Stoizismus für Eilige - Brad Inwood - E-Book

Stoizismus für Eilige E-Book

Brad Inwood

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Beschreibung

Der Stoizismus, die philosophische Schule des antiken Griechenlands und Roms, inspiriert bis heute zahlreiche Menschen dazu, ihr Leben zu überdenken und neu zu gestalten, um persönliche Zufriedenheit zu erreichen. Diese kurze Einführung bietet einen Überblick über die stoische Philosophie und ihre Entwicklungsgeschichte von den Anfängen im 4. Jahrhundert v. Chr. bis heute. Inwood stellt fest, dass es trotz der Unterschiede zwischen den antiken und den zeitgenössischen Stoikern einen gemeinsamen Kern philosophischer Einsichten gibt, der die moderne Version nicht nur mit Seneca, Epiktet und Mark Aurel, sondern auch mit den ursprünglichen Gründern der Schule, Zenon, Cleanthes und Chrysippos, verbindet. Inwood liefert Ihnen mit dieser leicht verständlichen Einführung in den Stoizismus den ersten Schritt in ein bemerkenswertes Themengebiet und ein erfüllteres Leben.

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Seitenzahl: 188

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Brad Inwood

Stoizismus für Eilige

Eine Einführung

Brad Inwood

Stoizismus für Eilige

Eine Einführung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Wichtiger Hinweis

Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.

1. Auflage 2024

© 2024 by Finanzbuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Die englische Originalausgabe erschien 2018 bei Oxford University Press unter dem Titel Stoicism. A very short introduction. © 2018 by Brad Inwood. All rights reserved.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Übersetzung: Kerstin Brömer

Redaktion: Ulrike Reinen

Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer

Umschlagabbildung: Adobe Stock/Olena

Satz: Kerstin Stein

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-95972-798-3

ISBN E-Book (PDF) 978-3-98609-557-4

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-98609-558-1

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.finanzbuchverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Inhalt

Danksagung

Kapitel 1

Der Stoizismus der Antike und das Leben IN DER heutigen Zeit

Kapitel 2

Die Stoiker aus heutiger Sicht: Epiktet, Mark Aurel und Seneca

Kapitel 3

Die Wurzeln der Stoa: Stoizismus und Platon

Kapitel 4

Physik

Kapitel 5

Ethik

Kapitel 6

Logik

Kapitel 7

Stoizismus, damals und heute

Weiterführende Literatur und Literaturverzeichnis

Danksagung

Ich lese, spreche und schreibe schon seit Langem über Stoizismus und schulde daher meinen Lehrern, Kollegen, Studenten, Freunden und Familienmitgliedern eine Menge – mehr, als ich aufzählen könnte. Für dieses Projekt bin ich drei Freunden, die eine frühere Version des Buches gelesen und mich beraten haben, zu besonderem Dank verpflichtet: Ryan Balot und John Magee in Toronto sowie Raphael Woolf in London. Ihre Kenntnisse halfen mir, das Buch in vielerlei Hinsicht zu verbessern, und dafür sowie für die wertvolle intellektuelle Kameradschaft danke ich ihnen allen herzlich. Zudem bin ich den Lektoren bei Oxford University Press und ihrem anonymen Leser dankbar, dass sie das Projekt auf Kurs gehalten haben. Meine tiefste Dankbarkeit gilt jedoch meiner Frau, Niko Scharer, sine qua non.

Kapitel 1

Der Stoizismus der Antike und das Leben IN DER heutigen Zeit

Sage dir bei Tagesanbruch: »Heute treffe ich auf aufdringliche, undankbare, anmaßende, betrügerische, neidische und unsoziale Menschen. All diese Fehler sind Folgen dessen, dass sie das Gute nicht vom Bösen unterscheiden können.«

(Mark Aurel, Selbstbetrachtungen2.1)

