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Was ist die Spezifik des gegenwärtigen Rassismus? Wie lässt sie sich mit dem Kapitalismus und den Widersprüchen des Nationalstaats verknüpfen? Wann artikulieren sich Konflikte zwischen den Klassen rassistisch? Und sind hier noch andere als ökonomische Strukturen im Spiel? Diesen Fragen gehen Étienne Balibar und Immanuel Wallerstein in diesem Grundlagenwerk der Rassismustheorie nach. Sie belegen, dass die Konflikte zwischen den Klassen noch in andere als nur ökonomische Strukturen eingebunden sind; die Widersprüchlichkeit des Rassismus zeigt sich in der Formierung nationaler und ethnischer Identitäten ebenso wie in der zweideutigen Wirksamkeit herrschender Ideologien.
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Seitenzahl: 480
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Étienne Balibar
Immanuel Wallerstein
Ambivalente Identitäten
Deutsch von Michael Haupt und Ilse Utz
Argument Verlag
Zum 30-jährigen Jubiläum dieses im Dialog zwischen Balibar und Wallerstein entstandenen, weltweit rezipierten »Meilensteins in der kritischen Analyse des Rassismus« initiiert das Haus der Kulturen der Welt (Berlin) ein Forschungsprojekt zur Rezeptionsgeschichte und eine internationale Tagung.
Titel der französischen Originalausgabe:
Race, Nation, Classe. Les identités ambiguës
© Éditions La Découverte, 1988
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Neuausgabe mit leicht geändertem Satzbild, Paginierung gegenüber früheren Ausgaben geringfügig abweichend
Alle Rechte der deutschen Fassung vorbehalten
© Argument Verlag 1990
Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg
Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020
www.argument.de
ISBN 978-3-86754-858-8
Sechste Auflage 2017
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018
Unseren Freunden
Mokhtar Mokhtefi und Elaine Klein
Étienne Balibar
Die in diesem Band zusammengefassten Aufsätze, die wir dem französischen Leser gemeinsam vorstellen möchten, sind persönlich erarbeitete Beiträge, für die jeder von uns die Verantwortung übernimmt. Aber die Umstände haben aus ihnen Elemente eines Dialogs gemacht, der sich in den letzten Jahren intensiviert hat und den wir heute wiedergeben möchten. Das ist unser Beitrag zur Klärung einer brennenden Frage: Was ist die Spezifik des heutigen Rassismus? Wie lässt sie sich mit der Klassenspaltung im Kapitalismus und den Widersprüchen des Nationalstaats verknüpfen? Inwiefern zwingt uns das Phänomen des Rassismus wiederum zu einem Überdenken des Nationalismus und der Klassenkämpfe? Mit dieser Fragestellung wollen wir auch einen Beitrag zu einer umfassenderen Diskussion leisten, die seit mehr als zehn Jahren im »westlichen Marxismus« geführt wird, und wir können nur hoffen, dass sich dieser genügend erneuern wird, um auf der Höhe seiner Zeit zu sein. Natürlich ist es kein Zufall, dass dies eine internationale Diskussion ist, dass sich in ihr die philosophische Reflexion mit der historischen Synthese und der Versuch der Entwicklung einer neuen Begrifflichkeit mit der Analyse von politischen Problemen verbindet, die heute (besonders in Frankreich) mehr als drängend sind. Das ist zumindest die Überzeugung, die wir Anderen vermitteln möchten.
Man erlaube mir einige persönliche Hinweise. Als ich Immanuel Wallerstein 1981 zum ersten Mal traf, kannte ich bereits den (1974 erschienen) ersten Band seines Werkes The Modern World-System, hatte den zweiten jedoch noch nicht gelesen. Ich wusste folglich nicht, dass er mir dort eine »theoretisch bewusste« Darstellung der »traditionellen« marxistischen Theorie bezüglich der Periodisierung der Produktionsweisen zugeschrieben hatte. Diese Periodisierung setzt die Manufakturperiode mit einer Periode des Übergangs und den Beginn der eigentlichen kapitalistischen Produktionsweise mit der industriellen Revolution gleich. Dem stehen Auffassungen entgegen, die, um den Beginn der Moderne zu markieren, einen zeitlichen »Einschnitt« vorschlagen, der entweder bei 1500 liegt (die europäische Expansion, die Schaffung des Weltmarkts) oder bei 1650 (die ersten »bürgerlichen« Revolutionen und die wissenschaftliche Revolution). Vor allem wusste ich nicht, dass ich in seiner Analyse der Hegemonie Hollands im siebzehnten Jahrhundert einen Ansatzpunkt finden würde, um Spinoza (mit seinen revolutionären Zügen, die sich nicht nur auf die »mittelalterliche« Vergangenheit, sondern auch auf die zeitgenössischen Tendenzen bezogen) in die merkwürdig atypischen parteipolitischen und religiösen Kämpfe der Zeit einzuordnen (mit ihrer Mischung aus Nationalismus und Kosmopolitismus, Demokratismus und »Furcht vor den Massen«).
Wallerstein wusste wiederum nicht, dass ich seit Beginn der siebziger Jahre infolge der durch unsere »Strukturalistische« Lesart des Kapital ausgelösten Diskussionen und um gerade den klassischen Aporien der Periodisierung zu entgehen, die Notwendigkeit erkannt hatte, die Analyse der Klassenkämpfe und ihrer Auswirkungen auf die Entwicklung des Kapitalismus in den Rahmen der Gesellschaftsformation und nicht nur der Produktionsweise zu stellen, die als ein idealer Durchschnitt oder ein invariantes System betrachtet wurde (was eine völlig mechanistische Strukturkonzeption ist). Daraus folgte einerseits, dass der Gesamtheit der historischen Aspekte des Klassenkampfes ein bestimmender Einfluss auf die Konfiguration der Produktionsverhältnisse zuzuschreiben war (einschließlich der Aspekte, die Marx mit dem mehrdeutigen Begriff »Überbau« bezeichnet hatte). Andererseits bedeutete dies, dass im Rahmen der Theorie die Frage nach dem Raum aufgeworfen wurde, in dem die Reproduktion des Verhältnisses Kapital-Arbeit (oder der Lohnabhängigen) stattfand; dabei war der ständige Hinweis von Marx mit Inhalt zu füllen, dass der Kapitalismus die Internationalisierung der Akkumulation und der Proletarisierung der Arbeitskraft impliziert, während es gleichzeitig galt, die Abstraktion des undifferenzierten »Weltmarktes« zu überwinden.
Auch hatten mich die Entwicklung der spezifischen Kämpfe der Arbeitsimmigranten in Frankreich in den siebziger Jahren und die Schwierigkeit ihrer Übersetzung ins Politische sowie die These von Althusser, der zufolge jede Gesellschaftsformation auf der Kombination von mehreren Produktionsweisen beruht, zu der Überzeugung gebracht, dass die Spaltung der Arbeiterklasse kein sekundäres oder residuelles Phänomen, sondern ein strukturelles (was nicht heißen soll: invariantes) Charakteristikum der heutigen kapitalistischen Gesellschaften ist. Es bestimmt sämtliche Perspektiven der revolutionären Veränderung und selbst der täglichen Organisierung der sozialen Bewegung.1
Schließlich waren von der maoistischen Kritik am »realen Sozialismus« und von der Geschichte der »Kulturrevolution« gewiss nicht die Verteufelung des Revisionismus und die Nostalgie des Stalinismus bei mir haften geblieben, wohl aber der Hinweis, dass die »sozialistische Produktionsweise« in Wirklichkeit eine instabile Kombination von Staatskapitalismus und proletarischen Tendenzen zum Kommunismus ist. Bei all ihrer Verstreutheit war diesen Berichtigungen die Tendenz gemeinsam, dass sie eine Problematik des »historischen Kapitalismus« an die Stelle der formellen Antithese von Struktur und Geschichte setzten und als eine zentrale Frage dieser Problematik die Veränderung der Produktionsverhältnisse ausmachten, die miteinander verflochten sind und den langen Übergang von den Nicht-Warengesellschaften zu den Gesellschaften mit einer »generalisierten Ökonomie« bilden.
Im Gegensatz zu Anderen fiel mir der Ökonomismus, der den Analysen Wallersteins häufig vorgeworfen wurde, nicht sonderlich auf. Man muss sich in der Tat über die Bedeutung dieses Begriffs verständigen. In der Tradition der marxistischen Orthodoxie stellt sich der Ökonomismus als ein Determinismus der »Entwicklung der Produktivkräfte« dar: auf seine Art ersetzte das Wallerstein’sche Modell der Weltwirtschaft durchaus eine Dialektik der kapitalistischen Akkumulation und ihrer Widersprüche. Indem sich Wallerstein die Frage nach den historischen Bedingungen stellte, unter denen sich der Zyklus der Expansions- und Rezessionsphasen etablieren kann, war er nicht weit von dem entfernt, was ich für eine authentische These von Marx, für den Ausdruck seiner Kritik des Ökonomismus halte: der Primat der Produktionsverhältnisse über die Produktivkräfte, woraus sich ergibt, dass die »Widersprüche« des Kapitalismus keine Widersprüche zwischen Produktionsverhältnissen und Produktivkräften sind (z.B. Widersprüche zwischen dem »privaten« Charakter der einen und dem »gesellschaftlichen« Charakter der anderen, nach der Engels zugeschriebenen Formulierung), sondern – unter anderen – Widersprüche in der Entwicklung der Produktivkräfte selbst, »Widersprüche des Fortschritts«. Andererseits wird die sogenannte Kritik des Ökonomismus häufig im Namen der Forderung nach einer Autonomie des Politischen und des Staates vorgetragen, sei es im Verhältnis zur Sphäre der Warenwirtschaft, sei es im Verhältnis zum Klassenkampf selbst, was praktisch darauf hinausläuft, den liberalen Dualismus wiedereinzuführen (bürgerliche Gesellschaft/Staat, Ökonomie/Politik), gegen den Marx vehement aufgetreten war. Das Erklärungsmodell Wallersteins, so wie ich es verstanden habe, erlaubte nun die Annahme, dass die Gesamtstruktur des Systems die einer generalisierten Ökonomie ist, und dass die Prozesse der Staatenbildung, die Politik der Hegemonie und die Klassenbündnisse, diese Ökonomie strukturieren. Die Frage, warum die kapitalistischen Gesellschaftsformationen die Form von Nationen annehmen, oder, besser gesagt, die Frage, was die Nationen, die sich um einen »starken« Staatsapparat herum gebildet haben, von den abhängigen Nationen unterscheidet, deren Einheit von innen und außen untergraben wird, und wie sich dieser Unterschied mit der Geschichte des Kapitalismus verändert, war nicht länger ein blinder Fleck, sondern erhielt entscheidende Bedeutung.
