Stumme Medien - Roberto Simanowski - E-Book

Stumme Medien E-Book

Roberto Simanowski

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Beschreibung

Der digitale Wandel der Gesellschaft wird von konzeptlosen Politikern und gewinnorientierten Unternehmern diskussionslos durchgewunken und vorangetrieben. Die gelegentliche Kritik an Fake News, Filterblasen und dem Verlust der Privatsphäre trifft nur die Symptome einer viel grundsätzlicheren Gefahr für das Fortbestehen unserer Demokratie. Auch die Schulen und Universitäten entziehen sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung, wenn sie nur vermitteln, wie man die neuen Medien sicher nutzen und effektiv in der Forschung einsetzen kann, statt auch die kulturstiftende Funktion des Computers zu betrachten. Roberto Simanowski plädiert in seiner Streitschrift für eine neue Medienbildung, die kritisch operiert statt affirmativ. Nicht allein die Anwendungskompetenz muss im Zentrum der Bildung stehen, sondern die Frage, wie die neuen Medien unser Leben und unsere Weltwahrnehmung ändern.

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Roberto Simanowski

Stumme Medien

Vom Verschwinden der Computerin Bildung und Gesellschaft

Inhalt

Einleitung

1. Tatort digitale Medien

2. Das Verschwinden der Computer

3. Überblick

I. Medien und Gesellschaft

1. Das Ende der Experten

2. Disruptive Innovationen

3. Paradoxien der Gegenwart

II. Medien und Schule

1. Medienkompetenz und Halbbildung

2. Bildung 4.0

3. Digitale Immigranten

III. Medien und Universität

1. Digital Humanities

2. Kulturgut Lesen

3. Die Ethik des Machens

Schluss

1. Erziehung zur Mündigkeit

2. Streit der Fakultäten

3. Kritik als Tugend

Anmerkungen

Bibliografie

Einleitung

Willkommen in einer Welt, in der Katzenvideosdie Menschen glücklich machen, während ihre Datengestohlen und Rechner lahmgelegt werden.Willkommen im Internet.

(Das Netzmagazin, B5 aktuell, 2017)

Donald Trump war nur die Probe aufs Exempel gewesen. Wie Zuckerberg kam Trump als Nichtexperte mit starken Sprüchen und vagen Versprechungen ins Amt, tat dies aber noch ganz aus dem Geist des alten Jahrhunderts. Er war bekannt als TV-Entertainer, Zuckerberg hingegen war über die Landesgrenzen hinaus mit Millionen von Menschen verbunden. Während Trump auf Mauern und Konfrontation setzte, warb Zuckerberg mit Links und Freundschaftsanfragen. Während Trump die Medien zum Erzfeind erklärte, entwaffnete Zuckerberg sie durch die Umzingelung mit Meldungen aus dem Privatleben seiner Facebook-Gemeinde.

Die Visualisierung der Kommunikation durch Facebook Live und Facebook 360 gehörte – das wurde vielen erst später bewusst – bereits zu Zuckerbergs Programm, den Menschen als sprachliches und politisches Wesen zu überwinden. Denn anders als Trump, dessen konfrontatives Motto »America first« ohnehin bloß einen Teil der Amerikaner meinte, zielte Zuckerberg nicht nur auf das ganze Land, sondern auf die ganze Welt. Sein Rezept war die Verschiebung der Kommunikation vom rational-sprachlichen Bereich in den emotionalvisuellen und von den politischen Kontroversen zu den Freuden des Alltags. Geheime Experimente auf Facebook hatten gezeigt, dass Menschen glücklicher sind, wenn sie mehr positive als negative Inhalte zu sehen bekommen. Auf diese Weise gelang es Zuckerberg, abseits aller Identitätspolitik – gleich ob politisch, sozial, kulturell oder religiös motiviert – eine globale, affirmative Gemeinschaft zu schaffen.

Flankiert wurde das Programm der Visuellen Empathie (PVE) durch die Verbreitung eines Weltbildes, für das es lediglich Herausforderungen technischer Art gibt. Zuckerberg pries den Fortschritt der Forschung durch Big Data, beschwor die Segnungen der künstlichen Intelligenz, prophezeite die Ausrottung gefährlicher Krankheiten und die Erschließung neuer Ressourcen für ein gutes Leben aller. Er vermittelte wie kein anderer das Gefühl, in der (bisher) besten aller Zeiten zu leben, und verkörperte nach dem ausgebliebenen Change unter Obama und der chauvinistischen Nostalgie-Rhetorik Trumps die Alternative, auf die alle gewartet hatten.

Was den Ausschlag für Zuckerbergs Kandidatur gab, ist umstritten. Manche sagen, es sei ein Besuch in Madrid gewesen, als Zuckerberg im Prado in Diego Velázquez’ Gemälde des jungen Königs von Spanien, Philipp IV. (1605–1665), sich selbst erkannt haben soll. Andere sehen in Trumps Wahlsieg den Auslöser, den Zuckerberg unter dem damals ominösen Titel »Feeling hopeful« kommentiert hatte, weil ihm klar geworden war, wie weit man es in der modernen Gesellschaft auch im Bereich der Politik bringen kann, sobald man die Medien beherrscht.

Die Erklärung selbst kam wenig überraschend. Politische Motive hatte man schon hinter Zuckerbergs beispielloser Philanthropie vermutet, zumal als er frühere Wahlkampfmanager von Barack Obama und George W. Bush ins Boot holte und immer selbstverständlicher auf der politischen Bühne auftrat: 2015 vor der UN, 2016 auf der APEC, 2017 mit seiner PR-Tour durch verschiedene Bundesstaaten der USA und als Harvard-Commencement-Redner. Spätestens nachdem er Ende 2016 vom Atheismus abgerückt und somit mehrheitsfähig geworden war, gab es entsprechende Vermutungen. Niemand war überrascht, als Zuckerberg in Trumps letztem Amtsjahr seine Connect!-Kampagne ausrief, die von Anfang an mehr Likes erhielt als all seine Kontrahenten zusammen. Der Rest ist Geschichte.

Wird man so oder ähnlich irgendwann Mark Zuckerbergs Wahl zum Präsidenten der USA kommentieren? Auch wenn er selbst die Gerüchte um seine Präsidentschaftskandidatur vorerst abwehrt, auszuschließen ist sie keineswegs. Unsere Zeit ist voller Überraschungen; warum sollte jemand wie Zuckerberg nicht Präsident der USA werden können, nachdem jemand wie Trump es geworden ist? Die Tatsache, dass Zuckerberg mehr Zustimmung erhält (48 %) als sein Unternehmen (32 %), bei dem viele die eigenen Daten nicht sicher wähnen, zeigt, dass die Trennung der Person von ihren Taten, die schließlich auch Trump ins Amt verholfen hat, schon stattfindet. Dass Facebook nichts anderes ist als Zuckerberg, der sich durch juristische Schachzüge die alleinige Entscheidungsmacht im Unternehmen selbst ohne Aktienmehrheit sicherte, scheint vielen so wenig bewusst zu sein wie der Umstand, dass Facebook unter Zuckerbergs Aufsicht per Newsfeed-Filter mit Formen des social engineering und der »emotionalen Ansteckung« experimentiert, was auch in einer Wahlkampagne seine Dienste leisten kann.1

Geschichtsphilosophisch betrachtet ließe sich Trump tatsächlich als die notwendige Vorbereitung für Zuckerberg verstehen: als dialektische Unterbrechung im Lauf der Geschichte; unvermeidbar, wenn auch nicht zukunftsfähig. Eine Verschnaufpause im Prozess der disruptiven Innovation, die Neoliberalismus, Globalisierung und Digitalisierung seit Ende des 20. Jahrhunderts für nahezu alle Facetten des individuellen und gesellschaftlichen Lebens bedeuten: von Arbeitsplätzen über Identitätsbildung bis hin zu Freundschaftsbeziehungen und Kommunikationsformen. Trumps Versuch, den Lauf der Geschichte aufzuhalten, wäre nicht mehr als eine notwendige Episode, um der Welt die Gefahr eines solchen Versuchs vor Augen zu führen. Das Alte lässt sich nicht auf Dauer vor dem Neuen retten – diese Einsicht gehört zu den Axiomen der Moderne und wäre, käme alles wie eingangs vorgestellt, das Hauptargument für Zuckerbergs Präsidentschaftskandidatur. Man kann nicht zurück zum Nationalismus des 19. Jahrhunderts oder zum Gesellschaftsmodell der guten alten 1950er Jahre, wie Trump in den USA, Le Pen in Frankreich und andere anderswo es fordern. Die Losung des 21. Jahrhunderts ist nicht der geschlossene Handelsstaat, sondern die offene Gesellschaft, die Zuckerbergs Manifest »Building Global Community« im Februar 2017 verspricht.