Was für ein Start in den Tag! Aber vermutlich geht es vielen von uns an den meisten Tagen tatsächlich so. Wenn Sie nicht gerade ein privilegiertes Leben führen, sehen Sie sich wahrscheinlich einigen Unannehmlichkeiten ausgesetzt, für die häufig Ihre Mitmenschen verantwortlich sind. Mark Aurel, Kaiser von Rom, sah dieser düsteren Tatsache offen ins Auge. Das obige Zitat ist der erste Rat, den er sich selbst in seinem philosophischen Tagebuch gab – und den würde man wohl kaum als aufbauend bezeichnen. Fairerweise muss man allerdings sagen, dass Mark Aurel oft sehr schlechte Tage hatte – sein Leben war von Krieg, Pest, Verrat und Not geprägt –, zudem will von einem Kaiser jeder irgendetwas. Es wäre also nicht verwunderlich, wenn er wie Marvin, der depressive Roboter in Per Anhalter durch die Galaxis, reagiert hätte: »Es sind die Leute, denen man bei so einem Job begegnet, die einen vollkommen schaffen.«

Marvin war deswegen ständig niedergeschlagen, Mark Aurel dagegen nicht. Ein wichtiger Grund für diesen Unterschied – abgesehen von der Tatsache, dass Marvin ein fiktiver Roboter und Mark Aurel ein echter Mensch war – ist, dass Mark Aurel, römischer Kaiser von 161 bis 180 n. Chr. und wohl der mächtigste Mann zur damaligen Zeit, zudem Stoiker war. Und der Stoizismus bereitet seine Anhänger bekanntlich auf harte Zeiten vor, rückt die Dinge ins rechte Licht und stellt sie in einen Zusammenhang. Wenn das Leben Zitronen austeilt, wird eine Stoikerin sicherlich versuchen, Limonade daraus zu machen, aber wenn das nicht klappt, weiß sie zumindest, warum, und kann gut damit umgehen. Ihre Philosophie bereitet sie auf alles vor, was ihr widerfahren könnte; mit ihrer Intelligenz und ihrem Training wird sie ihr Leben zu meistern und zu schätzen wissen, ob es nun gut oder schlecht läuft. Ihre Philosophie wird ihr ein hervorragender Leitfaden fürs Leben sein.

Auf dieser Auffassung beruht auch der Name der US-amerikanischen akademischen Ehrengesellschaft ΦΒΚ (Phi Beta Kappa): Die griechischen Buchstaben stehen für philosophía bíou kybernḗtēs, »Philosophie ist der Wegweiser fürs Leben« (oder wörtlicher: »Liebe zur Weisheit ist der Steuermann des Lebens«). Besser könnte man kaum zusammenfassen, wofür der Stoizismus heutzutage in den Augen der meisten Menschen steht. In der westlichen Tradition ist die Idee der Philosophie als Lebensart oder zumindest als Hauptleitfaden fürs Leben weit älter als ΦΒΚ (gegründet 1776). Sie tauchte bereits in der Philosophie des antiken Griechenlands auf, sicherlich nicht später als zu Sokrates’ Zeiten und sehr wahrscheinlich schon zu Zeiten von Pythagoras, und hat sich seitdem in der ein oder anderen Form erhalten. Bei den Griechen und Römern der Antike fand der Gedanke seine vollständigste und deutlichste Entfaltung im Stoizismus. Auch heute noch ist die Idee, dass die Philosophie ein Wegweiser für ein gutes Leben sein kann, eng mit dieser antiken Denkschule verbunden, wenn auch natürlich in modernem Gewand. Ein aktueller Band mit Beiträgen aus dem Blog About Stoicism Today (Band 2, 2016, herausgegeben von Patrick Ussher und Tom McConnell) enthält Artikel mit Titeln wie:

Der Stoizismus und die Umwelt

Wie twittert ein Stoiker?

»Barbaren vor den Toren«: Stoische Antworten auf die Flüchtlingskrise

Wie man tugendhaft wird – Lektionen aus der Compassion Focussed Therapy (CFT)

Das Internet und die Dinnerparty: Stoische Gelassenheit in der Onlinewelt

Und das ist nur ein kleiner Ausschnitt dessen, was der Stoizismus als Anleitung für das Leben im 21. Jahrhundert zu bieten haben soll. Einige relativ neue Bücher unterstreichen das: Elen Buzarés Stoic Spiritual Exercises (das ausdrücklich auf dem Werk von Pierre Hadot aufbaut) und Donald Robertsons Stoizismus und die Kunst, glücklich zu sein (der Autor ist Psychotherapeut mit Schwerpunkt kognitive Verhaltenstherapie und hat einen Beitrag auf About Stoicism Today veröffentlicht: »Providence or Atoms? Atoms! A Defence of Being a Modern Stoic Atheist« – zu Deutsch etwa: »Vorsehung oder Atome? Atome! Eine Verteidigung des modernen stoischen Atheismus«). Nimmt man dann noch die Website Daily Stoic und das gleichnamige Buch (auf Deutsch unter dem Titel Der tägliche Stoiker erschienen) von Ryan Holiday und Stephen Hanselman mit weisen Ratschlägen für jeden einzelnen Tag eines Jahres hinzu, dann scheint es, als sei der Stoizismus allgegenwärtig.

