Stine - Theodor Fontane - E-Book

Stine E-Book

Theodor Fontane

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Beschreibung

Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. Graf Waldemar Haldern, der selten etwas vollendet hat, will einmal etwas richtig machen: Ernestine Rehbein aus kleinbürgerlichen Verhältnissen zur Frau nehmen. Er bittet seinen Onkel, der mit Stines Schwester Pauline eine Liaison hat, sein Fürsprecher zu werden, doch dieser weigert sich. Als es Waldemar dann trotzdem wagt, um Stines Hand anzuhalten, kommt es zum dramatischen Höhepunkt …

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Theodor Fontane

Stine

Fischer e-books

Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.

Erstes Kapitel

In der Invalidenstraße sah es aus wie gewöhnlich: die Pferdebahnwagen klingelten, und die Maschinenarbeiter gingen zu Mittag, und wer durchaus was Merkwürdiges hätte finden wollen, hätte nichts anderes auskundschaften können, als dass in Nummer 98e die Fenster der ersten Etage – trotzdem nicht Ostern und nicht Pfingsten und nicht einmal Sonnabend war – mit einer Art Bravour geputzt wurden. Und nicht zu glauben, diese Merkwürdigkeit ward auch wirklich bemerkt, und die schräg gegenüber an der Scharnhorststraßen-Ecke wohnende alte Lierschen brummte vor sich hin: »Ich weiß nich, was der Pittelkow’n wieder einfällt. Aber sie kehrt sich an nichts. Un was ihre Schwester is, die Stine, mit ihrem Stübeken oben bei Polzins un ihren Sep’ratschlüssel, dass keiner was merkt, na, die wird grad ebenso. Schlimm genug. Aber die Pittelkow’n is schuld dran. Wie sie man bloß wieder dasteht und rackscht und rabatscht! Und wenn es noch Abend wär’, aber am hellen, lichten Mittag, wo Borsig und Schwarzkoppen seine grade die Straße runterkommen. Is doch wahrhaftig, als ob alles Mannsvolk nach ihr raufkucken soll; ’ne Sünd’ und ’ne Schand.«

So brummelte die Lierschen vor sich hin, und so wenig freundlich ihre Betrachtungen waren, so waren sie doch nicht ganz ohne Grund; denn oben auf dem Fensterbrett und kniehoch aufgeschürzt stand eine schöne, schwarze Frauensperson mit einem koketten und wohlgepflegten Wellenscheitel und wusch und rieb, einen Lederlappen in der Hand, die Scheiben der einen Fensterseite, während sie den linken Arm, um sich besser zu stützen, über das andere Querholz gelegt hatte. Mitunter gönnte sie sich einen Stillstand in der Arbeit und sah dann auf die Straße hinunter, wo jenseits des Pferdebahngeleises ein dreirädriger, beinahe eleganter Kinderwagen in greller Mittagssonne hielt. Dem im Wagen sitzenden, allem Anscheine nach überaus ungebärdigen Kinde, das ganz aristokratisch in weiße Spitzen gekleidet war, war ein zehnjähriges Mädchen zur Aufsicht beigegeben, das, als alles Bitten und Zureden nichts helfen wollte, dem Schreihals einen tüchtigen Klaps gab. Im selben Augenblick aber schielte die Zehnjährige, die diesen Erziehungsakt gewagt hatte, scheu nach dem Fenster hinauf, und richtig, es war alles von drüben her gesehen worden, und die schöne, schwarze Person, die »klapsen und erziehn« durchaus als ihre Sache betrachtete, drohte sofort mit dem Lederlappen nach der auf ihrem Übergriff Ertappten hinüber. Auch schien ein Zornausbruch in Worten trotz der weiten Entfernung folgen zu sollen; aber ein befreundeter Briefbote, der gerade die Straße heraufkam, hielt einen Brief in die Höh’, zum Zeichen, dass er ihr etwas bringe. Sie verstand es auch so, stieg sofort vom Fensterbrett auf einen nebenstehenden Stuhl und verschwand im Hintergrunde des Zimmers, um den Brief draußen auf dem Korridor in Empfang zu nehmen. Eine Minute später kam sie zurück und setzte sich ins Licht, um bequemer lesen zu können. Aber was sie da las, schien ihr mehr Ärger als Freude zu machen, denn ihre Stirn legte sich sofort in ein paar Verdrießlichkeitsfalten, und den Mund aufwerfend, sagte sie spöttisch: »Alter Ekel. Immer verquer.« Aber sie war keine Person, sich irgendwas auf lange zu Herzen zu nehmen, und so lehnte sie sich, den Brief immer noch in der Hand haltend, weit über die Fensterbrüstung hinaus und rief mit jener enrhümierten Altstimme, wie sie den unteren Volksklassen unserer Hauptstadt nicht gerade zum Vorteil eigen ist, über die Straße hin: »Olga!«

