Abfall - Roberto Simanowski - E-Book

Abfall E-Book

Roberto Simanowski

4,9

Beschreibung

Wie viel Uber verträgt die Welt? Wie kosmopolitisch sind Todesalgorithmen? Welche Erinnerungen ruft eine digitale Madeleine hervor? Warum kam das Radio einst zu früh und das Internet zu spät? Wie wurden die Nerds Sieger der Geschichte? Wäre Faust, der nie im Augenblick verweilen wollte, heute auf Facebook? Rettet Zuckerberg das Projekt der Moderne durch Alternativen zu Religion und Ideologie? Dieses Buch erklärt Medien durch die Hintertür. Auf oft überraschende, bisweilen scheinbar abwegige, immer aber inspirierende Weise zeigt Roberto Simanowski die kulturellen Folgen technologischer Entwicklung auf.

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Abfall. Das alternative ABC der neuen Medien

Fröhliche Wissenschaft 110

Roberto Simanowski

Abfall. Das alternative ABC der neuen Medien

Inhalt

A wie Abfall – ein Vorwort

Die Schuldfrage: Trump und Zuckerberg

Faust auf Facebook

Gläserner Mensch

Schicksalsjahr 1984

Leben als Archiv

Digitale Madeleine

Die Moral des Haiku

No-Foto-Tag

Dialektik der Partizipation

Tod der Experten

Shitstorm

Nerd-Attack

Kommunikationsutopien

Wie Facebook die Welt rettet

Anmerkungen

A wie Abfall – ein Vorwort

A wie Abfall, so könnte ein ABC der neuen Medien anfangen, ginge es um die Abarbeitung seiner Aspekte in alphabetischer Reihenfolge. Denn »Abfall« ist in verschiedener Weise ein ständiger Begleiter dessen, was man in den 1990er Jahren als »neue Medien« zu bezeichnen begann: Medien, die Daten in digitaler Form produzieren, speichern, präsentieren und übertragen – das also, was Ende der 1990er Jahre als »Internet« in aller Munde war. Die erste Lesart des Titels, den es hier zu klären gilt, ist der Abfall des Internet vom ARPANET beziehungsweise des ARPANET vom MILNET. Denn wie so oft in der Geschichte der Medien sind auch die neuen nichts weiter als ein Abfallprodukt militärischer Entwicklung.

Es begann am 4. Oktober 1957, als die Sowjetunion einen Sputnik in den Weltraum schoss und damit dem potenziellen Kriegsgegner USA ihren Technologievorsprung deutlich machte. Das Pentagon gründete daraufhin am 7. Januar 1958 die Defense Advanced Research Projects Agency, kurz DARPA: eine Agentur zur Beförderung der Kriegsforschung. Um die Kapazitäten der beteiligten Institute zu erhöhen, verband die DARPA 1969 die Großrechner von vier Universitäten (Stanford Research Institute, University of Utah, University of California Los Angeles, University of California Santa Barbara) zum Advanced Research Projects Agency Network, kurz: ARPANET. Weitere Universitäten, die für das Verteidigungsministerium forschten, folgten, so dass 1983 etwa 500 Computer über das ARPANET miteinander verbunden waren.

Die zivile Nutzung der Kriegstechnologie setzte inoffiziell dann ein, als man in den Mailinglisten, die mit dem ARPANET als zentrales Kommunikationsmittel entstanden waren, weniger über militärische Forschung als über Science Fiction-Filme sprach. Das Pentagon trennte deswegen 1983 das geheime MILNET (Military Network) vom ARPANET und überließ dieses dem öffentlichen Gebrauch, der sich zunächst darauf beschränkte, alle Universitätsangehörigen mit einem Emailzugang auszustatten. Als die National Science Foundation (das US-Äquivalent zur Deutschen Forschungsgemeinschaft) 1990 das, was nun »Internet« genannt wurde, auch außerhalb der Universitäten zugänglich machte, begann mit Online-Diensten wie AOL, Yahoo, Amazon und Ebay dessen Kommerzialisierung. Zu den technischen Stichworten dieser Entwicklung gehören Telnet, Usenet, FTP (File Transfer Protocol), TCP (Transmission Control Protocol) und WWW (World Wide Web), das mit der Hypertext-Technologie 1991 die Dokumente des Internet nutzerfreundlich verlinkte, sowie Mosaik, der Webbrowser, der 1993 erlaubte, auch Grafiken und interaktive Elemente in die Webseiten einzubinden.

