Stirbt der Kapitalismus? - Immanuel Wallerstein - E-Book

Stirbt der Kapitalismus? E-Book

Immanuel Wallerstein

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Beschreibung

Das ökonomische System des Kapitalismus wird kollabieren, weil negative Konjunkturzyklen und politische Krisen zusammentreffen und Wachstum an Grenzen stößt. Umweltkrisen werden den Kapitalismus massiv unter Druck setzen, ebenso wie globale Machtkämpfe und der Kampf um Ressourcen. Die Mittelklassen werden ihre Arbeit an IT-Services verlieren und nicht mehr so konsumieren können wie heute. Eine wichtige Frage wird sein, ob eine internationale politische Steuerung den Marktliberalismus wird beeinflussen können. Fünf herausragende Sozialforscher diskutieren in diesem Buch die Optionen wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung in den nächsten 30 Jahren. Historische Systemumbrüche und gegenwärtige Machtverhältnisse im Blick, entwerfen sie fünf Zukunftsszenarien für das 21. Jahrhundert und führen ihre Ergebnisse in einer Synthese zusammen.

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Immanuel Wallerstein, Randall Collins, Michael Mann, Georgi Derluguian, Craig Calhoun
Stirbt der Kapitalismus?
Fünf Szenarien für das 21. Jahrhundert
Aus dem Englischen von Thomas Laugstien
Campus Verlag Frankfurt/New York
Über das Buch
Fünf herausragende Sozialwissenschaftler diskutieren in diesem Buch die Optionen wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung in den nächsten Jahrzehnten. Historische Systemumbrüche und globale Machtverhältnisse im Blick, entwerfen sie fünf Zukunftsszenarien für das 21. Jahrhundert und führen ihre Ergebnisse in einer Synthese zusammen.
Über die Autoren
Immanuel Wallerstein, Analytiker des globalen Kapitalismus und Begründer der »Weltsystemanalyse«, ist Senior Research Scholar an der Yale University. Randall Collins ist Dorothy Swaine Thomas Professor für Soziologie an der University of Pennsylvania und früherer Präsident der American Sociological Association (ASA). Michael Mann ist Professor für Soziologie an der University of Los Angeles (UCLA). Georgi Derluguian ist Professor für Social Research und Public Policy an der New York University in Abu Dhabi. Craig Calhoun, Professor für Soziologie, ist Direktor der London School of Economics.

Inhalt

Die nächste große WendeGemeinsame Einleitung
Die strukturelle Krise oder Warum der Kapitalismus sich nicht mehr rentieren könnteImmanuel Wallerstein
Das Ende der Mittelschichtarbeit: Keine weiteren AuswegeRandall Collins
Das Ende ist vielleicht nah – aber für wen?Michael Mann
Was war der Kommunismus?Georgi Derluguian
Was den Kapitalismus heute bedrohtCraig Calhoun
Ein Weckruf an die SozialwissenschaftenGemeinsamer Schluss