»Was denn, Mutter?«

»›Was denn, Mutter!‹ Dumme Jöhre! Wenn ich dir rufe, kommste. Verstehste?«

Ein mit einem alten Dampfkessel bepackter Lastwagen, der dröhnend und schlitternd gerade des Weges kam, hinderte die unverzügliche Ausführung des Befehls; kaum aber, dass der Rollwagen vorüber war, so nahm Olga den Stoßgriff des Kinderwagens in die Hand und fuhr, quer über den Damm hin, auf das Haus zu und mit einem Ruck in den Hausflur hinein. Hier nahm sie das Kind heraus und ging, während sie den Wagen zunächst unten stehen ließ, treppauf in die Wohnung der Mutter.

Diese hatte sich mittlerweile beruhigt, die Stirnfalte war fort, und Olga bei der Hand nehmend, sagte sie mit jenem Übermaß von Vertraulichkeit, das gewöhnliche Leute gerade bei Behandlung intimster Dinge zu zeigen pflegen: »Olga, der Olle kommt heute wieder. Immer, wenn’s nich passt, is er da. Grad als wollt’ er mir ein’n Tort antun. Ja, so is er, Na, es hilft nu nich, und, Gott sei Dank, vor achten kommt er nich. Und nun gehst du zu Wanda und sagst ihr … Ne, lass man … Bestellen kannst du’s doch nich, es is zu lang zum Bestellen … Ich werd’ dir lieber einen Zettel schreiben.«

Und mit diesen Worten trat sie, von der Tür her, wo dies Gespräch stattgefunden, an einen überaus eleganten und um eben deshalb zu Haus und Wohnung wenig passenden Rokokoschreibtisch heran, auf dem eine fast noch mehr überraschende ledergepresste Schreibmappe lag. In dieser Mappe begann jetzt die noch immer hochaufgeschürzte Frau nach einem Stück Briefpapier zu suchen, anfangs ziemlich ruhig, als sich aber, nach dreimaligem Durchblättern der roten Löschpapierbogen immer noch nichts gefunden hatte, brach ihre schlechte Laune wieder los und richtete sich, wie gewöhnlich, gegen Olga: »Hast es wieder weggenommen un Puppen ausgeschnitten.«

»Nein, Mutter, wahr un wahrhaftig nich; ich kann es dir zuschwören.«

»Ach, geh mir mit dein ewiges Geschwöre, Haste denn gar nichts?«

»Ja, mein Schreibebuch.«

Und Olga lief, so rasch es ging, in das Neben- und Hinterzimmer und kam dann mit einem blauen Schreibehefte zurück. Die Mutter riss ohne weiteres die letzte Seite heraus, auf deren oberster Zeile lauter ch’s standen, und kritzelte nun mit verhältnismäßiger Schnelligkeit einen Brief fertig, faltete das Blatt zweimal und verklebte die noch offene Stelle mit Briefmarkenstreifen, von denen sie die gummireichsten immer mit dem Bemerken »is besser als englisch Pflaster« aufzuheben pflegte. »So, Olgachen. Nun gehst du zu Wanda un gibst ihr das. Und wenn sie nich da is, gibst du’s an den alten Schlichting. Aber nich an seine Frau un auch nich an die Flora, die kuckt immer rein un braucht nicht alles zu wissen. Und wenn du zurückkommst, dann gehste mit zu Bolzanin ran und bestellst ’ne Torte.«

»Was für eine?« fragte Olga, deren Gesicht sich plötzlich verklärte.