Der französische Philosoph und Gelehrte Pierre Hadot (1922–2010) vertrat die Ansicht, dass diese Philosophie, wie wir sie von der Antike übernommen haben, immer noch eine praktikable, ja sogar unverzichtbare Art zu leben ist. Obwohl er argumentierte (durchaus strittig und aus einer weitgehend existenzialistischen Perspektive heraus), dass praktisch alle antiken griechischen Schulen die Philosophie in etwa im gleichen Sinne als Lebensart betrachteten, machte Hadot den Stoizismus zur Grundlage seiner Argumentation und führte Mark Aurel als bestes Beispiel für diesen Aspekt der Schule an, dicht gefolgt von dem ehemaligen griechischen Sklaven Epiktet, der eine wichtige philosophische Inspiration für Mark Aurel gewesen war. (In einer ganz anderen intellektuellen Tradition vertritt John Cooper in seinem 2012 erschienenen Buch Pursuits of Wisdom einen weitgehend ähnlichen Standpunkt.) Mark Aurel und Epiktet (siehe unten), Römer und Grieche, Kaiser und Sklave: Könnte es eine bessere Symbolik für die universelle Anziehungskraft der Philosophie als Wegweiser fürs Leben geben – und zwar nicht nur für irgendein Leben, sondern für die bestmögliche Art zu leben?

Epiktet und Mark Aurel

Epiktet wurde um 50 n. Chr. in Hierapolis in Phrygien (Kleinasien) geboren und in jungen Jahren als Sklave nach Rom geschickt. Sein Herr war ein griechischer Freigelassener, Epaphroditos, der am Hof von Kaiser Nero diente. Epiktet studierte Philosophie bei Musonius Rufus, wurde schließlich freigelassen und dann zusammen mit anderen Philosophen von Domitian aus Rom vertrieben. Er gründete eine Schule in Nikopolis im Nordwesten Griechenlands, wo er bis zu seinem Tod Anfang des 2. Jahrhunderts n. Chr. lehrte. Er hielt Vorträge über fachwissenschaftliche Themen des Stoizismus, gab aber auch öffentlich zugängliche Lehrveranstaltungen, welche die Grundlage für die von seinem Schüler Arrian überlieferten Unterredungen bilden.

Mark Aurel wurde 121 n. Chr. in eine politisch bedeutende Adelsfamilie hineingeboren und genoss eine herausragende Ausbildung in Rhetorik, Philosophie und Politik. Er hätte sein Leben lieber der Philosophie gewidmet, doch Kaiser Antoninus Pius adoptierte ihn und erkor ihn zu seinem Nachfolger. Nach einer langen Lehrzeit als künftiger Herrscher wurde er 161 n. Chr. Kaiser und regierte das Reich unter schwierigen Umständen bis zu seinem Tod (während eines Feldzuges) im Jahr 180 n. Chr. gut. Während seiner Herrschaft gründete er philosophische Schulen in Athen. Sein philosophisches Tagebuch Selbstbetrachtungen blieb zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht und erlangte erst Einfluss, als es im 10. Jahrhundert »wiederentdeckt« wurde.