Facebook ist eines der mächtigsten Symbole des Neuen, das die disruptive Innovation ironischerweise unter der Losung des Verbindens vorantreibt. Das Herstellen von Verbindungen, so zeigt die Mediengeschichte, hat jedoch Unterbrechungen zur Folge: Das Flugzeug bringt Menschen sehr schnell von A nach B, ohne dass sie dem begegnen, was dazwischenliegt; GPS lässt den Raum nur noch mit den Augen einer App wahrnehmen; Google Books trennt die Lektüre von der Bibliothek und Googles Suchfunktion das Wissen von der Lektüre; Facebook und seine Tochterfirmen Instagram und WhatsApp schaffen Kommunikationsformen jenseits physischer Begegnung. Was dies für die Beziehung zwischen Freunden bedeutet, ist bekannt und oft genug Gegenstand der Klage. Wichtiger – und zumal für den Fall einer Präsidentschaftskandidatur Zuckerbergs – ist jedoch, wie Facebook die Beziehung zwischen den Nachrichtenmedien und ihrem Publikum verändert. Auch hier kommt es zu einer Trennung der ursprünglichen Verbindungen, als Leserinnen* noch Zeitungen kauften oder die Website eines Nachrichtensenders besuchten. Stattdessen findet man heute vor allem über die Empfehlungen der Facebook-Freunde den Weg zu journalistischen Beiträgen, die ihrerseits als Instant Article zunehmend im Machtbereich von Facebook erscheinen.

Die politische Konsequenz dieser Rekonnektion liegt darin, dass man, mit den ›rechten‹ Freunden, eher Falschmeldungen und Verschwörungstheorien als seriöse Berichte und ausgewogene Analysen zu sehen bekommt. Dieser Umstand war nach Trumps Wahlsieg unter dem Stichwort Filterblase breit diskutiert worden: als Produkt von Facebooks Algorithmus, der die Beiträge im Newsfeed nach der vermuteten Interessenlage filtert, sodass schließlich alle mehr oder weniger in Echokammern gefangen sind – oder eben geborgen. Die aufgeregte Debatte zur Rolle von Falschmeldungen und Filterblasen in Trumps Wahlkampf unterstellte den neuen Medien zwar jenen Einfluss auf die Gesellschaft, den sie tatsächlich haben, die Analyse blieb jedoch zumeist an der Oberfläche, statt sich eingehender mit der Funktionsweise sozialer Netzwerke und ihren längerfristigen politischen Folgen zu beschäftigen. Man beließ es bei Erste-Hilfe-Maßnahmen zur Aufdeckung und Verhinderung von Falschmeldungen, empfahl das Installieren von Enttarnungssoftware und sinnierte über die Schaffung eines staatlichen »Abwehrzentrums für Desinformation«, was unbehagliche Erinnerungen an die Forderung staatlicher Internet-Souveränität und die Errichtung von Wahrheitsministerien in totalitären Systemen und dystopischen Romanen wachrief.

Die bloße Symptombekämpfung im Top-down-Verfahren mag vorerst plausibel und unvermeidbar erscheinen, verfehlt aber die Sachlage und den Ernst der Situation. Man kann auf die Probleme der neuen Medien nicht mit alten Modellen antworten und anstelle der alten Gatekeeper – deren Absetzung ein zentrales und oft gepriesenes Merkmal des Internets ist – neue installieren: Algorithmen, die unerwünschte Informationen herausfiltern oder (wie Googles Jigsaw bei Suchanfragen zu IS-Rekrutierung) im Redirect-Verfahren entschärfen, und mehr oder weniger unqualifizierte, schlecht bezahlte Diskurspolizisten von der Straße. Eine nachhaltige Lösung muss unten ansetzen: beim Publikum der Falschmeldungen, bei den Sendern der Hassreden, beim Individuum. Man muss fragen, warum Falschmeldungen so populär und Hassreden so allgegenwärtig sind. Man muss klären, inwiefern Falschmeldungen eher ein ästhetisches als ein ideologisches Phänomen sind. Man muss sich die Kommunikationskultur in sozialen Netzwerken genauer ansehen, ihren Beitrag zur politischen Meinungsbildung, ihren Anteil an deren Niedergang.2

Um die Bestimmung der Ursachen, die Aufklärung der Betroffenen und den Auftrag, den die Bildungsinstitutionen in dieser Hinsicht haben, geht es in diesem Buch. Es geht um die Notwendigkeit, die Funktionsweise der sozialen Netzwerke, der neuen Medien und der digitalen Technologien zu verstehen und deren vermutete gesellschaftliche Folgen zu diskutieren. Die Ausgangsthese in dieser Auseinandersetzung lautet, dass der Umgang der Bildungsinstitutionen mit den neuen Medien nicht nur von erschreckender Unkenntnis geprägt ist, sondern auch von enttäuschender Fantasielosigkeit, übertriebener Angst und beträchtlichem Opportunismus.3

1. Tatort digitale Medien

Man kann mit einfachen Tatsachen beginnen: mit dem Hinweis, dass kurz nach Trumps Wahlsieg post-truth zum Wort des Jahres gekürt wurde und kurz nach seiner Inauguration der Begriff alternative facts in die Welt trat. Wie konnte das Internetzeitalter ein solches Wort des Jahres und einen solchen Wahlsieger hervorbringen? Müsste es mit seinen unerschöpflichen Archiven und leistungsfähigen Suchmaschinen nicht ein Hort der Wahrheit sein statt ein Sumpf der Lüge? Hatte man sich vom Hypertext nicht die Beförderung einer kritischskeptischen Grundhaltung versprochen? Und hätte die Überwindung der einseitigen Sender-Empfänger-Beziehung nicht zu einer generellen Emanzipation der gesellschaftlichen Kommunikation führen müssen? Was ist da falschgelaufen und wer trägt die Schuld?

Diese Fragen werden die Digital Immigrants eher stellen können als die Digital Natives, die noch das ABC sangen, als jene schon fleißig E-Mails schrieben. Immerhin haben diese ›Eingewanderten‹ die Netz-Euphorie der 1990er Jahre selbst erlebt, haben noch selber mühsam Webseiten gebaut und nächtelang getüftelt, wie sich ein JavaScript aus dem Internet für die eigenen Zwecke umschreiben lässt. Sie erinnern sich noch an die Identitätsexperimente in Second Life, das viele der ›Eingeborenen‹ nicht einmal dem Namen nach mehr kennen. Dieser Vorschuss an Erfahrung macht die ›Eingewanderten‹ sensibel für die Frage, wann das Internet vom richtigen Pfad abkam. Er macht sie misstrauisch genug für den Verdacht, die Demokratisierung, die das Internet mit sich bringt, könnte zugleich die Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft zerstören. Er qualifiziert sie dazu, über die Entwicklung und Wirkung der neuen Medien zu reden, statt sich mit vorauseilender Angst vom Mehrwissen der Natives über die aktuellsten Apps, Memes und Online-Stars einschüchtern zu lassen. Ein aufschlussreiches Beispiel für das dialektische Dilemma des Internets und den möglichen didaktischen Heimvorteil der zumeist eingewanderten Lehrerinnen und Lehrer ist dabei gerade das Problem, das derzeit auch die Eingeborenen intensiv beschäftigt: Falschmeldungen.

