Stress – Erschöpfung – Burn-out -  - E-Book

Stress – Erschöpfung – Burn-out E-Book

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Beschreibung

Stress erlebt heutzutage wohl jeder von uns, Erschöpfung mancher und Burn-Out zum Glück nur wenige. Aber die Tendenz dazu, insbesondere in pädagogischen Berufen, ist stetig steigend. Woran liegt das? Woran liegt es, dass uns unsere eigentlich geliebte pädagogische Tätigkeit stresst, erschöpft und uns sogar in einen Burn-out geraten lässt? Welches sind die Faktoren, die zu diesen Zuständen führen? Und lassen diese sich, wenn ja wie, beeinflussen? Können wir Stress, der üblicherweise den Einstieg in eine Abwärtsspirale darstellt, überhaupt vermeiden? Oder müssen wir nicht vielmehr lernen, mit Stress anders umzugehen? Diesen Fragen geht das vorliegende Buch, in dem Vorträge und Seminarinhalte des Stuttgarter Bildungskongresses 2018 zusammen gefasst sind, nach. Es wird Ihnen hoffentlich dabei helfen, mit den besagten Problemen besser fertig zu werden. Inhaltsverzeichnis : Andreas Neider: «… und haben nicht acht ihrer selbst». Michaela Glöckler: Die Ursachen der Erschöpfung verstehen und selbst behandeln Johannes Greiner: Was hält, wenn sich der Abgrund öffnet? Ursula Grünewald: Bin ich, wer ich sein könnte? Renate Hölzer-Hasselberg: Burn-out: Mit der Krise wachsen Rudi Ballreich: Das erschöpfte Ich – Wege aus Stress und Burn-out

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Herausgegeben von Andreas Neider

Mit Beiträgen von Rudi Ballreich, Michaela Glöckler, Johannes Greiner, Ursula Grünewald, Renate Hölzer-Hasselberg und Andreas Neider

Inhalt

ANDREAS NEIDER:

«… und haben nicht acht ihrer selbst»

MICHAELA GLÖCKLER:

Die Ursachen der Erschöpfung verstehen und selbst behandeln

JOHANNES GREINER:

Was hält, wenn sich der Abgrund öffnet?

URSULA GRÜNEWALD:

Bin ich, wer ich sein könnte?

RENATE HÖLZER-HASSELBERG:

Burn-out: Mit der Krise wachsen

RUDI BALLREICH:

Das erschöpfte Ich – Wege aus Stress und Burn-out

Über die Autoren

ANDREAS NEIDER

«… und haben nicht acht ihrer selbst»

Wie können wir lernen, mit Stress, Erschöpfung und Burnout besser umzugehen?

Die in diesem Buch, in dem Vorträge und Seminarinhalte des Stuttgarter Bildungskongresses im Januar 2018 wiedergegeben werden, beschriebenen Phänomene von Stress, Erschöpfung und Burn-out gehören leider immer häufiger zum Alltag pädagogisch tätiger Menschen. Warum ist dies so? Warum treffen diese Zustände besonders Menschen, die sich sozial engagieren, sich dem anderen Menschen, insbesondere dem Heranwachsenden zuwenden? Warum ist gerade der idealistisch strebende Mensch von diesen die ganze Existenz in Frage stellenden Krisen immer häufiger betroffen?

«Und es gehen die Menschen, zu bestaunen die Gipfel der Berge und die ungeheuren Fluten des Meeres und die weit dahinfließenden Ströme und den Saum des Ozeans und die Kreisbahnen der Gestirne, und haben nicht acht ihrer selbst.»1

Als dem bekannten italienischen Dichter der frühen Neuzeit, Francesco Petrarca, bei seiner Besteigung des Mont Ventoux und der Lektüre des Augustinus auf dem Gipfel ausgerechnet dieser Satz aus den «Confessiones» entgegen schlägt, ist Petrarca tief betroffen, weil er feststellen muss, dass es auch ihm im bisherigen Leben so ergangen ist: so sehr mit äußeren Dingen beschäftigt und abgelenkt, dass er seiner selbst eben nicht geachtet hat.