So populär Mark Aurel in den letzten Jahrhunderten auch war, die Karriere von Epiktet als Ikone dieser Sichtweise auf die Philosophie begann sogar noch früher. Seine »Lehrgespräche«, die von einem seiner Schüler aufgeschrieben und veröffentlicht wurden (auf Deutsch als Unterredungen herausgegeben), inspirierten nach seinem Tod ein ganzes Jahrhundert lang populäre philosophische Dozenten. Wahrscheinlich hat Mark Aurel sie dadurch entdeckt. Im ersten Teil seines Tagebuches (einer Einleitung, in der er voller Dankbarkeit schildert, was er durch die vielen Einflüsse diverser Menschen in seinem Leben gelernt hat) schreibt Mark Aurel, dass er durch seinen Freund und Mentor Quintus Junius Rusticus das Gedankengut von Epiktet kennenlernte (Selbstbetrachtungen 1.7). Ein bedeutender Platoniker der Spätantike, Simplikios von Kilikien, war der Meinung, dass das kompakte Handbüchlein der Moral mit Auszügen von Epiktets Lehren so wichtig sei, dass es einen umfangreichen Kommentar verdiene. Die Christen des Mittelalters passten sein Werk ihren eigenen konfessionellen Zielen an, und in der Renaissance kam es zu einer wahren Explosion von Übersetzungen und Adaptionen. Im 20. Jahrhundert inspirierte sein Werk den Schriftsteller Tom Wolfe (Ein ganzer Kerl, die US-amerikanische Originalausgabe mit dem Titel A Man in Full wurde 1998 veröffentlicht) und brachte den US-amerikanischen Kampfpiloten James Stockdale dazu, über den praktischen Wert des Stoizismus als Leitfaden fürs Leben in der Moderne nachzudenken (in einem Essay in The Atlantic, 1978). Manche Formen der Psychotherapie nehmen für sich eine gewisse Nähe zur Philosophie des Epiktet in Anspruch, von der Logotherapie Viktor Frankls bis zur rational-emotiven Therapie von Albert Ellis.

Kehren wir für einen Moment zu Mark Aurel zurück, um einen Eindruck von der Denkweise zu bekommen, die er empfiehlt. Zur Erinnerung: Er sieht den Grund für das ganze nervige asoziale Verhalten der Menschen darin, dass sie nicht zwischen Gut und Böse unterscheiden können. Er fährt fort:

Ich jedoch habe erkannt, dass das Gute seinem Wesen nach ehrenwert ist und dass das Böse seinem Wesen nach schändlich ist, und dass das Wesen eines Menschen, der Unrecht tut, mit meinem verwandt ist. Er mag zwar nicht von gleichem Blut und gleicher Abstammung sein, aber er hat ebenso wie ich Anteil an der Vernunft und trägt in sich einen Funken des Göttlichen. Keiner dieser Menschen kann mir Schaden zufügen, denn niemand kann mich zu etwas Schändlichem verführen. Und ich kann nicht auf jemanden, der mir verwandt ist, wütend sein oder ihn hassen. Denn wir sind dazu geboren, uns gegenseitig zu unterstützen, wie die Hände, die Füße, die Augenlider und der obere und untere Kiefer. Feindseligkeit ist also wider die Natur. Und Unmut und Ablehnung sind gleichbedeutend mit Feindseligkeit.

(Mark Aurel,Selbstbetrachtungen2.1)

Offensichtlich ist Mark Aurel der Meinung, dass wir die Herausforderungen, die zum Beispiel von unsozialen Tyrannen herrühren, am besten meistern können, wenn wir uns einige grundlegende Fakten vor Augen halten.

Erstens: Das Problem dieser Leute besteht darin, dass sie nicht wissen, was richtig und was falsch ist. Wie Sokrates einmal sagte, tut niemand freiwillig Unrecht, und vermutlich sollte man solche Menschen eher belehren, als wütend oder rachsüchtig zu reagieren. Sokrates nahm sich seinen eigenen Rat zu Herzen: Bei seinem Prozess (Apologie des Sokrates 26a) schlug er vor, dass sein Ankläger ihn lehren solle, was richtig sei, anstatt ihn für seine angeblichen Fehler anzuklagen, aber davon ließen sich die Geschworenen nicht überzeugen.

Zweitens: Mark Aurel selbst weiß, was gut und was böse ist. Mit »ehrenwert« habe ich das griechische Wort kalon übersetzt (ja, der römische Kaiser schrieb in seinem Notizbuch auf Griechisch), das oft mit »schön«, »gut« oder »edel« wiedergegeben wird. Dessen Gegenteil ist das »Schändliche« (aischron), etwas Hässliches, sei es körperlich oder moralisch. Mark Aurel will damit sagen, dass niemand, ganz egal, was er tut, uns so etwas aufzwingen kann. Auch dies ist ein sokratischer Gedanke – seit über 500 Jahren stützen sich die Philosophen auf die Argumente von Sokrates, um zu dieser Schlussfolgerung zu gelangen. Mark Aurel glaubt, dass allein das Wissen darüber, was wahrhaft gut und was wahrhaft übel ist, ihm zu der nötigen Sichtweise verhilft, seine Mitmenschen tolerieren zu können.