Im Grunde sind Falschmeldungen nichts anderes als das logische Resultat der Beseitigung aller Gatekeeper, die vormals – in Redaktionsstuben und Rundfunkstationen – den Zugang zur Öffentlichkeit kontrollierten. Die Demokratisierung des Zugangs demokratisierte auch die Qualitätskontrolle, die nun nicht mehr in den Händen weniger liegt, sondern aller, die durch Tags (Schlagworte) und Likes (Zahlen) das Schicksal eines Beitrages in der Öffentlichkeit mitbestimmen. Mit social bookmarking, folksonomy und Ranking treten an die Stelle der alten Meinungselite eine Unzahl anonymer Meinungen, die zumeist argumentationsfrei und emotionsgetrieben vorgetragen werden. Dass dabei das Spannende und Sensationelle zumeist beliebter ist als das Sachliche und Nuancierte, erstaunt niemanden, der die Natur des Menschen kennt und um die erhitzte Debatte zur Massenkultur seit dem 18. Jahrhundert weiß. Die Sachlage verschärft sich, wenn dieser Vorgang unter den Kommunikationsbedingungen von Facebook erfolgt: dem dualistischen Reaktionsschema der Likes oder Dislikes, dem begründungslosen Populismus der Zahl, dem Zeitdruck, unter dem Beiträge angesehen, bewertet and empfohlen werden. Die Vermutung liegt nahe, dass dieser Kontext der Urteilsfindung und Weiterempfehlung geradezu Gewächshausbedingungen für das Sensationelle, Eingängige und Unterhaltsame schafft, statt dem Seriösen, Komplexen und Komplizierten zu mehr Aufmerksamkeit zu verhelfen.

Diese kurze Überlegung zeigt bereits, dass man es nicht bei Hinweisen zur Identifizierung und Vermeidung von Falschmeldungen belassen kann. So unverzichtbar solche Hilfen zur Gefahrenvermeidung auch sind, ebenso wichtig ist die Erkundung der Ursachen und Wirkungen dieser Gefahren. Die Verbindung von Medien und Bildung, um die es in diesem Buch geht, will genau dies: eine informierte und kritische Diskussion der Medien, die über die Vermittlung von zweckrationalem Verfügungs- und handlungsorientiertem Nutzungswissen hinausgeht. Eine solche Medienbildung zielt auf Medienreflexion und schreitet dazu schon in der ihr zugrundeliegenden Fragestellung vom bloßen Ich-Bezug zur Gesellschaft voran: von der Frage »Wie kann ich die neuen Medien effektiv und sicher nutzen?« zur Frage »Was machen die Medien mit uns?«. Um diesen Schritt von der Nutzung der Medien zu ihrer Kritik, um diesen Wechsel der Sorge vom Ich zum Wir geht es im vorliegenden Buch.

Am Abend des 18. Dezember 2016 brach die digitale Gesellschaft unerwartet und beängstigend in das deutsche Wohnzimmer ein. Im Frankfurter Tatort »Wendehammer« ging es um Kontaktlinsen mit eingebauter Kamera, die bei Erregung (zum Beispiel während eines Mordes) das, was man erlebt, aufnehmen und direkt in die Cloud speichern. Es war nicht der erste Tatort des Jahres über die Schattenseiten der Digitalisierung: im Stuttgarter »HAL« vom 28. August ging es um Überwachungssoftware und im Bremer »Echolot« vom 30. Oktober um künstliche Intelligenz, die mit Todesfolge das Steuerungssystem eines Autos hackt. Ein Großteil des Tatort-Publikums wird angesichts der beschriebenen Gefahren ratlos auf den Bildschirm geblickt haben oder einfach von der konstruierten Handlung und den vielen technischen Begriffen genervt gewesen sein. Dabei verarbeitete »Wendehammer« bloß ein inzwischen relativ altes Thema. Die innere Aufzeichnung und äußere Wiedergabe von Erlebnissen wurde in den USA schon 1995 in Kathryn Bigelows Film Strange Days behandelt und kam in Großbritannien 2011 mit »The Entire History of You«, der dritten Episode der TV-Serie Black Mirror, auf den Tag genau fünf Jahre vor »Wendehammer« in die Wohnzimmer. Selbst deutsche Filmregisseure nahmen sich des Themas früh an, etwa Wim Wenders mit Bis ans Ende der Welt im Jahr 1991 über die Aufzeichnung von Träumen – an dessem düsteren Ende alle nur noch auf ihre Bildschirme schauen, beschäftigt mit ihrer unterbewussten Vergangenheit. Natürlich gibt es auch Science-Fiction in Buchform, die die technische Reproduktion sinnlicher Erlebnisse mit all ihren Konsequenzen durchspielt, wie Benjamin Steins Roman Replay aus dem Jahr 2012, oder die Vermessung des Individuums zum Exzess führt, wie Juli Zehs Roman Corpus Delicti aus dem Jahr 2009 – um nur zwei deutsche Beispiele zu nennen.

Die Aufklärung über die Untiefen digitaler Technologien im Gewand der Unterhaltung wird gelegentlich auch durch Politiker-Appelle flankiert. Ende 2015 forderte der damalige Präsident des Europäischen Parlaments Martin Schulz eine Charta der digitalen Grundrechte mit »Leitplanken«, um »etwaige Fehlentwicklungen auszuschließen beziehungsweise bereits existierende falsche Weichenstellungen wieder zu korrigieren«. Natürlich ging es dabei nicht um Technologien zur totalen Erlebnisarchivierung. Aber schon die Forderung nach einem »Minderheitenschutz« für jene, die sich der Bereitstellung persönlicher Daten entziehen, ist politischer Sprengstoff angesichts der Kritik der Kanzlerin Angela Merkel an dem, wie sie sagt, veralteten Modell der »Datensparsamkeit«. Wäre es möglich, dass irgendwann – wenn die Kontaktlinsen aus dem Tatort marktfähig sind – eine Pflicht zur Aufzeichnung der eigenen Erlebnisse besteht, so wie schon jetzt gelegentlich Angestellte und Versicherungsnehmerinnen angehalten sind, Self-Tracking-Apps zu nutzen? Wird es dann noch ein »Recht auf eine analoge Welt« geben, das Justizminister Heiko Maas Ende 2015 für Menschen forderte, die keine digitalen Dienstleistungen und Kontrollmechanismen nutzen wollen? Wird die Antwort davon abhängen, welche Partei an der Macht ist? Oder wird die Technik ohnehin stärker sein als die Politik?4

Schulz und der Tatort geben einem Unbehagen Ausdruck, das kaum jemand teilt, der sich nicht näher mit der Situation beschäftigt. Die allgemeine Zufriedenheit der Deutschen – mit ihrer wirtschaftlichen Lage, mit ihrer politischen Führung und mit dem Internet – ist kein guter Resonanzboden für die Gefahren, die nicht nur in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht mit der voranschreitenden Digitalisierung auf sie zukommen. Gerade deswegen aber stehen die Universitäten und Schulen in der Pflicht – als Orte, von denen man neben Verfügungs- auch Orientierungswissen erwartet. Sie sind der Raum, in dem die künftigen Folgen aktueller Entwicklungen – auch und gerade neuer Technologien – ausführlich und kontrovers bleuchtet werden können. Dieser Vorgang wird zu einem bestimmten Maß spekulativ sein müssen und darf durchaus auch fantasievoll sein, zumal in der Schule, wo es primär nicht darum geht, gesellschaftspolitische und geschichtsphilosophische Fragen zu klären, sondern erst einmal überhaupt das Interesse an einer solchen Klärung zu wecken. Lehrer, die dafür auf Fernsehserien wie Tatort oder Black Mirror zurückgreifen, dürfen sich der Aufmerksamkeit der meisten Schüler sicher sein.