»Appelsine … Un bezahlst sie gleich. Un wenn du sie bezahlt hast, sagste, dass er nichts drauflegen soll, auch keine Appelsinenstücke, die doch bloß Pelle un Steine sind … Und nun geh, Olgachen, un mach flink, un wenn du wieder da bist, kannst du dir drüben bei Marzahn auch für’n Sechser Gerstenbonbons kaufen.«

Zweites Kapitel

Olga säumte nicht und ging in die Hinterstube, um hier ihr rot und schwarz kariertes Umschlagetuch zu holen, das, neben einem etwas verschlissenen Schnurenhut, ihr gewöhnliches Straßenkostüm bildete. Witwe Pittelkow in Person aber stieg, nachdem sie das immer noch schreiende Kind in eine ganz vornehm ausgestattete Himmelwiege gelegt und ihm eine Flasche mit Saugpfropfen in den Mund gesteckt hatte, zwei Treppen höher zu Polzins hinauf, wo ihre Schwester Stine Chambre garnie wohnte.

Polzins waren gutsituierte Leute, die das mit dem Chambre garnie gar nicht nötig gehabt hätten, aber trotzdem, aus purem Geiz, alles vermieteten, oder doch soviel wie irgend möglich, um ihrerseits frei wohnen zu können, oder wie Frau Polzin sich ausdrückte: »für umsonst einzusitzen«. Er, Polzin, war, seiner eigenen Angabe nach, »Teppichfabrikant« (allerdings niedrigster Observanz) und beschränkte sich darauf, unter geflissentlicher Verachtung aller Komplementärfarbengesetze, schmale, kaum fingerbreite Tuchstreifen wie Stroh oder Binsen nebeneinanderzuflechten und dies Geflecht als »Polzinsche Teppiche« zu verkaufen, »Sehen Sie«, so schloss jedes seiner Geschäftsgespräche, »solch ›Polzinscher‹« (er behandelte sich dabei ganz als historische Person) »wird nie alle; wenn eine Stelle weggetreten is oder der Esstisch mit seinem Rollfuß ein Loch eingerissen hat, nehm’ ich ein paar alte Streifen raus un setz’ ein paar neue rein, un alles is wieder propper un fix un fertig. Sehen Sie, so sind die ›Polzinschen‹. Aber wenn der Smyrnaer ein Loch hat, dann hat er’s, und da hilft kein Gott nich.«

Polzin, wie sich aus diesem Redestück ergibt, neigte zu philosophischer Betrachtung, ein Zug, der durch das zweite Metier, das er betrieb, noch eine ganz erhebliche Stärkung erfuhr. Während der Abendstunden nämlich war er bei sich bietenden Gelegenheiten auch noch Lohndiener und wegen seiner Vorsicht und Geschicklichkeit beim Präsentieren in dem zwischen Invaliden- und Chausseestraße gelegenen Stadtteil allgemein beliebt, was Frau Polzin in ihren Gesprächen mit der Pittelkow immer wieder betonte: »Sehn Sie, liebe Pittelkow, mein Mann is ein ordentlicher und manierlicher Mensch, der, weil wir selber ganz klein angefangen haben, am besten weiß, dass es nich jeder zum Wegschmeißen hat. Un sehn Sie, danach präsentiert er auch, und Saucièren, die nich feststehn und immer hin- und herrutschen, die nimmt er gar nich. Und wenn Polzin schon eine einzige Plüschtaille verdorben hat, so will ich sterben. Und ebenso galant und manierlich is er auch bei’s Mitnehmen. Er is mein Mann, aber das muss ich sagen, er hat was Feines un Bescheidenes un überhaupt so was, was die andern nich haben. Ja, das muss ich ihm lassen. Und da reichen nich hundertmal, dass er mir gesagt hat: ›Emilie, heut’ hab’ ich mir mal wieder über meine Kollegen geschämt. Natürlich war es wieder der mit’n Plattfuß aus der Charitéstraße. Glaubst du, dass er sich auch bloß geniert und ein ganz klein bisschen für Schein und Anstand gesorgt hätte? I, Gott bewahre. Ganz dreiste weg, als ob er sagen wollte: ›ja, meine Herrschaften, da steht der Rotwein, un nu nehm’ ich ihn mit nach Hause‹.«

 

So waren die Polzins, an deren Flurtür, trotz einer daneben befindlichen Klingel, die Pittelkow jetzt klopfte, zum Zeichen (so hatte man abgemacht), dass es bloß »Freundschaft« sei, was zu Besuch käme. Und gleich danach erschien denn auch Frau Polzin und öffnete.

