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Zwischen Not und Hoffnung. Eine mutige Ärztin setzt für ihre Patienten alles aufs Spiel. Die mitreißende Waldfriede-Saga geht weiter!
Berlin-Zehlendorf, 1939. Mit Kriegsbeginn müssen die Schwestern und Ärzte im Krankenhaus Waldfriede geschlossen zusammenstehen. Doch der jungen selbstbewussten Assistenzärztin Helene fällt es schwer, den Frieden im Haus zu wahren: Immer wieder gerät sie mit dem Chefchirurgen, einem überzeugten NSDAP-Mitglied, aneinander. Trost findet sie auf Spaziergängen in den Parkanlagen der Klinik – und bei dem sympathischen Gärtner Timo. Aus ihrer anfänglichen Freundschaft entwickelt sich schnell ein inniges Verhältnis, bis Timo überraschend zum Wehrdienst eingezogen wird. Als Helene bemerkt, dass auch ein anderer Mann Gefühle für sie entwickelt, muss sie ihr Herz ergründen, doch dieses ist erfüllt von Sorge – denn es ist nur eine Frage der Zeit, bis die ersten Bomben über Berlin und dem Waldfriede fallen werden.
Nach wahren Begebenheiten: Inspiriert von der Chronik einer Krankenschwester erzählt Erfolgsautorin Corina Bomann die Geschichte der Berliner Waldfriede-Klinik.
Entdecken Sie die weiteren Bände der mitreißenden Waldfriede-Saga:
1. Sternstunde. Die Schwestern vom Waldfriede
2. Leuchtfeuer. Die Schwestern vom Waldfriede
3. Sturmtage. Die Schwestern vom Waldfriede
4. Wunderzeit. Die Schwestern vom Waldfriede
Alle Bände der Saga sind auch einzeln lesbar.
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Seitenzahl: 790
Zwischen Not und Hoffnung. Eine mutige Ärztin setzt für ihre Patienten alles aufs Spiel. Die mitreißende Waldfriede-Saga geht weiter!
Berlin-Zehlendorf, 1939. Mit Kriegsbeginn müssen die Schwestern und Ärzte im Krankenhaus Waldfriede geschlossen zusammenstehen. Doch der jungen selbstbewussten Assistenzärztin Helene fällt es schwer, den Frieden im Haus zu wahren: Immer wieder gerät sie mit dem Chefchirurgen, einem überzeugten NSDAP-Mitglied, aneinander. Trost findet sie auf Spaziergängen in den Parkanlagen der Klinik – und bei dem sympathischen Gärtner Timo. Aus ihrer anfänglichen Freundschaft entwickelt sich schnell ein inniges Verhältnis, bis Timo überraschend zum Wehrdienst eingezogen wird. Als Helene bemerkt, dass auch ein anderer Mann Gefühle für sie entwickelt, muss sie ihr Herz ergründen, doch dieses ist erfüllt von Sorge – denn es ist nur eine Frage der Zeit, bis die ersten Bomben über Berlin und dem Waldfriede fallen werden.
Corina Bomanns Romane sind mit einer Gesamtauflage von über zwei Millionen Exemplaren nicht aus den Bestsellerregalen wegzudenken. Mit ihren beliebten historischen Sagas steht sie regelmäßig auf den vorderen Plätzen der SPIEGEL-Bestsellerliste – so zuletzt mit Sternstunde und Leuchtfeuer, den ersten beiden Bänden ihrer groß angelegten Waldfriede-Saga. Mit der vierbändigen Romanreihe um die Berliner Klinik erfüllt sie sich einen Herzenswunsch: Inspiriert durch die echte Chronik des Hauses, von deren Existenz sie während eines Aufenthalts dort erfuhr, möchte sie der Klinik und ihrer ereignisreichen Geschichte ein Denkmal setzen. Corina Bomann lebt in Berlin-Zehlendorf – in direkter Nachbarschaft zur Waldfriede-Klinik.
Entdecken Sie die weiteren Bände der mitreißenden Waldfriede-Saga:
1. Sternstunde
2. Leuchtfeuer
3. Sturmtage
4. Wunderzeit
Alle Bände der Saga sind auch einzeln lesbar.
Sternstunde in der Presse:
»Ein spannend aufbereitetes Zeitdokument.« Münchner Merkur
»Mitreißendes Historienkino vom ersten bis zum letzten Satz. Solch eine Lektüre ist von größter Seltenheit, hallt außerdem noch lange im Herzen nach.« literaturmarkt.info
»Spannender Auftakt einer Saga, die auf wahren Begebenheiten beruht!« OK!
Außerdem von Corina Bomann lieferbar:
Sternstunde. Die Schwestern vom Waldfriede
Leuchtfeuer. Die Schwestern vom Waldfriede
Corina Bomann
DIE SCHWESTERN VOM WALDFRIEDE
ROMAN
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Copyright © 2022 by Penguin Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Carlos Westerkamp
Karte: Peter Palm
Covergestaltung: www.buerosued.de
Coverabbildung: Trevillion Images / Magdalena Russocka / www.buerosued.de
Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-28304-9V005
www.penguin-verlag.de
Die Abendsonne stand bereits tief, als Helene sich dem Festplatz näherte. Stallgeruch lag in der Luft. Der süße Duft der Zuckerwatte, die am Eingang verkauft wurde, setzte sich dagegen kaum durch. In der Mitte erhob sich, stolz und mit zwei Kuppeln, das rot-weiße Zelt des Zirkus Caroli.
Drei Jahre war es inzwischen her, dass Helene die Liebe ihres Lebens kennengelernt hatte. Bei einem ihrer ersten Rendezvous hatte Antonio sie über das Gelände des Zirkus geführt. Fasziniert hatte sie die bunten Wagen betrachtet, die leuchtenden und schillernden Kostüme, die auf Wäscheleinen trockneten. Und er hatte ihr auch die Löwen gezeigt und erklärt, dass sie eigentlich recht harmlose Burschen waren, wenn man sie nicht reizte.
Dennoch hatte Helene größten Respekt vor den Tieren und dem Dompteur, der es bei den Vorstellungen darauf anlegte, die Löwen besonders gefährlich wirken zu lassen.
»Und wenn er nun gebissen wird?«, hatte sie gefragt, während sie eines der gewaltigen Raubtiere beobachtete, das beim Gähnen seine mächtigen Fänge zeigte. »Habt ihr einen Arzt bei euch?«
»Nein. Der alte Simeon versteht aber etwas von Kräutern.