Man nehme zum Beispiel die Black Mirror-Episode »Hated in the Nation«, in der Autonomous Drone Insects (kleine Roboter mit Kamera) nicht nur die Bestäubungsarbeit der ausgestorbenen Bienen übernommen haben, sondern zugleich vom staatlichen Geheimdienst als Überwachungskameras mit Gesichtserkennungssoftware eingesetzt werden. Der Tatort »HAL« greift dieses Thema der Verquickung von Softwareproduzenten und Regierungsbehörden auf, wenn er die Firma, die an einem ausgeklügelten Überwachungssystem arbeitet, mit dem Landeskriminalamt kooperieren lässt, das sich für predictive policing interessiert. Sind das Übertreibungen dystopischer Science-Fiction oder nehmen sie vorweg, was unvermeidlich kommen wird, wenn man nicht rechtzeitig beginnt, darüber zu sprechen? Der Ehrgeiz einer gesellschaftlichen Problematisierung zeigt sich in diesem Fall schon in den popkulturellen Bezügen, denn der Titel erinnert natürlich an den aufsässigen Computer HAL in Stanley Kubricks Film 2001: A Space Odyssey aus dem Jahr 1968 und der Stockwurf am Filmanfang zitiert den berühmten Knochen bei Kubrick, der, von einem Menschenaffen in die Luft geschleudert, zu einem Raumschiff im Weltall mutiert.

Ein fast noch beunruhigenderes Beispiel ist die Black Mirror-Episode »Nosedive« über eine Gesellschaft des sozialen Rankings, in der sich Menschen permanent gegenseitig bewerten und erst mit einem entsprechenden Durchschnittswert Zugang zu bestimmten öffentlichen Räumen und Dienstleistungen erhalten. Die spannende Frage für das Unterrichtsgespräch könnte lauten, ob auf diese Weise alle Menschen netter zueinander sind und ob etwas daran auszusetzen wäre, wenn sie es nur vortäuschten. Beunruhigend ist dieses Beispiel, weil in diesem Fall der Wechsel von der Fiktion zur Realität schon Gestalt annimmt in Chinas Sozialkredit-System, das bis zum Jahr 2020 im ganzen Land Punkte für vorbildliches soziales und politisches Verhalten verteilen oder bei Zuwiderhandlungen eben abziehen soll und so mithilfe digitaler Technologien eine Sozialutopie der Ordnung aufzubauen hilft, die weder Tommaso Campanella noch Ernst Bloch sich hätten vorstellen können. Die Zukunft ist näher, als man denkt – so könnte das Motto der Stunde mit der Frage für die Gruppendiskussion lauten: Was wärest du bereit zu tun, um deinen Score zu erhöhen? Anspruchsvoller und herausfordernder lautet das Motto Ex oriente lux und die Frage: Ist China das Zukunftsmodell auch für demokratische Gesellschaften? Denn soziale Angepasstheit und Kontrollierbarkeit sind keineswegs nur ein Wert für die Politiker, Sicherheitsbehörden und Verwaltungsangestellten Chinas. Dass es in Deutschland kaum eine Diskussion zum chinesischen Beispiel als möglicherweise notwendige Folge der gesellschaftlichen Digitalisierung und Datafizierung gibt, macht durchaus misstrauisch. Dass auch hier Phänomene wie Sicherheits- und Gesundheitsscreening immer populärer werden und viele durch Bewertungen nicht nur bei Uber oder Airbnb sich bereits am Aufbau eines Sozialkreditsystems beteiligen, lässt nicht vermuten, dass wir außer Gefahr sind.5

Film und Fernsehen – das weiß man nach Adorno und seit der Lindenstraße – sind, wenn man geschickt wählt, verlässliche Gehilfen für die Erziehung der Gesellschaft. Die Unterrichtsgespräche und Aufsatzthemen, die sich aus solchen Sendungen ergeben, können Fantasie mit Reflexion verbinden, wenn sie die Frage »Wie werden wir leben?« mit der Frage danach verknüpfen, wir wir leben wollen. Zukunftsszenarien, die das eigene Leben betreffen, dürften das Interesse der Schülerinnen wecken, zumal wenn man deren kreative Imagination anspricht und dazu einlädt, im wechselnden Rollenspiel das Für und Wider bestimmter Entwicklungen gegeneinander vorzubringen. Die Erkenntnis der eigenen ambivalenten Verwicklung in die Ängste und Hoffnungen, die mit der Digitalisierung der Gesellschaft verbunden sind, wäre Unterrichtsziel und zugleich Ausgangspunkt für weitere Diskussionen: Wer wünscht sich nicht, dass smarte Dinge einem das Leben erleichtern und mitdenkend Entscheidungen abnehmen? Wer würde ihnen dazu nicht die erforderlichen Informationen und Vollmachten geben? Wo ist die Grenze? Wie erkennt man sie? Wann ist es dafür zu spät?

Die Bälle, die die sogenannte Kulturindustrie und gelegentlich auch die Tagesmeldungen den Lehrerinnen und Lehrern zuspielen, lassen sich leicht von der persönlichen auf eine prinzipielle Ebene heben: Hat der Fahrzeughersteller ein Recht auf die Daten meines Fahrverhaltens, um seine Autos wettbewerbsfähiger und umweltfreundlicher zu machen? Gibt es in einem rohstoffarmen Land wie Deutschland eine Alternative zur Losung »mit Daten Werte schaffen«? Darf man sich der ökologischen Wende der Industrie und der digitalen Wende des Gesundheitswesens in den Weg stellen? Gehören meine Daten mir allein oder schulde ich sie der Gesellschaft, wie gelegentlich schon zaghaft angemahnt wird?6

Der Interessenkonflikt, den diese Fragen ansprechen, verläuft zwischen Tradition und Innovation und ist im Kern auch ein Generationskonflikt. Diesen Eindruck vermitteln jedenfalls die erwähnten Tatort-Filme, wo reifere Polizisten auf junge, coole Start-up-Hipster treffen und, verunsichert von deren Aktivitäten, ratlos nach einem Paragraphen suchen, mit dem sie diesen das Handwerk legen könnten. Der Konflikt ist von geschichtsphilosophischer Dimension, was sich schon an den Fragen zeigt, die Start-ups bewegen: »Was ist möglich?« und »Warum nicht?« statt »Was ist nötig?« und »Warum?«. Entrepreneure beziehen ihre Legitimation aus der gerade in der IT-Branche beliebten Logik, dass in einer Welt, die sich rasant ändert, das höchste Risiko darin besteht, kein Risiko einzugehen. Aus der Mahnung, nicht stehenzubleiben, wird dann leicht die Erlaubnis, nichts stehenzulassen. Disruption ist das Lieblingswort der Branche, gern in Befehlsform und immer mit dem Versprechen verbunden, die Welt zu verbessern. Fortschritt als Alibi für die Zerstörung bestehender Strukturen. Und stimmt es etwa nicht, dass wir ohne solche Zerstörung noch immer Briefe mit Pferdekutschen befördern würden!?

Sowenig es überrascht, dass Technikphilosophen Fortschrittsrhetorik und Erneuerungsobsession misstrauisch betrachten, so wenig erstaunt es, dass die Politik im Großen und Ganzen mit der Wirtschaft schwärmt: vom Internet der Dinge, von Industrie 4.0, von smarten Objekten und künstlicher Intelligenz. Man bestätigt sich gegenseitig, in den technischen Entwicklungen kein Problem zu sehen, sondern das Mittel zur Lösung vieler gesellschaftlicher Probleme. Das funktioniert nicht zuletzt deswegen, weil die Konstellation weniger dramatisch und eindeutig zu sein scheint als etwa im Fall der Nuklearspaltung. Denn wenn auch bestimmte Folgen (Transparenz, Überwachung, Cybermobbing) Besorgnis erregen, man kann weder daran sterben, noch sind sie umweltschädlich. Es handelt sich zunächst einfach nur um eine, wenn auch grundsätzliche, Umwälzung der Werte des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Oder? Könnte es sein, dass die Menschen, wie manche Sicherheitsexperten und Computerwissenschaftlerinnen warnen, gerade dabei sind, Opfer ihrer eigenen Erfindungen zu werden? Sind die zunehmenden Hacking-Attacken auf Industrieanlagen und öffentliche Einrichtungen bereits der Vorgeschmack auf kommende Desaster, die schon deswegen wahrscheinlicher als der Atomkrieg sind, weil ein Gleichgewicht des Schreckens bei Selbstmordattentätern nicht verfängt? Soll man mit angehaltenem Atem abwarten? Soll man Alarm schlagen wie all die anderen Kulturpessimisten, Technophobisten und Apokalyptiker zuvor?