Die nächste große Wende

Gemeinsame Einleitung
Die kommenden Jahrzehnte werden überraschende Schocks und gewaltige Herausforderungen bringen. Manche werden ein neues Gesicht haben, andere ein altbekanntes. Viele werden ungeahnte politische Probleme und schwierige Entscheidungen beinhalten. Diese Zukunft kann schon recht bald beginnen und wird für alle, die heute jung sind, ihr Leben bestimmen. Das muss, wie wir behaupten, nicht unbedingt schlecht sein. In den vor uns liegenden Jahrzehnten werden sich auch Möglichkeiten ergeben, es anders als frühere Generationen zu machen. Aufgrund unserer soziologischen Kenntnis der Weltgeschichte wollen wir in diesem Buch erkunden und diskutieren, wie diese Herausforderungen und Möglichkeiten aller Wahrscheinlichkeit nach aussehen werden. Was uns im Grunde beunruhigt, ist die Tatsache, dass es mit dem Ende des Kalten Krieges vor fast drei Jahrzehnten unzeitgemäß – oder sogar anstößig – geworden ist, über die Zukunft der Welt und speziell des Kapitalismus zu sprechen.
Wir haben uns zu diesem ungewöhnlichen Buch zusammengefunden, weil sich etwas am Horizont abzeichnet – eine Strukturkrise weit größeren Ausmaßes als die jüngste Große Rezession, die sich rückblickend als das Vorspiel zu einer Periode noch tiefgreifenderer Störungen und Transformationen erweisen könnte. Immanuel Wallerstein erläutert die Gründe, die dafür sprechen, dass ein Zusammenbruch des kapitalistischen Systems bevorsteht. In den nächsten dreißig bis vierzig Jahren könnte es für die Kapitalisten, die sich – unter dem Druck der gesellschaftlichen und ökologischen Kosten wirtschaftlicher Tätigkeit – auf den globalen Märkten drängen, schlicht unmöglich werden, ihre üblichen Investitionsentscheidungen zu treffen. Der Kapitalismus war in den letzten fünfhundert Jahren die kosmopolitische, explizit hierarchische Weltmarktökonomie, in der die führenden Akteure durch ihre vorteilhafte Position in seinem geographischen Zentrum große und sichere Gewinne einfahren konnten. Diese historische Situation stößt, wie Wallerstein meint, an ihre Grenzen, und damit – trotz seiner Dynamik – das System des Kapitalismus. Er würde nach dieser Hypothese an der Frustration der Kapitalisten zugrunde gehen.
Randall Collins konzentriert sich auf einen spezielleren Vorgang, der die Zukunft des Kapitalismus bedroht: auf die politischen und sozialen Folgen für nicht weniger als zwei Drittel der gebildeten Mittelschichten, die in der westlichen Welt, aber auch weltweit, durch die neue Informationstechnologie strukturell arbeitslos werden. Wirtschaftsexperten entdecken neuerdings das Schrumpfen der Mittelschicht, begnügen sich aber mit dem vagen Ruf nach politischen Lösungen. Collins betrachtet nacheinander die fünf Auswege, die den Kapitalismus in der Vergangenheit vor den sozialen Kosten seines Innovationsdrangs gerettet haben. Keiner dieser bekannten Wege scheint die technologische Arbeitslosigkeit im Dienstleistungssektor und im öffentlichen Dienst in Zukunft auffangen zu können. Der Kapitalismus des 19. und 20. Jahrhunderts mechanisierte die Handarbeit, schuf aber einen Ausgleich durch die Zunahme von Mittelschichtpositionen. Heute drängt die Hochtechnologie des 21. Jahrhunderts die Mittelschichten ins Abseits. Das führt uns zu einer weiteren Hypothese: Könnte der Kapitalismus daran verenden, dass er den politischen und sozialen Rückhalt der Mittelschicht verliert?
Craig Calhoun stellt dagegen fest, dass ein reformierter Kapitalismus zu retten wäre. Er führt die von uns allen anerkannte Tatsache ins Feld, dass der Kapitalismus nicht nur eine Marktwirtschaft ist, sondern auch eine politische Ökonomie. Seine institutionellen Rahmenbedingungen würden von politischen Entscheidungen bestimmt. Strukturelle Widersprüche könnten in den komplexen Marktmechanismen zwar auftreten, es sei aber die Politik, in der sie behoben oder vernachlässigt werden – und wo sie auch außer Kontrolle geraten. Anders gesagt: Entweder werde es unter den Kapitalisten einen aufgeklärteren Teil geben, der die systemischen Kosten und Verantwortlichkeiten zur Kenntnis nimmt, oder sie würden sie weiter auf die Gesellschaft abwälzen, wie sie es seit dem Verebben linker oder liberaler Herausforderungen vor einer Generation tun konnten. Wie grundlegend die Wende vom heutigen Kapitalismus zu einem gezügelten System sein wird, ist für Calhoun eine offene Frage. Sozialistische Zentralwirtschaft sei eine Möglichkeit, noch wahrscheinlicher ist für ihn eine chinesische (sprich staatskapitalistische) Lösung. Märkte könne es in Zukunft weiterhin geben, auch bei einem Rückgang spezifisch kapitalistischer Finanz- und Eigentumsformen. Der Kapitalismus könne überleben, werde aber einiges von seiner Fähigkeit einbüßen, die globale wirtschaftliche Integration voranzutreiben.
Michael Mann vertritt für die Probleme des Kapitalismus eine sozialdemokratische Lösung, beleuchtet aber auch tiefere Probleme, die aus den Multikausalitäten der Macht entspringen. Neben dem Kapitalismus gehören dazu Politik, militärische Geopolitik, Ideologie und die Vielfalt der Weltregionen. Diese Komplexität macht, wie er meint, die Zukunft des Kapitalismus unvorhersehbar. Die übergreifende Bedrohung, die vollends unkalkulierbar ist, sei die während des 21. Jahrhunderts sich weiter verschärfende Umweltkrise. Sie könne sich in Kämpfen um Wasser und Nahrung äußern und zu Verseuchung und massiven Migrationsströmen führen, mit der Gefahr totalitärer Reaktionen, sogar atomarer Kriege. Mann verbindet dies mit der Grundfrage dieses Buches: der Zukunft des Kapitalismus. Der Klimawandel ist nach seiner Analyse deshalb so unaufhaltsam, weil er von allen herrschenden, heute globalisierten Institutionen gefördert wird – vom Kapitalismus als ungezügeltem Profitstreben, von autonomen, auf ihre Souveränität pochenden Nationalstaaten und von individuellen Verbraucherrechten, auf denen die Legitimität moderner Staaten und Märke basiert. Eine Lösung der ökologischen Krise hätte also eine grundlegende institutionelle Veränderung der heutigen Lebensverhältnisse zur Folge.
All das sind strukturelle Projektionen, vergleichbar mit »Stresstests«, wie sie in der Technik oder auch, wie wir inzwischen wissen, bei Banken durchgeführt werden. Keiner von uns begründet seine Prognosen für den Kapitalismus auf Verdammungen oder Elogen. Wir haben unsere moralischen und politischen Überzeugungen, nehmen aber als historische Soziologen zur Kenntnis, dass das Schicksal menschlicher Gesellschaften – zumindest in den letzten zehntausend Jahren nach dem Jäger-und-Sammler-Stadium – nicht davon abhing, was sie an Gutem oder Bösem hervorgebracht hatten. Unsere Diskussion dreht sich nicht darum, ob der Kapitalismus besser oder schlechter ist als andere Gesellschaftssysteme. Die Frage ist: Hat er eine Zukunft?