Achtsamkeit ist also mitnichten eine Erfindung des Buddhismus, sie wurde auch in der europäischen Tradition gesucht und gepflegt, wenn auch auf heute eher weniger bekannten Wegen. Fakt aber ist, dass den Phänomenen von Stress, Erschöpfung und Burn-out eben diese von Petrarca bei Augustin entdeckte Weisheit zugrunde liegt: Achte auf dich selbst, sonst gehst Du im Äußeren des Lebens unter.

Warum aber achten die Menschen so wenig auf sich selbst? Weil es unbequem ist! Weil wir uns, wenn wir auf uns selbst achten, mit uns selbst natürlich auch konfrontiert werden, mit Eigenschaften, Gewohnheiten, Mechanismen, die wir uns, wann auch immer, eben nun einmal angeeignet haben. Was aber würde es bedeuten, diese uns anerzogenen, habituell gewordenen Gewohnheiten zu ändern?

Oft ist es eben erst der Burn-out, wenn also Nichts mehr geht, der uns dazu zwingt, dass wir uns mit diesen Schattenseiten auseinandersetzen, dass wir uns selbst gegenüber achtsamer, das heißt aber auch, unserer eigenen Schwächen bewusster werden können.

Denn an den äußeren Bedingungen, die heutzutage nun einmal stressig oder belastend sein können, werden wir nicht immer etwas ändern können, dafür aber umso mehr an uns selbst, an unserer Art, auf diese Bedingungen zu reagieren. Wir können durch Achtsamkeit mit uns selbst lernen, die Dinge in einem anderen Licht zu sehen, wenn wir beginnen, auch uns selbst in einem anderen, das heißt wahren Licht zu sehen. Wie dies geschehen kann, wollen die fünf nachfolgenden Beiträge in verschiedenen Schritten aufzeigen.

Michaela Glöckler weist in ihrem Beitrag auf das bei Paulus formulierte «hohe Lied der Liebe» hin und deutet dieses in salutogenetischem Sinne. Das will heißen, dass es uns häufig einfach an der notwendigen Liebefähigkeit mangelt, ohne die Stress eben kaum zu bewältigen ist. Wie diese aber zu entwickeln ist, das will uns ihr Beitrag vor Augen führen.

Johannes Greiner weist mit seinem Beitrag auf die oben schon genannten Abgründe hin, an die wir durch einen Burn-out geraten können und zeigt dann auf, welche helfenden, mitunter wunderbaren Mächte es gibt, um diesen Abgrund zu überschreiten.

Ursula Grünewald zeigt anhand der gewaltfreien Kommunikation auf, welche Mechanismen es sind, die uns in den Abgrund manövrieren lassen, wenn wir sie nicht in bewusster Weise durchschauen und beherrschen lernen.

Renate Hölzer-Hasselberg schließt mit ihrem Beitrag daran an und macht besonders darauf aufmerksam, welche äußeren Falktoren es sind, die uns in Stress, Erschöpfung oder Burn-out hinein geraten lassen. Denn auch an diesen äußeren Faktoren können wir gezielt und achtsam arbeiten.

Rudi Ballreich beschreibt abschließend, welche inneren und äußeren Mechanismen es sind, die uns in die Erschöpfung und in den Burn-out hineintreiben, und wie es gelingen kann, sich dieser bewusst zu werden.

Pädagogisch tätig zu sein, sich für den werdenden Menschen zu engagieren, ganz für die Kinder da sein zu können, bedeutet also, dass wir zugleich auch bei uns selbst sein können, denn nicht umsonst heißt es im Matthäusevangelium (Mt. 22,39): «Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst».

In diesem Sinne möchte der vorliegende Dokumentarband des Stuttgarter Bildungskongresses 2018 Ihnen helfen und den Rücken stärken, um mit Stress, Erschöpfung und Burn-out besser umgehen und diese zu unserem Alltag gewordenen Phänomene besser bewältigen zu können.