2. Das Verschwinden der Computer

Wir übersehen oft, was unmittelbar vor unseren Augen liegt. Das literarische Beispiel dafür ist Edgar Allan Poes Kurzgeschichte vom entwendeten Brief, der deswegen so schwer gefunden wird, weil er eben nicht zwischen Büchern oder unter dem Teppich versteckt ist, sondern für alle sichtbar auf dem Schreibtisch liegt. Ebenso entgeht der Computer in vielen Fällen unserem Blick. Nicht nur als Blackbox, die ihre Operationsweisen verheimlicht und uns mit einem Ergebnis konfrontiert, dessen Zustandekommen wir nicht nachvollziehen können. Auch und gerade in seiner hoch transparenten Form entzieht sich der Computer der Erkenntnis. Während die Blackbox uns noch skeptisch stimmt und danach fragen lässt, was sich da so hartnäckig unserer Kontrolle entzieht, sind die Transparenz des Computers und die intuitive Klarheit seiner Handhabung das beste Mittel, unser Misstrauen zu zerschlagen. Das Interface, das sich von selbst versteht, entzieht sich dem Blick. Das Intuitive ist das Unsichtbare. Das ist mit der Technik nicht anders als mit der Sprache, die als Muttersprache weniger verstanden wird als eine Fremdsprache, deren Regeln man mühsam lernen muss. Die Gegenwart des Mediums verliert sich in seiner unmittelbaren Nähe.7

Das Verschwinden des Computers wurde noch vor dem Ende des 20. Jahrhunderts vorhergesagt: Er werde unsichtbar in seiner Apparatur – so wie einst der Elektromotor im Staubsauger. Dieses Verschwinden entspricht dem Verschwinden in der Blackbox. Das Verschwinden in der Transparenz hingegen gleicht dem Fenster, durch das wir schauen, ohne es selbst wahrzunehmen. Hier übersehen wir wie in den trompe l’oeil-Gemälden die Rahmung unseres Blicks: Wir sehen nicht die Buchstaben, sondern die Welt, die sie eröffnen, wir sehen nicht die Farbe, sondern die Frucht, die aus ihr gemalt wird. Vergleichbares geschieht mit dem Computer, dessen transparentes Interface und intuitive Funktionsweise unsere Aufmerksamkeit auf die Inhalte richten statt auf die materiellen Voraussetzungen des Zugriffs. Die Medienwissenschaft sieht darin eine Ablenkung vom Medium selbst und seiner kulturstiftenden Rolle: Der Inhalt, so die berühmte Erklärung des kanadischen Medienwissenschaftlers Marshall McLuhan, ist das saftige Stück Fleisch, das der Einbrecher dem Wachhund des Geistes zur Ablenkung hinwirft.8

Das Paradox vom verschwindenden Computer – denn wer wollte ernsthaft das Verschwinden der Computer in unserer Zeit behaupten – beruft sich auf McLuhans Losung und reflektiert eine Gleichung, die schon vor einem Vierteljahrhundert aufgestellt wurde: Der Computer verschwindet umso mehr, je präsenter er wird; seine Allgegenwärtigkeit macht ihn unsichtbar im »Gewebe des Alltags«. Man spricht in dieser Hinsicht auch von calm technology: Technologie, die uns zu Diensten ist, ohne unsere besondere Aufmerksamkeit zu erfordern. Die Richtigkeit dieser Prognose lässt sich daran erkennen, dass der Computer mittlerweile unser ständiger, mehr oder weniger unbewusst benutzter Begleiter ist, dessen unsichtbare Allgegenwart mit dem Internet der Dinge sich noch verstärken wird.9

Das vorliegende Buch wendet die medientheoretische Überlegung zu Inhalt und Botschaft des Computers (und seiner verschiedenen Spielformen und Applikationen) auf bildungspolitische Konzepte an. Es unterstellt, dass Medienbildung, wie sie allgemein konzipiert ist und praktiziert wird, darauf orientiert, Medien effektiv und reibungslos einsetzen zu können, statt auch ihre Botschaft zu diskutieren – also etwa jene großen Fragen zu stellen, die sich schon aus einer kurzen Tatort-Schau ergeben. Das Buch ist von der Überzeugung getrieben, dass das Bildungssystem – sofern es nicht nur der Wirtschaft einsatzfähige Arbeitskräfte schaffen will, sondern auch der Gesellschaft mündige Bürger – Menschen erziehen muss, die sich und anderen genau solche Fragen stellen. Sowohl in der Schule als auch an den Universitäten darf der vermehrte Einsatz der neuen Medien – als Unterrichtsmittel und Forschungsinstrument – nicht das Reden über sie verdrängen. Man muss aufhören, mit so vielen Worten zum Wer und Wo und Wie der neuen Medien über ihr Woher, Warum und Wohin zu schweigen. Die Schulen und Universitäten müssen sich den Herausforderungen der neuen Medien endlich stellen: prinzipiell und fachbezogen in allen betroffenen Bereichen, von Soziologie, Politik und Ethik über Literatur und Geschichte bis zu Kunst und Religion. Man muss vom Knochen sprechen, bevor er zum Raumschiff wird.

Zur Vorbereitung eines solchen Selbstverständigungsprozesses im Kontext der Schulen und Hochschulen bedarf es didaktischer Kompetenzen im ursprünglichen Sinn: Nicht die Gestaltung digitaler Lernformate ist entscheidend, sondern die Schaffung motivierender Diskussionssituationen. Eine Art Didaktik des Schocks mag da oft zielführender sein als immersive Unterrichtsumgebungen und ist als konzentriertes Gespräch auch pädagogisch eine sinnvolle Antwort auf die Herausforderungen der neuen Medien. Der Schock – oder das Aufmerken – lässt sich auch diesseits des Tatorts durch die Verwertung aktueller Berichte erzeugen, wie dem, dass Steve Jobs, der das iPad in jeden Klassenraum bringen wollte, die eigenen Kinder von diesem Gerät fernhielt und dass IT-CEOs im Silicon Valley ihre Kinder in technologiefreie Waldorfschulen stecken. Sehen diese Eltern in den digitalen Medien also mehr Risiken, als sie ihren Kunden verraten? Worin diese Risiken liegen, wird wiederum schnell klar, wenn Schüler die Apps Moment oder Checky auf ihrem Handy installieren und feststellen, dass sie dieses doppelt so häufig und lange benutzen, wie sie annahmen, oder wenn sie ein traditionell geführtes Tagebuch mit der eigenen Facebook-Chronik vergleichen und erkennen, wie großzügig und zugleich oberflächlich sie täglich aus ihrem Leben berichten.10

Die Technikdiät der IT-CEOs ist die perfekte Vorlage für Verschwörungstheorien, deren Überschrift lauten könnte: »IT-Eltern verschaffen eigenen Kindern Wettbewerbsvorteile durch die forcierte Verblödung aller anderen.« Die passende Hauslektüre nach dieser Stundendiskussion wäre Aldous Huxleys Schöne neue Welt, mit einer Extrafrage zum Verhältnis von Soma (der Droge, mit der in Huxleys Roman das kritische Denken zerstört wird) und FOMO (das berüchtigte fear of missing out, das so viele so wehrlos gegen soziale und mobile Medien macht). Ein anderer verschwörungstheoretischer Stundenauftakt könnte, in Fortführung der Eingangsfantasie dieses Buches, lauten: »Zuckerberg kaufte 2014 für 2 Milliarden Dollar die VR-Brille Oculus Rift, um 2024 Präsident der USA zu werden.« Teenager lieben das Spekulative und werden auf Erklärungen drängen. Natürlich muss man ihnen nicht erst sagen, was Oculus Rift ist oder dass VR für Virtual Reality steht. Aber wie man damit Präsident wird, das werden sie wissen wollen. Lehrerinnen, die diese Meldungen aus der IT-Politik geschickt einsetzen, können plötzlich mit ihren Schülern Themen behandeln, die eigentlich ›total uncool‹ klingen: Die Rolle der Sprache für ein reflektiertes Bewusstsein; der Verlust dieses Bewusstseins durch die Kultur der Immersion im Internet; die Konsequenzen einer solchen Entwicklung für die politische Meinungsbildung; der Nutzen einer solchen Entwicklung für Populisten und neue Anführer.