Der Rest ist Geschichte. Das ›Abfallprodukt‹ Internet beeinflusst seitdem alle individuellen und gesellschaftlichen Bereiche des Lebens. Kommunikation, Wissenserwerb, Identitätsbildung, Freundschaft, Einkaufen, Fernsehen, Musikhören, Urlaubsplanung, Urlaubmachen, Urlaubsfotopräsentation … nichts ist mehr, wie es vorher war. Am 24. Januar 2013 etablierten sich die Folgen des Sputnik-Schocks von 1957 als neues Rechtsgut: Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs hatte sich das Internet »zu einem die Lebensgestaltung eines Großteils der Bevölkerung entscheidend mitprägenden Medium entwickelt, dessen Ausfall sich signifikant im Alltag bemerkbar macht« und deswegen schadensersatzpflichtig ist.1

Soweit konnte es freilich nur kommen, weil frühzeitig eine effektive Abfallbeseitigung organisiert wurde. Unter dem martialischen Namen SpamAssassin ›erledigte‹ ein Filterprogramm die unerwünschten Nachrichten, die sehr schnell nach der Popularisierung von Email und Internet zum Hauptfaktor des kommunikativen Rauschens wurden. Es bedurfte verlässlicher Algorithmen, um die Kommunikation im neuen Medium einigermaßen sinnvoll zu halten. Der SpamAssassin und sein Vorläufer filter.plx kümmerten sich darum seit 1997. Das war allerdings erst der Anfang des Beseitigens. Die Zukunft des SpamAssassin ist die ›Erledigung‹ auch des Menschen, denn die Müllabfuhr im Feld der Kommunikation ist zugleich das erste Übungsfeld der künstlichen Intelligenz.

Am Spam lernt die Software Mustererkennung, bis sie schließlich selbst in der Lage ist, die guten Emails in den Posteingang und die schlechten in den Abfalleimer zu leiten. Alle aktuelle und künftige algorithmische Analyse und Regulation, alle Phantasien über intelligente Kühlschränke, selbstfahrende Autos, lernfähige Roboter, die uns heute begeistern oder beunruhigen, haben hier ihren Anfang. Der jüngere, gefährlichere Bruder des SpamAssassin heißt Death-Algorithm, der in selbstfahrenden Autos im Notfall entscheiden wird, ob das Fahrzeug in eine Gruppe von Fußgängern, auf eine Mutter mit Kind oder gegen eine Häuserwand fährt. Damit wird die Moralphilosophie zum zentralen Faktor der Autoproduktion, denn unsere Fahrzeuge werden ihr Verhalten künftig daran ausrichten, was ihnen als ethische Richtlinie einprogrammiert wurde.

Das Phänomen der selbstlernenden Software führt zum nächsten Abfall-Aspekt der neuen Medien. »Garbage in, garbage out!« So wird in der Informationswissenschaft das Problem beschrieben, dass die Qualität des Inputs die Qualität des Outputs bestimmt. Ein Beispiel dafür war im Frühjahr 2016 Microsofts AI Chatbot TayandYou, das (beziehungsweise die, denn das Bot trat als Thai-Frau auf) auf Twitter versuchte, von Menschen zu lernen. Das führte schon nach wenigen Stunden der Interaktion dazu, dass TayandYou rassistische und sexistische Tweets verschickte und vom Netz genommen werden musste. Schlechte Gesellschaft verdirbt auch bei künstlicher Intelligenz den Charakter. Was aber geschieht, wenn man die Kinderstube der Bots ändert? Wenn man ihnen politische Korrektheit und mitmenschliche Empathie beibringt, bevor sie auf Fremde losgelassen werden? Können sie dann unsere Freunde sein?