»Die werden kaum helfen, wenn der Löwe eurem Dompteur die Hand abbeißt. Oder jemand vom Trapez fällt.«
Antonio hatte seine Arme lachend um ihre Taille geschlungen. »Nun, dafür gibt es ja Krankenhäuser. Und Menschen wie dich. Wenn du eines Tages mit mir kämst, wärst du die erste Zirkusärztin.«
»Ich bin doch noch nicht fertig«, erwiderte Helene lachend. Damals war sie im sechsten Semester gewesen und noch so weit entfernt davon, eine richtige Ärztin zu sein.
Schon als Kind hatte sie diesen Beruf ergreifen wollen. Sie liebte Menschen, und es machte sie traurig, dass viele von ihnen so elend an furchtbaren Krankheiten sterben mussten. Später hatte sie sich vehement gegen ihren Vater durchgesetzt, der es lieber gesehen hätte, wenn sie Botanikerin geworden wäre.
In der Medizin fand sie Erfüllung, doch ein Nachmittag in diesem Zirkus hatte alles verändert. Natürlich wollte sie weiterhin Ärztin sein, aber Antonio hatte ihr eine neue Welt eröffnet. Er zog mit dem Zirkus durch die Lande, gastierte mal hier, mal da und sah mehr Städte, als sie es sich momentan vorstellen konnte. Sein freies Leben hatte sie auf Anhieb fasziniert.
Mittlerweile hatte sie ihr Examen in der Tasche, in diesem Sommer sollte sich entscheiden, welchen Weg sie als Medizinerin einschlug: Charité oder ein anderes Krankenhaus?
Doch mehr und mehr kam sie sich wie ein Vogel in einem goldenen Käfig vor. Ihre Eltern behüteten sie und taten alles für sie, doch Antonios schöne dunkle Augen, seine Küsse und die Reisen, von denen er schwärmte, erschienen ihr wesentlich erstrebenswerter.
»Sie wollen sich doch nicht einfach so in den Zirkus schleichen, junges Fräulein?« Jemand berührte sie an der Schulter. Erschrocken wirbelte Helene herum und blickte direkt ins Gesicht von Antonio, der sie unverschämt anlächelte.
»Na, wie geht es meiner Frau Doktor heute?«, fragte er, zog sie an sich und küsste sie lang und leidenschaftlich.
Ein warmer Schauer durchflutete Helene und machte es ihr unmöglich, seine Frage zu beantworten. Wenn sie seinen Körper spürte, war sie ein völlig anderer Mensch. Sie vergaß alles um sich herum und kannte nur noch den Wunsch, bei ihm zu sein.
Erst als er sie losließ und ansah, kam sie wieder zu sich.
»Gut geht es mir. Doch ich bin auch traurig. Heute ist unser letzter Abend …«
Er küsste sie erneut und streichelte ihr Haar. »Ich habe großartige Neuigkeiten!«, sagte er dann.
»Und welche?«
»Wir haben für den Herbst ein Engagement in Italien erhalten. Ist das nicht wunderbar? Wenn hier alles grau ist, werde ich in der Sonne sitzen, Oliven und Tomaten essen und vielleicht einige Zaubertricks im Freien aufführen.«
»Das … ist schön.« Helene konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen. Sie hatte darauf gehofft, dass der Zirkus im Herbst erneut in Berlin gastieren würde. »Allerdings bist du dann so weit weg von mir.«
»Ja, das ist wirklich sehr schade. Aber bisher haben wir uns doch auch nur jedes halbe Jahr getroffen, nicht wahr?«
Helene nickte. »Ich habe das Gefühl, dass mir das nicht mehr reicht. Ich würde am liebsten für immer bei dir sein! Ich bin fertig mit der Universität, hier hält mich nichts mehr.«
Antonios Miene verschloss sich plötzlich. Jedes Mal, wenn sie sich sahen, sprachen sie davon, dass sie mit ihm gehen könnte, sobald das Studium abgeschlossen war. Jetzt war es endlich so weit, und es irritierte Helene, dass er nicht begeistert wirkte.
»Ich weiß nicht, ob das gut wäre.« Er presste die Lippen zusammen, und seine Miene wurde ernst.
Helene zog die Augenbrauen hoch. »Warum denn nicht?«
»Du bist eine studierte Frau. Was hat ein Zirkusartist dir schon zu bieten?«
»Du bist ein Zauberer«, korrigierte sie ihn.
»Eher ein Zauberlehrling.«
»Aber ein guter!« Hin und wieder zeigte Antonio einen Trick, und sie war stets von Neuem fassungslos, wie er es schaffte, Münzen verschwinden zu lassen oder Taschentücher aus dem Nichts hervorzuziehen.
»Außerdem …« Er stockte und schien nach Worten suchen zu müssen.
»Was?«
»Der Direktor hat uns heute eröffnet, dass wir wahrscheinlich in den nächsten Jahren nicht mehr nach Berlin kommen werden. Möglicherweise siehst du deine Eltern nie wieder.«
Helene konnte sich vorstellen, was für ein Theater losbrechen würde, wenn sie ihren Vater vor vollendete Tatsachen stellte. Aber sie war volljährig und konnte selbst entscheiden, wie sie ihr Leben führen wollte.
»Warum wollt ihr nicht mehr herkommen?«, fragte sie.
»Eure NSDAP-Leute … Schlimm genug, dass sie uns ständig auf ihre Ämter zitieren und wissen wollen, wer von uns arisch ist und wer nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Simeon meint, dass es nur noch schlimmer werden wird. Er glaubt sogar, dass ein Krieg in der Luft liegt.«
»Ach, Unsinn!«, sagte Helene. Sie hatte nicht viel übrig für die ganzen politischen Machtdemonstrationen und war froh gewesen, zu alt für den BDM zu sein. Aber so, wie das Land gerade wirtschaftlich erblühte, würde es die Regierung doch nicht riskieren, durch einen Krieg alles kaputt zu machen!
»Und wenn es doch geschieht?«, fragte er. »Ich finde es vernünftig, dann weit genug weg zu sein.«
Und was ist mit mir?, schrie ihr Verstand. Mit uns? Angst überkam sie. Wenn sie sich jetzt nicht entschied, würde sie ihn nie wiedersehen.
Sie griff nach seinen Händen. »Ich will mit dir gehen!«, sagte sie mit fester Stimme. »Ich will immer bei dir sein. Etwas anderes zählt für mich nicht mehr.«
Erneut zögerte er. »Aber du bist Ärztin.«
»Und der Zirkus kann eine Ärztin gebrauchen, oder nicht?« Helene hatte das Angebot erhalten, als Medizinalpraktikantin in der Charité anzufangen, mit dem großen Professor Sauerbruch zu arbeiten. Aber das war nichts gegen ein Leben mit dem Mann, den sie liebte.
Antonio sah sie an. In seinem Blick lag eine Traurigkeit, die sie nie zuvor an ihm gesehen hatte. »Bist du sicher?«, fragte er.
