der gerade versuchte, eine Gruppe junger Bürokaufleute zum Gehen zu bewegen.

»Man wird Sie sicher schon vermissen.« Er blickte sie streng an. »Außerdem gibt es hier gar nichts zu sehen!«

Der Satz war üblich, aber wie üblich stimmte er nicht ganz. Hinter den Scheiben des Busses tauchten immer wieder die Köpfe und Rücken des Notarztes und der Sanitäter auf, um gleich wieder zu verschwinden, wenn sie sich bückten. Die Tote lag wohl vorn beim Fahrersitz. Die Männer der Spurensicherung sahen zu. Sie konnten im Moment wenig tun, nahm Stiller an. Eine Gruppe von Leuten im hinteren Teil des Busses hielt er für Fahrgäste. Hauptkommissar Strobel stand bei ihnen. Stiller erkannte den neuen Leiter des Kommissariats1 an seiner hünenhaften Figur. Er galt als äußerst fähig. Im Augenblick notierte er etwas, nahm Personalien auf oder ließ sich den Vorfall schildern.

Kleinschnitz erschien auf der gegenüberliegenden Seite des Busses im vorderen Türrahmen und fotografierte sofort. Blitzlicht zuckte. Einen Polizeibeamten der Spurensicherung erinnerte das offensichtlich an seine Pflicht, er hob selbst eine Kamera ans Auge und schoss ein paar Bilder. Dann wandte er sich dem Fotografen zu und führte ihn nach einer kurzen Diskussion aus dem Bus.

Sie würden ohnehin kein Bild drucken, auf dem die Leiche zu sehen war. Die Beamten wussten das, Kleinschnitz wäre sonst nie in den Bus gelangt. Aber er wollte das Bild dennoch, es war eine Berufskrankheit. Obwohl er es nie veröffentlichen oder an die Boulevardblätter verkaufen würde, deren Angebote nicht ausblieben, wenn ein Fall spektakulär genug war. Als er in den Achtzigern fotografiert hatte, wie die nackte Leiche einer Vierzehnjährigen aus dem Gebüsch an der Straße nach Darmstadt geborgen wurde, hatte ihm »Bild« mehr als ein Monatsgehalt geboten. Er war standhaft geblieben. Immerhin nahm ihm die Deutsche Presseagentur für ein kleines Zubrot ein paar Standardfotos vom Schauplatz ab.

Fotos, wie er sie jetzt wieder schoss. Aufnahmen vom Bus, möglichst so, dass durch die Fenster hindurch etwas von der Arbeit der Sanitäter und der Spurensicherung sichtbar wurde. Hin und wieder in den Varianten »Angeschnittener Sanka im Vordergrund« oder »Bestürzte Beobachter im Hintergrund«.

Plötzlich kam Bewegung in die Schaulustigen auf dem Gehsteig, etliche Gaffer zogen davon.

»Aufs Bild wollen die natürlich nicht«, schnaubte Staab.

Stiller schwieg und sah zum Bus hinüber. Er kannte Mike Staab gut. Sie hatten zur selben Zeit in Aschaffenburg angefangen, liefen sich seitdem immer wieder beruflich über den Weg und sahen sich privat in der Schachecke im Café Fischer. Schachspieler lernten einander gut kennen, aber selbst einem Freund bei der Polizei würde Stiller nicht anvertrauen, was er in diesem Moment dachte: Nichts unterschied Journalisten am Schauplatz einer Katastrophe, eines mysteriösen Todesfalls, eines Unglücks von den Gaffern am Straßenrand. Schlimmer noch! Er und der Fotograf bedienten hier sogar den Voyeurismus derjenigen, die das Spektakel nicht mit eigenen Augen betrachten konnten.

»Was ist hier genau passiert?«, fragte Stiller.

»Ich darf dir offiziell nichts sagen, das ist dir doch klar.« Staab zog zwei Duplos aus dem Anorak und reichte eines davon Stiller. Sie traten ein paar Schritte von der Menschenmenge auf dem Gehsteig zurück.

»Das heißt, du weißt nur nichts. Sei doch ehrlich, mein lieber Mike.«

»Deine psychologische Kriegsführung war auch schon besser«, gab Staab zurück. »Ich muss vorsichtig sein. Strobel ist da. Ich hab das Gefühl, er holt mich diesmal in sein Team.« Er kaute genüsslich sein Duplo, drehte dann dem Bus den Rücken zu. »Damit du dich nicht blamierst, wenn du ihn nachher offiziell fragst, werd ich dir trotzdem ein paar Infos geben.«

Stiller ließ den Stenoblock stecken. Er wollte dem Bekannten keinen Ärger einhandeln– und das Papier würde im Regen ohnehin nur aufweichen.

»Die Tote ist Mitte siebzig, wohnt keinen Kilometer von hier im Stadtteil Schweinheim und heißt Hedda Kunkel.« Staab hob die Brauen. »Den Namen hast du aber wirklich nicht von mir.«