In der Tat setzten genau hier meine Fragen und Einwände ein. Ich werde kurz drei umreißen und überlasse dem Leser die Entscheidung, ob sie sich im Rahmen einer »traditionellen« Konzeption des historischen Materialismus bewegen oder nicht.
Erstens war ich nach wie vor davon überzeugt, dass sich die Hegemonie der herrschenden Klassen letztlich auf ihre Fähigkeit gründet, den Arbeitsprozess und darüber hinaus die Reproduktion der Arbeitskraft selbst zu organisieren, und zwar in einem umfassenden Sinn, der sowohl die Subsistenz der Arbeiter als auch ihre »kulturelle« Bildung einschließt. Um es anders auszudrücken, hier geht es um die reelle Subsumtion, die Marx im Kapital als Indiz für das Entstehen der eigentlichen kapitalistischen Produktionsweise genommen hat, d.h. als den Punkt, an dem der Prozess der endlosen Akkumulation und der »Verwertung des Werts« unumkehrbar geworden ist. Die Idee dieser »reellen« Subsumtion (die Marx der rein »formellen« Subsumtion entgegensetzt), geht, genau betrachtet, weit über die Idee einer Integration der Arbeiter in die Welt des Vertrags, des Geldeinkommens, des Rechts und der offiziellen Politik hinaus: sie impliziert eine Transformation der menschlichen Individualität, die sich von der Entwicklung der Arbeitskraft bis zur Konstituierung einer »herrschenden Ideologie« erstreckt, die so beschaffen ist, dass sie von den Beherrschten selbst angenommen wird. Wahrscheinlich hätte Wallerstein gegen eine solche Vorstellung nichts einzuwenden, hebt er doch sehr die Art und Weise hervor, in der alle sozialen Klassen, alle formellen Gruppen, die sich im Rahmen der kapitalistischen Weltwirtschaft bilden, den Auswirkungen der »Verallgemeinerung der Warenform« und des »Staaten-Systems« ausgesetzt sind. Man kann sich indessen fragen, ob es zur Beschreibung der daraus resultierenden Konflikte und Entwicklungen ausreicht, die historischen Akteure, ihre Interessen und ihre Bündnis- bzw. Konfrontationsstrategien zu schildern. Die Identität der Akteure selbst hängt von dem Prozess der Bildung und Aufrechterhaltung der Hegemonie ab. So hat sich die moderne Bourgeoisie gebildet, um eine Klasse werden zu können, die das Proletariat beherrscht, nachdem sie eine Klasse war, die die Bauernschaft beherrscht hatte: sie musste sich politische Fähigkeiten und ein »Selbstbewusstsein« aneignen, die die Formen der Widerstände selbst antizipierten und sich mit diesen selbst veränderten.
Der Universalismus der herrschenden Ideologie hat demnach tiefere Wurzeln als die internationale Expansion des Kapitals und die Notwendigkeit, allen »entscheidenden Agenten« dieser Expansion gemeinsame Handlungsregeln zu vermitteln2: sie wurzelt in der Notwendigkeit, trotz der bestehenden Antagonismen eine ideologische »Welt« zu konstruieren, die den Ausgebeuteten und den Ausbeutern gemeinsam ist. Der (demokratische oder nicht-demokratische) Egalitarismus der modernen Politik veranschaulicht diesen Prozess gut. Das heißt, dass sich jede Klassenherrschaft in der Sprache des Universellen artikulieren muss und dass es in der Geschichte vielfältige und unvereinbare Universalitäten gibt. Jede Ideologie – und das gilt auch für die heutzutage dominierenden – ist von den spezifischen Spannungen einer bestimmten Ausbeutungsform gekennzeichnet, und es ist keineswegs sicher, dass eine Hegemonie zugleich alle Herrschaftsverhältnisse umspannen kann, die im Rahmen der kapitalistischen Weltwirtschaft wirken. Um es deutlich zu sagen, bezweifle ich die Existenz einer »Welt-Bourgeoisie«. Oder um es genauer auszudrücken, ich sehe, dass die Ausdehnung des Akkumulationsprozesses im internationalen Maßstab die Bildung einer »internationalen Kapitalistenklasse« impliziert, deren unaufhörliche Konkurrenz ein Gesetz ist (und ich sehe auch die Notwendigkeit, zu dieser Kapitalistenklasse sowohl die führenden Leute des »freien Unternehmertums« als auch die Verwalter des »sozialistischen« Staatsprotektionismus zu zählen), aber ich glaube nicht, dass diese Kapitalistenklasse gleichzeitig eine Welt-Bourgeoisie im Sinn einer in den Institutionen organisierten Klasse ist, die Einzige, die historisch konkret ist.
Ich kann mir vorstellen, dass Wallerstein darauf sofort antworten würde: aber es gibt eine Institution, die der Welt-Bourgeoisie gemeinsam ist und die ihr unabhängig von ihren internen Konflikten (selbst wenn diese die gewaltsame Form von militärischen Konflikten annehmen) und vor allem unabhängig von den unterschiedlichen Bedingungen ihrer Hegemonie über die beherrschten Bevölkerungen tendenziell eine konkrete Existenz verleiht. Diese Institution ist das Staaten-System selbst, das sich besonders stark herausgebildet hat, seitdem sich die Form des Nationalstaats nach den Revolutionen und Konterrevolutionen, den Kolonialisierungen und Entkolonialisierungen auf die ganze Menschheit ausgedehnt hat. Ich selbst habe schon seit langem die Ansicht vertreten, dass jede Bourgeoisie eine »Staatsbourgeoisie« ist, und zwar selbst dort, wo der Kapitalismus nicht als geplanter Staatskapitalismus organisiert ist, und ich denke, dass wir in diesem Punkt übereinstimmen. Eine der treffendsten Fragen, die Wallerstein meines Erachtens aufgeworfen hat, ist diese: Warum konnte sich die Weltwirtschaft (trotz verschiedener Versuche vom sechzehnten bis zum zwanzigsten Jahrhundert) nicht in ein politisch geeintes Welt-Imperium verwandeln, warum hat die politische Institution die Form eines »zwischenstaatlichen Systems« angenommen? Auf diese Frage kann nicht a priori geantwortet werden: es geht ja gerade darum, die Geschichte der Weltwirtschaft neu zu schreiben, insbesondere die der Interessenkonflikte, der »Monopole« und der ungleichen Entwicklung der Macht, die sich in ihrem »Zentrum« stets manifestiert haben – das sich heute übrigens immer weniger in einem einzigen geografischen Raum lokalisieren lässt –, aber auch die des ungleichen Widerstands ihrer »Peripherie«.
Aber genau diese Antwort (so sie denn gegeben würde) veranlasst mich, meinen Einwand zu noch einmal zu formulieren. Am Ende des ersten Bandes von The Modern World-System schlug Wallerstein ein Kriterium für die Identifizierung von relativ autonomen »sozialen Systemen« vor: das Kriterium der inneren Autonomie ihrer Entwicklung (oder ihrer Dynamik). Daraus zog er eine radikale Schlussfolgerung: die meisten historischen Einheiten, denen man allgemein das Etikett »soziale Systeme« anheftete (und die den Nationalstaaten »tributpflichtig« waren), sind in Wirklichkeit gar keine; sie sind nur abhängige Einheiten; die einzigen Systeme im richtigen Sinn, die es in der Geschichte gegeben hat, sind einerseits die sich selbst versorgenden Gemeinschaften, andererseits die »Welten« (die Welt-Imperien und die Weltwirtschaften). In die marxistische Terminologie übersetzt, würde diese These besagen, dass in der heutigen Welt die einzige wirkliche Gesellschaftsformation die Weltwirtschaft selbst ist, weil sie die größte Einheit ist, in der die historischen Prozesse interdependent werden. Mit anderen Worten, die Weltwirtschaft wäre nicht nur eine ökonomische Einheit und ein Staatensystem, sondern auch eine soziale Einheit. Folglich wäre die Dialektik ihrer Entwicklung selbst eine globale Dialektik, oder sie wäre zumindest durch den Primat der globalen Zwänge über die lokalen Kräfteverhältnisse gekennzeichnet.