»Ich habe die Wahl«, gab sie zurück. »Entweder beginne ich ein Medizinalpraktikum, oder ich gehe mit dir. Der Zeitpunkt ist richtig! Wenn ich daran denke, dass ich dich nie wiedersehen werde …« Sie blickte ihn so entschlossen an, wie sie konnte. Er musste doch sehen, dass sie bei ihm sein wollte! »Ich liebe dich!«, sagte sie dann. »Und mein Platz ist bei dir!«
Ein Lächeln trat auf Antonios Gesicht. Er betrachtete sie eine Weile, so intensiv, als würde er sich jeden Zug ihres Gesichts einprägen wollen.
»Also gut«, sagte er dann. »Heute um Mitternacht treffen wir uns bei euch an der Ecke zum Asternplatz. Wenn wir das Zelt abgebaut haben, hole ich dich mit dem Motorrad.«
Das hörte sich so wunderbar an. Endlich durch die Lande reisen, die Welt sehen, wie Antonio sie sah, und frei sein! Ein Strudel des Glücks wirbelte durch ihre Brust. Helene war sicher, dass es nichts Schöneres geben würde, als alle Verpflichtungen los zu sein.
Antonio zog sie erneut an sich und küsste sie, dann löste er sich von ihr. »Ich muss wieder rein, schon mal zusammenpacken. Wenn nachher das Zelt eingeholt wird, brauchen sie jede Hand.«
»Ist gut«, sagte sie. Jedes Mal fiel es ihr schwer, ihn gehen zu lassen, aber wenn er zurückkehrte, würde sie ihn für immer bei sich haben.
Er winkte noch einmal kurz, bevor er sich umwandte, dann stapfte er auf das Zelt zu. Die Vorstellung würde bald zu Ende sein. Und dann würde für Helene ein neues Leben beginnen.
»Am politischen Himmel ballten sich jedoch immer stärkere Wolken zusammen. Schon jetzt sollten ›vorbeugend‹ Maßnahmen getroffen werden, um bei einem etwaigen Luftkriege Schutzvorrichtungen zu haben. Nach Rücksprache mit der Ärztekammer und der Leitung der Gemeinschaft in Deutschland wurde der Beschluss gefasst, einen erheblichen Teil der Einnahmen des Krankenhauses dazu zu verwenden, vor jedem Fenster des Kellergeschosses schwere eiserne Läden anbringen zu lassen.«
»Ebenso mussten auf behördliche Anordnung hin alle Angestellten des Krankenhauses an Luftschutzkursen teilnehmen und Luftschutzübungen machen, um für den Fall eines Krieges gerüstet zu sein. Auch eine eigene Feuerwehr musste gebildet werden, an der hauptsächlich ein Teil der weiblichen Angestellten unter der Leitung unseres langbewährten Bademeisters Br. C. Rohleder ihren Pflichtdienst hatten.«
(Chronik des Krankenhauses Waldfriede, 1939)
Unruhig trat Helene von einem Bein aufs andere, während sie Ausschau nach ihrer Studienkollegin hielt. Tauben gurrten auf dem Vordach des S-Bahnhofs Botanischer Garten, eine Spatzenschar huschte vorbei. Leichter Morgendunst lag über der Stadt. Die Blätter der Hecke gegenüber dem Bahndamm glitzerten feucht in der Morgensonne.
Neben ihr warteten noch andere Reisende auf den Zug. Ein Mann im leichten beigefarbenen Mantel mit Fedora-Hut blickte in die Zeitung, zwei junge Frauen standen etwas abseits von ihr und unterhielten sich. An der rot-weiß gekachelten Fassade des Bahnsteigaufbaus lehnte ein junger Soldat mit schiefem Käppi auf dem Kopf und rauchte.
Helene reckte den Hals und blickte zur Treppe, doch die Gestalt, die dort erschien, war eine kleine alte Frau in einem schwarzen Witwenkleid.
Eigentlich hätte Irene längst da sein sollen, doch nun befürchtete Helene, dass sie doch den Bus genommen hatte. Solche Umschwünge kamen bei ihr schon mal vor.
Aber davon wollte sich Helene nicht den Tag verderben lassen.
Freudige Erregung wühlte in ihrer Brust. Gleich würde sie ihre erste Stelle als Ärztin antreten! Nach den sechs Jahren Studium und zwei Jahren Medizinalpraktikum an der Charité brannte sie darauf, ihr Wissen endlich an den Menschen anzuwenden. Natürlich war sie erst einmal Assistenzärztin, aber der Anfang, eine der besten Chirurginnen Deutschlands zu werden, war gemacht. Auch wenn sich die Begeisterung ihres Vaters in Grenzen hielt, wenn sie ihm davon erzählte.
»In ein paar Jahren wirst du heiraten und Kinder haben«, hatte er heute Morgen beim Frühstück angemerkt. »Warum wirst du nicht etwas anderes? Kinderärztin vielleicht? Als Chirurgin stehst du die ganze Zeit im OP-Saal und hast nicht die Gelegenheit, einen guten Mann kennenzulernen.«
Damit traf er einen wunden Punkt. Nach der Sache mit Antonio hatte sie sich in die Arbeit gestürzt und sich geschworen, nie mehr einen Mann anzuschauen. Wenn sie glückliche Paare sah, schnitt es ihr ins Herz, und sie wandte sich schnell ab. Auch als ihre Eltern versucht hatten, sie mit den Söhnen von Bekannten zu verkuppeln, war sie standhaft geblieben.
»Ich werde Chirurgin, Papa!«, hatte sie nachdrücklich zurückgegeben. »Und ich werde niemals heiraten!« Damit war für sie die Diskussion beendet.
Der Zug fuhr ein. Surrend schob sich der Triebwagen an ihr vorbei, gefolgt von den rot-gelben Waggons, die für diese Uhrzeit überraschend leer waren.
Noch immer war nichts von Irene zu sehen. Doch Helene wollte zum Antrittsgespräch nicht zu spät kommen. Sie umklammerte ihre lederne Tasche, die neben ein paar persönlichen Dingen auch das nagelneue Stethoskop enthielt, und stieg ein. Die meisten Passagiere waren in ihre Zeitung vertieft, hier und da warf ihr jemand einen knappen Blick zu. Ganz hinten im Wagen fand Helene eine leere Bank.
Sonnenschein fiel auf ihr Gesicht. Helene schloss einen Moment lang genießerisch die Augen. Als sie sie wieder öffnete, passierte der Zug gerade ein Reklameschild. Es war bunt und zeigte ein blau gestreiftes Zirkuszelt. »Zirkus Mancini« kündigte den Beginn seiner Vorstellungen für den 16. August an. Plötzlich wurden ihre Handflächen schweißnass. Sie schloss die Augen, wollte die Erinnerung zurückdrängen, doch es war zu spät.