1 Francesco Petrarca, Die Besteigung des Mont Ventoux, Frankfurt a. M. 2009, S. 192.

MICHAELA GLÖCKLER

Die Ursachen der Erschöpfung verstehen und selbst behandeln

«Die Ursachen der Erschöpfung verstehen und selbst behandeln» mag als Titel anmaßend klingen – zumindest für Ärzte und Therapeuten, die wissen, wie schwierig Diagnose und erfolgreiche Therapie auf diesem Feld sind. Zudem kennen wir das Sprichwort: «Wer sich selbst behandelt, hat einen Narren zum Arzt.» Ich will Ihnen jetzt nicht zumuten, dass Sie zu Narren werden und sich selbst behandeln. Ich bin jedoch der Ansicht, dass es bei dieser Regel Ausnahmen gibt. Zu den Krankheiten, die der Selbstbehandlung zugänglich sind, gehört die Erschöpfung und bis zu einem gewissen Grade auch das echte Burn-out-Erschöpfungssyndrom. Denn bei diesem Krankheitsbild weiß der Betroffene in der Regel am allerbesten, warum er oder sie in diese Situation gekommen ist. Da, wo man am meisten weiß, am meisten davon versteht, kann man sich auch am besten behandeln.

Ich darf hier eines meiner Lieblingszitate von Rudolf Steiner dazu stellen: als junger Student hat er einmal einen Fragebogen ausgefüllt mit vielen Fragen zur persönlichen Lebenseinstellung und Führung. Da war auch eine Frage: «Welchen Fehler würdest du am ehesten verzeihen?» seine Antwort war: «Jeden, wenn ich ihn begriffen habe.» Das war für mich ein entscheidender Augenöffner! Man kann alles verzeihen, was man versteht.

Zum Gesundwerden gehört vor allem, dass man sich verzeiht, dass man krank geworden ist. Das heißt, man muss verstehen: Wie kam ich in diese Situation? Und: will ich da heraus? Will ich wirklich wieder gesund werden? Wie lange hat es wohl gedauert, bis ich dekompensiert geworden bin? So wird es sich auch länger dauern, bis ich wieder gesund bin. In der Regel braucht es mindestens ein Drittel der Zeit die der Krankheitsprozess gedauert hat. Bei einem echten Burn-out zieht sich der Gesundungsprozess oft über ein Jahr hin. Manchmal auch länger. Der Unterschied zwischen Erschöpfung und Burn-out ist die Therapiedauer. Eine normale Erschöpfung kann man mit ein bis drei Monaten Erholung kompensieren. Man kann ihr auch vorbeugen. Erschöpften Lehrern empfehle ich z.B. dass, bevor sie wirklich in die behandlungsbedürftige Erschöpfung herein geraten, sie vorher mit dem Kollegium sprechen und um eine Auszeit bitten. Es ist viel gesünder, vorbeugend krank zu sein, als richtig krank zu werden. Denn der Riesenvorteil, wenn man vorbeugend, prophylaktisch krank wird, sich bewusst krank meldet, ist, dass man dann mit der freien Zeit etwas anfangen kann, weil man eben noch nicht richtig krank ist. Wenn man wartet, bis man richtig krank ist, ist man nicht mehr leistungsfähig.

Ich kenne manchen Fall aus meiner Zeit als Schulärztin, wo die betreffenden Kollegen, bis zur definitiven Erschöpfung gearbeitet haben und dann oft zu früh wieder kamen, um nicht zu lange vertreten werden zu müssen. Beides ist problematisch. Die Erholungszeit kann nicht für die Unterrichtsvorbereitung genutzt werden, und man ist in der Gefahr, rückfällig zu werden und längere Zeit weniger belastbar zu sein.

Ich habe einmal einen erschöpften Waldorflehrer vertreten mit der Epoche Gesundheitslehre in der 7. Klasse. Als dann die Epoche vorbei war (ich habe ihn vier Wochen lang vertreten), kam er wieder, war jedoch noch nicht wirklich wieder gesund; man hätte ihm eigentlich noch einen zweiten Monat geben müssen. Wir tun das nicht, weil wir das einfach noch nicht richtig verstehen. Man denkt leicht: Wer ist denn nicht erschöpft?! Wieso darf der oder die jetzt schon einmal prophylaktisch in Urlaub?! Da kommt einem schnell der Neid in die Quere, weswegen man das irgendwie nicht möchte. Daher traut man sich das auch nicht so recht, dies anzusprechen oder einzuführen. Es wäre aber vernünftig, denn dann könnte man in Ruhe in der Auszeit die nächste Unterrichts-Epoche vorbereiten, mal richtig ausschlafen und für Erholung sorgen. Zudem käme man dann früher wieder zurück.