Es steht außer Zweifel, dass diese Darstellung den Vorteil einer synthetischen Erfassung der Internationalisierungsphänomene der Politik und Ideologie hat, die wir seit mehreren Jahrzehnten beobachten und die uns als Endpunkt eines sich über mehrere Jahrhunderte erstreckenden kumulativen Prozesses erscheinen. Eine besonders eindrucksvolle Illustration findet sie in den Krisenperioden. Sie gibt uns – wie wir in diesem Band sehen werden – ein sehr wirksames Instrument an die Hand, um den in der modernen Welt allgegenwärtigen Nationalismus und Rassismus zu interpretieren, ohne diese Erscheinungen mit denen des »Fremdenhasses« oder der »Intoleranz« der Vergangenheit zu vermengen: den Einen (den Nationalismus) als die Reaktion auf die Herrschaft der Staaten des Zentrums, den Anderen (den Rassismus) als Institutionalisierung der durch die internationale Arbeitsteilung geschaffenen Hierarchien. Aber ich frage mich, ob die These Wallersteins in dieser Form der Vielfalt der sozialen Konflikte (und insbesondere der Klassenkämpfe) nicht eine formale oder zumindest einseitige Uniformität und Globalität überstülpt. Mir scheint, dass diese Konflikte nicht nur durch ihren transnationalen Charakter gekennzeichnet sind, sondern durch die entscheidende Rolle, die mehr als je zuvor lokale gesellschaftliche Verhältnisse oder lokale Formen des gesellschaftlichen Konflikts spielen (seien sie ökonomischer, religiöser oder politisch-kultureller Natur), aus denen sich nicht unmittelbar eine »Summe« bilden lässt. Mit anderen Worten, indem ich nicht die äußerste Grenze als Kriterium nehme, innerhalb derer die Regulierung eines Systems stattfindet, sondern die Spezifik der sozialen Bewegungen und der in ihr angelegten sozialen Konflikte (oder, wenn man so will, die spezifische Form, in der sich die globalen Widersprüche widerspiegeln), frage ich mich, ob die sozialen Einheiten der heutigen Welt nicht von ihrer ökonomischen Einheit zu unterscheiden sind. Warum sollten sie eigentlich zusammenfallen? Außerdem meine ich, dass die Gesamtbewegung der Weltwirtschaft eher das zufällige Ergebnis der Bewegung dieser sozialen Einheiten als ihre Ursache ist. Aber ich gebe zu, dass es schwierig ist, diese sozialen Einheiten ohne weiteres zu identifizieren, da sie sich nicht einfach mit den nationalen Einheiten decken und sich teilweise mit ihnen überschneiden können (warum sollte eine soziale Einheit geschlossen und vor allem »autark« sein?).3
Damit wäre ich bei einer dritten Frage. Die Stärke von Wallersteins Modell, das die Ausführungen von Marx über das aus der endlosen Akkumulation des Kapitals resultierende »Bevölkerungsgesetz« zugleich generalisiert und konkretisiert, besteht darin: es zeigt, dass diese Akkumulation stets (mit Gewalt und mit Hilfe des Rechts) eine Umverteilung der Bevölkerung gemäß den sozialen und beruflichen Erfordernissen ihrer »Arbeitsteilung« erzwungen hat, indem sie ihrem Widerstand entweder nachgab oder ihn zerbrach, indem sie sogar ihre Überlebensstrategien für sich ausnutzte und ihre Interessen gegeneinander ausspielte. Die Grundlage der kapitalistischen Gesellschaftsformationen ist die Arbeitsteilung (im weiten Sinn, der auch die verschiedenen »Funktionen« einschließt, die für die Produktion von Kapital notwendig sind), bzw. die Grundlage der sozialen Veränderungen ist die Veränderung der Arbeitsteilung» Aber ist es nicht vorschnell, die Arbeitsteilung zur Grundlage all dessen zu machen, was Althusser einst den Vergesellschaftungseffekt nannte? Anders ausgedrückt, können wir (wie Marx es in manchen »philosophischen« Texten getan hat) davon ausgehen, dass die Gesellschaften oder die Gesellschaftsformationen nur dadurch »am Leben« gehalten werden und relativ dauerhafte Einheiten bilden, dass sie die Produktion und den Austausch unter bestimmten historischen Verhältnissen organisieren?
Man verstehe mich richtig: es geht nicht um eine Neuauflage des Konfliktes Materialismus-Idealismus und um den Vorschlag, die ökonomische Einheit der Gesellschaften durch eine symbolische Einheit zu vervollständigen oder zu ersetzen, die durch das Recht, die Religion, das Inzestverbot usw. definiert wird. Es geht vielmehr um die Frage, ob die Marxisten nicht Opfer einer gigantischen Illusion über die Bedeutung ihrer eigenen Analysen gewesen sind, die zu einem guten Teil die liberale Wirtschaftsideologie (und deren implizite Anthropologie) beerbt haben. Die kapitalistische Arbeitsteilung hat nichts mit einer Komplementarität der Aufgaben, der Individuen und der sozialen Gruppen zu tun: sie führt vielmehr, wie Wallerstein selbst noch einmal sehr nachdrücklich sagt, zur Polarisierung der Gesellschaftsformationen in antagonistische Klassen, die immer weniger »gemeinsame« Interessen besitzen. Wie kann sich die (zumal konflikthafte) Einheit einer Gesellschaft auf eine solche Teilung gründen? Vielleicht müssten wir unsere Interpretation der marxistischen These umkehren. Anstatt uns die kapitalistische Arbeitsteilung als etwas vorzustellen, was die menschlichen Gesellschaften zu relativ stabilen »Kollektiven« macht, müssten wir sie vielleicht als etwas denken, was sie zerstört. Oder vielmehr als etwas, was sie zerstören würde (indem sie ihren inneren Ungleichheiten die Form unversöhnlicher Antagonismen gibt), wenn es nicht andere soziale Praktiken gäbe, die ebenso materiell, aber nicht auf das Verhalten des homo oeconomicus reduzierbar sind: z.B. die Praktiken der sprachlichen Kommunikation und der Sexualität, die Technik oder das Wissen, die dem Imperialismus des Produktionsverhältnisses Grenzen setzen und ihn von innen heraus transformieren.
Dann wäre die Geschichte der Gesellschaftsformationen nicht so sehr die des Übergangs von Nicht-Warengesellschaften zu Gesellschaften des Marktes oder des allgemeinen Austausches (einschließlich des Austausches der menschlichen Arbeitskraft) – die liberale oder soziologische Vorstellung, die der Marxismus bewahrt hat – als vielmehr die der Reaktionen des Komplexes der »nicht-ökonomischen« Gesellschaftsverhältnisse, die ein historisches Gemeinwesen zusammenhalten und es vor der Entstrukturierung schützen, von der es durch die Expansion der Wertform bedroht ist. Es sind diese Reaktionen, die der Sozialgeschichte einen Charakter verleihen, der sich nicht auf die einfache »Logik« der erweiterten Reproduktion des Kapitals oder selbst auf ein »strategisches Spiel« der Akteure reduzieren lässt, so wie sie durch die Arbeitsteilung und das Staatensystem definiert werden. Sie liegen auch den in sich ambivalenten ideologischen und institutionellen Produkten zugrunde, die der wirkliche Stoff sind, aus dem die Politik gemacht ist (z.B. die Ideologie der Menschenrechte, aber auch der Rassismus, der Nationalismus, der Sexismus und ihre revolutionären Antithesen). Sie erklären schließlich auch die ambivalenten Auswirkungen der Klassenkämpfe; und zwar in dem Maße, wie sie in dem Bestreben, die »Negation der Negation« zur Geltung zu bringen, d.h. den Mechanismus zu zerstören, der tendenziell die Bedingungen der sozialen Existenz zerstört, auch utopisch darauf abzielen, eine verlorene Einheit wiederherzustellen und sich dadurch der »Vereinnahmung« durch verschiedene Herrschaftsmächte anbieten.
Anstatt eine Diskussion auf diesem Abstraktionsniveau zu führen, erschien es uns von Anfang an sinnvoller, erneut das theoretische Instrumentarium zu besetzen, das wir bei der – gemeinsamen – Analyse einer sehr wichtigen aktuellen Frage verwendet haben; einer Frage, die so schwierig ist, dass sie eher die Meinungsverschiedenheiten fördert. Dieses Projekt wurde in einem dreijährigen Seminar im Humanwissenschaftlichen Institut in Paris realisiert (1985–1986–1987), das sich nacheinander mit den Themen »Rassismus und Ethnizität«, »Nation und Nationalismus«, »Klassen« befasste. Die hier zusammengestellten Texte geben unsere Beiträge nicht wortwörtlich wieder, sondern fassen ihren wesentlichen Inhalt zusammen, der noch durch einige Punkte ergänzt wird. Einige Texte sind in anderen Veröffentlichungen erschienen, auf die wir verweisen. Wir haben sie so angeordnet, dass deutlich wird, wo die Divergenzen und die Konvergenzen liegen. Die Folge der Texte erhebt weder Anspruch auf absolute Kohärenz noch auf Vollständigkeit, sondern will einen Einstieg in die Frage bieten, einige Wege zu ihrer Erforschung erkunden. Für Schlussfolgerungen ist es noch viel zu früh. Wir hoffen indes, dass der Leser reichlich Stoff zur Reflexion und zur Kritik findet.