Zwei Jahre waren vergangen, seit sie Antonio das letzte Mal gesehen hatte. Meist gelang es ihr, nicht daran zu denken, aber wenn sie etwas sah, das mit Zirkus zu tun hatte, ein Spielzeugkarussell oder, wie hier, ein Plakat, dann kam alles wieder hoch.
Mit vor Aufregung pochendem Herzen war sie damals nach Hause gelaufen, im Kopf bereits eine Liste mit Dingen zusammenstellend, die sie mitnehmen wollte. Damit es nicht auffiel und sie auf dem Motorrad sitzen konnte, beschloss sie, ihren Rucksack nur mit dem Nötigsten zu beladen. Glücklicherweise war ihr Vater sehr wanderfreudig und hatte dafür gesorgt, dass sie entsprechend ausgerüstet war.
Zu Hause tat sie so, als käme sie von einer Freundin. Mit ihren damals vierundzwanzig Jahren fragte ihre Mutter nicht mehr groß nach, sie war erwachsen. Dies hatte es ihr auch ermöglicht, sich länger mit Antonio zu treffen, wenngleich sie auch nicht über Nacht bei ihm bleiben konnte. Aber sie war davon überzeugt, dass sich das ändern würde.
Gegen Mitternacht schlich sie sich mit dem Gepäck aus dem Haus und lief zum Asternplatz. Die Nachbarschaft war ruhig, in den meisten Fenstern brannte kein Licht mehr.
An der Ecke blieb sie stehen und blickte über den Platz. Ein wenig hatte sie gehofft, dass er schon warten würde. Doch noch war nichts von ihm zu sehen. Hatte er es sich anders überlegt?
Es war möglich, dass Antonio sich verspätete, weil sich der Abbau des Zirkuszeltes verzögerte. Sie versuchte, sich zu beruhigen, atmete tief durch und hoffte, dass ihr Vater nicht in der Nacht auf Toilette musste und ihre Abwesenheit bemerkte.
Sie hatte es nicht fertiggebracht, ihre Eltern vor vollendete Tatsachen zu stellen. Stattdessen hatte sie ihnen einen Brief hinterlassen, in dem sie ihnen ihre Entscheidung erklärte.
In der Ferne schlug eine Kirchenglocke Mitternacht, doch noch immer war Antonio nicht zu sehen …
»Ihren Fahrschein, Frollein«, holte eine Stimme sie von den Bildern fort. Sie schüttelte die Erinnerung ab und starrte den Mann in der Schaffner-Uniform an.
»Den Fahrschein, bitte«, wiederholte er ungeduldig und mit Nachdruck.
»Ja, natürlich, entschuldigen Sie«, sagte Helene und zog das Billett hervor.
Der Mann begutachtete es kritisch, dann richtete sich sein Blick auf die Tasche.
»Sind Se Hebamme?«, fragte er dann.
»Wie? Nein, ich bin Ärztin«, antwortete Helene. »Ich habe heute meinen ersten Tag im Waldfriede.«
»Ah, dit kenn ick!«, sagte er. »Da hat meene Minna unsern Sohn bekommen. Is’n nettet Haus.« Er schaute sie an, als erwarte er eine Erwiderung. Als diese nicht kam, fügte er hinzu: »Na dann viel Jlück, Frau Doktor!«
»Danke«, sagte Helene und nahm den angerissenen Fahrschein wieder an sich. Noch immer brannte es in ihrer Brust, doch als sie nach draußen schaute, sah sie die Häuser vorbeifliegen, und es gelang ihr, die Erinnerung wieder in den dunklen Winkel zu sperren, in den sie gehörte.
Eine Viertelstunde später stieg sie am Bahnhof Zehlendorf-West aus. Die Sommersonne strahlte am Himmel, nur ein paar weiße Wölkchen zogen vor dem Blau entlang. Sie kannte die Gegend von Ausflügen mit ihrer Familie. Ihr Vater hatte sie mit in den Wald genommen, um ihr botanisches Wissen zu vermitteln.
Während sie unter dicht belaubten Baumkronen entlangging, hatte sie beinahe seine Stimme im Ohr. Castanea sativa.Tilia cordata. Jeden noch so gewöhnlichen Baum benannte ihr Vater ausschließlich auf Latein. Erst in der Schule hatte sie erfahren, dass es sich um Edelkastanie oder Winterlinde handelte. Doch als Botaniker galten für ihren Vater andere Maßstäbe. Schon früh hatte er darauf geachtet, dass sie mit Wissenschaft in Berührung kam. Aber Helene hatte nicht nur etwas für die Flora übrig, auch die Fauna interessierte sie. Und die Menschen.
Es war für ihren Vater eine Enttäuschung gewesen, als sie verkündete, Ärztin werden zu wollen. Lieber hätte er gesehen, wenn sie in die Fußstapfen der großen Naturforscherin Maria Sibylla Merian getreten wäre. Doch sie wollte Menschen helfen. Je älter sie wurde, desto mehr hatte sich dieser Wunsch verfestigt.
Sie passierte ein paar noble Häuser und umrundete einen Lieferwagen, dessen Fahrer große Kisten in einen Hauseingang trug.
Schließlich tauchte das Krankenhaus Waldfriede vor ihr auf. Es war natürlich nicht so riesig wie die Charité, wirkte aber doch größer, als Helene es in Erinnerung hatte.
Das helle, villenartige Zentralgebäude mit dem roten Ziegeldach und den hohen, schmalen Fenstern schien über die Jahre einige Erweiterungen erfahren zu haben. Dazu gehörten ein turmartiger Vorbau mit breiten Kassettenfenstern und einem Satteldach, ein runder Seitenbau mit einem Schild, das sie von ihrer Position aus nicht lesen konnte, sowie ein dreistöckiges villenartiges Gebäude, das sich direkt an den Rundbau anschloss. Das rote Haus am Rande der Fischerhüttenstraße, die früher einmal Alsenstraße hieß, wirkte wie ein Torwächter. Die Fachwerk-Reihenhäuser auf dem hinteren Teil des Geländes dienten wohl als Wohnungen für das Personal oder die Handwerker.
Am meisten ins Auge stach Helene der weitläufige Park hinter der weiß gestrichenen Liegehalle, vor der ein viereckiger Brunnen plätscherte. Die Bäume und Büsche waren nach keinem erkennbaren Muster gepflanzt worden, es schien das Prinzip des Chaos zu herrschen. Dafür waren die hohen Taxuskegel, die den Zufahrtsweg säumten, akkurat getrimmt, sodass selbst ihr Vater nichts hätte aussetzen können. Der Anblick fesselte sie so sehr, dass sie die Frauengestalt am Eingangstor beinahe übersehen hätte.