Am Ende der Stunde hat man die Fährten gleich für mehrere Spekulationen gelegt, die vielleicht sogar ein paar verschwörungstheoretische Posts auf Facebook und anderswo erzeugen. Das wäre Medienbildung, die nicht nur die Schüler in der eigenen Erfahrungswelt abholt, sondern sogar dorthin zurückwirkt. Natürlich bleibt unsicher, ob ein Vorstoß auf der Ebene der spekulativen Reflexion wirklich bei allen einen tieferen Denkprozess initiiert und ob ein solcher den Grundkurs Informationstechnik eine Woche später überleben würde, der erklärt, wie man Videos für Facebook Live 360 am iPhone herstellt. Den Versuch unternehmen sollten aber alle, die nicht glauben, dass die Schlachten schon geschlagen sind.

3. Überblick

Das vorliegende Buch handelt von den Herausforderungen, auf die eine Medienbildung, die den Namen verdient, reagieren muss. In drei Kapiteln begründet es die Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Selbstverständigungsprozesses, diskutiert die Konsequenzen für das System Schule und illustriert die heikle Entwicklungstendenz in den Geisteswissenschaften, bevor die Abschlussbetrachtung die philosophisch-politische Dimension des Themas zusammenfasst:

Medien und Gesellschaft: Angesichts der Falschmeldungen und Hassreden im Umfeld der US-Präsidentschaftswahl Ende 2016 wurde der Öffentlichkeit bewusst, welchen Einfluss die sozialen Netzwerke auf die Gesellschaft haben, wenn auch die Erregung an der Oberfläche blieb und die Richtigen für das Falsche beschuldigt wurden. Man kann einem global operierenden Netzwerk wie Facebook nicht ernsthaft vorwerfen, den falschen Leuten für die falschen Ansichten eine Plattform zu bieten, wohl aber, dass es die politische Meinungsbildung durch die Kommunikationsbedingungen, die es ihr schafft, kompromittiert. Falschmeldung und Hassrede sind die logische Konsequenz der Filterblase, die wiederum ein Resultat der Funktionslogik und des Geschäftsmodells von Facebook ist. Denn das primäre Ziel eines börsenorientierten Unternehmens ist nicht der aufgeklärte Bürger, sondern der Blickkontakt zwischen seinen Nutzern und der Werbung seiner Kunden. Facebooks Newsfeed-Filter favorisiert schon im Interesse seiner Aktionäre nicht das Sachliche, Anstrengende oder gar Befremdliche, sondern die spektakulären, unterhaltsamen und bestätigenden Posts. Dieser Umstand fördert eine Kultur des Infotainments und Sensationalismus, die dem Qualitätsjournalismus die Lebensgrundlage entzieht und zunehmend die intellektuelle Immunität gegen Falschmeldungen und Hassreden schwächt. Während Facebook immer mehr zu dem Ort wird, an dem man sich seine politische Bildung holt, ist es immer weniger der Ort, an dem politische Bildung stattfindet.

Diese Konstellation und ihre möglichen Konsequenzen gehören zum Grundwissen einer über sich selbst aufgeklärten Mediengesellschaft, weswegen Kapitel eins eine vertiefte Diskussion des Bedingungsgefüges Medien und Gesellschaft fordert und zugleich praktiziert. Dazu ist nach der Betrachtung der Funktionslogik eines sozialen Netzwerkes wie Facebook auch die normative Paradoxie der Partizipationskultur des Web 2.0 zu erörtern, die darin besteht, dass der viel gepriesene Demokratisierungsprozess nicht nur die traditionelle Meinungselite entmachtet, sondern in der Wendung gegen die Experten auch Sachverstand und Disziplin im Denken entwertet und die diskursethische Selbstkontrolle der Gesellschaft dem Regime des Populismus opfert.

Die damit stattfindende ideologische Disruption des demokratisch organisierten Gesellschaftsgefüges führt zu der Frage, wie die Gesellschaft auf die disruptiven Innovationen reagieren soll, die sie durch ihre Digitalisierung im wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereich erfährt. Die gelegentlichen Mahnungen prominenter Politiker unterstreichen die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Selbstverständigung über die Interessenkonflikte, die der digitale Wandel zwischen Wirtschaft und Zivilgesellschaft mit sich bringen mag. Zugleich wird deutlich, dass die Reflexion der stattfindenden Transformationsprozesse über die Frage hinausgehen muss, wie sich mittels technischer und menschlicher Zensoren Falschmeldungen erkennen und Hassreden entfernen lassen. Will man nicht bei der Symptombekämpfung stehen bleiben, muss man sich der Einsicht stellen, dass die Popularität der Falschnachrichten kein Betriebsunfall des Internets ist, sondern seine logische Konsequenz, auf die es nicht mit Regulierungsmaßnahmen zu antworten gilt, sondern mit Bildungsanstrengungen.

Medien und Schule: Medienbildung kann nicht besser sein als das Bildungssystem, dessen Teil sie ist, und dieses ist nur so gut, wie die Politik es angesichts des Drangs der IT-Industrie in die Klassenräume sein lässt. Das Problem zeigt sich bereits in der Begriffsbildung, wenn in Anlehnung an »Industrie 4.0« von »Bildung 4.0« die Rede ist. Die digitale Bildungsrevolution ist nicht erziehungstheoretisch konzipiert, sondern wirtschaftsbezogen, ihr Ziel ist nicht der geistig-sittlich gebildete Mensch im Humboldt’schen Sinne, sondern der arbeitsmarktgerecht ausgebildete Bürger im Sinne eines neoliberalen Bildungskonzepts.

Diese Ausrichtung spiegelt sich in der Favorisierung einer handlungsorientierten Medienkompetenz (als Fertigkeit, Medien effektiv und sicher zu nutzen) gegenüber einer reflexionsorientierten Medienbildung (als Frage nach den gesellschaftlichen Funktionen und kulturellen Konsequenzen von Medien). Paralell dazu wird der Einsatz digitaler Technik im Unterricht forciert, ungeachtet seiner pädagogischen Angemessenheit oder gesellschaftlichen Folgekosten. Die Erörterung der Situation führt zur Kritik der »Halbbildung« und der Algorithmisierungsprozesse des E-Learning sowie zur Verteidigung der Lehrer gegen ihre Abstufung zum Coach.

Die unterbreiteten Vorschläge für eine fachspezifische Diskussion der neuen Medien – der politischen, sozialen und ethischen Konsequenzen; der innovativen Themen für den Literatur-, Geschichts- oder Kunstunterricht – zielen darauf, Medien nicht nur als Unterrichtsmittel einzusetzen, sondern auch als Unterrichtsstoff zu positionieren. Dieser Ansatz jenseits der Informatik und softwarelastigen Mediendidaktik eröffnet den Lehrern die Möglichkeit, im Studium eine auf ihre eigentliche Fachkompetenz – als Lehrer für Kunst, Geschichte oder Literatur – ausgerichtete Bildung zu den neuen Medien zu erwerben und im Unterricht zu vermitteln. Er führt schließlich zur Frage, wie die entsprechende Aus- oder Weiterbildung der Lehrer institutionell organisiert werden kann und welche Kooperationen dazu zwischen der Medienwissenschaft, der Medienpädagogik und den entsprechenden Fachdisziplinen einzugehen sind.