Ein Beispiel dafür wäre der von Google angebotene persönliche Assistent Google Now, der fast zeitgleich zum Fehlverhalten von Microsofts Chatbot einem Nutzer, der seine auf Google Photos gespeicherten Bilder aus Nizza sehen wollte, zunächst Beileid für den Tod seines Vaters vor sechs Jahren bei einem Unfall in Nizza aussprach. Google Now weiß so etwas von unseren Emails auf Google Mail, und es reagiert in dieser Weise, weil es genau so programmiert wurde.2 Spannend ist die geschichtsphilosophische Hochrechnung dieser Anekdote: Was passiert, wenn künstliche Intelligenz (als Chatbot, Google Now, Siri, Jibo oder eben Fahrzeugführer) unter der moralischen Kontrolle seiner Programmierer zum High-Quality-Input der gesellschaftlichen Kommunikation wird? Kann künstliche Intelligenz, statt den Menschen zu verderben, diesen letztlich auch verbessern?

Es gibt weitere Gründe, ein ABC über neue Medien mit dem Stichwort »Abfall« zu beginnen. Einer führt direkt zu dem, was Ende der 1990er Jahre »digitale Literatur« und allgemeiner »Netzkultur« genannt wurde. Abfall für alle: Roman eines Jahres, so heißt das 1999 erschienene Buch des späteren Büchner-Preisträgers Rainald Goetz. Der Titel war ein koketter Kommentar auf das, was ein Tagebuch ist, jedenfalls wenn jemand wie Goetz es schreibt: Textliche Abfälle täglicher Erlebnisse, Gefühle und Gedanken. Der literaturwissenschaftliche Reiz dieser Abfälle lag darin, dass sie nicht nachträglich bearbeitet wurden, wie es sonst bei zu Lebzeiten veröffentlichten Tagebüchern der Fall ist. Denn Goetz’ Text erschien zuerst im Internet, und zwar immer an dem Tag, um den es ging.

Abfall für alle war eines der literarischen Internetprojekte, die im ausgehenden 20. Jahrhundert lanciert wurden, um das Schreiben unter den Bedingungen der neuen Medien zu erkunden: »Ein Pioniertext ganz ohne die Verständnishürden der Avantgarde«, so empfahl sich der Klappentext. Und in der Tat, es war einfach Text; ohne Hyperlinks und ohne Multimedia. Die einzige Änderung, die das neue Medium Internet der alten Gattung Tagebuch brachte, war die Verkürzung der Publikationslinie mit dem Versprechen größerer Authentizität; und das war gerade für dieses Genre nicht wenig: Ging der Text sofort online, war keine Glättung des Eintrags lang nach Mitternacht, als man betrunken und verärgert von einer Party heimkam und mit einem letzten Bier am Computer saß, mehr möglich. Und da jede spätere Änderung des Textes sich nachweisen ließ, entkam das Tagebuch dem Internet auch nicht als gedrucktes Buch.

Goetz’ Echtzeittagebuch war der harmlose Auftakt für Live-Tagebücher, die neben allem Möglichen vor allem auch vom Sterben sprachen. Weblogs, die nach der Krebsdiagnose des Autors oder seiner Partnerin begonnen wurden und mit dem Tod, der manchmal ein Selbstmord war, endeten. Versuche, dem Leiden ein Gesicht zu geben. Versuche, im Schreiben eine letzte Form der Souveränität zu spüren, wo sich andere nur wie ›Abfall‹ fühlen, weil das Leben sie aus dem Glück stößt. Online-Begegnungen mit Fremden, ebenfalls Betroffene oder einfach Ergriffene. Ausweitungen des Kommunikationsraumes, den solche Schicksalsschläge bisher immer drastisch reduziert hatten. Dies sind die anderen sozialen Netzwerke, die das Internet ermöglicht, jenseits des Selbstmarketings und wechselseitiger »Like«-Gaben, jenseits der schamlos glücklichen Selfies und des unerträglich banalen Smalltalks: Ein Aufgefangensein nach dem Fall.