In der Frage klingt eine alte Vorhersage an. Der erwartete Zusammenbruch des Kapitalismus war grundlegend für die offizielle Ideologie der Sowjetunion, die selbst zusammengebrochen ist. Aber garantiert das den Fortbestand des Kapitalismus? Georgi Derluguian beleuchtet die wirkliche Stellung des sowjetischen Experiments im umfassenderen Bild der globalen Geopolitik, die am Ende zu seiner Selbstzerstörung geführt hat. Er erklärt auch, wie China dem Zusammenbruch des Kommunismus entging, um zum jüngsten kapitalistischen Wirtschaftswunder zu werden. Der Kommunismus war keine gangbare Alternative zum Kapitalismus. Die Art und Weise aber, wie der Sowjetblock nach 1989 in breiter Massenmobilisierung von unten und blinder Panik bei den Eliten ein plötzliches Ende nahm, könnte für die politische Zukunft des Kapitalismus eine wichtige Lehre beinhalten.
Untergangsszenarien sind nicht Gegenstand dieses Buches. Anders als Wirtschafts- oder Sicherheitsexperten, die aufgrund bestimmter Konstellationen mittels veränderter Variablen kurzfristige Zukunftsprojektionen erstellen, halten wir allzu konkrete Szenarien für nutzlos. Die Ereignisse sind zu zufällig und unvorhersehbar, weil sie auf vielfältigen menschlichen Willensentscheidungen und sich verändernden Umständen beruhen. Halbwegs kalkulierbar sind nur grundlegende strukturelle Entwicklungen. Zwei von uns, nämlich Collins und Wallerstein, die für den Kapitalismus keinen Ausweg mehr sehen, sagten auch schon in den 1970er Jahren das Ende des Sowjetkommunismus voraus. Aber niemand konnte den Zeitpunkt vorhersehen oder die Tatsache, dass es die ZK-Mitglieder selbst sein würden, die auf irrationale Weise ihre wirtschaftlichen Supermachtpositionen preisgaben. Dieser Ausgang war unvorhersehbar, weil es nicht auf diese Weise geschehen musste.
Wir finden Hoffung gegen den Untergang gerade darin, wie sehr unsere Zukunft politisch unterbestimmt ist. Die Systemkrise lockert und sprengt die strukturellen Zwänge, die das Erbe früherer Probleme sind und institutionalisierte Entscheidungen vergangener Generationen darstellen. Business as usual wird unmöglich, und solche Momente eröffnen historische Scheidewege. Der Kapitalismus mit seiner produktiven Zerstörung älterer Technologien und Produktionsformen war auch eine Quelle von Ungleichheit und Umweltzerstörung. Die kapitalistische Strukturkrise kann eine Möglichkeit sein, die menschlichen Angelegenheiten auf eine Weise zu reorganisieren, die mehr soziale Gerechtigkeit schafft und für einen bewohnbareren Planeten sorgt.
Unser Hauptargument ist, dass historische Systeme über mal mehr, mal weniger destruktive Formen verfügen, zugrunde zu gehen und dabei eine andere Gestalt anzunehmen. Die Geschichte menschlicher Gesellschaften entwickelte sich durch revolutionäre Ausbrüche, expansive Entwicklungsmomente und lange, leidvolle Perioden von Stagnation oder sogar Regression. Auch wenn von niemandem gewollt, können letztere zu den möglichen Ausgängen der künftigen globalen Krise gehören. Die politischen und ökonomischen Strukturen des heutigen Kapitalismus könnten angesichts steigender Kosten und sozialer Zwänge schlicht ihre Dynamik verlieren. Strukturell könnte dies dazu führen, dass die Welt in defensive, nach innen repressive und xenophobe Blöcke zerfällt. Manche könnten darin den Kampf der Kulturen sehen, andere die Verwirklichung eines Orwellschen »1984« mithilfe modernster elektronischer Überwachungstechnik. Formen der Wiederherstellung einer gesellschaftlichen Ordnung innerhalb extremer Konfliktlagen könnten an den Faschismus erinnern, aber auch die Möglichkeit einer viel breiteren Demokratie umfassen. Das haben wir in diesem Buch vor allem betonen wollen.
In den letzten Jahrzehnten war es die herrschende Auffassung in der Politik und im sozialwissenschaftlichen Mainstream, dass man über einen strukturellen Wandel nicht nachdenken muss. Die Modelle der neoklassischen Ökonomie beruhen auf der Annahme einer sozialen Welt, die ihrem Wesen nach unveränderlich ist – wenn es zur Krise kommt, führen politische Maßnahmen und technische Innovationen stets zu einer Erneuerung des Kapitalismus. Das ist aber nur eine empirische Verallgemeinerung. Dass der Kapitalismus seit fünfhundert Jahren als System existiert, beweist nicht, dass er unbegrenzt weiter besteht. Die kulturphilosophische Kritik der diversen Postmodernismen, die in den 1980er Jahren – als die utopischen Hoffnungen von ’68 der Ernüchterung wichen und mit der sichtbaren Krise des Sowjetkommunismus – als Gegenbewegung aufkamen, ging von derselben Grundannahme einer Beständigkeit des Kapitalismus aus, nicht ohne eine Prise existentieller Verzweiflung. Die kulturellen Postmodernisten waren deshalb außerstande, den strukturellen Realitäten ins Auge zu sehen. In unserem Schlusskapitel werden wir ausführlicher auf die heutige Weltlage mitsamt ihrem geistigen Klima zurückkommen.
Wir haben das Buch bewusst in einem zugänglichen Stil verfasst, weil wir unsere Argumente breiter zur Diskussion stellen wollen. Die Ausarbeitung unserer Thesen ist mit sämtlichen Fußnoten in unseren jeweiligen Monographien zu finden. Das Gebiet, auf dem wir einen Großteil unserer wissenschaftlichen Forschung betreiben, ist bekannt als Weltsystemanalyse oder makrohistorische Soziologie. Makrohistorische Soziologen untersuchen die Ursprünge des Kapitalismus und der modernen Gesellschaft, aber auch die Entwicklung alter Kulturen und Reiche. Durch die Erkenntnis gesellschaftlicher Langzeitstrukturen stellen sie fest, dass sich die Geschichte durch vielfältige Widersprüche und Konflikte entwickelt, die über längere Zeiträume unbeständige Konfigurationen sich überlagernder Strukturen ausbilden. Darin bestand zwischen uns hinreichende Übereinstimmung, um gemeinsam das erste und das letzte Kapitel zu verfassen, von denen dieses Buch eingerahmt wird. Wir haben aber auch unsere eigenen Theorien und Fachgebiete, und die daraus sich ergebenden Auffassungen kommen in den einzelnen Kapiteln zum Ausdruck. Dieses schmale Buch ist kein Manifest, das mit einer Stimme spricht. Es ist eine gleichberechtigte Diskussion, die auf der Grundlage unseres Wissens um die Vergangenheit und Gegenwart menschlicher Gesellschaften geführt wird. Es ist also eine Aufforderung, offen und ernsthaft danach zu fragen, was die nächste große Wende in der Weltgeschichte sein könnte.