In einem ersten Teil mit dem Titel »Der universelle Rassismus« wollten wir eine Problematik skizzieren, die der »Fortschritts«-Ideologie entgegensteht, welche sich dem Liberalismus verdankt und von der marxistischen Geschichtsphilosophie weitgehend aufgegriffen wurde. Wir stellen fest, dass der Rassismus in traditionellen oder neuen Formen (die allerdings miteinander verquickt sind) in der heutigen Welt nicht auf dem Rückzug, sondern auf dem Vormarsch ist. Dieses Phänomen beinhaltet Ungleichmäßigkeiten und kritische Phasen, deren Erscheinungsformen nicht vermengt werden dürfen, aber letztlich kann es nur durch strukturelle Ursachen erklärt werden. In dem Maße, wie die hier anstehende Problematik – ob es sich um wissenschaftliche Theorien, um den institutionalisierten oder den in der Bevölkerung verbreiteten Rassismus handelt – die Kategorisierung der Menschheit in künstlich voneinander isolierte Gattungen ist, muss es eine extrem konfliktreiche Spaltung auf der Ebene der gesellschaftlichen Verhältnisse selbst geben. Es handelt sich mithin nicht um ein bloßes »Vorurteil«. Überdies muss diese Spaltung unabhängig von so entscheidenden historischen Transformationen wie der Entkolonisierung in dem durch den Kapitalismus geschaffenen internationalen Rahmen reproduziert werden. Wir haben es folglich weder mit einem Relikt noch mit einem Archaismus zu tun. Aber steht dies nicht im Gegensatz zur Logik der allgemeinen Wirtschaft und des individualistischen Rechts? Mitnichten. Wir meinen beide, dass der Universalismus der bürgerlichen Ideologie (und damit auch ihr Humanismus) nicht mit dem System von Hierarchien und Ausgrenzungen unvereinbar ist, das vor allem die Form des Rassismus und Sexismus annimmt. So wie auch der Rassismus und der Sexismus ein System bilden.
Bei den Einzelheiten der Analyse gehen unsere Ansichten gleichwohl in mehreren Punkten auseinander. Wallerstein führt den Universalismus auf die Form des Marktes zurück (auf die Universalität des Akkumulationsprozesses), den Rassismus auf die unterschiedliche Bewertung der Arbeitskraft im Zentrum und in der Peripherie und den Sexismus auf den Gegensatz zwischen maskuliner »Arbeit« und femininer »Nicht-Arbeit« im Haushalt, aus der er eine grundlegende Einrichtung des historischen Kapitalismus macht. Ich bin dagegen der Meinung, dass die spezifische Artikulation des Rassismus mit dem Nationalismus zusammenhängt, und ich glaube zeigen zu können, dass die Universalität paradoxerweise im Rassismus selbst vorhanden ist. Hier wird die zeitliche Dimension entscheidend: die wesentliche Frage ist, wie die Erinnerung an die Ausgrenzungen der Vergangenheit auf die der Gegenwart übertragen wird bzw. wie die Internationalisierung der Bevölkerungsbewegungen und die veränderte politische Rolle der Nationalstaaten in einen »Neo-Rassismus«, ja in einen »Post-Rassismus« einmünden können.
In einem zweiten Teil mit dem Titel »Die historische Nation« versuchen wir, die Kategorien »Volk« und »Nation« neu zur Diskussion zu stellen. Unsere Methoden sind recht unterschiedlich: ich gehe diachronisch vor, indem ich der Entwicklungslinie der Nation-Form nachgehe; Wallerstein geht synchronisch vor, indem er den funktionellen Stellenwert ausmacht, den der nationale Überbau unter anderen politischen Institutionen in der Weltwirtschaft hat. Daher sehen wir auch den Klassenkampf und die nationale Formation unterschiedlich. Extrem vereinfacht könnte man sagen, dass meine Position darin besteht, die historischen Klassenkämpfe in die nationale Form einzuordnen (obwohl sie deren Antithese darstellen), während Wallerstein die Nation zusammen mit anderen Formen in den Bereich der Klassenkämpfe einordnet (obwohl diese nur unter außergewöhnlichen Bedingungen Klassen »für sich« werden: ein Punkt, auf den wir später eingehen werden).
Zweifellos liegt hier die Bedeutung des Begriffs »Gesellschaftsformation«. Wallerstein schlägt vor, drei große historische Entstehungsformen des »Volkes« zu unterscheiden: die Rasse, die Nation und die Ethnizität, die auf unterschiedliche Strukturen der Weltwirtschaft verweisen; er hebt besonders den historischen Einschnitt zwischen dem »bürgerlichen« Staat (Nationalstaat) und den früheren Formen des Staates hervor (für ihn ist der Begriff »Staat« bereits mehrdeutig). Bei meinem Versuch, den Übergang des »vornationalen« Staates zum »nationalen« Staat zu kennzeichnen, messe ich dagegen einer anderen Idee von ihm (die hier nicht behandelt wird) große Bedeutung bei, nämlich der Pluralität der politischen Formen in der Phase der Konstituierung der Weltwirtschaft. Ich stelle das Problem der Konstituierung des Volkes (das ich als fiktive Ethnizität bezeichne) als ein Problem der Hegemonie im Inneren dar und versuche, die Rolle zu analysieren, die dabei die Institutionen spielen, die zur Herausbildung der sprachlichen und der rassischen Gemeinschaft führen. Infolge dieser verschiedenen Ansätze scheint Wallerstein mehr über die Ethnisierung der Minderheiten aussagen zu können, während es mir mehr um die Ethnisierung der Mehrheiten geht; vielleicht ist er zu »amerikanisch« und ich zu »französisch« … Sicher ist indessen, dass es uns beiden gleichermaßen wichtig erscheint, die Nation und das Volk als historische Konstruktionen zu denken, dank derer die heutigen Institutionen und Antagonismen in die Vergangenheit projiziert werden können, um den »Gemeinschaften« eine relative Stabilität zu verleihen, von denen das Gefühl der individuellen »Identität« abhängt.
Mit dem dritten Teil, der »Die Klassen: Polarisierung und Überdeterminierung« betitelt ist, fragen wir nach den radikalen Veränderungen, denen die Schemata der marxistischen Orthodoxie zu unterziehen sind (d.h. kurz gesagt, der Evolutionismus der »Produktionsweise« in seinen verschiedenen Varianten), damit der Kapitalismus wirklich als historisches System (oder Struktur) entsprechend den authentischen Ausführungen von Marx analysiert werden kann. Es wäre unangebracht, im Voraus unsere Thesen zusammenzufassen. Der boshafte Leser wird sich ein Vergnügen daraus machen, die zwischen unseren jeweiligen »Rekonstruktionen« auftretenden Widersprüche aufzulisten. Weichen doch auch wir nicht von der Regel ab, dass zwei »Marxisten« unfähig sind, den gleichen Begriffen die gleiche Bedeutung zu geben … Daraus sollte man jedoch nicht vorschnell schließen, dass es sich um eine scholastische Spielerei handelt. Was mir bei einer erneuten Lektüre im Gegenteil überaus wichtig erscheint, das ist der Grad an Übereinstimmung bei den Schlussfolgerungen, zu denen wir ausgehend von so unterschiedlichen Prämissen gelangen.
Es geht um die Darstellung des »ökonomischen« und des »politischen« Aspekts des Klassenkampfes, Wallerstein hält an der Problematik von »Klasse an sich« und »Klasse für sich« fest, die ich ablehne, kombiniert sie jedoch mit den zumindest provokativen Thesen bezüglich des Hauptaspekts der Proletarisierung (die seiner Ansicht nach nicht mit der allgemeinen Durchsetzung der Lohnarbeit gleichbedeutend ist). Seiner Argumentation zufolge dehnt sich die Lohnarbeit trotz des unmittelbaren Interesses der Kapitalisten aus, und zwar unter der doppelten Wirkung der Realisationskrisen und der Arbeiterkämpfe gegen die Überausbeutung in den Ländern der Peripherie (die absolute Unterbezahlung). Ich werde dem entgegenhalten, dass diese Überlegung voraussetzt, dass jede Ausbeutung »extensiv« ist, d.h. dass es keine Form der Überausbeutung gibt, die an die Intensivierung der Lohnarbeit infolge von technologischen Revolutionen gebunden ist (was Marx die »reelle Subsumtion«, die Produktion des »relativen Mehrwerts« nennt). Aber diese Divergenzen in der Analyse – man könnte meinen, hier stünden sich ein Standpunkt der Peripherie und ein Standpunkt des Zentrums gegenüber – sind drei gemeinsamen Ideen untergeordnet:
1. Die These von Marx über die Polarisierung der Klassen im Kapitalismus ist kein fataler Fehler, sondern die Stärke seiner Theorie. Sie ist auf jeden Fall sorgfältig von der ideologischen Vorstellung einer »Vereinfachung der Klassenverhältnisse« im Zuge der Entwicklung des Kapitalismus zu unterscheiden, die mit der historischen Zusammenbruchstheorie verknüpft ist.
2. Es gibt keinen »Idealtypus« der Klassen (Proletariat und Bourgeoisie), sondern Prozesse der Proletarisierung und der Verbürgerlichung4, von denen jeder seinen eigenen inneren Konflikte hat (was ich in Anlehnung an Althusser die »Überdetermination« des Antagonismus nenne): so erklärt sich, dass die Geschichte der kapitalistischen Ökonomie von den politischen Kämpfen im nationalen und transnationalen Rahmen abhängt.
3. Die »Bourgeoisie« definiert sich nicht nur durch die Akkumulation des Profits (oder durch die produktive Investition): diese Bedingung ist notwendig, aber nicht hinreichend. Man wird im Text Ausführungen Wallersteins finden, in denen er darlegt, dass die Bourgeoisie in jeweils unterschiedlichen historischen Formen nach Monopolpositionen strebt und darauf aus ist, den Profit in eine vom Staat garantierte »Rente« umzuwandeln. Die Historisierung (und damit die Dialektisierung) des Klassenbegriffs in der »marxistischen Soziologie« stehen erst am Anfang (was bedeutet, dass noch große Anstrengungen erforderlich sind, um die Ideologie auszuhebeln, die sich bislang als marxistische Soziologie verstanden hat). Auch hier reagieren wir auf unsere nationalen Traditionen: entgegen einem hartnäckigen Vorurteil in Frankreich (das allerdings auf Engels zurückgeht), versuche ich zu zeigen, dass der Bourgeois-Kapitalist kein Parasit ist; Wallerstein dagegen, der aus dem Land kommt, wo sich der »Manager«-Mythos gebildet hat, versucht zu zeigen, dass der Bourgeois keineswegs das Gegenteil des Aristokraten ist (weder in der Vergangenheit noch heute).