Im nächsten Augenblick erkannte sie ihre Freundin Irene Murau. Sie trug ein schwarz-weiß kariertes Kleid und hatte die goldbraunen Haare zu einer Außenwelle onduliert. Ihre Füße steckten in schwarzen Lackschuhen. Die Zigarette in ihrer Hand war beinahe aufgeraucht, sie wartete hier wohl schon eine Weile.
»Mensch Irene, da bist du ja!«, rief Helene. »Ich dachte, wir wollten uns am Bahnhof treffen.«
»Bin auf dem Weg einem netten Burschen begegnet und hab mich von ihm herfahren lassen. Lothar ist sein Name.« Irene grinste breit.
»Und ich dachte schon, du hättest verschlafen«, grummelte Helene weiter.
»Ich doch nicht!« Irene nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch in die Luft. »Dir würde es auch guttun, die Augen aufzumachen, was Männer angeht. Da laufen sehr nette Exemplare durch die Berliner Straßen.«
Es war sinnlos, Irene darauf hinzuweisen, dass es gefährlich sein könnte, mit fremden Männern mitzufahren.
»Und ich weiß, was dir guttun würde.« Helene deutete auf die Zigarette in ihrer Hand. »Du hast den Klinikdirektor beim Bewerbungsgespräch doch gehört, oder etwa nicht?«
Helene erinnerte sich noch sehr gut an den Tag vor einer Woche, als sie ihm zum ersten Mal gegenübergesessen hatten.
Dr. Louis Conradi war ein Mann in den Fünfzigern, mit graubraunem Haar und einem kleinen Bäuchlein unter dem Kittel. Mit seinem Schnurrbart und seinem klaren Blick strahlte er eine Autorität aus, wie Helene sie nur zu gut von ihren Dozenten kannte. Und auch von ihrem Vater, dem Dr. Conradi sogar ein wenig ähnlich sah.
Anstatt einer Begrüßung rümpfte er jedoch die Nase und fragte: »Wer von Ihnen beiden raucht?«
Irene war dunkelrot angelaufen. Das schien dem Klinikleiter zu genügen, denn er fuhr fort: »Sie sollten diese Angewohnheit so schnell wie möglich ablegen. Abgesehen davon, dass Ihnen als Ärztin der Inneren Medizin die schädlichen Effekte des Tabaks bekannt sein sollten, macht es einen schlechten Eindruck, wenn man Patienten, denen man vielleicht das Rauchen verbieten muss, mit einer Rauchfahne gegenübertritt.«
»Das habe ich nicht vor, zu tun, Herr Doktor«, sagte Irene. »Ich … ich war nur nervös.«
»Für heute lasse ich es Ihnen durchgehen, aber in Zukunft rauchen Sie bitte nach dem Dienst, wenn Sie müssen.«
Diese Szene schien auch Irene wieder einzufallen, denn sie verdrehte die Augen, ließ den Zigarettenstummel fallen und trat ihn mit dem Absatz ihres Schuhs aus.
»Schon besser«, sagte Helene und ahmte dabei den Tonfall von Dr. Conradi nach. Dann hakte sie sich bei ihr ein und zog sie an den Taxusbüschen vorbei. »Du musst zu Dr. Meyer, nicht wahr?«
***
Beleuchtet von strahlendem Sonnenschein flogen die Hausfassaden nur so vorbei. Nicht mehr lange, und der Zug würde den Bahnhof Zehlendorf-West erreichen.
Louis war zufrieden. Die Konferenz in Skodsborg war ein voller Erfolg gewesen, besonders weil er trotz der schwierigeren Zeiten viel Gutes über das Waldfriede berichten konnte. Natürlich gab es auch einige Bedenken hinsichtlich der Zustände im Land, doch Louis hatte der Gemeinschaft versichert, dass man alles tun würde, um den Glauben in seinem Haus weiterhin hochzuhalten.
»Du solltest dich mal wieder bei deinem Vater melden«, sagte Catherine, die neben ihm saß, ein Notizbuch auf dem Schoß. »Ich glaube, es würde ihn interessieren, was in Dänemark beredet wurde. Außerdem musst du ihm die Grüße ausrichten.«
Seit sein Vater Richard Conradi die christliche Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten verlassen hatte, war er für die Kirchenoberen ein Ausgestoßener, der möglichst nicht erwähnt werden sollte. Doch seine alten Freunde und Wegbegleiter hatten ihn nicht vergessen. Louis hatte einen ganzen Korb voller Grüße dabei.
»Ich werde versuchen, ihn zu erreichen, sobald wir im Waldfriede angekommen sind. Dr. Gregorius kümmert sich heute noch um die Sprechstunde, und Dr. Hintze versieht den OP, da werde ich Zeit haben.«
Catherine nickte. Sie wirkte entspannter als vor der Reise. Louis freute es, wie viel besser es ihr seelisch zu gehen schien, wenn sie beide mal Zeit für sich hatten. Das zeigte ihm, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, die Chirurgische Station an Paul Hintze abzugeben und sich selbst auf die Gynäkologie zu konzentrieren. Auch wenn Dr. Hintze nicht bei allen Mitarbeitern auf Gegenliebe stieß, hatte er so wenigstens hin und wieder Zeit, mit Catherine wie das Ehepaar zu leben, das sie waren.
Eine halbe Stunde später verließen sie den Bahnhof. Warme Luft schlug ihnen entgegen, die geschwängert war mit einem süßen Duft nach Kuchen. Ganz in der Nähe gab es eine Bäckerei. Louis lief unwillkürlich das Wasser im Mund zusammen.
»Wollen wir ein wenig Kuchen mitnehmen?«, fragte er. »Heute Nachmittag können wir uns eine ausgedehnte Kaffeezeit gönnen. Als Abschied vom ruhigen Leben der letzten Tage.«
Catherine stimmte zu, und ein Lächeln trat auf ihr Gesicht. Louis betrat den Laden, wählte zartrosa und hellgrüne Petits Fours aus und entdeckte tatsächlich noch ein paar Zimtschnecken. Diese hatte seine Mutter früher manchmal gebacken. Die hübsche Verkäuferin packte ihm alles zusammen und reichte es ihm mit einem Lächeln.
»Wie wäre es, wenn wir am Wochenende ein paar Gäste nach Werder einladen würden?«, schlug Catherine bei seiner Rückkehr vor. »Wir könnten im Garten sitzen und auf die Havel schauen … Außerdem haben wir uns schon lange nicht mehr bei unseren Bekannten blicken lassen. Du könntest einige Kollegen von der Medizinischen Gesellschaft fragen.«
Dass er sich bei Einladungen und Festen zurückhielt und auch die Sitzungen der Medizinischen Gesellschaft nicht mehr so rege verfolgte, hatte seine Gründe. Viele Kollegen, die er für dezente Leute gehalten hatte, hatten in den vergangenen Monaten und Jahren ihr wahres Gesicht gezeigt. Vorträge über Eugenik und Zwangssterilisationen an behinderten Frauen widersprachen dem Weltbild seines Glaubens, also mied er sie weitgehend.