Prophezeien wir letztlich eine Art Sozialismus? Die wohlüberlegte Antwort – anstelle einer oberflächlichen Polemik, die ideologisch begründet wäre –, muss zweiteilig sein. Erstens geht es nicht um Prophezeiungen, weil wir an den Regeln wissenschaftlicher Analyse festhalten. Das bedeutet an dieser Stelle, mit hinreichender Genauigkeit zu zeigen, warum sich etwas verändern kann und wie wir von einer historischen Situation zur anderen gelangen. Wird die Endstation ein Sozialismus sein? Unsere Denkwege reichen bis in die mittelfristige Zukunft der nächsten Jahrzehnte. Randall Collins fragt: Worauf deutet die drohende Auflösung der Mittelschichten hin, deren Funktion in der profitorientierten Marktorganisation wegrationalisiert wird? Die Folge könnte eine sozialistische Neuordnung von Produktion und Distribution sein – eine politische Ökonomie, die bewusst und kollektiv auf sinnvolle Beschäftigung für die Mehrheit der Bevölkerung angelegt wäre. Die strukturelle Ausweitung der Probleme des modernen Kapitalismus würde demnach den Sozialismus zum wahrscheinlichsten Kandidaten für seine Nachfolge machen. Doch die Lehren des 20. Jahrhunderts mit der Erfahrung kommunistischer und sozialdemokratischer Staaten sind nicht vergessen. Der Sozialismus hatte seine eigenen Probleme, vor allem durch die übermäßige Zentralisierung – mit den dadurch geschaffenen Möglichkeiten politischer Despotie – und durch das Abflauen der wirtschaftlichen Dynamik. Wenn die Krise des Kapitalismus im sozialistischen Sinne gelöst würde, dürften die Probleme, die der Sozialismus aufwirft, wieder ins Zentrum treten. Einen Vorgriff in die noch fernere Zukunft wagend, erklärt Collins, dass auch ein solcher Sozialismus nicht ewig bestehen würde und die Welt hin- und hergerissen sein wird zwischen kapitalistischen und sozialistischen Formen, die jeweils an ihren eigenen Mängeln zugrunde gehen.
In unterschiedlich optimistischen Projektionen sehen Craig Calhoun und Michael Mann die Möglichkeit eines Bunds von Nationalstaaten, die sich angesichts ökologischer und nuklearer Katastrophen zusammenraufen. Das kann, wie sie glauben, die weitere Lebenskraft des Kapitalismus in einer moderateren, sozialdemokratischen Version von Globalisierung sichern. Was auch immer nach dem Kapitalismus kommt, wird, wie Georgi Derluguian meint, nicht dem kommunistischen Modell gleichen. Die historischen Voraussetzungen der »Festung Sozialismus« im Sowjetstil sind glücklicherweise passé, zusammen mit den geopolitischen und ideologischen Konfrontationen des letzten Jahrhunderts. Immanuel Wallerstein hält es aber im Kern für unmöglich zu sagen, was den Kapitalismus ersetzen könnte. Die Alternativen seien ein nichtkapitalistisches System, das aber fortfährt, die hierarchischen und polarisierenden Züge des Kapitalismus zu tragen, oder ein relativ demokratisches und egalitäres. Möglicherweise würden aus dem Übergang mehrere Weltsysteme hervorgehen. Auch Calhoun meint, dass sich zur Bewältigung der äußeren Gefährdungen wie auch der inneren Risiken des Kapitalismus eher locker verbundene Systeme herausbilden könnten. Das widerspricht der verbreiteten Annahme, die Welt sei unwiderruflich global geworden. Aber auf welche Theorie, um es noch einmal zu sagen, kann diese ideologische Behauptung sich stützen?
Im 20. Jahrhundert hatten Denker und politische Führer aller Couleur unrecht mit ihrer ideologischen Überzeugung, dass es nur einen einzigen Weg in die Zukunft gebe, wie ihn leidenschaftliche Befürworter von Kapitalismus, Kommunismus oder Faschismus dann auch vertraten und durchsetzen wollten. Keiner von uns hängt der utopischen Auffassung an, der menschliche Wille könne Berge versetzen. Es lässt sich aber zeigen, dass der Aufbau unserer Gesellschaften eine Reihe verschiedener Formen annehmen kann. Das Ergebnis hängt wesentlich vom politischen Willen und von den Visionen ab, die sich im Zuge von großen, die grundlegenden Momente der Geschichte ausmachenden Krisen durchsetzen. Momente dieser Art bedeuteten in der Vergangenheit oft politische Zusammenbrüche und Revolutionen. Wir haben aber allesamt starke Zweifel daran, dass die Revolutionen der Vergangenheit, die innerhalb einzelner Staaten und mit oft erheblicher Gewalt stattfanden, ein Modell für die künftige Politik der kapitalistischen Krise auf globaler Ebene sind. Das lässt uns hoffen, dass sich die Dinge in Zukunft besser bewältigen lassen.
Der Kapitalismus ist kein materieller Ort, der sich wie ein Königspalast oder ein Finanzzentrum von einer revolutionären Menge oder von idealistischen Demonstranten besetzen lässt. Er ist auch kein bloßes Regelwerk »solider« Grundsätze, die nach den Vorgaben der Wirtschaftsleitartikel angewandt und korrigiert werden können. Es ist die alte Illusion vieler Liberaler und Marxisten, dass Kapitalismus nichts anderes als Lohnarbeit in einer Marktwirtschaft ist. Das war die Grundüberzeugung des 20. Jahrhunderts – auf allen Seiten. Wir haben es nun mit ihren verheerenden Folgen zu tun. Märkte und Lohnarbeit hat es lange vor dem Kapitalismus gegeben, und die gesellschaftliche Koordination durch Märkte wird ihn mit Sicherheit überleben. Der Kapitalismus ist, wie wir behaupten, nur eine bestimmte historische Konfiguration von Märkten und staatlichen Strukturen, in der das oberste Ziel und der Maßstab des Erfolgs der private Gewinn mit fast allen Mitteln ist. Eine andere, befriedigendere Organisation der Märkte und der Gesellschaft könnte aber möglich werden.
Gründe für diese Behauptung sind in diesem Buch und in unseren zahlreichen früheren Schriften zu finden. Begnügen wir uns vorerst mit einer historischen Fabel. Die Menschen haben seit jeher vom Fliegen geträumt, nicht weniger wie von sozialer Gerechtigkeit. Jahrtausendelang blieb es ein Traum. Dann kam die Zeit der Heißluftballons und Zeppeline. Ein Jahrhundert lang experimentierten die Menschen mit diesen Apparaturen. Die Ergebnisse waren, wie wir wissen, mäßig oder schlicht katastrophal. Doch gab es nun Ingenieure, Wissenschaftler und die soziale Grundlage, auf der ihre Erfindungskraft unterstützt und gefördert wurde. Der Durchbruch kam mit neuartigen Maschinen und Aluminiumflügeln. Heute können wir alle fliegen. Die Mehrheit zwängt sich für gewöhnlich in die preisgünstigen Sitzreihen, während nur Wagemutige das Hochgefühl, selbst zu fliegen, mit kleinen Maschinen oder Gleitschirmen erleben. Mit der Fliegerei kamen auch die Schrecken von Bombenangriffen und kreisenden Drohnen. Die Technik denkt, aber der Mensch lenkt. Alte Träume können wahr werden, nur kann uns das vor schwierige Entscheidungen stellen. Optimismus ist jedoch eine notwendige historische Bedingung, um emotionale Kräfte in einer Welt freizusetzen, die vor der Wahl zwischen gegensätzlichen Alternativen steht. Durchbrüche könnten möglich werden, wenn in das Nachdenken und Diskutieren über Alternativen genügend Unterstützung und öffentliche Aufmerksamkeit eingeht.