Es kommt also zunächst einmal darauf an, dass man versteht, wodurch Erschöpfung zustande kommt, dann kann man sie sich selbst (und anderen) verzeihen. Dann aber kann man sie auch selbst behandeln und sich vornehmen, dass es nicht wieder soweit kommt. Das Schöne ist: Es gibt Bedingungen, wenn man die einhält, dann passiert das nicht mehr. Alles, was man lernen möchte, hat Bedingungen. Wenn man die einigermaßen respektiert, berücksichtigt, dann entwickelt sich die gewünschte Fähigkeit, und das ist dann zum Beispiel die, dass man sich nicht mehr erschöpft, weil man die Bedingungen kennt, wie man sich in einem gewissen Kräftegleichgewicht selber halten kann. Es ist ja klar, dass das ohne eine gewisse Selbstschulung nicht geht.

Verstehen ist aber nicht nur, dass man etwas durchdenkt, denn wir wissen Vieles, und wir verstehen es auch sogar, aber wir können trotzdem noch nicht die adäquaten Konsequenzen ziehen; es fehlt noch die dafür nötige Wärme, die nötige Motivation. Wenn zum Verstehen nicht das Gefühl hinzutritt, das Verstandene auch zu schätzen, so dass man es realisiert sehen möchte, dann bewirkt auch das beste Verstehen nichts. Wir wissen auch alle: Wenn man etwas Schwieriges verstehen will, dann scheut man sich auch, mit dem Gefühl wirklich hineinzugehen, weil es weh tut, nicht zu verstehen. Man muss sich überwinden, auch das Gefühlt, sich über die eigene Unfähigkeit zu ärgern.

Deswegen ist das normale intellektuelle Verstehen oft ein Scheinverständnis und nicht das Verstehen, das zu einem wirklich – wie wir dann sagen – vertieften Verständnis führt. Aaron Antonovsky, der Begründer der Salutogenese, hat das wunderbar herausgearbeitet. Er musste ja an der Universität Be‘er Scheva den Gesundheitszustand älterer Frauen in Israel untersuchen und hat dabei zu seiner großen Überraschung bemerkt, dass unter den gesündesten Frauen in dieser Altersgruppe auch eine Anzahl von Überlebenden des Holocaust waren. Das hat ihn sehr überrascht, weil er dachte, die Holocaust-Opfer, die diese Hölle überlebt haben, müssten körperlich oder zumindest seelisch nachhaltig geschädigt sein. Es war aber umgekehrt. Einige unter Ihnen zeigten nicht nur keine Krankheitssymptome oder Beeinträchtigungen. Vielmehr waren sie gesünder als die, die nicht in dieser Hölle gewesen waren. Das fiel ihm sehr schwer zu begreifen. Das wollte er als Medizinsoziologe verstehen. So interviewte er seine Probandinnen mit vielen Fragen, auch zur persönlichen Lebensführung. Er wollte herausfinden, wieso diese Menschen so gesund sind, obwohl sie die Hölle überlebt haben. Die Antworten, die er bekam brachten ihm die Lösung: er konnte drei Kernmotive herausdestillieren und gab ihnen den Namen «Sense of coherance», auf Deutsch mit Kohärenz-Gefühl wiedergegeben. Denn allen drei war gemeinsam, dass es dabei um das Gefühl ging. Das war dann auch das zentrale Ergebnis, dass das Gefühlsleben die entscheidende Rolle beim Übergang von Krankheit in Gesundheit und von Gesundheit in Krankheit spielt.

Solange man sich gesund fühlt, fühlt man sich eben nicht krank, selbst wenn man krank ist. Dann kann man irgendwie überspielen, man kann kompensieren, ja, man weiß, da habe ich ein Problem, aber man fühlt sich trotzdem gut und in Grenzen lebens- und arbeitsfähig. Wer sich hingegen krank fühlt, kann dennoch erstaunlich gesund sein und ist trotzdem einfach krank.