Drittens kommt die Überlegung ins Spiel, dass es sich bei diesen Mitmenschen durchaus um Verwandte handelt; zwar nicht um Familienmitglieder im wörtlichen Sinne, mit denen man blutsverwandt ist und deren Gene man teilt, sondern als Teil einer Familie, die sich dadurch definiert, dass all ihre Mitglieder zur Vernunft – die ein göttliches Geschenk ist – fähig sind. Diese Dummköpfe, denen ich über den Weg laufe, mögen zwar abstoßend sein, aber sie gehören nun mal zur Familie. Doch warum spielt das überhaupt eine Rolle? Das wird deutlich, wenn Mark Aurel schließlich einen wesentlichen Zug der menschlichen Natur anführt: Wir sind für die Zusammenarbeit innerhalb der Familie der vernunftbegabten Wesen geschaffen. So wie unsere linke und rechte Hand dafür geschaffen sind zusammenzuarbeiten, so wie unsere obere und untere Zahnreihe für einen gemeinsamen Zweck bestimmt sind, so wohnt jedem von uns eine Natur zur Zusammenarbeit mit unseren Verwandten in der Familie der vernunftbegabten Wesen inne. Wenn unsere Hände nicht zusammenwirken, erfüllen sie nicht ihren natürlichen Zweck; das gilt auch für die oberen und unteren Zähne. Und wenn diese Analogie zutrifft, dann sind wir ebenso wenig im Einklang mit unserer eigenen Natur, wenn wir uns gegen unsere Familienmitglieder wenden. Wenn sich Mark Aurel also über diese unterwürfigen Speichellecker und Rüpel ärgern oder von ihnen abwenden würde, dann würde er damit einem Teil seiner eigenen rationalen Natur zuwiderhandeln.

Diese Art des Denkens bezeichnete Pierre Hadot als »spirituelle Übung«. Den Begriff hatte er einer später aufgekommenen und offenkundig religiösen Tradition entlehnt. So beruft er sich in Philosophy as a Way of Life (S. 82, 126) ausdrücklich auf Ignatius von Loyola und vergleicht zudem alte philosophische Praktiken mit bestimmten klösterlichen Übungen. Man kann das durchaus so sehen. So wäre es vorstellbar, dass Mark Aurel eine philosophische Andacht hält und rezitiert:

Heute werde ich lästige Dummköpfe treffen.

Aber sie wissen nicht, was sie tun, ich jedoch schon.

Sie sind mit mir verwandt, denn sie haben ebenso wie ich Anteil an der Vernunft.

Wer sich darin gleicht, vernunftbegabt zu sein, ist dazu geschaffen, zusammenzuarbeiten.

Es liegt also in meiner Natur, mit ihnen zusammenzuarbeiten, anstatt sie wütend abzuweisen.

Das würde ihn zweifellos für das Unvermeidliche wappnen und die Frustrationen im Umgang mit gierigen und neidischen Höflingen erträglicher gestalten. Alternativ wäre vorstellbar, dass er die morgendliche Rezitationsroutine überspringt, aber seinen Gedankengang immer parat hat, um ihn sofort einzusetzen, sobald ein aufdringlicher Mensch erscheint. Diesen Rat gibt jedenfalls ein anderer Stoiker, der zudem politisch aktiv war: Neros Berater Seneca schreibt einem zeitgenössischen kynischen Philosophen zu, diesen Standpunkt vertreten zu haben (De Beneficiis 7.1.3–7.2.1).

Wenn Mark Aurel sich solche und ähnliche Überlegungen zur Gewohnheit macht, wird er sich damit auf jeden Fall eine Lebensweise aneignen, die ihn vor negativen Emotionen schützt. Und genau hier haben wir dann den Stoizismus in Aktion. Eine weitere Übung dieser Art finden Sie am Ende des ersten Kapitels von Epiktets Handbüchlein der Moral.