Die strukturelle Krise oder Warum der Kapitalismus sich nicht mehr rentieren könnte

Immanuel Wallerstein
Meine Untersuchung geht von zwei Voraussetzungen aus. Der Kapitalismus ist erstens ein System, und alle Systeme haben ein Leben. Sie bestehen nicht ewig. Und dass er ein System ist, besagt zweitens nicht, dass er während seines – wie ich glaube – rund fünfhundertjährigen Bestehens immer durch ein ganz bestimmtes System von Regeln funktioniert hat. Ich werde diese Regeln kurz darzustellen versuchen.
Systeme haben ein Leben. Ilya Prigogine hat es prägnant formuliert: »Wir haben ein Alter, unsere Zivilisation hat ein Alter, unsere Welt hat ein Alter …«1 Das bedeutet, wie mir scheint, dass die Untersuchung aller Systeme, von den unendlich kleinen über die mittleren historischen Gesellschaftssysteme bis hin zu dem größten bekannten System (dem Universum), drei unterschiedliche Phasen zu analysieren hat: die ihrer Herausbildung, ihr Funktionieren während ihres »normalen« Lebens (die längste Phase) und die ihres Ablebens (die strukturelle Krise). In der vorliegenden Untersuchung der aktuellen Lage des modernen Weltsystems ist die Erklärung seiner Herausbildung nicht unser Thema. Doch die zwei anderen Lebensphasen – die Funktionsmechanismen des Kapitalismus während seines »normalen« Lebens und die Form seines Ablebens – sind für uns die entscheidenden Fragen.
Wenn wir verstanden haben, durch welche Regeln das moderne Weltsystem als ein kapitalistisches System funktionieren konnte, werden wir auch verstehen, warum es sich gegenwärtig im Endstadium der strukturellen Krise befindet. Wir können dann erklären, wie dieses Endstadium funktioniert hat und während der nächsten zwanzig bis vierzig Jahre funktionieren dürfte.
Was sind die bestimmenden Merkmale, die Grundvoraussetzungen des Kapitalismus als eines Systems, des modernen Weltsystems? Viele Analytiker sehen das Entscheidende in einer bestimmten Institution: dass es Lohnarbeit gibt. Oder Produktion zum Zweck des Austauschs und/oder Profits. Oder Klassenkampf zwischen Unternehmern, Kapitalisten oder der Bourgeoisie und Lohnarbeitern oder eigentumslosen Proletariern. Oder den »freien« Markt. Keine dieser Definitionen ist nach meiner Auffassung besonders wasserdicht.
Die Gründe sind einfach. Lohnarbeit hat es auf der ganzen Welt seit Jahrtausenden gegeben, nicht nur in der modernen Welt. Auch gibt es im modernen Weltsystem einen großen Anteil von Arbeit, der keine Lohnarbeit ist. Auf der ganzen Welt hat es seit Jahrtausenden Produktion zu Profitzwecken gegeben, sie war aber nie zuvor die vorherrschende Realität eines historischen Systems. Der »freie Markt« ist zwar das Mantra des modernen Weltsystems, seine Märkte waren aber nie frei von Staatseingriffen oder politischen Erwägungen und konnten es auch nicht sein. In der modernen Welt gibt es zwar Klassenkampf, er lässt sich aber nicht auf den Gegensatz von Bourgeoisie und Proletariat reduzieren.
Damit sich ein historisches System als ein kapitalistisches betrachten lässt, muss nach meiner Auffassung das beherrschende oder entscheidende Merkmal der beständige Drang nach unablässiger Kapitalakkumulation sein – die Akkumulation von Kapital zum Zwecke der Anhäufung von noch mehr Kapital. Damit dieses Merkmal vorherrschend wird, muss es Mechanismen geben, die alle Akteure bestrafen, deren Handeln anderen Werten oder Zielen gehorcht, so dass diese unangepassten Akteure früher oder später das Feld räumen oder zumindest in ihrer Fähigkeit, größere Mengen von Kapital anzuhäufen, empfindlich eingeschränkt sind. Die vielen Institutionen des modernen Weltsystems sind alle darauf angelegt – oder zumindest dazu gezwungen –, die unablässige Akkumulation des Kapitals zu fördern.
Der Vorrang der Akkumulation von Kapital zwecks Akkumulation von noch mehr Kapital scheint mir eine von Grund auf irrationale Zielsetzung zu sein. Dass sie irrational ist – nach meinem Verständnis von materieller oder wirklicher Rationalität (Webers »materiale Rationalität«) –, soll nicht heißen, dass sie kein historisches System aufrechterhalten kann (Webers »formale Rationalität«), zumindest für einen beträchtlichen Zeitraum. Das moderne Weltsystem hat rund fünfhundert Jahre bestanden und war im Sinne seines Leitprinzips, der unablässigen Kapitalakkumulation, ungeheuer erfolgreich. Doch die Zeit, in der es auf dieser Basis zu funktionieren vermochte, geht, wie wir zeigen werden, zu Ende.