Die nur drei Stuben zählende Polzinsche Wohnung erfreute sich des Vorzugs eines Korridors, der aber freilich nicht größer war als ein aufgeklappter Spieltisch und augenscheinlich nur den Zweck hatte, drei auf ihn ausmündende Türen zu zeigen, von denen die links gelegene zu der verwitweten Privatsekretär Kahlbaum, die mittlere zu Polzins selbst, die rechts gelegene zu Stine führte. Diese hatte das beste Zimmer der Wohnung, hell und freundlich, mit dem Blick auf die Straße, während sich die Kahlbaum mit etwas Beleuchtung vom Hof her und die Polzinschen Eheleute mit einem schrägen Dachlicht begnügen mussten, das, wie bei photographischen Ateliers, von oben her einfiel.

»Liebe Polzin«, sagte die Pittelkow, als beide Frauen sich oberflächlich begrüßt hatten, »es riecht wieder so sehr nach Petroleum bei Ihnen. Warum nehmen Sie nich Coaks? Sie werden sich mit Ihrem ewigen Petroleumkocher noch alle Mieter aus der Wohnung kochen. Und Ihr lieber Mann! Was sagt denn der eigentlich dazu? Der muss doch nachgerade bei Puten un Fasanen eine feine Nase gekriegt haben. Und ich weiß nicht, wenn ich ein herrschaftlicher Lohndiener wäre, so was litt’ ich nich. In Gesellschaften immer was Delikats un zu Hause so. Na, meinetwegen. Is denn Stine drin?«

»Ich denke doch, ich habe sie nicht weggehen hören. Und denn wissen Sie ja, liebe Pittelkow, wir sehen nichts un hören nichts.«

»Versteht sich, versteht sich«, lachte die Pittelkow, »sehen nichts un hören nichts. Und das ist auch immer das beste.«

 

Sehr wahrscheinlich, dass sich dies Gespräch noch fortgesetzt hätte, wenn nicht in ebendiesem Augenblick die Tür von rechts her aufgemacht und Stine herausgetreten wäre.

»Jott, Stine«, sagte die Pittelkow mit einem Ausdruck von Freude. »Na, das ist recht, Kind: Ein Glück, dass du da bist. Du musst heute noch runterkommen un helfen.«

Unter diesen Worten waren die Schwestern, während sich Frau Polzin artig, aber grienend zurückzog, in Stines Zimmer eingetreten und auf ein paar kleine Stühle zugegangen, die zu beiden Seiten des Fensters auf einem Trittbrett standen. Draußen am Fenster aber war ein Dreh- und Straßenspiegel angebracht, bei dessen Anbringung der ebenso praktische wie pfiffige Polzin vor Jahr und Tag schon zu seiner Frau gesagt hatte: »Emilie, solange der da ist, so lange vermieten wir.«

Die Pittelkow setzte sich gegenüber dem Drehspiegel, der denn auch heute wieder, wie zur Bestätigung der Worte Polzins, eine Quelle herzlichen Vergnügens für die hübsche Witwe wurde, nicht aus Eitelkeit (denn sie sah sich gar nicht), sondern aus bloßer Neugier und Spielerei. Stine, die das alles schon kannte, lächelte vor sich hin; auch sie trug einen gewellten Scheitel, aber ihr Haar war flachsgelb, und die Ränder der überaus freundlichen Augen zeigten sich leicht gerötet, was, aller sonst blühenden Erscheinung und einer gewissen Ähnlichkeit mit der Pittelkow unerachtet, doch auf eine zartere Gesundheit hinzudeuten schien. Und so war es auch. Die brünette Witwe war das Bild einer südlichen Schönheit, während die jüngere Schwester als Typus einer germanischen, wenn auch freilich etwas angekränkelten Blondine gelten konnte.