Damit bestätigte Antonovsky eine Bemerkung Rudolf Steiners in seinem Kurs für junge Ärzte, dass sich der Arzt ein feines Wahrnehmungsvermögen aneignen müsse für das Gefühlsleben des Patienten, denn dort kündigt sich die Krankheit am allerfrühesten an. Frühdiagnostik ist Gefühlsevaluation. Wie jemand sich fühlt, kann man auch nonverbal herausfinden an der Art wie die Körperhaltung eines Menschen ist, welche Mimik er zeigt, an der Art, wie jemand spricht oder reagiert. Wir kennen ja alle das Gefühl, wenn man zur Erschöpfung neigt, weil man zu wenig geschlafen hat, sich überbeansprucht hat, dann wird man intolerant, man neigt zu aggressiver Reaktionsbereitschaft, die Empathie lässt nach. Man merkt, es beginnt mit Gereiztheitszuständen im Gefühlsleben.

Darauf kam Antonovsky dann erstmals mit den Mitteln der Wissenschaft. Er nannte die drei gesundenden «Kerngefühle» Kohärenzsinn. Gefühle verbinden uns ja mit der Welt, sie machen uns kohärent, stellen und bringen uns in den Zusammenhang mit uns selbst, mit anderen Menschen, mit der Welt, in der wir leben. Er fand heraus: Es gibt drei Grundgefühle, die den Menschen immer gesünder machen wenn er sie pflegt. An erster Stelle das Gefühl, etwas zu verstehen, durchzublicken. Dann das Gefühl, dass das Verstandene auch Sinn macht, dass man ihm seinen Sinn im Kontext des Lebens geben kann – auch wenn es sich um Furchtbarste, unmenschliche Vorgehensweisen handelt. Und das Dritte, was Antonovsky herausfand war, das Gefühl der Handhabbarkeit. Er nannte diese drei dann «manageability, meaningfullness and understandability». Damit ist aber auch deutlich, wie diese drei sich gegenseitig brauchen, denn zum wirklich vertieften Verstehen gehören Sinnhaftigkeit und das Gefühl, die Sache auch zu können dazu.

Wenn wir Sinn erleben, dann ist Liebe im Spiel, Wärme, Dankbarkeit. Es gibt nichts Schöneres, als etwas zutiefst sinnvoll zu empfinden. Um den Sinn ranken sich die schönsten, edelsten Gefühle. Dann aber wächst auch das tiefere Verständnis. Goethe formuliert es so: « Man lernt nur kennen, was man liebt». Etwas, was ich verstehen will, kann sich mir nur dann ganz offenbaren, wenn ich mit Liebe diesem, was ich da verstehen will, entgegenkomme.

Das kennen wir auch im pädagogischen Zusammenhang, in der Therapie, in der Medizin. Ein Arzt kann durchaus einen Patienten verstehen, durchleuchten, wissen, was «er hat». Wenn er sich dabei jedoch nicht in «objektiver Liebe» mit Empathie, dem Kranken zuwenden kann, so dass dieser sich auch verstanden fühlt, ist das Verständnis des Arztes reduziert. Zu einem wirklichen Verstehen gehört von der anderen Seite auch das Sich-verstanden-Fühlen. Die emotionale, vereinnahmende Konsumliebe hat mit Verständnis wenig zu tun, deswegen kann man aus ihr ja auch schrecklich aufwachen und merken, dass das nicht Liebe war. Die Liebe aber, die mit Verstehen anfängt, ist felsenfest, weil sie eben selbstlos ist; sie gilt dem Anderen, so wie er oder sie ist – nicht weil er oder sie mir gefallen. Wenn man sich schutzlos zeigen kann, ohne Angst zu haben vor Liebesentzug, vor irgendwelchen Wenns und Abers, weil irgendwelche Schwächen herauskommen – dann fängt man an, sich zu verstehen.