Der Kapitalismus in seiner Phase des »normalen« Funktionierens

Wie hat der Kapitalismus in der Praxis funktioniert? Alle Systeme fluktuieren. Der Systemmechanismus weicht also ständig ab von seinem Gleichgewichtszustand. Die bekannteste Analogie dazu ist die Physiologie des menschlichen Körpers. Wir atmen ein und aus. Wir müssen ein- und ausatmen. Es gibt aber Mechanismen im menschlichen Körper, genauso wie im modernen Weltsystem, die das Funktionieren des Systems wieder ins Gleichgewicht bringen – natürlich in ein fließendes Gleichgewicht, aber doch in ein Gleichgewicht. Was wir als die Phase des »normalen« Funktionierens eines Systems betrachten, ist der Zeitraum, in der die Tendenz zur Wiederherstellung des Gleichgewichts größer ist als jede Tendenz, aus dem Gleichgewicht zu geraten.
Es gibt im modernen Weltsystem viele derartige Mechanismen. Die beiden wichtigsten – von denen die historische Entwicklung des Systems am stärksten bestimmt wird – nenne ich Kondratieff-Zyklen und Hegemoniezyklen. Sie funktionieren folgendermaßen.
Zunächst die Kondratieff-Zyklen: Um große Mengen von Kapital anhäufen zu können, müssen die Hersteller über ein Quasi-Monopol verfügen. Nur dann können sie ihre Produkte zu Preisen verkaufen, die deutlich über den Produktionskosten liegen. In wirklich wettbewerbsorientierten Systemen, mit einem freien Fluss der Produktionsfaktoren, wird jeder gewitzte Käufer Anbieter finden, die ihre Produkte für ein paar Groschen Profit oder noch unter den Produktionskosten losschlagen. In einem reinen Wettbewerbssystem kann es keinen wirklichen Profit geben. Wirklicher Profit setzt Grenzen des freien Marktes voraus, also ein Quasi-Monopol.
Quasi-Monopole lassen sich aber nur unter zwei Voraussetzungen herstellen: (1) Das Produkt ist eine Neuerung, für die eine hinreichend große Zahl von Käufern existiert (oder mobilisiert werden kann), und (2) ein starker Staat oder mehrere sind dazu bereit, mittels der Staatsgewalt das Eintreten anderer Produzenten auf diesen Markt zu verhindern (oder zu begrenzen). Kurz, Quasi-Monopole kann es nur geben, wenn der Markt nicht »frei« ist von Staatseingriffen.
Wir haben solche quasi-monopolistischen Produkte als »führende Produkte« bezeichnet. Sie sind »führend«, weil sie für einen Großteil der Wirtschaftstätigkeit des Weltsystems bestimmend sind – rein als solche und durch ihre Vorwärts- und Rückwärtsverflechtungen. Wenn solche Quasi-Monopole hergestellt werden, führt dies in der gesamten Weltwirtschaft zu einem »Wachstum«; man spricht dann von Zeiten des »Wohlstands«. Diese Perioden sind normalerweise Zeiten der Vollbeschäftigung, nicht nur wegen des Personalbedarfs der Hersteller des Quasi-Monopols und ihrer Vorwärts- und Rückwärtsverflechtungen, auch wegen der Konsumausgaben der Beschäftigten. Obwohl es manchen Teilen des Weltsystems und manchen Gruppen darin besser als anderen geht, ist diese Wachstumsperiode die von John F. Kennedy beschworene Situation, in der »die ansteigende Flut alle Schiffchen schwimmen lässt«.
Der Staat kann vieles tun, um ein solches Quasi-Monopol herzustellen und aufrechtzuerhalten. Er kann es juristisch herstellen, durch Patente oder andere Maßnahmen zum Schutz »geistigen Eigentums«. Er kann die quasi-monopolistische Industrie unmittelbar fördern, besonders im Forschungs- und Entwicklungsbereich. Er kann ein wichtiger Abnehmer sein, oft zu überhöhten Preisen. Er kann seine geopolitische Macht einsetzen, um die Durchbrechung solcher Quasi-Monopole durch Hersteller aus anderen Ländern zu verhindern.
Die Vorteile eines Quasi-Monopols sind nicht von Dauer. Das systemische Problem besteht für die Hersteller darin, dass solche Quasi-Monopole mit der Zeit abbröckeln. Auch das hat einen einfachen Grund. Wenn sie so profitabel sind, werden andere Produzenten natürlich alles tun, um auch auf diesen Markt zu kommen und davon zu profitieren. Es gibt dafür viele Wege. Wenn das Quasi-Monopol auf einer neuen Technologie beruht, die geheim gehalten wird, können sie versuchen, das Geheimnis zu stehlen oder das Produkt zu kopieren. Wenn sie aus dem Markt durch die geopolitische Schutzmacht dieses Quasi-Monopols herausgehalten werden, können sie dagegen eine andere geopolitische Macht mobilisieren. Sie können auch innerhalb des betreffenden Landes anti-monopolistische Stimmungen schüren.
Darüber hinaus gilt es für den Inhaber einer Quasi-Monopols vor allem Arbeitsunterbrechungen zu vermeiden. Sie bedeuten einen erheblichen Kapitalverlust, der irreparabel ist, wenn andere Produzenten innerhalb eines Oligopols nicht genauso von Arbeitsunterbrechungen betroffen sind. Das gibt den Arbeitern in ihrem unablässigen Kampf um bessere Bedingungen eine wichtige Waffe an die Hand. Die Hersteller kommen dann oft zu dem Ergebnis, dass Konzessionen für sie weniger kostspielig sind als Arbeitsniederlegungen. Mit der Zeit bedeutet dies aber einen schleichenden Anstieg der Lohnkosten, der die Gewinnspanne reduziert.
Auf die eine oder andere Weise können andere Hersteller das Quasi-Monopol führender Produkthersteller aushöhlen. Bisher dürfte dies durchschnittlich 25 bis 30 Jahre gedauert haben. Wie lange aber der Schutz der führenden Industrie auch gewährleistet sein mag, das Quasi-Monopol wird früher oder später durchbrochen. Und dieser Einbruch bedeutet, wie von den Herolden des Kapitalismus verkündet, niedrigere Preise. Die Preissenkung mag für die Käufer vorteilhaft sein, sie ist es natürlich nicht für die Verkäufer. Das einträgliche führende Produkt ist zu einem sehr viel weniger profitablen Konkurrenzprodukt auf dem Weltmarkt geworden.
Was können die Hersteller tun? Eine Möglichkeit ist, den Vorteil niedriger Transaktionskosten gegen geringere Produktionskosten einzutauschen. Das bedeutet normalerweise die Auslagerung von Produktionsstandorten aus dem »Zentrum« in andere Teile des Weltsystems, in denen die Arbeitskosten »historisch« niedriger liegen. Die Menschen an diesen neuen Standorten können dieses Eintreten in die weltwirtschaftliche Produktionskette als nationale »Entwicklung« begrüßen. In Wirklichkeit ist es als eine Herabtransferierung ehemals (aber nicht mehr) überprofitabler Industrien zu betrachten.
Standortverlagerung ist nur eine mögliche Reaktion. Die Hersteller in ehemals führenden Industrien können versuchen, Teile der Produktion in ihren Ursprungsländern zu halten, indem sie sich auf ein andernorts nicht so leicht nachahmbares Nischenprodukt spezialisieren. Sie können auch mit ihren Arbeitskräften eine niedrigere Entlohnung aushandeln (in all ihren verschiedenen Formen), indem sie mit der Auslagerung weiterer Produktionszweige und damit noch größerer Arbeitslosigkeit drohen. In der Regel wird die Fähigkeit der Arbeitnehmerschaft, ihre in der Periode des weltwirtschaftlichen Aufschwungs errungenen Besitzstände zu verteidigen, durch den zunehmenden Wettbewerb auf dem Weltmarkt ernsthaft in Frage gestellt.
Sie können auch ihr Gewinnstreben aus dem Bereich der Produktion (und sogar des Handels) auf den Finanzsektor verlegen. Wir sprechen heute von dieser »Finanzialisierung«, als sei sie eine Erfindung der 1970er Jahre. Tatsächlich ist sie eine altbewährte Praxis in allen Kondratieff-B-Phasen. Wie Braudel gezeigt hat, waren die wirklich erfolgreichen Kapitalisten immer Generalisten, die keine »Spezialisierung« auf Industrie, Handel oder Finanzen betrieben und sich je nachdem, wie es die Umstände verlangten, zwischen diesen Prozessen bewegten.
Wie macht man Geld im Finanzsektor? Das Grundprinzip ist, Geld zu verleihen und mit Zinsen zurückzufordern. Die Verschuldung zahlt sich für den Kreditgeber am stärksten aus, wenn der Kreditnehmer überschuldet ist und nur die Zinsen, aber nicht das Kapital zurückzahlen kann. Das verschafft ihm ein beständiges und beständig zunehmendes Einkommen, bis der Schuldner zahlungsunfähig (sprich pleite) ist.
Dieser Geldverleih schafft keinen wirklichen neuen Wert, nicht einmal neues Kapital. Er realloziert nur vorhandenes Kapital. Er setzt auch voraus, dass immer neue Kreditnehmer an die Stelle der Zahlungsunfähigen treten, um den Fluss von Kreditvergabe und Verschuldung in Gang zu halten. Diese Finanztransaktionen können sehr einträglich für die kreditgebende Seite sein.