Aber Catherine hatte recht, wenn er weiterhin als Klinikleiter anerkannt werden wollte, musste er sich mit ihnen abgeben.
»Einverstanden«, sagte er und hakte sich bei seiner Frau unter. »Ich lege die Organisation in deine Hände. Nächstes oder übernächstes Wochenende wäre gut.«
Als das Waldfriede vor ihm auftauchte, durchzog ein warmes Gefühl seine Brust. Zu Hause, dachte er. Auch wenn sich in den vergangenen Jahren viel geändert hatte, war dies der Ort, an dem er Wurzeln geschlagen hatte. Von keinem anderen Platz in der Welt dachte er so. Alle Krankenhäuser, in denen er zuvor gearbeitet hatte, waren nur Arbeitsstellen gewesen, hier hatte er eine Familie gefunden.
Während sie über den Weg zum Ärztewohnhaus schritten, sagte Catherine: »Wir könnten ein Büfett veranstalten und einige unserer Mitbrüder und – schwestern bitten, für Musik zu sorgen. Wir haben einen sehr talentierten Geiger unter den Pflegern, habe ich gehört.«
»Ja, Bruder Thomas«, erwiderte Louis.
Im Vorbeigehen warf er einen Blick durch das leicht offen stehende Fenster in der unteren Etage des Hauses. Nachdem eine neue Verordnung erlassen worden war, die es ihm untersagte, seine Privat- und nicht stationären Patienten in einer von den eigentlichen Räumen des Krankenhauses getrennten Praxis zu behandeln, war sein Sprechzimmer ins Parterre des Ärztewohnhauses gezogen. Die dortige Wohnung stand ohnehin leer, seit ihr Prediger mit seiner Familie in die Innenstadt gezogen war.
Durch die Scheibe erblickte er Hanna Richter, die gerade seiner Vertretung, Dr. Gregorius, etwas zureichte. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Sie hatte er auch vermisst.
Als er eintrat, kam ihm Dr. Gregorius entgegen. Er wirkte ein wenig überrascht. »Dr. Conradi! Frau Conradi! Sie sind schon wieder da?«
»Wir haben den frühesten Zug genommen, der aus Skodsborg abgefahren ist«, erklärte Louis. »Wie läuft die Sprechstunde?«
»Gut«, gab Gregorius zurück. »Frau Sander war zur Nachuntersuchung da, ihr Kleiner ist wirklich goldig. Bei Frau Clemens sah es so aus, als würde sie niederkommen, doch es waren nur Vorwehen. Über alle anderen Fälle informiere ich Sie nachher, ich muss kurz mal ins Krankenhaus.«
»Bis später, Herr Kollege«, sagte Louis und folgte Catherine die Treppe hinauf. Es freute ihn, dass alles seinen Gang zu gehen schien. Besonders in der jetzigen Zeit, wo jeder Tag eine neue Verordnung bringen konnte, die alles bisher Gekannte über den Haufen warf.
»Du nimmst dir heute doch noch frei, nicht wahr?«
Catherine kannte ihn einfach zu gut. Am liebsten wäre er hinunter ins Sprechzimmer gegangen und hätte einfach den Betrieb wieder aufgenommen. Aber in dem Päckchen unter seinem Arm dufteten die Zimtschnecken und Petits Fours.
»Ja, meine Liebe, ich nehme mir frei, und wir genießen erst einmal unseren Kuchen.«
Als er die Wohnungstür durchschritt, strömte ihm der bekannte Duft nach Bohnerwachs, Küche und dem Potpourri, das seine Frau so gern im Wohnzimmer in einer Schale auslegte, in die Nase. Sofort fühlte er sich zu Hause. Die Küchentür, die links vom Flur abging, stand ein wenig offen. Kein Staubkorn befand sich auf dem großen Küchentisch und der Anrichte, die Herdplatte war mit einem Tuch abgedeckt. Hanna musste die Hausmädchen hochgeschickt haben.
Seine Frau überholte ihn und verschwand im Schlafzimmer. Kurz erhaschte er einen Blick auf die fliederfarbene Steppdecke, dann betrat er die Küche.
Er hatte das Bäckereipäckchen gerade auf der Anrichte abgelegt, als es an der Tür klingelte. Fast schon entschuldigend blickte er zu Catherine. Diese seufzte, dann lächelte sie. »Geh schon. Die Leute hier können eben nicht ohne dich.«
Er erwiderte das Lächeln und öffnete. Hanna stand vor ihm, einen Umschlag in der Hand.
»Guten Tag, Herr Doktor«, sagte sie. »Verzeihen Sie bitte die Störung, doch Dr. Gregorius hat mir gesagt, dass Sie wieder hier sind.«
»Das bin ich. Was gibt es denn, Hanna?«
»Ein Schreiben vom Reichsministerium für Gesundheit ist heute Morgen angekommen«, sagte Hanna und reichte ihm den Brief. »Ich dachte, ich gebe es Ihnen gleich.«
Der sorgenvolle Blick, mit dem sie ihn bedachte, brachte ihn dazu, den Umschlag sofort zu öffnen. Mit zitternden Händen zog er das Blatt hervor und überflog es. Er spürte regelrecht, wie ihm angesichts der Zeilen das Blut aus dem Gesicht wich.
Er blickte auf, dann sagte er: »Hanna, benachrichtigen Sie Carl, Maria, Else, Elisabeth und Dr. Meyer. Ich werde Herrn Müller holen. Wir müssen uns besprechen. Unverzüglich.«
Mit einem erwartungsvollen Kribbeln in der Magengrube knetete Helene die vor Aufregung kalten Hände. Wie würde Dr. Hintze sein? Ein brummiger Kauz wie Professor Sauerbruch oder doch eher ein freundlicher, geduldiger Mensch?
Sein Büro ließ keine Rückschlüsse auf seinen Charakter zu. Es war einfach nur ein quadratischer Raum mit weißem Sprossenfenster und gebohnerten Holzdielen. In der Mitte ein Schreibtisch, ein Bücherregal neben der Tür. Rechts von ihr neben einem weißen metallenen Medikamentenschrank hing ein Porträt von Adolf Hitler, wie man es auch in Amtsstuben fand.
Hinter den Glastüren des Schrankes stapelte sich Verbandsmaterial, daneben standen braune Apothekerflaschen in verschiedenen Größen. Das Skelett neben dem Fenster war so detailgetreu, dass man unmöglich sagen konnte, ob es ein Präparat oder eine künstliche Nachbildung war.