Stine sah der immer noch mit dem Spiegel beschäftigten Schwester eine Weile zu, dann erhob sie sich, hielt ihr die Hand vor die Augen und sagte: »Nun hast du aber genug, Pauline. Du musst doch nachgerade wissen, wie die Invalidenstraße aussieht.«

»Hast recht, Kind. Aber so is der Mensch; immer das Dummste gefällt ihm un beschäftigt ihn, un wenn ich in den Spiegel kucke und all die Menschen und Pferde drin sehe, dann denk’ ich, es is doch woll anders als so mit bloßen Augen. Un ein bisschen anders is es auch. Ich glaube, der Spiegel verkleinert, un verkleinern is fast ebensogut wie verhübschen. Aber du brauchst nicht kleiner zu werden, Stine, du kannst so bleiben, wie du bist. Ja, wahrhaftig. Aber, warum ich komme … Jott, man hat doch auch keine ruhige Stunde.«

»Was is denn?«

»Er kommt heute wieder.«

»Nu, Pauline, das is doch kein Unglück. Bedenke doch, dass er für alles sorgt. Und so gut wie er ist und gar nich so.«

»Na, ich wollt’ ihm auch. Und den alten Baron bringt er auch mit, und noch einen.«

»Und noch einen? Wen denn?«

»Lies.«

Und sie reichte Stine den eben erhaltenen Brief, und diese las nun mit halblauter Stimme: »Mein lieber schwarzer Deibel. Ich komme heute, aber nicht allein; Papageno kommt mit und ein Neffe von mir auch; natürlich noch jung und etwas blass. ›Aber bleich und blass,/Ei, die Weiber lieben das.‹ Sorge nur, dass Wanda kommt und Stine. Wein schick’ ich und eine Salatschüssel. Aber für alles andre musst Du sorgen. Nichts Apartes, nichts Großes, bloß so wie immer, Dein Sarastro.«

»Wer ist denn der Neffe?« fragte Stine.

»Weiß ich nich. Wer kann alle Neffens kennen? Denkst du, dass ich mich um seinen Stammbaum kümmere. Jott, wie mag es damit aussehen. Na, überhaupt Stammbäume.«

»Lass ihn das nich hören.«

»Oh, der hört noch ganz andres. Oder denkst du, dass ich mir wegen eine Treppe hoch mit Klavier un Diwan un wegen ’nen Schreibtisch, der immer wackelt, weil er dünne Beine hat, ein Pechpflaster aufkleben soll? Nein, Stinechen, da kennst du deine Schwester schlecht. Oder wegen den blassen Neffen? Ich denk’ ihn mir so.« Und dabei zog sie das Gesicht in die Länge und drückte mit Daum’ und Zeigefinger die beiden Backen ein.

Stine lachte. »Ja, damit wirst du’s wohl getroffen haben. Und überhaupt, ich find’ es unpassend und ungebildet, dass er den jungen Menschen mitbringt. Ein Onkel ist doch immer so was wie ’ne Respektsperson. Für sich mag er ja tun, was er will; aber solchen jungen Menschen … ich weiß nicht, Pauline. Findst du nich auch?«

»Na, ob ich finde. Natürlich; erst recht. Aber, Kind, wenn wir davon erst reden wollen, denn is kein Ende. Das is nu mal so; sie taugen alle nichts un is auch recht gut so; wenigstens für unsereins (mit dir is es was anders) und für alle, die so tief drin sitzen un nich aus noch ein wissen. Denn wovon soll man denn am Ende leben?«

»Von Arbeit.«

»Ach Jott, Arbeit. Bist du jung, Stine. Gewiss, arbeiten is gut, un wenn ich mir so die Ärmel aufkremple, is mir eigentlich immer am wohlsten. Aber, du weißt ja, denn is man mal krank un elend, un Olga muss in die Schule. Wo soll man’s denn hernehmen? Ach, das is ein langes Kapitel, Stine. Na, du kommst doch? So Klocker acht, oder lieber noch ein bisschen eh’r.«