Auch dies erschöpft den Bedeutungsrahmen von »Abfall« im Kontext der neuen Medien noch keineswegs. Fast zeitgleich zu Goetz’ Internet-Tagebuch begann der Holländer Alex van Es im August 2000 auf seiner Website icepick.com seinen Müll aufzulisten, indem er alles, was er wegschmiss, vorher einem Barcode-Scanner zeigte. Dieser auskunftsfreudige Abfalleimer ist der Prototyp des »intelligenten Mülleimers«, den inzwischen Forscher der Universität Newcastle bauen: Ein Mülleimer, der seinen Inhalt an die Müllabfuhr meldet, die dadurch ihre Arbeit besser koordinieren kann.3 Dass auch das Rathaus an solchen Daten interessiert ist, um die Bevölkerung effektiver zur korrekten Mülltrennung zu erziehen, wird niemanden überraschen. Aus einer Nerd-Idee – die bei van Es auch die Toilettenspülung und andere Details des Alltagsverhaltens einschloss – ist fünfzehn Jahre später eine Überwachungstechnologie geworden, deren Besitz vielleicht schon in zehn Jahren Bürgerpflicht sein wird.

Es ist dieser Wandel, es ist diese Wende von einem quasi avantgardistischen Projekt der rückhaltlosen Selbstdarstellung (ein anderes Beispiel ist die US-Amerikanerin Jennifer Ringley, die 1996 als 19-jährige Studentin auf jennicam.com begann, Bilder nonstop und unzensiert aus allen Räumen ihres Apartments ins Netz zu laden, sowie das deutsche »Camgirl« Tina, die auf tinacam.de seit 1998 das Gleiche mit mehr Tabus betrieb) zu einer globalen Kultur des Selbstmarketings auf kommerziellen Plattformen wie Facebook, der viele Pioniere und Advokaten vom einstigen Glauben an die Internet-Kultur abfallen ließ. Nach dem »critical turn« der New Media Studies Anfang des neuen Jahrhunderts heißt die Losung nicht mehr »Information wants to be free«, sondern: »Information needs protection«. Das anfängliche Lob der (individuellen) Freiheiten und (demokratischen) Möglichkeiten des Internet ist der Kritik seiner Negativposten gewichen: Überwachung, Narzissmus, kollektive Einsamkeit, Self-Tracking, Filter Bubble, algorithmische Regulation – ganz zu schweigen von so gefährlichen Nebenwirkungen wie hyper-attention, power browsing, der Sucht nach instant gratification und der »fear of missing out« (FOMO). Dieser Abfall von den Utopien des Beginnens ist wohl die schmerzlichste Lesart des Titels, den dieses Buch über die neuen Medien trägt.

Schließlich ist von einem Abfall zu sprechen, der dieses Buch in ganz eigener, methodischer und sprachlicher Weise betrifft: Der Abfall von einem Wissenschaftsstil, der in vielerlei Hinsicht seine Berechtigung haben mag, hier aber nicht zur Anwendung kommen soll.

Der Begriff gilt als ein Produkt der Vernunft, wenn nicht sogar ihr Triumph, und ist es wohl auch. Das läßt aber nicht die Umkehrung zu, Vernunft sei nur dort, wo es gelungen oder wenigstens angestrebt sei, die Wirklichkeit, das Leben oder das Sein – wie immer man die Totalität nennen will – auf den Begriff zu bringen.

Mit diesen Worten beginnt Hans Blumenbergs Theorie der Unbegrifflichkeit, die dem Fokus des zeitgenössischen Denkens auf Vernunft, Wahrheit und Begründung die Verteidigung des Unbegrifflichen, Metaphorischen, Erzählerischen entgegensetzt.4 Es ist keine Verdammung der Rationalität, die Blumenberg im Sinn hat, wohl aber eine Korrektur. Denn auch wenn die Intention der Vernunft natürlich etwas mit der Leistung des Begriffs zu tun hat: »Es gibt keine Identität zwischen Vernunft und Begriff.« Anders gesagt: Damit der Begriff nicht die Ansprüche der Vernunft behindert, muss er genügend »Spielraum für all das Konkrete, was seiner Klassifikation unterliegen soll«, besitzen.5