Aus verschiedenen Gründen bin ich ebenfalls der Auffassung, dass der allgemeine Schulbesuch die Klassenunterschiede nicht nur »reproduziert«, sondern auch produziert. Nur glaube ich nicht, und darin bin ich weniger »optimistisch« als er, dass dieser »meritokratische« Mechanismus politischer anfälliger ist als die früheren historischen Mechanismen der Erlangung eines privilegierten sozialen Status. Das liegt meines Erachtens daran, dass die allgemeine Schulpflicht – zumindest in den »entwickelten« Ländern ein Mittel zur Selektion der Kader und einen ideologischen Apparat darstellt, der die sozialen Trennungen mit »technischen« und »wissenschaftlichen« Mitteln gleichsam naturalisiert, wobei es vorwiegend um die Trennung von Hand- und Kopfarbeit bzw. von ausführender und leitender Arbeit in ihren sukzessiven Formen geht. Wie man sehen wird, ist diese Form der Naturalisierung, die eng mit dem Rassismus verbunden ist, nicht weniger effizient als andere historische Legitimationen des Privilegs.
Was uns direkt zu unserem letzten Punkt führt: Verschiebungen des sozialen Konflikts? In diesem vierten Teil kommen wir auf die eingangs gestellte Frage zurück (die des Rassismus oder, allgemeiner gesagt, des »Status« und der Identität der »Gemeinschaft«), wobei wir die zuvor getroffenen Feststellungen miteinander verbinden und – sei es auch nur entfernt – praktische Schlussfolgerungen vorbereiten. Es geht auch darum, einzuschätzen, wie weit wir uns von einigen klassischen soziologischen und historischen Themen entfernt haben. Natürlich bleiben die Unterschiede in der Herangehensweise und mehr oder weniger gravierende Meinungsverschiedenheiten bestehen: es kann also keine Rede davon sein, dass wir zu einem gemeinsamen Schluss kommen. Überspitzt ausgedrückt, könnte ich sagen, dass Wallerstein dieses Mal viel weniger »optimistisch« ist als ich, geht er doch davon aus, dass das »Gruppen«-Bewusstsein notwendigerweise die Oberhand über das »Klassen«-Bewusstsein gewinnt oder zumindest die notwendige Form seiner historischen Realisierung darstellt. Es meint zu Recht, dass sich die beiden Begriffe an der (»asymptotischen«) Grenze der Transnationalisierung der Ungleichheiten und Konflikte treffen. Ich glaube allerdings nicht, dass der Rassismus der Ausdruck der Klassenstruktur ist, sondern dass er eine typische Form der politischen Entfremdung ist, die den Klassenkämpfen auf dem Feld des Nationalismus innewohnt und besonders ambivalente Ausprägungen annimmt (die Rassisierung des Proletariats, der Ouvrierismus, der Konsens »zwischen den Klassen« in der aktuellen Krise). Es ist richtig, dass ich bei meinen Überlegungen vor allem das Beispiel der Situation und Geschichte Frankreichs vor Augen habe, wo die Erneuerung der internationalistischen Praxis und Ideologie heute eine unsichere Frage ist. Es ist auch richtig, dass die »proletarischen Nationen« der Dritten Welt oder, genauer gesagt, ihre pauperisierten Massen und die »neuen Proletarier« Westeuropas – bei all ihrer Unterschiedlichkeit – in der Praxis den gleichen Gegner haben: den institutionellen Rassismus und sein politisches Durchschlagen auf die bzw. seine politische Vorwegnahme durch die Massen. Und sie haben die gleiche Hürde zu nehmen: die Vermengung des ethnischen Partikularismus oder des politisch-religiösen Universalismus mit Ideologien, die an sich einen befreienden Charakter haben. Das ist wahrscheinlich das Wesentliche, das wir mit allen interessierten Menschen außerhalb der universitären Zirkel weiter zu bedenken und zu erforschen haben. Ein gleicher Gegner bedeutet indessen weder die gleichen unmittelbaren Interessen noch die gleichen Bewusstseinsformen und noch viel weniger die Zusammenfassung der Kämpfe zu einem Ganzen. Denn dies ist nur eine Tendenz, der strukturelle Hindernisse entgegenstehen. Für ihre effektive Durchsetzung bedarf es günstiger Umstände und praktischer politischer Konzepte. Daher vertrete ich in diesem Buch die Auffassung, dass die (Re-) Konstituierung einer Klassenideologie auf neuen Grundlagen (und vielleicht in neuen Begriffen), die geeignet ist, dem galoppierenden Nationalismus von heute und morgen entgegenzuwirken, einen effizienten Antirassismus zur Voraussetzung hat, wodurch ihr Inhalt bereits bestimmt ist.
Zum Schluss möchten wir den Kollegen und Freunden danken, die zu unserer Freude an dem Seminar mitgearbeitet haben, das diesem Buch zugrunde liegt: Claude Meillassoux, Gérard Noiriel, Jean-Loup Amselle, Pierre Dommergues, Emmanuel Terray, Véronique de Rudder, Michèle Guillon, Isabelle Taboada, Samir Amin, Robert Fossaert, Eric Hobsbawm, Ernest Gellner, Jean-Marie Vincent, Kostas Vergopoulos, Françoise Duroux, Marcel Drach, Michel Freyssenet. Wir danken ebenfalls allen, die sich an den Diskussionen beteiligt haben. Wir können sie nicht alle nennen, aber ihre Beiträge sind nicht vergebens formuliert worden.
Anmerkungen
1 Ich muss an dieser Stelle erwähnen, dass u.a. die Forschungen von Yves Duroux, Claude Meillassoux und Suzanne de Brunhoff über die Reproduktion der Arbeitskraft und die Widersprüche der »Lohnform« einen entscheidenden Einfluss auf diese Überlegungen gehabt haben.
2 Wie es Wallerstein vor allem in Der historische Kapitalismus (Hamburg, Argument Verlag, 2. Aufl. 1989, S. 65ff.) darlegt.
3 Meines Erachtens wird durch diesen Gesichtspunkt auch die Perspektive einer »Konvergenz« der »antisystemischen Bewegungen« in Zweifel gezogen (zu denen Wallerstein zugleich die sozialistischen Bewegungen der Arbeiterklasse und die nationalen Befreiungsbewegungen, den Kampf der Frauen gegen den Sexismus und den Kampf der unterdrückten – insbesondere dem Rassismus ausgesetzten – Minderheiten zählt; sie alle sind potenzieller Teil einer einzigen »Weltfamilie der systemfeindlichen Bewegungen«, Der historische Kapitalismus, a.a.O., S. 96): denn diese Bewegungen erscheinen mir nicht als untereinander »zeitgemäß«, als bisweilen unvereinbar, an universelle, aber unterschiedliche Widersprüche gebunden, mit sozialen Konflikten verknüpft, die in verschiedenen »gesellschaftlichen Formationen« ungleich gewichtet sind. Ich sehe ihre Verdichtung zu einem einzigen historischen Block nicht als eine langfristige Tendenz, sondern als ein durch die Umstände bedingtes Zusammentreffen, dessen Dauer von politischen Innovationen abhängig ist. Das gilt zu Allererst für die »Konvergenz« von Feminismus und Klassenkampf: es wäre interessant, sich zu fragen, warum es praktisch nur in den gesellschaftlichen Formationen eine »bewusste« feministische Bewegung gegeben hat, in denen es auch einen organisierten Klassenkampf gab, wenngleich sich diese beiden Bewegungen niemals hätten verbinden können. Liegt das an der Arbeitsteilung? Oder an der politischen Form der Kämpfe? Oder am Unbewussten des »Klassenbewusstseins«?
4 Ich verwende im Französischen lieber den Begriff embourgeoisement anstelle des von Wallerstein benutzten Begriffs bourgeoisification, obwohl der Ausdruck möglicherweise mehrdeutig ist (ist sie eigentlich so sicher? So wie sich die Militärs aus zivilen Kreisen rekrutieren, stammen die Bürger in der x-ten Generation aus nichtbürgerlichen Kreisen).
Étienne Balibar
Wieweit ist es heute angebracht, von einem »Neo-Rassismus« zu sprechen? Das aktuelle Geschehen, dessen Formen von Land zu Land etwas verschieden ausfallen, aber doch deutlich erkennen lassen, dass es sich um ein transnationales Phänomen handelt, zwingt uns dazu, diese Frage zu stellen. Allerdings können dieser Frage zwei verschiedene Bedeutungen gegeben werden: Einerseits die, ob wir heute vor einer historischen Erneuerung der rassistischen Politiken und Bewegungen stehen, die ihre Erklärung in einer Krisenlage oder etwa auch in anderen Ursachen findet, andererseits die, ob es sich hinsichtlich der von ihm besetzten Themen und seiner gesellschaftlichen Bedeutung um einen neuen Rassismus handelt, der sich nicht auf die früher aufgetretenen »Modelle« reduzieren lässt. Ich werde im Folgenden vor allem der Frage in der zweiten Bedeutung nachgehen.
Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Hypothese, es handele sich um einen »Neo-Rassismus« – jedenfalls in Bezug auf Frankreich – im Ausgang von einer immanenten Kritik der Theorien, der Diskurse, entwickelt worden ist, die auf der Ebene einer Anthropologie oder einer Geschichtsphilosophie dazu beitragen, eine Politik der Ausgrenzung zu legitimieren. Dabei ist nur wenig Mühe darauf verwandt worden, eine Verbindung zwischen der Neuartigkeit der vorgetragenen Thesen und dem neuen Charakter der politischen Situationen bzw. den gesellschaftlichen Veränderungen herzustellen, die dazu geführt haben, dass diese neuen Thesen überhaupt »greifen«. Ich werde im Folgenden die These vertreten, dass die theoretische Dimension des Rassismus heute wie damals zwar historisch relevant, aber weder eigenständig noch primär ist. Der Rassismus gehört vielmehr – als ein wahrhaft »totales soziales Phänomen« – in den Zusammenhang einer Vielzahl von Praxisformen (zu denen Formen der Gewaltanwendung ebenso gehören wie Formen der Missachtung, der Intoleranz, der gezielten Erniedrigung und der Ausbeutung) sowie von Diskursen und Vorstellungen, die nichts weiter darstellen als intellektuelle Ausformulierungen des Phantasmas der Segregation bzw. der Vorbeugung (d.h. der Notwendigkeit, den Gesellschaftskörper zu reinigen, die Identität des »eigenen Selbst« bzw. des »Wir« vor jeder Promiskuität, jeder »rassischen Vermischung« oder auch jeder »Überflutung« zu bewahren) und die sich um die stigmatisierenden Merkmale des radikal »Anderen« (wie Name, Hautfarbe und religiöse Praxisformen) herum artikulieren. Im Rassismus geht es demgemäß darum, Stimmungen und Gefühle zu organisieren (deren zwanghaften Charakter, aber auch deren »irrationale« Ambivalenz die Psychologen vielfach beschrieben haben), indem sowohl ihre »Objekte«, als auch ihre »Subjekte« stereotypisiert werden. Aus ebendieser Kombination unterschiedlicher Praxisformen, Diskursformen und Vorstellungen in einem ganzen Netz von Gefühls-Stereotypen lässt sich die Herausbildung einer rassistischen Gemeinschaft erklären (oder auch einer Gemeinschaft von Rassisten, zwischen denen aus wechselseitigem Abstand wirksame »Nachahmungs«-Verbindungen bestehen) sowie auch die Art und Weise, wie sich gleichsam spiegelbildlich die Individuen und Kollektive, die dem Rassismus ausgesetzt sind (also dessen »Objekte«), dazu gezwungen sehen, sich selbst als eine Gemeinschaft wahrzunehmen.
Wie absolut, wie unerbittlich, dieser Zwang auch sein mag, für seine Opfer bleibt er offenbar dennoch immer als Zwang wahrnehmbar: Weder kann er (wie bei A. Memmi nachzulesen) ohne Konflikte verinnerlicht werden, noch den Widerspruch auslöschen, dass kollektiven Zusammenhängen eine Gemeinschaftsidentität zugeschrieben wird, denen zugleich das Recht bestritten wird, sich selbst zu definieren (lesen wir Fanon!). Dieser Zwang, sich als Gemeinschaft wahrzunehmen, hebt auch nicht den in den Handlungen, Diskursen, Theorien und Rationalisierungen (der Rassisten, A.d.Ü.) enthaltenen Überschuss an Gewaltsamkeit auf. Aus der Perspektive seiner Opfer besteht also eine wesentliche Asymmetrie des rassistischen Komplexes, die den Taten und dem Übergang zur Tat einen unbestreitbaren Primat über die Lehren verleiht – wobei als Taten natürlich nicht nur physische Gewalttaten und Diskriminierungen zu begreifen sind, sondern auch durchaus Worte, die durch Worte ausgeübte Gewalt in Form von Verachtung und Aggression. Dies führt uns zunächst dazu, die Veränderungen in der Lehre und der Sprache (der Rassisten, A.d.Ü.) zu relativieren: Muss man solchen Rechtfertigungen, die immer dieselbe Struktur bewahren (die Struktur, jedes Recht zu verweigern), auch wenn sie aus der Sprache der Religion in die der (Natur-) Wissenschaft oder aus der Sprache der Biologie in die der Kultur und der Geschichte überwechseln, solange sie zu denselben Taten führen, überhaupt eine derartige Bedeutung zuschreiben?
Diese Bemerkung ist durchaus richtig, sie ist sogar von zentraler Bedeutung – aber sie beseitigt noch nicht das Problem. Denn eine Zerstörung des Rassismus setzt nicht nur voraus, dass dessen Opfer dagegen revoltieren, sondern auch die Rassisten selbst müssen sich verändern. Dementsprechend muss es zu einer Ersetzung der rassistischen Gemeinschaft von innen heraus kommen. Dies lässt sich mit der Bekämpfung des Sexismus vergleichen, dessen Überwindung zugleich die Revolte der Frauen und die Zersetzung der Gemeinschaft der »Männchen« erfordert. Nun sind aber die rassistischen Theorien für die Herausbildung dieser Gemeinschaft unverzichtbar. Es gibt in der Tat ohne Theorie(n) keinen Rassismus. Es wäre ganz und gar müßig, sich zu fragen, ob die rassistischen Theorien eher aus den Eliten oder aus den Massen, aus den herrschenden oder aus den beherrschten Klassen stammen. Dagegen liegt es auf der Hand, dass sie jedenfalls von Intellektuellen »rationalisiert« werden. Und es ist sogar äußerst wichtig, sich die Frage zu stellen, welche Funktion die theoretischen Ausarbeitungen des Rassismus (dessen Prototyp die evolutionistische Anthropologie der »biologischen Rassen« darstellt, wie sie sich gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts herausgebildet hat) für die Verfestigung der Gemeinschaft haben, die sich um den Signifikanten der »Rasse« herum bildet.
Diese Funktion scheint mir nicht ausschließlich in der allgemeinen Fähigkeit zu einer Organisierung der intellektuellen Rationalisierungen (was Gramsci als deren »Organizität« bezeichnet hat und Auguste Comte als deren »geistige Macht«) zu bestehen, und auch nicht in der Tatsache, dass die Theorien des Rassismus ein Bild einer Gemeinschaft, einer auf der Herkunft beruhenden Identität ausarbeiten, in dem sich Individuen aus allen Klassen wieder erkennen können. Sie liegt vielmehr in der Tatsache, dass diese Theorien den wissenschaftlichen Diskurstyp nachahmen, indem sie sich auf sichtbares »Beweismaterial« stützen (von daher erklärt sich die wesentliche Bedeutung der rassischen, insbesondere der körperlichen Stigmata, für den Rassismus). Genauer gesagt ahmen sie die Art und Weise nach, in der der wissenschaftliche Diskurstyp »sichtbare Tatsachen« auf »verborgene« Ursachen zurückführt und bilden so die Vorhut einer spontanen Theoriebildung, wie sie sich innerhalb des Rassismus der Massen vollzieht.1 Ich möchte mich hier zu dem Gedanken vorwagen, dass sich im Rassismus auf eine unauflösbare Weise die zentrale Funktion der Verkennung (ohne die Gewalttätigkeit nicht einmal für diejenigen, die sie ausüben, zu ertragen wäre) mit einem »Willen zum Wissen« vermischt, d.h. mit einem heftigen Begehren nach Erkenntnis, nach einer unmittelbaren Einsicht in die gesellschaftlichen Verhältnisse. Diese beiden Funktionen verstärken sich ständig wechselseitig, weil für alle gesellschaftlichen Individuen und Gruppen die eigene kollektive Gewalttätigkeit ein beängstigendes Rätsel bildet, für das dringend eine auflösende Erklärung gefunden werden muss. Hier zeigen übrigens die Ideologen des Rassismus eine besondere intellektuelle Haltung, wie raffiniert ihre Ideologien auch ausgearbeitet sind. Im Unterschied beispielsweise zu den Theologen, die unbedingt zwischen einem esoterischen spekulativen Denken und einer Lehre für den Volksgebrauch einen Abstand aufrechterhalten müssen (wenn auch, um nicht in den Fehler der Gnosis zu verfallen, keinen vollständigen Schnitt), haben die historisch wirksamen rassistischen Ideologen immer in diesem Sinne »demokratische« Lehren ausgebildet, d.h. solche, die unmittelbar zugänglich und gleichsam im Vorhinein dem niedrigen Intelligenzgrad angepasst waren, der den Massen dort zugeschrieben wird, wo es um die Ausarbeitung einer Ideologie der Elitebildung geht. D.h. es ging ihnen immer um solche Lehren, die in der Lage waren, ganz unmittelbar einen Schlüssel dafür an die Hand zu geben, nicht nur das zu interpretieren, was die Individuen erleben, sondern auch das, was sie innerhalb der gesellschaftlichen Welt sind – darin sind sie der Astrologie, der Charakterologie und Ähnlichem verwandt. Das gilt selbst dann, wenn ein solcher Schlüssel die Form der Offenbarung eines »Geheimnisses« der conditio humana annimmt (d.h. wenn mit ihm ein Geheimnis-Effekt als wesentliche Bedingung für seine imaginäre Wirksamkeit verknüpft ist, wie dies vor allem Léon Poliakov2 belegt hat).