Helene dachte an eine ihrer Vorlesungen zurück, wo ihre Kommilitonen sich während der Abwesenheit des Professors den Spaß erlaubt hatten, dem knöchernen Gesellen eine Zigarette zwischen die Zahnreihen zu klemmen.
Die Erinnerung ließ sie noch immer loskichern. Besonders lustig war es gewesen, dass der Professor, scheinbar ungerührt, begonnen hatte, über die schädlichen Effekte des Rauchens zu dozieren.
In dem Augenblick wurde die Tür aufgerissen. Die Präsenz des Mannes war sofort greifbar. Er war groß, breitschultrig und trug sein blondes Haar militärisch kurz und an den Seiten ausrasiert. Seine Gesichtszüge waren schmal und streng. Hätte er keinen Kittel über seiner braunen Parteiuniform getragen, hätte man ihn glatt für einen Offizier halten können. Mit schweren Schritten stürmte er in den Raum und grüßte zackig: »Heil Hitler!«
Helene zuckte zusammen, und ihre Wangen begannen zu glühen. Das »Guten Morgen« blieb ihr im Hals stecken. Der Hitlergruß war alltäglich geworden, aber man zog es in ihrer Familie vor, sich auf die althergebrachte Art zu begrüßen.
Angesichts der Zurschaustellung von Hintzes Sympathie für die Regierung wäre das aber wohl keine gute Idee gewesen.
»Heil Hitler«, erwiderte sie leise und erhob sich.
»Behalten Sie Platz, Fräulein …«
»Dr. Jacobs«, sagte sie. »Dr. Helene Jacobs.«
»Wer ich bin, wissen Sie sicher.«
»Ja, Dr. Hintze.«
Er nickte, dann betrachtete er sie eine Weile. »Sie sind also unsere angehende Chirurgin.« Er nahm eine Mappe zur Hand. Helene erkannte darin ihre Bewerbungsunterlagen.
»Ja, Herr Doktor.«
Er schlug die Mappe auf. »Sie haben mit Professor Sauerbruch gearbeitet?«
»Ich war Medizinalpraktikantin in seiner Abteilung. Mein Doktorvater war Professor Helm.«
»Warum haben Sie sich gerade ans Waldfriede schicken lassen?«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Helene.
»Sie könnten bei Ihrem sehr guten Abschluss auch eine akademische Laufbahn an der Charité in Betracht ziehen.«
»Ich ziehe es vor, praktisch zu arbeiten«, sagte Helene. »Ihre Klinik genießt einen guten Ruf.«
»Können Sie ein Beispiel nennen, bei wem?«
Auf eine Frage wie diese war Helene nicht vorbereitet gewesen. Eigentlich hatte sie das Waldfriede gewählt, weil es nicht allzu weit von ihrem Elternhaus entfernt war. Als Medizinalpraktikantin hatte sie nicht genug verdient, um sich eine eigene Wohnung leisten zu können. »Professor Sauerbruch hat das Haus lobend erwähnt.« Etwas Besseres wollte ihr nicht einfallen.
Tatsächlich hatte Sauerbruch mal eine Bemerkung über das Waldfriede fallen lassen. Offenbar hatte ihn Dr. Conradi zu einem Besuch eingeladen. Sauerbruch teilte mit, dass das Waldfriede recht gut eingerichtet sei, jedoch keineswegs mit der Charité mithalten könne.
Paul Hintze betrachtete sie prüfend. »Warum haben Sie sich gerade für die Chirurgie entschieden?«, fragte er dann.
»Es ist das spannendste Fach der Medizin, finde ich.«
Der Chefarzt gab ein Schnaufen von sich, das nicht gerade erfreut klang. »Es ist vor allem ein Fach, das eine lange Ausbildung erfordert. Glauben Sie, dem gewachsen zu sein?«
»Natürlich«, erwiderte Helene ein wenig verwirrt. »Meinen Sie, dass das nicht der Fall wäre? Ich kann Ihnen versichern …«
Hintze hob die Hand. »Ich bin davon überzeugt, dass Sie eine gute Medizinerin werden können. Nur wie sieht es mit Ihren Plänen für Ihr weiteres Leben aus? Sie wollen doch sicher heiraten und Kinder bekommen?«
Helene schüttelte perplex den Kopf. Was ging ihn ihr Privatleben an? »Ich habe keine derartigen Pläne«, sagte sie.
»Der Führer hat als oberstes Ziel der Frauen das Gebären gesunder deutscher Kinder benannt«, sagte Hintze.
Aber dazu bräuchte ich erst mal einen Mann, dachte Helene und antwortete dann: »Mein Ziel ist es, dem Führer dadurch zu dienen, für die Gesundheit des Volkes zu sorgen.«
Hintze bedachte sie mit einem Blick, den sie nicht so recht deuten konnte. Im nächsten Augenblick klopfte es an die Tür.
»Herein!«, rief der Chefarzt, worauf ein junger Mann mit pomadisiertem Haar und Kittel den Kopf zur Tür hereinsteckte.
»Sie haben mich rufen lassen, Herr Doktor?«
»Ja, kommen Sie herein, Ortmann! – Das ist Dr. Hans Ortmann, einer meiner Assistenzärzte, der schon bald seine Facharztprüfung ablegen wird.« Er nickte dem jungen Mann zu, der leicht errötete, dann aber seine Schultern straffte und ein breites Lächeln aufsetzte. »Dr. Ortmann, das ist Fräulein Jacobs, Ihre Ablösung.«
Das klang, als würde er ihm einen neuen Nachtwächter vorstellen. Außerdem unterschlug er ihren Doktortitel. Warum? Er hatte ihre Bewerbungsunterlagen doch gesehen!
»Dr. Helene Jacobs.« Helene erhob sich und reichte dem Assistenzarzt die Hand. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«
Ortmann schaute zu seinem Chef, dann ergriff er ihre Hand. Ihr Vorstoß schien ihn zu verwirren.
»Die Freude ist ganz meinerseits.«
»Sie können sich an Dr. Ortmann wenden, wenn Sie allgemeine Fragen haben. Ich erwarte von Ihnen Einsatzfreude und Pünktlichkeit.«
»Ja, Herr Doktor.«
»Gut, dann holen Sie sich mal einen Kittel und melden sich im OP-Saal. Ortmann wird mir assistieren, Sie halten Haken.«
Dr. Hintze erhob sich und verließ ohne ein weiteres Wort das Büro.
Helene folgte Dr. Ortmann durch die belebten Gänge des Krankenhauses.