Blumenbergs Plädoyer für das unbegriffliche Offenhalten des Denkprozesses hat ihren Vorläufer in seiner Metaphorologie, die Metaphorik keineswegs als »Vorfeld der Begriffsklärung, als Behelf in der noch nicht konsolidierten Situation von Fachsprachen« sieht, sondern als »authentische Leistungsart der Erfassung von Zusammenhängen«.6 In beiden Schriften – und mit dem narrativen Stil seines gesamten Werkes – positioniert sich Blumenberg als Vertreter einer Lebenswelthermeneutik gegen theoretische Schulen, die den Prozess der theoretischen Neugierde in methodische und terminologische Zwänge verstricken und dabei nicht selten austrocknen. Der »Mut zur Vermutung«, den der Geist mittels Metaphern zeigt, und der Aufruf zum Offenhalten des Denkprozesses durch eine entsprechende Unbegrifflichkeit hat seine Vorbilder in der Praxis eines Siegfried Kracauer und Walter Benjamin, die in ihren »Miniaturen« – so bezeichnet Andreas Huyssen diese Stilform – ebenfalls bilderreich und gedankenmutig die kulturellen Umbrüche ihrer Zeit einzufangen versuchten.7

Die theoretische Absicherung eines solchen Verfahrens liefert Theodor W. Adorno, der – trotz seiner gelegentlichen Kritik an vagen Metaphern und Analogien – die »vorkritische Verpflichtung zu definieren« als Verlangen verwirft, »durch festsetzende Manipulationen der Begriffsbedeutungen das Irritierende und Gefährliche der Sachen wegzuschaffen«.8 Dem Bewusstsein der Nichtidentität, das Adorno in seiner Negativen Dialektik zu schärfen sucht, entspricht die Form des Essays, der – »radikal im Nichtradikalismus, in der Enthaltung von aller Reduktion auf ein Prinzip« – in Freiheit »zusammen[denkt], was sich zusammenfindet in dem frei gewählten Gegenstand«.9 Im Essay macht sich der Denkende »zum Schauplatz geistiger Erfahrung, ohne sie aufzudröseln«; der Essay ist »methodisch unmethodisch«; er ist keine »Abschlagszahlung auf kommende Synthesen«, im Gegenteil, er »zehrt die Theorien auf, die ihm nah sind«, will nichts auf den Punkt bringen, schon gar nicht auf einen soliden Standpunkt, sondern tendiert »zur Liquidation der Meinung, auch der, mit der er selbst anhebt.«10

Ein solcher Essay, das war Adorno klar, reizt – zumal in Deutschland – »zur Abwehr, weil er an die Freiheit des Geistes mahnt«, die sich den Instanzen der »hieb- und stichfesten, lückenlos durchorganisierten Wissenschaft« – Foucault wird dies später Diskurspolizei nennen – nicht unterordnet.11 »Der Essay ist die Form der kritischen Kategorie unseres Geistes«, so Adorno schließlich mit einem Zitat von Max Bense, denn kritisieren heißt, den Gegenstand erneut und anders sichtbar zu machen.12

Blumenberg, Adorno und Bense sind Beleg dafür, dass der Fokus deutscher Wissenschaftskultur auf begriffliche Schärfe und theoretische Stringenz nicht nur durch französische und US-amerikanische Autoren relativiert, sondern gelegentlich selbst in den ›eigenen Reihen‹ in Frage gestellt wird. Die Öffnung des Denkens, die diese drei deutschen Philosophen und Wissenschaftstheoretiker vor 40 oder 50 Jahren betrieben (weitere Beispiele wären Walter Benjamin oder Paul Feyerabend), bewirbt avant la lettre das theoretische Erbe der Postmoderne, für die begriffliche Abschließungen und theoretische Monokulturen nicht nur ein erkenntnistheoretisches, sondern auch ein moralisches Problem waren und gelebte Perspektivenvielfalt die Praxis zur Theorie. Diesem Erbe fühlt sich das vorliegende Buch – und dieser Abfall vom Üblichen ist damit vielleicht die wichtigste Bedeutungsvariante seines Titels – verpflichtet.

Ein ABC richtet sich an Anfänger mit dem Ziel, Lesefähigkeit zu vermitteln. Ein ABC der Medien vermittelt entsprechend die Fähigkeit, Medien zu lesen. Anders gesagt: Ein ABC der Medien vermittelt »media literacy« beziehungsweise Medienbildung. Die übliche Adressierung eines ABC bringt notwendigerweise das methodische Verfahren mit sich, einen komplexen Sachverhalt so einfach wie möglich darzustellen. Diesem Anliegen verschreibt sich ausdrücklich Das ABC der Medien (2007) von Norbert Bolz, das konsequenterweise auf Wissenschaftsjargon verzichtet und den akademischen Apparat dezent am Ende des Buches platziert. Beide Entscheidungen werden für das vorliegende ABC aufgegriffen.