Genau hierin liegt auch die Schwierigkeit, vor der jeder Versuch steht, den Inhalt des Rassismus der Wissenschaftler und vor allem dessen Einfluss zu kritisieren. Es ist in der Tat eine der Konstruktionsvoraussetzungen seiner Theorien, dass es sich bei dem gesuchten, von den Massen begehrten Wissen um ein ganz elementares Wissen handelt, das nichts weiter tut, als deren spontane Gefühle zu rechtfertigen bzw. diese Massen zur Wahrheit ihrer Instinkte zurückzuführen. Bebel hat bekanntlich den Antisemitismus als den »Sozialismus der dummen Kerls« bezeichnet und Nietzsche hat ihn für die Politik der Schwachsinnigen gehalten (was ihn allerdings keineswegs daran gehindert hat, seinerseits einen großen Teil der rassistischen Mythologie wieder aufzugreifen). Können wir unsererseits, wenn wir hier die rassistischen Lehren als auf spezifische Weise demagogische Theorien kennzeichnen, deren Wirksamkeit darauf beruht, dass sie auf das bei den Massen vorliegende Begehren nach Wissen im Vorhinein eine Antwort zu geben versuchen, dieser Doppeldeutigkeit entgehen? Die Kategorie der »Masse« (oder auch des Volkstümlichen) ist als solche keineswegs neutral, sondern steht in direktem Zusammenhang mit der Logik der Unterwerfung des Gesellschaftlichen unter die Denkformen von Natur und Rasse. Um auch nur zu beginnen, diese Doppeldeutigkeit aufzulösen, genügt es keinesfalls, zu untersuchen, wie der »Mythos« des Rassismus dazu kommt, einen derartigen Einfluss auf die Massen auszuüben, wir müssen uns auch fragen, warum es anderen soziologischen Theorien, die im weitesten Sinne im Rahmen einer Arbeitsteilung zwischen »Kopf-« und »Handarbeit« erarbeitet worden sind, nicht ebenso leicht gelingt, sich mit diesem Begehren nach Wissen zu verbinden. Die Mythen des Rassismus (der »Mythos der arischen Rasse« und der Mythos der Vererbung) sind dies nicht allein aufgrund ihres pseudowissenschaftlichen Inhalts, sondern ebenso als Formen einer imaginären Überwindung des Grabens, der die Intellektuellen von der Masse trennt, und als solche untrennbar mit dem Fatalismus verbunden, der die Massen in ihrer sogenannten natürlichen Infantilität festhält.
Hiermit können wir zur Frage des »Neo-Rassismus« zurückkehren. Wie ich bereits gesagt habe, liegt die Schwierigkeit nicht so sehr darin, die Tatsache das Rassismus zu erkennen – hierfür bietet die Praxis ein hinreichend sicheres Kriterium, jedenfalls wenn wir uns nicht von den Verleugnungen ablenken lassen wollen, die die Praxis des Rassismus insbesondere von Seiten eines großen Teils der »politischen Klasse« erfährt, die damit nur ihr geheimes Einverständnis oder ihre interessierte Blindheit zum Ausdruck bringt. Die Frage ist vielmehr, wie wir erkennen können, in welchem Maße eine relativ neue Sprache als Ausdruck einer neuen Artikulation zu begreifen ist, in der sich in einer auf Dauer angelegten Weise gesellschaftliche Praxis und kollektive Vorstellungen, Lehren von Wissenschaftlern und politische Bewegungen miteinander verbinden. Kurzum, um mit Gramsci zu sprechen, die entscheidende Frage liegt darin, zu erkennen, ob sich hier so etwas wie ein Hegemonie-Verhältnis abzeichnet.
Die Art und Weise, wie die Kategorie der Immigration als Ersatz für den Begriff der Rasse und damit als Agens einer Zersetzung des »Klassenbewusstseins« funktioniert, liefert uns hierfür einen ersten Hinweis. Ganz offensichtlich haben wir es hier nicht einfach mit einer Tarnungsoperation zu tun, die aufgrund des mehr als schlechten Rufs des Ausdrucks »Rasse« und seiner Ableitungen nötig geworden wäre; und es handelt sich auch nicht ausschließlich um eine Auswirkung der Strukturveränderungen, die sich innerhalb der französischen Gesellschaft vollzogen haben. Schon seit langem sind die kollektiven Zusammenhänge der Arbeitsimmigranten Diskriminierungen und fremdenfeindlichen Gewalttätigkeiten ausgesetzt, die ihrerseits von den Stereotypen des Rassismus durchdrungen sind. Bereits in der Zwischenkriegszeit, also in einer früheren Krisenperiode, konnte man erleben, wie Kampagnen gegen die »Mischlinge« (seien sie nun Juden gewesen oder nicht) entfesselt wurden, die über den Rahmen der faschistischen Bewegungen hinaus wirksam waren und deren logische Vollendung dann der Beitrag des Vichy-Regimes zum Hitler’schen Vernichtungsunternehmen gewesen ist. Warum hat man damals nicht den »biologischen« Signifikanten durch den »soziologischen« ersetzt und ihn zum ideologischen Schlussstein der Darstellungsformen des Hasses auf den Anderen und der Furcht vor ihm gemacht? Neben dem unbestreitbaren Gewicht der spezifisch französischen Tradition des anthropologischen Mythos ist ein Grund wahrscheinlich der institutionelle und ideologische Bruch, der damals noch zwischen der Wahrnehmung der (im wesentlichen aus Europa kommenden) Einwanderung und den Erfahrungen des Kolonialismus bestand (einerseits wird Frankreich »erobert«, andererseits »herrscht« es). Der Andere ist das Fehlen eines neuen weltweiten Modells der Artikulation von Staaten, Völkern und Kulturen.3 Diese beiden Gründe hängen im Übrigen zusammen. Der neue Rassismus ist ein Rassismus der Epoche der »Entkolonialisierung«, in der sich die Bewegungsrichtung der Bevölkerung zwischen den alten Kolonien und den alten »Mutterländern« umkehrt und sich zugleich die Aufspaltung der Menschheit innerhalb eines einzigen politischen Raumes vollzieht. Ideologisch gehört der gegenwärtige Rassismus, der sich bei uns um den Komplex der Immigration herum ausgebildet hat, in den Zusammenhang eines »Rassismus ohne Rassen«, wie er sich außerhalb Frankreichs, vor allem in den angelsächsischen Ländern, schon recht weit entwickelt hat: eines Rassismus, dessen vorherrschendes Thema nicht mehr die biologische Vererbung, sondern die Unaufhebbarkeit der kulturellen Differenzen ist; eines Rassismus, der – jedenfalls auf den ersten Blick – nicht mehr die Überlegenheit bestimmter Gruppen oder Völker über andere postuliert, sondern sich darauf »beschränkt«, die Schädlichkeit jeder Grenzverwischung und die Unvereinbarkeit der Lebensweisen und Traditionen zu behaupten. Diese Art von Rassismus ist zu Recht als ein differenzialistischer Rassismus bezeichnet worden (vgl. etwa P.A. Taguieff4).
Um die Bedeutung dieser Argumentation hervortreten zu lassen, sind die politischen Konsequenzen festzuhalten, die sich aus dieser Veränderung ergeben. Die erste ist eine Erschütterung der Abwehrmechanismen des traditionellen Antirassismus und zwar durch Umstülpung seiner eigenen Argumentation; sie wird gegen ihn selbst gewendet (was Taguieff sehr treffend als Retorsionseffekt des differentiellen Rassismus bezeichnet hat). Der Umstand, dass die Rassen keine isolierbaren biologischen Einheiten darstellen, dass es in der Tat keine »menschlichen Rassen« gibt, wird hier sofort zugegeben. Auch die Tatsache, dass sich das Verhalten der Individuen und deren »Eignung« nicht aus dem Blut und nicht einmal aus den Genen erklären lässt, sondern allein aus ihrer Zugehörigkeit zu historischen »Kulturen«, kann hier ebenfalls zugegeben werden. Nun hatte der anthropologische Kulturalismus aufgrund seiner ausschließlichen Orientierung auf die Anerkennung der Unterschiedlichkeit und Gleichwertigkeit der Kulturen – deren polyphone Gesamtheit allein die menschliche Zivilisation konstituiert – dem humanistischen und kosmopolitischen Antirassismus der Nachkriegszeit den größten Teil seiner Argumente geliefert. Der Wert dieses Kulturalismus bestätigte sich darüber hinaus noch durch den Beitrag, den er zum Kampf gegen bestimmte, auf Uniformierung hinwirkende Formen des Imperialismus und zum Widerstand gegen die Ausschaltung von Minderheitskulturen oder auch beherrschten Kulturen, also gegen den »Ethnozid« leistete.
Der differenzialistische Rassismus nimmt nun diese Argumentation ganz und gar wörtlich. Ein bekannter Anthropologe, berühmt geworden durch den Nachweis, dass alle Kulturen gleichermaßen komplex und gleichermaßen für das Fortschreiten des menschlichen Denkens erforderlich sind (Claude Levi-Strauss), findet sich jetzt – ganz gleich ob freiwillig oder unfreiwillig – in den Dienst des Gedankens gestellt, »Kulturvermischungen«, die Beseitigung »kultureller Distanzen« entsprächen dem geistigen Tod der Menschheit und gefährdeten vielleicht sogar die Regulierungsmechanismen, von denen das biologische Überleben der Menschheit abhängt.5 Und diese »Beweisführung« wird dann auch noch ganz unvermittelt mit der »spontanen« Tendenz aller menschlichen Gruppen (womit in der Praxis Nationen gemeint sind, auch wenn ganz offenbar die anthropologische Bedeutung der politischen Kategorie der Nation ganz offensichtlich einigermaßen zweifelhaft ist) in Beziehung gebracht, ihre Traditionen, und damit ihre Identität, zu bewahren. Hier kommt die Tatsache zum Ausdruck, dass ein biologischer oder genetischer »Naturalismus« keineswegs den einzigen möglichen Modus einer Naturalisierung menschlicher Verhaltensweisen und Gesellschaftlichkeit darstellt. Wenn sie dafür das – ohnehin stärker dem bloßen Anschein verhaftete als reale – Modell einer Hierarchie (von Natur und Kultur, A.d.Ü.) aufgibt, kann auch die Kultur durchaus als eine solche Natur fungieren, ganz besonders als eine Art und Weise, Individuen und Gruppen a priori in eine Ursprungsgeschichte, eine, Genealogie einzuschließen, in ein unveränderliches und unberührbares Bestimmtsein durch den Ursprung.