Medien und Universität: So wie in der Gesellschaft und in den Schulen findet auch an den Universitäten eine Digitalisierung statt, die neben der Lehre die Forschung einschließt. Der gleichermaßen von oben wie von unten vorangetriebene computational turn ist als Antwort auf die Legitimationskrise der Geisteswissenschaften zu verstehen, die durch die Selbstanwendung des Zweifels nicht nur wahrheitsunfähig geworden sind, sondern gewissermaßen auch unmoralisch, da im Namen des Relativismus ein Phänomen wie der Klimawandel leugbar und eine Formulierung wie »alternative Fakten« denkbar geworden ist. Durch den methodischen Paradigmenwechsel von hermeneutischen Studien zu Big-Data-Analysen (der zugleich ein Wechsel vom Wort zur Zahl ist) positionieren sich die Geisteswissenschaften erneut als verlässliche Wissensproduzenten mit weitreichenden Konsequenzen für ihre institutionelle Struktur und ihr gesellschaftliches Selbstverständnis.

Kritiker sehen in der methodischen Neuausrichtung der Geisteswissenschaften als Digital Humanities die politische Wende zu einem theorie- und kritikabstinenten Wissensregime. Aufrufe zur »Kritik des Mantras der Kritik« und zu einem »Ende der Theorie« scheinen diese Befürchtung zu bestätigen. Einige Beobachter erhofften sich zwar aus den interdisziplinären Kooperationen den Export geisteswissenschaftlicher Erkenntniswerte und Interpretationspraxen in sozial- und naturwissenschaftliche Forschungsfelder, müssen nun aber das Gegenteil feststellen. Ebenso ist zu bezweifeln, dass sich jene Vertreter einer algorithmischen Lektüre durchsetzen werden, die darin nur die Vorlage für das übliche Interpretationsgeschäft mit offenem Ausgang und widersprüchlichen Ergebnissen sehen. Zu vermuten ist vielmehr, dass die Digitalisierung und Quantifizierung der Forschung einen epistemologischen Paradigmenwechsel hin zu einem neuen Positivismus und Objektivismus bedeutet.

Der primäre Einsatz der neuen Medien als Mittel statt als Gegenstand der Forschung geht einher mit dem Verlust theoretischer Ambitionen und Kontroversen. Zum einen werden die neuen Medien keiner kulturwissenschaftlichen, sondern allemal einer methodologischen Kritik unterworfen. Zum anderen verschiebt sich das Lektüreziel von der ideologiekritischen symptomatischen Interpretation zur materialfokussierten deskriptiven Lektüre, was im distant reading der Algorithmen seinen technischen Ausdruck findet. Der »Teufelspakt« dieses methodischen Paradigmenwechsels liegt im Verzicht auf das, was als »Ethik des Lesens« bezeichnet wurde: die inhaltliche Horizonterweiterung, die interpretatorische Irritationserfahrung und der kognitive Prozess der Sinngebung. Die Geisteswissenschaft riskiert damit, zugunsten eines fragwürdigen Objektivitätsanspruchs gerade das aufzugeben, was ihr genuiner Beitrag für die Bewusstseinsbildung mündiger Bürger ist.

Schluss. Die Diskussion der drei Kapitel führt zu der prinzipiellen Erörterung, welche Konsequenzen die Ökonomisierung des Bildungssystems für die Gesellschaft hat und worin eine angemessene Reaktion von Schule und Universität auf die aktuelle Sachlage bestünde. Die Ausrichtung der Medienbildung auf Mediennutzungskompetenz und der Universitäten auf wirtschaftsrelevante Forschung ist als Teil des Umbaus der Gesellschaft vom Politischen zum Ökonomischen zu verstehen, der von Kritikern als Wechsel vom Modell des Homo politicus zum Homo oeconomicus beschrieben wird. Die Entwicklung zielt auf die Favorisierung kurzfristiger wirtschaftlicher und politischer Erfolge zu Lasten nachhaltiger Konzepte und Investitionen in die Fundamente einer demokratischen Gesellschaft. In diesem Klima werden Warnungen vor den gesellschaftlichen Langzeitfolgen des digitalen Wandels – Überwachungsskandale, Cyberterror, Manifeste zum Risiko einer Datendiktatur – weder von der Bevölkerung noch von der Politik entsprechend wahrgenommen.

Eine dringliche Aufgabe der Schule scheint in dieser Konstellation die »Erziehung zur Mündigkeit« zu sein, als Erziehung zu Widerspruch und Widerstand, der jeweils im Interesse der Gemeinschaft gegen sie erfolgt. Die Grundlage einer solchen Erziehung liegt in der Autonomie des Denkens abseits einer verkürzten Zweckdienlichkeit, das gerade auch schöngeistige und reflexive Formen einschließen und in der Schule einen Schutzraum finden muss. Ein solches Denken widerstrebt dem verdinglichten Bewusstsein und seiner Konsequenz der Fetischisierung der Technik, die heute mit der Macht der Algorithmen neue, besorgniserregende Gestalt annimmt.

Die gesellschaftliche Aufgabe der Geisteswissenschaften ergibt sich aus der Diskussion der Technik als Quelle von »Sachordnungen«, die der Mensch sich selbst fortwährend als Herausforderung und Entfremdungsanlass schafft. Die affirmative Negation des Status quo durch die Technik muss mit den kritischen Negationen gesellschaftlicher Vorgänge (einschließlich technischer Entwicklungen) durch geisteswissenschaftliche Diskurse in einen Dialog treten. Der spezifische Gegenstand der Geisteswissenschaften (das Leben der Menschen in der Welt) qualifiziert diese zur Auskunft auch über das Verhältnis der Menschen zur Technik und zur Rückkoppelung des Menschlichen an technische Entwicklungen im Sinne eines gesellschaftlichen Kontrolldiskurses und einer »Ethisierung der Technik«. Der »Ethik des Machens«, für die im Kontext der Digital Humanities geworben wird, ist entschieden die »Tugend der Kritik« entgegenzustellen, die eine Tugend ist, weil sie den Zweifel wach hält und so auch das Verschwinden der digitalen Medien gerade in ihrem ubiquitären stillschweigenden Einsatz verhindert.11

*In diesem Text wird bei Fällen des Plurals zwischen weiblicher und männlicher Form abgewechselt.

I. Medien und Gesellschaft

Ein Eichhörnchen,das vor deinem eigenen Haus stirbt,könnte für dich in diesem Momentinteressanter sein als Menschen,die in Afrika sterben.

(Mark Zuckerberg, 2010)

Die Botschaft der Medien sind die Medien selbst, postulierte Marshall McLuhan, für viele der Vater der Medienwissenschaft, 1964 in seinem Essay Das Medium ist die Botschaft: »jedes Medium hat die Macht, seine eigenen Postulate dem Ahnungslosen aufzuzwingen«. Inwiefern die Begriffe »ahnungslos« und »aufzwingen« die Situation jeweils korrekt beschreiben, ist von Fall zu Fall zu klären. Doch weder für das Auto noch für das soziale Netzwerk à la Facebook wird man die kulturstiftende Rolle des Mediums bestreiten können: Das Auto hat die Autogesellschaft hervorgebracht, mit all ihren Folgen für den Individualverkehr, die Bildung von Vorstädten und die Verstopfung der Innenstadt. Facebook und andere soziale Netzwerke schaffen wiederum eine Gesellschaft, in der die Kommunikation und ihre Kulturtechniken maßgeblich durch die Formen der Selbstdarstellung in den sozialen Netzwerken und deren Modus der Weltwahrnehmung bestimmt sind: eine Ungedulds- und Immersionsgesellschaft, beschreibbar durch Begriffspaare wie Hyper-Aufmerksamkeit und Multitasking, Big Data und Transparenz, Interaktion und instant gratification, Ranking, Update, Selfie, Like, Jetzt.12