Untersuche einen jeden Eindruck und prüfe ihn nach den Regeln, die du hast: Frage dich zuallererst, ob es sich um Dinge handelt, die in unserer Macht liegen, oder um solche, die nicht in unserer Macht liegen; und wenn es sich um Dinge handelt, die nicht in unserer Macht liegen, halte diesen Gedanken bereit: »Es geht mich nichts an.«

1965 wurde der heldenhafte amerikanische Jagdflieger James Stockdale über Nordvietnam abgeschossen und bis 1973 unter grausamen Bedingungen gefangen gehalten. Während seiner Studienzeit an der Stanford University hatte er Epiktets Handbüchlein der Moral kennengelernt (für ihn ist es ein »Buch der militärischen Ethik«) und schrieb später darüber, wie er seine Erinnerung daran auf die Situation anwendete, in der er sich befand, als er »das Land der Technologie hinter sich ließ« und »die Welt des Epiktet betrat«.

Stockdale erwähnt keine täglichen Rezitationen oder »Übungen«, aber er gibt an, sein Martyrium nur deshalb psychologisch verkraftet zu haben, weil er sich an die wichtigsten Lektionen aus dem Buch erinnerte.

In Palo Alto hatte ich dieses Buch nicht mit Behagen, sondern mit Verdruss gelesen. Eine Aussage nach der anderen: »Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern ihre Meinungen über diese Dinge«, »Kümmere dich nicht um Dinge, die außerhalb deiner Macht liegen«, »Verlange nicht, dass die Dinge so geschehen, wie du es wünschst, sondern wünsche dir vielmehr, dass sie so geschehen, wie sie geschehen, und es wird dir gut gehen«. Das ist Stoizismus. Es ist kein Allheilmittel, aber es ist eine Sichtweise, die in vielen Situationen nützlich ist, und mir hat sie auf jeden Fall geholfen. Besonders diese Zeile: »Lahmheit ist ein Hindernis des Körpers, nicht des Willens.« Das war für mich besonders bedeutsam, weil ich in den ersten Jahren der Einzelhaft nicht in der Lage war, aufzustehen und mein mehrfach gebrochenes Bein zu belasten.

Stockdale bezieht sich damit darauf, dass Epiktet selbst ein lahmes Bein hatte, angeblich aufgrund der Misshandlung durch seinen Herrn. Als Stockdale sich versucht sah, mit denen, die ihn gefangen hielten, zu kollaborieren, um im Gegenzug eine bessere Behandlung zu erhalten, erinnerte er sich:

Der alte Stoiker hatte gesagt: »Wenn ich Dinge, die ich brauche, ohne Verletzung meiner Ehre, meiner Treue und meiner edlen Gesinnung erwerben kann, so zeigt mir den Weg und ich will sie erwerben. Aber wenn ihr von mir verlangt, dass ich mein eigenes wahres Gut verliere, damit ihr etwas erlangt, das nicht gut ist, dann erkennet, wie unvernünftig und töricht ihr seid.« Unsere Mitgefangenen zu lieben lag in unserer Macht. Verrat zu begehen, Propaganda zu verbreiten, die pflichtbewussten und patriotischen Schiffskameraden zu desillusionieren und ihre Moral zu zerstören, sodass sie ihrerseits zerstört werden würden, hätte bedeutet, das eigene wahre Gut zu verlieren.

Stockdale, der Kampfpilot, sah sich selbst als einen Mann des Krieges. »Ich bin Kampfpilot. Ich bin sehr erfahren. Ich bin Testpilot. Ich weiß, wie man Leute dazu bringt, fachkundige Arbeit zu leisten. Ich spiele Golf; ich trinke Martinis. Ich weiß, wie ich in meinem Beruf vorankomme.« Ein Mann, der sich wohl kaum deutlicher vom französischen Intellektuellen Pierre Hadot unterscheiden könnte, einem ehemaligen Priester und Existenzialisten, der im Umfeld von Michel Foucault am Collège de France lehrte. Stockdale betrachtet seinen Stoizismus nicht als eine Reihe von spirituellen Übungen. Er schreibt freimütig, dass er sich damals an etwas erinnerte, das er in einem Buch gelesen hatte, das ihm im College gegeben worden war, und dass er es in der Praxis für nützlich hielt. Er war dankbar dafür, dazu gedrängt worden zu sein, es zu lesen, und dankbar für die Hilfsmittel, die er dem, was er daraus in Erinnerung hatte, entnehmen konnte – Überlegungen und Ansichten, die es ihm ermöglichten, auch unter jahrelanger Folter und Isolation seine geistige Gesundheit und seine Integrität zu bewahren. Keine spirituellen Mantras, sondern eine ehrliche Einschätzung dessen, was auf psychologischer Ebene funktioniert.