Drittes Kapitel

Während die Pittelkow oben bei Stine war, um sich dieser für den Abend zu versichern, ging Olga die Invalidenstraße hinauf, um erst den Brief abzugeben und dann auf dem Rückwege bei Konditor Bolzani die Torte zu bestellen. Es war ihr Eile befohlen, aber sie kehrte sich nicht dran, freute sich vielmehr, eine Stunde lang ohne mütterliche Kontrolle zu sein, und getröstete sich, »dass es noch lange hin sei bis Abend«. An allen Läden blieb sie stehen, am längsten vor dem Schaufenster eines Putzgeschäfts, aus dessen buntem Inhalt sie sich abwechselnd eine rote Schärpe mit Goldfranzen und dann wieder einen braunen Kastorhut mit Reiherfeder als Schönstes wünschte. Diesen Wunsch in Erfüllung gehen zu sehen war freilich wenig Aussicht vorhanden, aber es schadete nicht viel, weil sich ihre nächste Zukunft unter allen Umständen angenehm genug gestalten musste. Wanda, wie sie von Tante Stine her wusste, hatte meistens Sandtorte, ja mitunter sogar Schokoladenplätzchen in ihrem Schrank, und wenn sich beides auch nicht erfüllte, so blieben doch immer noch die Gerstenbonbons.

Solchen Betrachtungen hingegeben, kam Olga bis an die Chausseestraße, wo, wie gewöhnlich in dieser kirchhofreichen Gegend, ein großes Begräbnis die Straßenpassage hemmte. Olga, weitab davon, irgendwelchen Anstoß an dieser Wegestörung zu nehmen, wünschte ganz im Gegenteil, dieselbe so lange wie möglich andauern zu sehen, und stellte sich, besseren Überblicks halber, auf eine vor einem Öl- und Spiritusgeschäft angebrachte Steintreppe. Der Wagen mit dem Sarge war schon eine Weile vorüber, so dass sie nur noch das versilberte Kreuz über einem Meer von schwarzen Hüten hin und her schwanken sah. Kutschen fehlten im Zuge (so wenigstens schien es), dafür aber folgten allerlei Baugewerke mit Bannern und Musik, und während noch aus der Front her der Trauermarsch der Zimmerleute bis weit nach rückwärts tönte, klang schon aus der Mitte des Zuges und vom Oranienburger Tor her ein zweiter und dritter Trauermarsch herauf, so dass Olga nicht wusste, worauf sie hören und welchem Geblase sie den Vorzug geben sollte. Neben dem eigentlichen Gefolge drängten breite Volksmassen mit vorwärts und ließen nur allemal eine schmale Gasse frei, wenn reitende Schutzleute von der Queue her bis an die Spitze des Zuges und dann wieder zurück sprengten. »Wer es nur is?« dachte Olga, in deren Herzen etwas wie Neid aufkeimte, so schön begraben zu werden, aber soviel sie horchte, sie konnte es bei den mit ihr auf der Steintreppe Stehenden nicht mit Bestimmtheit in Erfahrung bringen. Einer versicherte, dass es ein alter Mauerpolier, ein anderer, dass es ein reicher Ratszimmermeister sei, während eine mit braunem Torfstaub ganz überdeckte Frau, die der herannahende Zug sichtlich beim Abladen unterbrochen hatte, von nichts Geringerem als von einem Minister für Maurer- und Zimmerleute wissen wollte. »Dummes Zeug«, unterbrach sie der nebenanwohnende Budiker, »so was gibt es ja gar nich.« Aber das Torfweib ließ sich nicht stören und sagte nur: »Warum nich, warum soll es so was nich geben?« Und so stritt man sich hin und her. Endlich aber war der Zug vorüber, und Olga passierte nun den Damm und bog hundert Schritte weiter abwärts in die Tieckstraße ein.

Nummer 27a war das dritte Haus von der Ecke: fünf Fenster Front, drei Stock und eine kleine Mansarde. Der Wirt, ein Kupferschmied, hatte den Hof in eine halboffene Werkstatt verwandelt, in der nun, den ganzen Tag über, auf oft zweimannshohen Braukesseln herumgehämmert wurde, bei welchem Gedröhn und Gehämmre Wanda ihre Rollen lernte. Es tat ihr nichts, ja, sie hätte nirgends lieber wohnen mögen, und der Kupferschmiedegeselle, der auf der obersten Kesselrundung oft stundenlang herumritt und sich dabei in platonischer Liebe (der einzigen, die Wanda so kleinen Leute gestattete) verzehrte, war jedesmal ihr guter Freund. Ihre von Glasermeister Schlichting abgemietete Wohnung lag nämlich nach dem Hofe hinaus und hatte hier ihren eigentlichen Auf- und Eingang. Hier befand sich denn auch ihre Klingel und ihre Karte: »Wanda Grützmacher, Schauspielerin am Nordend-Theater.«