Anders verhält es sich mit Bolz’ Versprechen der Vereinfachung komplexer Sachverhalte. Das vorliegende Buch ist alternativ zu Bolz’ ABC eher der Komplexität scheinbar einfacher Sachverhalte verpflichtet. Es zielt darauf, den inzwischen mehr oder weniger etablierten Phänomenen unserer digitalen Lebenswelt ihre paradoxe Logik abzulauschen, ihre geheimen Bezüge und verdeckten Konsequenzen aufzudecken. Die Texte, die dieses Buch versammelt, widerstehen dem »Bann des Anfangs«,13 indem sie ihren Gegenstand mehrfach wenden, ihn umlaufen wie eine Skulptur, ihn aus verschiedenen Richtungen betrachten, und, wie der Witz, Verbindungen schaffen, wo keine vermutet werden. Sie sind Streiflichter und Scheinwerfer, die vieles vorübergehend beleuchten und auch das, was sich noch kaum richtig fassen lässt, in die Hand nehmen.

Das Ergebnis sind Essays, die über das Naheliegende hinausgehen und, vermessen oder leichtsinnig, den Versuch unternehmen, den Bezugsreichtum des angegangenen Themas auszuloten. Essays, die darauf aus sind, die Lesbarkeit der stattfindenden digitalen Revolution zu fördern – und sich dabei an Adornos Gewährsmann Bense halten:14

Essayistisch schreibt, wer experimentierend verfaßt, wer also seinen Gegenstand hin und her wälzt, befragt, betastet, prüft, durchreflektiert, wer von verschiedenen Seiten auf ihn losgeht und in seinem Geistesblick sammelt, was er sieht, und verwertet, was der Gegenstand unter den im Schreiben geschaffenen Bedingungen sehen läßt.

Die Schuldfrage: Trump und Zuckerberg

Hat Facebook wirklich Trump ermöglicht? Wer gehört zu seiner geheimen »Facebook-Armee«? Wieviel Schuld trifft Zuckerberg? Und was ist mit Twitter? Die Medien überschlugen sich mit Schuldzuweisungen und machten aus jedem Rest eine Geschichte. Facebook wurde angeklagt, Lügen zugunsten Trumps zu verbreiten, seinen Anhängern einen Versammlungsort zu bieten und ihm die Möglichkeit, sie zu erreichen. Man versuchte fieberhaft, die sozialen Medien für Trumps Wahlsieg verantwortlich zu machen, nachdem man den 45. Präsidenten der USA selbst bedenkenlos hofiert hatte, als dieser noch ein belächelter, aber skandalträchtiger und also quotenwirksamer Kandidat unter vielen war.

Dann ging es um die Filterblase, die auf Facebook alle Nutzer in einen Kreis Gleichgesinnter einlullt, der schließlich so viele Hasskommentare und Gewaltandrohungen gebiert, dass die Münchner Staatsanwaltschaft sogar ein Ermittlungsverfahren gegen Zuckerberg eröffnete wegen des Verdachts auf Beihilfe zur Volksverhetzung. Damit unterstellte man Facebook genau den Einfluss auf die Gesellschaft, den das soziale Netzwerk zweifellos hat, bezichtigte aber den Richtigen für das Falsche.

Man kann Zuckerberg kaum Falschmeldungen oder die Versammlung der Falschen zum Vorwurf machen und möchte ihn, angesichts all der voreiligen Vorwürfe bis hin zur Trump-Werbung durch Mazedonische Jugendliche, fast in Schutz nehmen. Und doch: Der Verdacht besteht, dass Facebook dadurch, dass es ist, wie es ist, in mehrfacher Hinsicht Demagogen wie Trump den Weg ebnet. Sollte der öffentliche Diskurs ein Ermittlungsverfahren gegen Zuckerberg eröffnen – und zumindest als Gedankenexperiment sollte er dies zum besseren Verständnis unserer Mediengesellschaft unbedingt tun –, müsste die Anklage nicht auf Volksverhetzung lauten, sondern auf Volksverdummung. Hauptbelastungszeuge wäre weiterhin die Filterblase, aber anders, als man denkt.15

Facebook als Filterblase