Epiktet, der griechische Sklave und Philosophielehrer, und Mark Aurel, der römische Kaiser und Feldherr, waren ebenso unterschiedlich wie Hadot und Stockdale. Es ist vielleicht ein merkwürdiger Zufall, dass sich der französische Intellektuelle am intensivsten mit dem römischen Feldherrn beschäftigte, während sich der amerikanische Kampfpilot der Worte des bescheidenen griechischen Philosophen bediente. Deutlicher kann die breite Anziehungskraft des Stoizismus kaum illustriert werden. Es gibt jedoch eine sehr wichtige Gemeinsamkeit zwischen Hadot und Stockdale. Beide wenden den Stoizismus, so wie sie ihn verstehen, auf das Leben an; es geht darum, auf bestimmte Lehren zurückzugreifen, um es zu bewältigen, und nicht um eine ergebnisoffene Untersuchung der Funktionsweise der Welt. Hadot drückt hier und da sehr direkt seine Überzeugung aus, dass die zugrunde liegenden Theorien für die Philosophie als Lebensart nicht wichtig sind. Er behauptet, dass die spirituellen Übungen zuerst ins Leben gerufen und die Lehren erst später ausgearbeitet werden sollten, um diese zu untermauern (Philosophy as a Way of Life, S. 282). Stockdale erwähnt nicht einmal die zugrunde liegenden Lehren in Physik, Logik und Ethik – er hätte im Handbüchlein der Moral auch gar keine gefunden, und so, wie er es in Erinnerung hatte, erfüllte es seinen Zweck ausgesprochen gut.

Den Stoizismus als praktisches psychologisches Hilfsmittel anzusehen ist wahrscheinlich die gängigste Sichtweise auf diese philosophische Schule in unserer heutigen Gesellschaft. Es gibt jedoch noch eine andere Auffassung des Stoizismus, der wir uns ebenfalls widmen sollten, nämlich eine, die ein stärkeres Gewicht auf seine historischen Ursprünge und die zugrunde liegende theoretische Arbeit legt, die zur Entwicklung der stoischen Philosophie in der Antike führte und Gründe für die Übernahme ihrer Ansichten im Gegensatz zu denen anderer therapeutischer Philosophien lieferte. Es besteht eine auffallende Kluft zwischen dem heutigen Verständnis des Stoizismus als therapeutisches psychologisches Bestreben oder zumindest als praktische philosophische Strategie und dem, was einem begegnet, wenn man sich in die zeitgenössische akademische Literatur über diese antike Schule vertieft. Die moderne Forschung über die Schule befasst sich hauptsächlich mit ihrer Geschichte, insbesondere der frühen (sowohl Epiktet als auch Mark Aurel schrieben ihre Werke in der letzten Phase der langen Entwicklung der Schule; Mark Aurel fast 500 Jahre nach ihrer Gründung), ihrer Interaktion und Auseinandersetzung mit anderen philosophischen Schulen und mit der detaillierten Rekonstruktion ihrer Lehren und philosophischen Methoden. Es überrascht nicht, dass sich professionelle akademische Schriften zu einem Thema von Werken unterscheiden, die für eine breitere Leserschaft gedacht sind, aber im Fall des Stoizismus ist die Kluft ein ganzes Stück größer, als man es normalerweise erwarten würde.

Einer der Gründe für diese Kluft steckt schon in dem Wort »Rekonstruktion«, das ich gerade verwendet habe. Um ein Gefühl dafür zu bekommen, worum es hier geht, müssen wir uns zunächst mit einigen historischen Details und unumstößlichen Tatsachen, die unser Wissen über manche antike philosophische Bewegungen betreffen, beschäftigen. Sehen wir uns zuerst den zeitlichen Ablauf an. Wie die Abbildung auf Seite 24