Es ist bemerkenswert, wenngleich kaum erstaunlich, dass die Produzentinnen der neuen Medien sich gelegentlich vehement gegen eine Perspektive des technischen Determinismus wenden. Offenbar liegt es nicht im Interesse eines Technologiekonzerns, seinen Produkten zu viel Macht über die Menschen zu attestieren. Die Annahme, dass die Nutzer für die Folgen dieser Produkte verantwortlich sind, ist jedoch schwer durchzuhalten, wenn die Technik durch ihre Funktionsweise soziale Normen setzt, indem beispielsweise die Anzeige des Empfangs einer Nachricht in Textmessenger-Applikationen (WhatsApp, Threema) auf eine umgehende Antwort drängt. Wer da einwendet, niemand sei gezwungen, einen Textmessenger zu verwenden oder einer Textnachricht sofort zu antworten, verkennt, dass bestimmte technische Möglichkeiten bestimmte gesellschaftliche Praktiken mit sich bringen, die wiederum bestimmte Erwartungen erzeugen. Diese Praktiken und Erwartungen beeinträchtigen schließlich – als durch Technik erzeugtes soziales Postulat – die Willensfreiheit des Menschen im Umgang mit der Technik. Wie eine andere berühmte Aussage aus McLuhans Denkkreis lautet: Erst formen die Menschen ihre Werkzeuge, dann werden sie von diesen geformt.13

Selbstverständlich sind es wiederum Menschen, die das Design der Technik bestimmen: In Technik verfestigt sich das Soziale, in Software entäußern sich kulturelle Wertvorstellungen. Zugleich gilt es zu fragen, wie stark das Soziale auch vom Ökonomischen überlagert wird beziehungsweise dieses die Struktur des Technischen bestimmt. Der blinde Fleck des Technik-Determinismus – auch in seiner gemilderten Form einer Netzwerktheorie mit menschlichen und technischen Akteuren – besteht darin, die Interessen der Technologieanbieter nicht einzurechnen. Der Zusammenhang von Kultur und Technik lässt sich aber nicht ohne Blick auf Ökonomie und Politik verstehen; die Analyse muss immer auch die Frage nach den mehr oder weniger deutlich ausgeprägten wirtschaftlichen und politischen Interessen enthalten, zumal wenn es sich bei den Technologieanbietern, deren Kommunikationstechniken das Soziale verändern, um börsennotierte Privatunternehmen handelt.

Will man nicht zu personalisierten, dualistischen Machttheorien zurückkehren, muss man sich allerdings vor simplen Zuschreibungen von Ursache und Wirkung ebenso hüten wie vor der antagonistischen Reduktion der Beteiligten auf Subjekt- und Objektpositionen. Zum einen liegt der Interessenkonflikt im Individuum selbst, wenn dieses zum Beispiel für besseren Service oder aus Bequemlichkeit freigiebig mit seinen Daten umgeht und dazu beiträgt, immer transparenter (und damit analysier- und kontrollierbarer) zu werden. Zum anderen verläuft die Konfliktlinie zwischen Mensch und Technik. Die Technik folgt einer inneren Logik, die sie mitunter schon im Namen anzeigt: Der Computer (oder: Rechner) will berechnen, das Internet will vernetzen. Diese innere Logik macht den Fokus auf Zahlen (Views, Shares, Likes) und Links zum unvermeidbaren Prinzip der Online-Kommunikation. Es sei dahingestellt, inwiefern dem Medium nicht nur die Macht zuzuschreiben ist, seine eigenen Postulate dem Ahnungslosen aufzudrängen, sondern auch das Ziel, dies zu tun und somit ›bewusst‹ als Gegenspieler des Menschen aufzutreten. In jedem Fall sind die Chancen, sich den Postulaten dieses Gegenspielers zu entziehen, gering einzuschätzen, was jedem klar wird, der eine WhatsApp-Message wie einen Brief behandelt oder auf ein Facebook-Update mit einem ausführlichen Kommentar reagiert. Solche Trotzhandlungen sind zwar möglich, aber sie bestätigen als Ausnahme und durch die Reaktion, die sie erfahren, nur das, was längst die Regel ist.14

Was Facebooks Botschaft betrifft, so lässt sich diese verschiedentlich ausdifferenzieren. In psychologischer Hinsicht delegiert man das, was einem geschieht, per Mitteilung an die Freunde des Netzwerkes und hilft sich so gegenseitig, die innere Leere im Angesicht all der aufregenden Erlebnisse zu kaschieren. Aus erzähltheoretischer Perspektive lässt sich festhalten, dass durch die weniger narrativ reflektierte als spontan episodisch und dokumentarisch vollzogene Selbstdarstellung eine quasi automatische und posthumane Autobiografie entsteht, deren zentrale Erzählinstanz das Netzwerk und der Algorithmus sind. Unter politischem Gesichtpunkt scheint die phatische Kommunikation jenseits politischer und kultureller Differenzen eine Art kosmopolitische Gemeinschaft zu schaffen, zugleich aber die Entwicklung eines kritischen Denkens als Langzeitsicherung gegen neue Formen des Rechthabens zu verhindern.15

Nach Trumps Wahlsieg konnten sich alle auf eine Botschaft Facebooks einigen: die Falschmeldung. Vertieft man die Problembetrachtung medientheoretisch, erweisen sich die konkreten Falschmeldungen jedoch als der Inhalt, der nicht von der Botschaft ablenken darf: von der Filterblase, in die Facebook seine Nutzer drängt. Denn das Phänomen der Falschmeldung lässt sich nicht ohne Blick auf Facebooks Funktionslogik verstehen. Eine Medienbildung, die über die Feststellung des Offensichtlichen hinausgehen will, zielt auf die Analyse dieser Logik sowie ihrer ökonomischen Gründe und sozialen Folgen. Im Ergebnis führt dies zur Einsicht, dass Facebook nicht nur der Ort ist, an dem Falschmeldungen präsentiert werden, sondern auch der Ort, der das Interesse für diese maßgeblich produziert.

1. Das Ende der Experten

Sobald der neue Präsident der USA feststand, wurde Facebook vorgeworfen, Trump-Anhängern eine Plattform geboten und Falschmeldungen in dessen Interesse verbreitet zu haben. Damit verkannte man zutiefst das zentrale Kennzeichen sozialer Netzwerke wie Facebook: Sie produzieren nicht bestimmte Nachrichten, sondern verbinden Menschen jeglicher Art, die alle möglichen Nachrichten untereinander austauschen. Nicht ein Medienunternehmen, sondern eine Technikplattform zu sein, gehört zum immer wieder betonten Selbstverständnis Facebooks. Angesichts der Tatsache, dass Facebook faktisch die größte Zeitung der Welt ist, geriet Zuckerberg nach Trumps Wahlsieg trotzdem und zu Recht unter Erklärungsdruck, zumal dieser sich auch noch bei Facebook und Twitter für die Unterstützung bedankte.16

Zuckerbergs Argument, nur ein Prozent aller Meldungen, die Nutzer auf Facebook sehen, seien »fake news« und »hoaxes«, überzeugte – selbst wenn die Zahl richtig sein sollte – freilich schon Ende 2016 kaum, wenn man all die unpolitischen Meldungen, Katzen- und Babyfotos, Selfies und Foodies, abzieht und in Rechnung stellt, dass die Falschmeldungen zum Wahlthema in der Endphase deutlich mehr Reaktionen auf Facebook auslösten als die Meldungen seriöser Medienunternehmen wie New York Times oder NBC News. Berechtigter ist der Einwand, es sei kompliziert, die Wahrheit zu identifizieren und Löschbefehle zu erteilen, da es zum einen viele Beiträge gebe – auch aus dem Mainstream, wie Zuckerberg nicht anzumerken versäumte –, die insgesamt der Wahrheit entsprechen, im Detail aber Fehler aufweisen. Darüber hinaus empfinde man manche Beiträge nur als falsch, weil sie der eigenen Perspektive widersprechen. Wir müssen sehr vorsichtig sein, so Zuckerberg damals völlig zu Recht, nicht als Schiedsrichter der Wahrheit auftreten zu wollen.17