Die Kette von Kreditnahme und -vergabe hat aber eine Kehrseite vom Standpunkt des »normalen« kapitalistischen Systembetriebs. Sie schwächt letztlich die zahlungskräftige Nachfrage für die Gesamtproduktion. Das ist für das System eine ökonomische und politische Gefahr, die eine Rückkehr zum Gleichgewicht verlangt – zu einer Situation, in der Kapital vor allem durch neue Produktion akkumuliert wird. Schumpeter hat gezeigt, wie dies ökonomisch bewerkstelligt wird. Eine bestimmte Erfindung wird in eine Innovation umfunktioniert und führt zur Entstehung eines neuen führenden Produkts, das die Weltwirtschaft wieder expandieren lässt.
Über die Politik dieser Umfunktionierung wurde viel diskutiert. Sie impliziert offenbar eine Stärkung der arbeitenden Klassen im Klassenkampf. Sie impliziert vielleicht auch die Bereitschaft von Teilen der Produzentenklassen, diese stärkere Position der Arbeitnehmer zu akzeptieren – einen Verzicht auf kurzfristige individuelle Gewinne im Interesse der langfristigen Gesamtprofite.
Dieses Auf- und Abschwingen des Kapitalismus ist nur möglich, weil er kein in einem bestimmten Staat verortetes System ist, sondern eingebunden in ein Weltsystem, das seiner Definition nach größer ist als jeder besondere Staat. Würden diese Prozesse in einem einzelnen Staat auftreten, dann würde die Inhaber der Staatsgewalt nichts an der Aneignung des Mehrwerts hindern, was für die Unternehmer den Anreiz zur Entwicklung neuer Produkte beseitigt (oder zumindest erheblich verringert). Würde es andererseits innerhalb des Marktes keine Staaten geben, dann gäbe es keine Möglichkeit zur Durchsetzung von Quasi-Monopolen. Nur durch die Ansiedlung der Kapitalisten in einer »Weltwirtschaft« – in der es eine Vielzahl von Staaten gibt – können sich Unternehmer der unablässigen Akkumulation von Kapital widmen.
Das erklärt die von uns so genannten Hegemoniezyklen, die erheblich länger sind als die Kondratieff-Zyklen. Mit weltwirtschaftlicher Hegemonie ist die Fähigkeit eines Staates gemeint, der Tätigkeit aller anderen bestimmte Regeln aufzuerlegen, so dass im Weltsystem eine relative Ordnung herrscht. Die Wichtigkeit einer »relativen« Ordnung hat Schumpeter betont. Störungen – zwischen- und innerstaatliche (Bürger-)Kriege, mafiose Schutzgeldsysteme, amtliche und institutionelle Korruption, grassierende Kleinkriminalität – sind allesamt profitabel für kleine Teile der Weltbevölkerung. Sie sind aber auch allesamt hinderlich für das globale Streben nach größtmöglicher Kapitalakkumulation. Tatsächlich zerstören sie einen Großteil der für die kapitalistische Akkumulation notwendigen Infrastruktur.
Die Durchsetzung einer relativen Ordnung durch eine Hegemonialmacht ist also vorteilhaft für das »normale« Funktionieren des kapitalistischen Gesamtsystems. Sie ist auch sehr vorteilhaft für die Hegemonialmacht selbst – für ihren Staat, ihre Unternehmer und ihre Bürger. Ob diese Vorteile für das Gesamtsystem (und für die Hegemonialmacht) auch anderen Staaten und ihren Unternehmen und Bürgern zugute kommen, darf man bezweifeln. Darin liegt der Konflikt und zugleich die Erklärung, warum sich Hegemonie so schwer und so selten erlangen und aufrechterhalten lässt.
Das Muster der Hegemoniezyklen sah bislang so aus, dass nach einem äußerst destruktiven »Dreißigjährigen Krieg« zwischen den zwei Mächten, die für das Vormachtstreben innerhalb des Weltsystems am besten aufgestellt waren, die eine die andere aus dem Feld schlug. An diesem Punkt genießt ein bestimmter Staat in allen drei Formen wirtschaftlicher Tätigkeit – in Produktion, Handel und Finanzwesen – gleichzeitige und gebündelte Marktvorteile. Durch seine Wirtschaftskraft und seinen Sieg im vorausgegangenen Kampf verfügt dieser Staat auch über einen beträchtlichen militärischen Vorteil. Und zur Krönung seiner globalen Position beansprucht er eine kulturelle Vorherrschaft, die auch die Leitversion der Geokultur umfasst (Gramscis Hegemoniebegriff).
Mit dieser gebündelten Überlegenheit in allen Bereichen des Weltsystems kann er in den meisten Fällen seine Ziele erreichen und seinen Willen durchsetzen. Wir können von einem geopolitischen Quasi-Machtmonopol sprechen. Anfangs sorgt diese Vorherrschaft tatsächlich im Weltsystem für relative Ordnung und Stabilität. Das Problem ist, dass geopolitische Quasi-Machtmonopole, genauso wie Quasi-Monopole führender Industriezweige, selbstliquidatorisch sind, und zwar aus verschiedenen Gründen.
Erstens gibt es in einer Situation relativer Stabilität immer eindeutige Verlierer. Sie beginnen in vielfältigen Formen zu meutern. Um sie in Schach zu halten, hält die Hegemonialmacht repressive Maßnahmen für nötig, oft militärischer Art. Repressive Maßnahmen können unmittelbar durchaus erfolgreich sein. Nur hat der Einsatz von Gewalt zwei negative Konsequenzen. Der Militärschlag ist oft kein voller Erfolg und zeigt damit die Grenzen der hegemonialen Repressionsgewalt auf. Das ermutigt tendenziell weitere Demonstrationen der Aufmüpfigkeit.
Zweitens fordert die Aufstellung der Repressionsgewalt einen Preis für die Armeen und andere Institutionen der Hegemonialmacht. Die Kosten an Menschenleben (Tote, zerstörte Existenzen) werden immer größer. Und die finanziellen Kosten beginnen zu steigen. Langsam, aber sicher untergräbt dies den Rückhalt in der Bevölkerung, der zunehmend klar wird, wer die Gewinner sind (für gewöhnlich ein unverhältnismäßig kleiner Bevölkerungsteil der Hegemonialmacht) und wer die Verlierer (für gewöhnlich der weitaus größere Teil). Die Regierungsbehörden der Hegemonialmacht bekommen es nun bei ihrer Durchsetzung der Weltordnung mit innenpolitischen Zwängen zu tun.
Drittens beginnen andere Staaten, die in der Anfangsphase hegemonialer Vorherrschaft ins Hintertreffen gerieten, ihre Stärke zurückzuerlangen. Sie wollen nun eine größere geopolitische Rolle spielen. Das Weltsystem entwickelt sich von einer unangefochtenen Hegemonie zu einem Gleichgewicht der Mächte. Da es sich um einen zyklischen Prozess handelt, streben nun andere zunehmend nach der Rolle der Hegemonialmacht. Das ist aber ein komplizierter und langwieriger Prozess, so dass Hegemoniezyklen sehr viel länger sind als Kondratieff-Zyklen.2 Aus all diesen Gründen erlebt die Hegemonialmacht einen langsamen Niedergang.
Noch ein letztes Element ist in dieser Beschreibung der Entwicklungsprozesse des modernen Weltsystems zu betonen. Kondratieff-Zyklen und Hegemoniezyklen sind Zyklen. Sie sind aber nie wirkliche Kreisläufe, im Sinne einer Rückkehr zum Ausgangspunkt. Das liegt daran, dass die A-Phasen beider Zyklen einen Zuwachs beinhalten – an realem Wert, an geographischer Reichweite, an Kommodifizierung. Dieser Zuwachs wird in der B-Phase nicht vollständig zunichte gemacht. Die Rückkehr zum Gleichgewicht, die die B-Phase darstellt, ist allenfalls eine partielle Regression des Systems, die eher als »Stagnation« zu bezeichnen wäre, nicht als vollständige Rückkehr zu den früheren Systempositionen, nach gleich welchen Kriterien.
Wir könnten dies als einen Sperrklinkeneffekt darstellen – zwei Schritte vorwärts, einer zurück. Die Zyklen des historischen Systems erzeugen also ein fließendes Gleichgewicht, das sich in einem säkularen Aufwärtstrend seiner Hauptkurven ausdrückt. Wenn wir dies in einer Graphik abbilden, in der die y-Achse oder Ordinate die Prozentsätze eines Phänomens und die x-Achse oder Abszisse die Zeit misst, bekommen wir Kurven, die sich langsam auf eine Asymptote zubewegen (100% von dem, was auf der y-Achse gemessen wird). Da das System sich diesen Asymptoten annähert, entfernt es sich immer weiter vom Gleichgewicht, weil die Asymptote nie überschritten wird. Wenn diese Kurven ungefähr die 80-Prozent-Marke erreichen, beginnt das System zu flattern, es wird »chaotisch« und bifurkiert. Es ist also an eine Wegscheide gelangt, an den Beginn seiner strukturellen Krise. Wir können nun konkret zu zeigen versuchen, wie sich dies in unserem historischen System ereignet hat.