In meiner Jugend habe ich einmal eine Trauung erlebt, wo der Pfarrer – ein Priester der Christengemeinschaft – seine Predigt damit begann: «Liebes Brautpaar! Die zur Wahrheit wandern, wandern allein. Warum heiraten Sie?» die Traugemeinde war in Schockstarre, das hatte man überhaupt nicht erwartet! Dann kam eine schöne Predigt, und am Ende entspannte sich die Gemeinde wieder, dann konnte man auch echt zur Hochzeit gratulieren, weil dann gesagt wurde, dass eine dieser Wahrheiten, die man alleine suchen muss auch die ist, den Menschen, den man jetzt geheiratet hat, zu verstehen und der Ehe ihren Sinn zu geben. Das aber ist ein lebenslanger Weg, denn wir Menschen sind ja unerschöpflich, und in jeder Lebenssituation wieder anders.

Unter Belastung sind wir z.B. nicht so nett wie im Urlaub. Das alles zusammen zu bekommen, diese ganze Fülle der Erscheinungsformen, das gehört zum echten Menscheninteresse dazu. Dann macht es auch Sinn, lebenslang zusammen zu bleiben. Dann wächst auch die Liebe, denn sie wächst mit dem Verstehen. Und sie erkältet sich, wenn wir aufhören, uns verstehen zu wollen. Ich sage das deswegen, weil nicht selten zum Burn-out auch gehört, dass eine wichtige Beziehung am Erkalten ist. Es ist wichtig zu verstehen: Was sind die Bedingungen, die es braucht, damit Beziehungen warm bleiben, ja an Intensität noch gewinnen?

Dazu braucht es zum Beispiel immer wieder echtes Gespräch. Allein dafür die Bedingungen zu schaffen, dass das wieder stattfinden kann, hat schon viele Beziehungen wiederbelebt. Z.B. so: Einmal in der Woche sich zu einer festen Stunde zusammensetzen, jeder darf eine Viertelstunde sagen, wie es ihm geht und der andere hört zu, darf ihm nicht ins Wort fallen. Das ist nicht leicht, vor allem wenn er oder sie etwas sagt, was man ganz anders sieht, denn man darf ja auch Probleme vorbringen. «Weißt du, in der letzten Woche hat mich das so gestört, wie du das und das in dieser Situation …, obwohl du doch ganz genau weißt, dass …!» Dann darf der Andere eine weitere Viertelstunde nachfragen, bis er oder sie alles verstanden hat. Dann ist der Andere dran mit dem selben Prozess. Es geht dabei darum, dass man sich sagt, was einem wichtig ist und dass man sich gegenseitig verstehen will. Manchmal geht es anfangs nicht zu zweit, dann muss man jemand dazu holen, einen guten Freund, der zu beiden eine ungestörte Beziehung hat. Verstehen ist also Ausgangspunkt, Voraussetzung für die Selbstbehandlung, weil man im Verständnis nachspürt: Was war es? Man muss nur mit sich selber ehrlich sein. Wahrheit braucht Ehrlichkeit, sonst führt sie nicht zum Verständnis. Dann braucht es dieses Hinzutreten der Liebe, der Sinnhaftigkeit, wo man plötzlich merkt: Ja, das ist schön, dass das so ist! Selbst wenn es ganz schlimm gewesen ist, letztlich können wir so dankbar sein, was wir daraus gemacht haben. Es hat doch Sinn gemacht! Es war gut!

Rudolf Steiner wollte, dass die Kinder jeden Tag aus der Schule kommen mit dem Gefühl: Heute habe ich etwas verstanden, heute habe ich etwas gelernt. Nur dann sei dieser Tag für sie gesundend. Wenn man aus der Schule kommt mit dem Gefühl, heute waren wieder die anderen gut und ich habe nichts gekonnt, das ist kränkend, Tag für Tag. Meiner Erfahrung nach kommen viele Erschöpfungszustände daher, dass man überfordert ist, dass man das, was man tun soll, nicht so greifen kann, dass man es wirklich kompetent genug und mit genügend Ruhe bewerkstelligt. Man hechelt sozusagen hinter der Sache her, man fühlt sich überfordert. Oft kommt die Anspannung, der Stress, von einer Überforderung, die man sich nicht richtig eingesteht.