Aber dieser erste Umstülpungseffekt zieht unmittelbar einen zweiten nach sich: Wenn die irreduzible kulturelle Differenz die wahrhafte »natürliche Umwelt« des Menschen bildet, gleichsam die Atmosphäre, ohne die sein historischer Atem nicht möglich wäre, dann muss jede Verwischung dieser Differenz notwendig Abwehrreaktionen auslösen, zu »interethnischen« Konflikten und generell zu einem Anstieg der Aggressivität führen. Dabei handelt es sich, wie man uns erklärt, um »natürliche« Reaktionen, die aber zugleich gefährlich sind. In einer staunenswürdigen Kehrtwendung bieten sich uns derart die differenzialistischen Lehren für die Aufgabe an, den Rassismus zu erklären (und ihm präventiv zu begegnen).
Tatsächlich vollzieht sich eine ganz allgemeine Verlagerung der Problematik. Von der Theorie der Rassen bzw. des Kampfes der Rassen in der Menschheitsgeschichte – ganz gleich, ob diese auf biologische oder auf psychologische Grundlagen zurückgeführt wurden – wird der Übergang zu einer Theorie der »ethnischen Beziehungen« (oder auch der »race relations«) innerhalb der Gesellschaft vollzogen, die nicht die rassische Zugehörigkeit, sondern das rassistische Verhalten zu einem natürlichen Faktor erklärt. Der differenzialistische Rassismus ist also, logisch betrachtet, ein Meta-Rassismus, bzw. ein Rassismus, den wir als »Rassismus zweiter Linie« kennzeichnen können, d.h. ein Rassismus der vorgibt, aus dem Konflikt zwischen Rassismus und Antirassismus seine Lehren gezogen zu haben, und sich selbst als eine politisch eingriffsfähige Theorie der Ursachen von gesellschaftlicher Aggressivität darstellt. Wenn man den Rassismus vermeiden wolle, so müsse man den »abstrakten« Anti-Rassismus vermeiden, d.h. dessen Verkennung der psychologischen und soziologischen Gesetze, nach denen sich menschliche Bevölkerungen bewegen: Man müsse die »Toleranzschwellen« beachten und die »natürlichen Distanzen« einhalten, d.h. man müsse – gemäß dem Postulat, dass die Individuen jeweils ausschließlich die Erben und Träger einer einzigen Kultur sein dürfen – die kollektiven Zusammenhänge voneinander abgrenzen (wobei die nationalen Grenzen in dieser Hinsicht die besten Trennmauern bilden). Damit verlassen wir an genau dieser Stelle die Sphäre des spekulativen Denkens und treten ganz unmittelbar in die der Politik und der Interpretation der Alltags- Erfahrung ein. Dabei ist wohlgemerkt die Kennzeichnung als »abstrakt« keine wissenschaftstheoretische Bestimmung; es handelt sich vielmehr um ein Werturteil, das um so mehr zur Anwendung kommt, je konkreter und wirksamer die Praxisformen sind, auf die es gemünzt ist – also etwa Programme der Stadterneuerung oder der Bekämpfung von Diskriminierung, d.h. der Gegen-Diskriminierung in Schule und Beruf. Von der amerikanischen Neuen Rechten wird dies als »umgekehrte Diskriminierung« bezeichnet, und auch in Frankreich kann man zunehmend hören, wie »vernünftige« Menschen, die mit dieser oder jener extremistischen Bewegung überhaupt nichts zu tun haben, erklären, dass »der Anti-Rassismus den Rassismus erst hervorbringt«, und zwar aufgrund der von ihm betriebenen Agitation, aufgrund seiner Art und Weise, die Masse der Bürger in ihrem Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit zu »provozieren«.6
Es ist kein bloßer Zufall, dass die Theorien des differenzialistischen Rassismus (die sich von nun an als Träger des wahrhaften Anti-Rassismus und damit auch des wahrhaften Humanismus darstellen können) sich leicht mit der »Massenpsychologie« verbinden, die durch ihre allgemeinen Erklärungen die irrationalen Bewegungen, die kollektive Aggressivität und Gewalttätigkeit und insbesondere die Xenophobie rehabilitiert. Darin kommt das schon weiter oben von mir angesprochene Doppelspiel voll zum Zug: Einerseits wird der großen Menge eine Erklärung für ihre eigene »Spontanität« angeboten, andererseits wird implizit dieselbe Menge eben dadurch als »primitive Masse« abgewertet. Die neo-rassistischen Theoretiker sind keine Mystiker des Erbguts, sondern ganz »realistische« Techniker der Sozialpsychologie …
Indem ich die Retorsionseffekte des Neo-Rassismus auf diese Weise darstelle, vereinfache ich sicherlich die Genese und die Komplexität seiner inneren Variationen. Aber mir geht es hier darum, klar herauszuarbeiten, worum es in der Entwicklung des Neo-Rassismus strategisch geht. Das macht dann anschließend Korrekturen und Ergänzungen erforderlich, die ich an dieser Stelle nur andeuten kann.
Der Gedanke eines »Rassismus ohne Rassen« ist gar nicht so revolutionär, wie man vielleicht denken könnte. Ohne hier auf alle Wendungen der Bedeutungsgeschichte des Wortes »Rasse« einzugehen, dessen »historiosophischer« Gebrauch etwa tatsächlich noch vor jeder Neuformulierung der »Genealogie« im Rahmen der »Genetik« liegt, müssen hier einige bedeutende historische Tatsachen gekennzeichnet werden, so unbequem diese auch (für eine gewisse Vulgärform des Anti-Rassismus, aber auch für die Umstülpungen, die diese durch den Neo-Rassismus erfahren hat) sein mögen.
Es hat immer schon einen Rassismus gegeben, für den der pseudobiologische Rassenbegriff kein wesentlicher Springpunkt war –nicht einmal auf der Ebene seiner sekundären theoretischen Ausarbeitungen. Sein Prototyp ist der Antisemitismus. Der moderne Antisemitismus – jener also, der sich im Europa der Aufklärung herauszukristallisieren beginnt, d.h. ausgehend von der etatistischen und nationalistischen Wendung, die das Spanien der Reconquista und der Inquisition dem theologischen Antijudaismus gegeben haben – ist bereits ein »kulturalistischer« Rassismus. Gewiss haben die körperlichen Stigmata darin einen bedeutenden phantasmatischen Stellenwert, jedoch eher als Zeichen einer tief sitzenden Psychologie, eines geistigen Erbes, denn eines biologischen Erbgutes.7 Diese Zeichen sind sogar, wenn man das so sagen kann, um so verräterischer, desto weniger sichtbar sie sind, und der Jude ist um so »echter«, je unerkennbarer er ist. Sein Wesen besteht darin, eine kulturelle Tradition und ein Ferment moralischer Zersetzung zu bilden. Der Antisemitismus ist also differenzialistisch par excellence – und unter einer Vielzahl von Gesichtspunkten lässt sich der gegenwärtige differenzialistische Rassismus seiner Form nach als ein verallgemeinerter Antisemitismus betrachten. Dieser Hinweis ist besonders wichtig, um die gegenwärtige Feindschaft gegenüber den Arabern, vor allem in Frankreich, zu begreifen. Sie ist verbunden mit einem Bild des Islam als einer mit dem europäischen Denken (européicité) unvereinbaren »Weltanschauung« und als eines auf universelle ideologische Herrschaft angelegten Unternehmens, d.h. sie verwechselt systematisch »Arabertum« und »Islamismus«.
Damit richtet sich unsere Aufmerksamkeit auf eine historische Tatsache, die zuzugeben noch schwerer fällt, die aber für ein Verständnis der für Frankreich spezifischen, nationalen Form der rassistischen Traditionen von zentraler Bedeutung ist. Gewiss gibt es auch eine spezifisch französische Traditionslinie der Lehre von der arischen Rasse, der Anthropometrie und des biologischen Genetizismus. Aber die wirkliche »französische Ideologie« ist das nicht. Sie liegt vielmehr in dem Gedanken eines universellen Erziehungsauftrags gegenüber dem ganzen Menschengeschlecht, der der Kultur eines »Landes der Menschenrechte« übertragen sei, und dem dann in der Praxis die Assimilierung beherrschter Bevölkerungen entspricht. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die Individuen oder Gruppen nach ihrer mehr oder minder großen Eignung bzw. nach ihrem mehr oder minder großen Widerstand gegen diese Assimilierung zu unterscheiden und zu bewerten. Diese sowohl subtile als auch erdrückende Form einer Ausschließung in Gestalt der Einschließung hat sich im Prozess der Kolonisierung entfaltet, in der spezifisch französischen (oder auch »demokratischen«) Variante der »Bürde des weißen Mannes«. Ich werde weiter unten auf die paradoxen Verhältnisse von Universalismus und Partikularismus innerhalb der Funktionsweise der rassistischen Ideologien bzw. innerhalb der rassistischen Dimension der Funktionsweise der Ideologien generell zurückkommen.
Umgekehrt wird ohne Schwierigkeiten sichtbar, dass in den neo-rassistischen Lehren das Thema der Hierarchie eher dem bloßen Anschein nach ausgelöscht ist. Der Gedanke der Hierarchie – dessen Absurdität man sogar lautstark proklamieren kann – stellt sich einerseits in der Praxis dieser Lehren her (braucht also nicht ausdrücklich ausgesprochen werden), andererseits ist er in den Kriterien angelegt, die verwendet werden, um die Differenz der Kulturen zu denken (und damit kommen wiederum die besonderen logischen Möglichkeiten des »Meta-Rassismus«, der Position der »zweiten Linie« ins Spiel).
Die vorbeugende Behandlung gegen die »Krankheit der Vermischung« findet dort statt, wo die institutionell etablierte