Das moderne Weltsystem 1945 bis etwa 1970

Der letzte große Kampf um Hegemonie fand zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten statt, ein Kampf, der etwa 1873 begonnen und in den Jahren 1914 bis 1945 zu einem »Dreißigjährigen Krieg« geführt hat. Mit Deutschlands »bedingungsloser Kapitulation« im Jahre 1945 waren die USA der klare und anerkannte Sieger in diesem Kampf.
Wirtschaftlich gingen die Vereinigten Staaten aus dem, was wir den Zweiten Weltkrieg nennen, ungeheuer gestärkt hervor. Schon vor Kriegsbeginn war ihre Wirtschaftskraft und Wettbewerbsfähigkeit sehr stark gewesen. Durch den Krieg wurde sie in zweifacher Hinsicht weiter verstärkt. Einerseits hatten alle anderen Industriemächte des Weltsystems – von Großbritannien über Europa bis hin zur Sowjetunion und Japan – gewaltige Schäden in ihrer materiellen Infrastruktur zu verzeichnen. Zudem litten die meisten von ihnen in der unmittelbaren Nachkriegszeit an gravierenden Versorgungsengpässen durch die kriegsbedingte Zerstörung ihrer Agrarproduktion. Ganz anders die USA, die von materieller Zerstörung verschont blieben und ihre industrielle und landwirtschaftliche Basis während des Krieges noch ausbauen konnten. Nicht nur die besiegten Achsenmächte, auch ihre eigenen Alliierten suchten nun unmittelbare Unterstützung und Hilfe für den Wiederaufbau bei den Vereinigten Staaten.
Wie groß der anfängliche Vorteil war, lässt sich ganz einfach beziffern. In den zehn bis fünfzehn Jahren nach 1945 konnten die USA ihre Produkte in allen anderen Industrieländern zu niedrigeren Kosten (einschließlich Transportkosten) absetzen als die einheimischen Hersteller.
Der einzige Bereich, in dem sie keinen übermäßigen Vorteil besaßen, war der militärische. Die Sowjetunion verfügte über eine starke Militärmacht, ihre Truppen besetzten große Teile Ostmitteleuropas und Nordostasiens (in China die Mandschurei und die Innere Mongolei, die Nordhälfte Koreas, in Japan die Südhälfte Sachalins und die Kurilen). Zwar besaßen die USA schon 1945 Atomwaffen, aber auch dieser Vorteil ging 1949 verloren.
Wollten die Vereinigten Staaten also die Rolle der Hegemonialmacht übernehmen, mussten sie sich mit der Sowjetunion arrangieren und deren militärische Macht neutralisieren. Das war besonders ab dem Zeitpunkt geboten, als sie durch innenpolitischen Druck zu einem relativ zügigen Abzug ihrer weltweit stationierten Landstreitkräfte gezwungen waren.
Meine Behauptung ist, dass dies durch einen stillschweigenden »Deal« bewerkstelligt wurde, den wir mit dem Namen Jalta verbinden. Er bestand, wie mir scheint, aus drei Komponenten. Die erste war die faktische Aufteilung der Welt in zwei Einflusszonen, die mehr oder weniger entlang den Stationierungslinien der Streitkräfte beider Länder bei Kriegsende erfolgte. Es gab also einen sowjetischen Block, der von der Oder-Neiße-Linie in Mitteleuropa bis zum 38. Breitengrad in Korea reichte (und der ab 1949, nach dem endgültigen Sieg der chinesischen Rotarmisten über die Kuomintang, auch das chinesische Festland einschloss).
Was die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion faktisch vereinbarten, war das vorrangige (und praktisch ausschließliche) Recht beider Seiten, über die Angelegenheiten in ihrer jeweiligen Einflusssphäre selbst zu entscheiden. Ein Grundelement dieses ungeschriebenen Vertrags war, dass diese Grenzlinien nicht militärisch (oder auch nur politisch) verändert werden durften. Nach 1949 wurde dieses Abkommen durch die Doktrin der »beiderseitig garantierten Vernichtung« zementiert, die darauf beruhte, dass jede Seite über die nötige atomare Schlagkraft verfügte, um im Falle eines Angriffs die andere vernichten zu können.
Der zweite Teil des stillschweigenden Abkommens war die faktische wirtschaftliche Entkopplung der beiden Zonen. Die Vereinigten Staaten leisteten keine Hilfe beim Wiederaufbau des sowjetischen Blocks. Ihre Hilfsprogramme blieben auf ihre eigene Zone beschränkt – auf den Marshallplan in Westeuropa und entsprechende Hilfen in Ostasien für Japan, später für Südkorea und Taiwan. Amerikanische Hilfsprogramme für die Verbündeten waren keine uneigennützige Philanthropie. Die USA brauchten Abnehmer für ihre boomende Wirtschaft, und der Wiederaufbau machte diese Verbündeten zu guten Kunden und verlässlichen Satelliten. Die Sowjetunion entwickelte wiederum ihre eigenen regionalen Wirtschaftsstrukturen und befestigte damit die Autarkie ihrer Einflusszone.
Der dritte Bestandteil des »Deals« war, zu bestreiten, dass es einen solchen gab. Jede Seite verkündete lautstark in ihrer jeweiligen Diktion, dass sie sich mit der anderen in einer totalen ideologischen Auseinandersetzung befände. Wir sprachen deshalb vom »Kalten Krieg«. Man beachte aber, dass er bis zum Schluss eben ein »kalter« blieb. Die laute Rhetorik diente in Wirklichkeit nicht dem Zweck, die andere Seite zu verändern, jedenfalls nicht vor dem sehr fernen Zeitpunkt ihres vorausgesagten Zusammenbruchs. Insofern versuchte keine Seite, den Krieg unmittelbar zu »gewinnen«. Jede suchte vielmehr ihre Satelliten (euphemistisch »Verbündete« genannt) auf eine strikte politische Linie festzulegen, die von den beiden Supermächten diktiert wurde. Keine Seite durfte je in nennenswertem Maße rebellische Kräfte innerhalb des anderen Lagers unterstützen – dies hätte zu einer Aufkündigung der ursprünglichen Festschreibung des militärischen Status quo geführt.
Sobald der militärische Status quo eingefroren war, konnten die Vereinigten Staaten darangehen, ihre umfassende politisch-kulturelle Dominanz innerhalb des Weltsystems weiter auszubauen. Das geschah mithilfe der Mehrheitsverhältnisse in den Vereinten Nationen und anderen transnationalen Institutionen. Einzige Ausnahme war das für militärische Angelegenheiten zuständige Kontrollgremium – der UN-Sicherheitsrat, in dem das jeweilige Vetorecht beider Seiten den militärischen Status quo garantierte.
Dieses Arrangement funktionierte zunächst sehr gut. Dann begann die Selbstauflösungstendenz eines geopolitischen Quasi-Monopols ihren Tribut zu fordern. Die zwei wichtigsten geopolitischen Veränderungen in den zwei Jahrzehnten nach 1945 waren die Revolten in der Dritten Welt und der wirtschaftliche Wiederaufschwung in Westeuropa und Japan.
Die Länder der damaligen »Dritten Welt« (die wir heute den Süden nennen) hatten innerhalb des geopolitischen Status quo, den die beiden Supermächte der Welt aufzwingen wollten, nicht viel zu gewinnen. Manche begannen das Arrangement in Frage zu stellen. Die chinesische Kommunistische Partei verweigerte sich einer von der Sowjetunion verlangten Zusammenarbeit mit der Kuomintang. Sie besiegte stattdessen die Kuomintang und übernahm selbst die Macht. Die Vietminh und die Vietcong gingen ihren eigenen Weg und besiegten nacheinander Franzosen und Amerikaner. Fidel Castro und seine Guerillas eroberten die Macht und warfen 1962 fast das globale Arrangement über den Haufen. Die Algerier errangen ihre Unabhängigkeit zum (zumindest anfänglichen) Leidwesen der Französischen Kommunistischen Partei. Und Nasser übernahm die Kontrolle über den Suezkanal.
Weder die Vereinigten Staaten noch die Sowjetunion waren besonders glücklich mit dieser Unordnung. Beide stellten sich in ähnlicher Form darauf ein. Anfangs bestand jede Seite auf dem Zwang, im Kalten Krieg Stellung zu beziehen, weil es mit den Worten des damaligen US-Außenministers Dulles »keine Neutralen gibt«. Später hielten es beide für geboten, von ihrer harten Linie abzugehen und um die auf Neutralität bedachten Staaten zu werben. In diesem Prozess »verlor« die Sowjetunion China. Und die Vereinigten Staaten zahlten für ihren Vietnamkrieg einen hohen wirtschaftlichen und politischen Preis.
Die zweite Veränderung – von der die USA stärker betroffen waren als die Sowjetunion – ist in den politischen Folgen des wirtschaftlichen Wiederaufschwungs in der Mitte der damaligen, ungeheuer expansiven Kondratieff-A-Phase zu sehen. Anfang der 1960er Jahre waren die USA nicht mehr dazu imstande, in Deutschland oder Japan ihre Autos oder andere Produkte billiger als die einheimischen Hersteller zu verkaufen. Ganz im Gegenteil: Deutsche und japanische Autos eroberten zunehmend den amerikanischen Markt.
Die neue wirtschaftliche Stärke verwandelte die einstigen Satelliten in ernsthafte Konkurrenten auf dem Weltmarkt. Ende der 1960er Jahre besaßen die Vereinigten Staaten gegenüber ihren wichtigsten Verbündeten keinen nennenswerten wirtschaftlichen Vorsprung in der weltweiten Produktion oder auch nur im Welthandel. Die Basis der geopolitischen Hegemonie begann zu bröckeln.