Wenn man dann aber das mal wirklich merkt, dann kann man anfangen zu überlegen: Wie kann ich mich innerlich so stärken, dass ich zu meiner Überforderung stehe und jetzt einen Plan mache − vielleicht auch mit meinen Kollegen oder mit dem Arbeitgeber −, dass ich ehrlich sage: «Wissen Sie, das ist für mich ziemlich herausfordernd. Ich möchte es aber gerne lernen, mir macht es wirklich Freude. Geben Sie mir noch ein bisschen Zeit. Oder können Sie das nicht noch vorübergehend jemand anderen machen lassen, dass ich mich auf einem etwas niedrigen Leistungsniveau erst mal sicher fühle, bevor ein nächster Schritt möglich ist?» Manch ein Lehrer brennt einfach nur aus, weil er mit einer Klasse nicht zurechtkommt, die ist gerade eine zu viel, und dadurch tritt die Überforderung ein und die Gefahr des Ausbrennens ist gegeben.

Denn in der Überforderung fällt es uns schwer, diese drei Grundgefühle – ich kann es handhaben, es macht Sinn, ich blicke durch – zu haben. Ja, wenn diese Gefühle sich einstellen, ist gerade dies ein Zeichen von Kompetenz: ich bin nicht überfordert, wenn ich verstehe, wenn es Sinn macht und wenn ich es auch kann. Da fühlt man sich sicher, gut, klar. Wenn man aber irgendwie nicht genügend durchblickt oder sich über Intransparenzen im Betrieb ärgert, die man nicht richtig versteht.

Wie oft handeln die Parkplatzgespräche, die uns so viel Zeit und Schlaf rauben gerade nicht davon, dass wir uns etwas Schönes erzählen, dass wir uns über etwas Vernünftiges unterhalten – nein, kostbarste Zeit geht weg, indem man sich wieder und wieder über dieselben Sachen beklagt! Diese Klagelieder, dieses Herunterziehende, die Eltern sind so schwierig, die Kinder sind so schwierig, die Kollegen sind so schwierig, ja, die ganze Waldorfpädagogik ist so schwierig … Und dann soll man sich auch noch mit Anthroposophie beschäftigen − wann soll ich denn das auch noch machen!

Wenn man sich klarmacht, dass es darum eben gar nicht geht, wenn einem alles zu viel wird, oder man in der kostbaren Freizeit überwiegend kritisiert, anstatt aufbaut, ist man eigentlich auf dem Weg in eine Erschöpfung. Manche halten das ziemlich gut aus, dieses Kritisieren, aber sie sind zu wirklich produktiver, schöpferischer Arbeit nicht mehr in der Lage.

Deswegen sind auch die Schulungskurse, die in der Burn-out-Therapie angeboten werden, heute zumeist meditationsbasiert. Fundament ist der Weg zum positiven Denken, wahrheitsorientiert denken, die eigene Lage verstehen, dann seinem Leben wieder einen Sinn geben, evtl. die Arbeitsstelle wechseln, auch mit einer gewissen Zeit Arbeitslosigkeit zurechtkommen, dankbar sein, dass man diese Atempause hat – sozusagen die Dinge umzuwerten, aus dieser nörgeligen, kritischen, chronisch-klagenden Haltung wieder herauszukommen. Denn: Positive Gefühle stärken das Immunsystem, negative Gefühle schwächen das Immunsystem, sie führen früher oder später in die Erschöpfung. Positive Gefühle sind es dann auch, die einen motivieren, wieder neu zu beginnen.

Gut ist auch, wenn man beim Vorstellungsgespräch ehrlich sagt, dass man erst einmal nur 80 Prozent arbeiten will, um die Leistungsgrenzen realistisch einstellen zu lernen. Denn der, der betroffen ist, der spürt am besten, wo die Grenzen sind; wenn man schon einmal eben eingeknickt ist, dann kann man die Warnsignale plötzlich lesen und wiederholt den Fehler in der Regel nicht. Es ist nicht üblich, dass man zweimal in ein Burn-out geht. Aber was man oft hört, ist, dass Menschen sagen: «Nein, das mache ich jetzt nicht, wissen Sie, ich war mal im Burn-out, ich kenne meine Grenzen.» Da kann man sich eben selbst behandeln, wenn man die Grenzen kennt.