»Wissen Sie«, begann der Assistenzarzt, als sie die Treppe nach unten erreichten. »Dr. Hintze ist nicht immer so.«
Helene hob die Augenbrauen. »Wie ist er denn?«
»Nun ja, Sie haben sicher bemerkt, dass er etwas schroff wirkt.«
»Ein Chefarzt muss streng sein, nicht wahr?«, fragte sie und blickte Ortmann prüfend an. Auf dessen Gesicht erschien ein schelmisches Lächeln.
»Können Sie ein Geheimnis für sich behalten?«
»Für gewöhnlich schon.«
Ortmann neigte sich ihr zu und flüsterte: »Wir nennen ihn Heil-Hitler-Hintze, natürlich hinter vorgehaltener Hand.«
Helene war nicht sicher, was sie dazu sagen sollte. Spitznamen waren während ihres Studiums gang und gäbe gewesen. Allerdings hatte ihr Vater ihr strengstens ans Herz gelegt, nicht auf Lästereien einzugehen, schon gar nicht, wenn sie politisch waren. Bei seiner Position als Mitglied der Geschäftsführung des Botanischen Gartens in Dahlem konnte er es sich nicht erlauben, den Leuten Angriffspunkte zu bieten, die ihn seine Stellung kosten konnten.
»Ich denke, er würde es bevorzugen, wenn ich ihn Dr. Hintze nenne, nicht?«, entgegnete Helene ungerührt. Klatsch und Tratsch gab es in Krankenhäusern immer, doch es gab auch Zuträger und Verräter. Sie wollte sich nicht schon in der ersten Woche beim Chefarzt unbeliebt machen.
Der Assistenzarzt räusperte sich. »Natürlich. Kommen Sie, ich zeige Ihnen, wo die Kittel hängen. Danach gehen wir in den OP.«
Die jungen Frauen in der Wäschekammer betrachteten sie neugierig, als sie sich ihnen vorstellte und dann um einen Kittel bat. Wahrscheinlich war es für sie noch immer ungewöhnlich, dass eine Frau Ärztin wurde. Besonders jetzt, wo es die Hitler-Regierung doch darauf anlegte, dass Frauen zu Hause blieben und ihre Rolle als Mutter ausfüllten.
Als sie einen passenden Kittel gefunden hatte, fühlte sich Helene wie verwandelt. Natürlich war noch alles fremd, und wer wusste schon, wie sich Dr. Hintze im OP verhielt, welche Fälle sie zu sehen und zu behandeln bekam.
Aber sie war sicher, am richtigen Platz zu sein.
»Das Krankenhaus Waldfriede wurde im Jahr 1920 eröffnet«, dozierte Ortmann, als sie in Richtung OP-Saal gingen. »Wenn man den Geschichten glaubt, die hier so kursieren, hat Dr. Conradi das Haus damals nur mit einer Handvoll Angestellter auf Vordermann gebracht. Ich halte das allerdings für überzogen. Ein paar mehr Leute werden es schon gewesen sein.«
»Dennoch ist es eine großartige Leistung«, sagte Helene. Einen Mangel, wie ihn ihr Kollege ansprach, kannte sie nur aus den Geschichten ihrer Eltern. Ihr Vater war 1915, zwei Jahre nach ihrer Geburt, in den Kriegsdienst eingezogen worden, doch nicht lange geblieben, weil sein Professor sich bei den Behörden für ihn starkgemacht hatte.
»Das ist das Reich unserer Röntgenschwester Hanna«, sagte Ortmann, als sie das Röntgenzimmer passierten. »Wenn Sie noch Kenntnisse im Röntgen brauchen, sollten Sie sich an sie wenden. Sie ist schon seit der Gründung hier, und es heißt, sie schreibt an einer Chronik des Hauses.«
»Das werde ich«, sagte Helene, dann richtete sie den Blick auf die Tür vor sich. Der OP-Saal. Wie mochte er im Waldfriede aussehen? Nach ihrem Bewerbungsgespräch hatte es zu einem Rundgang nicht mehr gereicht, denn Dr. Conradi musste zu einer Entbindung. Er hatte auf sie den Eindruck eines sehr erfahrenen Arztes und ruhigen Menschen gemacht. Die Zeit hatte an seiner früher sicher sehr attraktiven Erscheinung einige Spuren hinterlassen, aber er war immer noch ein sympathischer Mann, zu dem sie sofort ein gewisses Vertrauen gefasst hatte.
Helenes Herz begann zu pochen, als stünde sie vor einer Verabredung. So war es auch damals gewesen, als sie zum ersten Mal einen der vielen OP-Säle in der Charité betreten hatte. Schau-Operationen hatte Professor Sauerbruch in den Hörsälen unternommen, aber der echte OP war noch mal etwas ganz anderes. Hier fand das tägliche Leben statt, jenes, das die angehenden Mediziner erst dann sahen, wenn sie einen Großteil ihrer Ausbildung schon hinter sich hatten.
Als sie den Waschraum betraten, war Dr. Hintze mit seiner Hygieneroutine beinahe fertig. Er trug ein weißes kurzärmeliges Hemd, weiße Hosen und weiße Gummischuhe an den Füßen.
»Haben Sie schon mal einen Wundhaken gehalten?«, fragte er, während er sich die Unterarme abtrocknete.
»Natürlich, Herr Doktor.«
»Dann sehen Sie mal zu, dass Sie in Ihre OP-Kleidung kommen.«
»Ja, Herr Doktor.«
Helene blickte zu Ortmann und trat an eines der Waschbecken.
***
Beim Anblick der Runde, die sich im ehemaligen Sprechzimmer des Doktors zusammengefunden hatte, fühlte sich Hanna ins Jahr 1920 zurückversetzt. Damals hatten sie in der Dunkelheit und Kälte gesessen, im Schein von Karbidlampen. Jetzt fand die Sitzung in einem sonnendurchfluteten Raum statt, in den von der Küche her der köstliche Duft des Mittagessens hereinwehte.
Schwester Maria Kuch, Oberin Elisabeth Bruhn, Pfleger und Bademeister Carl Rohleder, Catherine Conradi und der Doktor waren zusammen mit ihr diejenigen gewesen, die das Waldfriede von der ersten Stunde an aufgebaut hatten. Schwester Ida Juckel war nicht mehr bei ihnen im Haus, doch das damalige Hausmädchen Else Rogel war mittlerweile als Hebamme Leiterin der Entbindungsstation. Auch Dr. Meyer, der zwei Jahre nach der Eröffnung des Hauses hier angefangen hatte, war anwesend.
Das einzige neue Gesicht in dieser Runde war Verwaltungsleiter Ernst Müller, der im Jahr 1935 zu ihnen gekommen war. Zunächst hatte er nur die Buchhaltung erledigt, doch schließlich hatte ihm Dr. Conradi alle Verwaltungsaufgaben übertragen, während er selbst nur noch den Posten des Ärztlichen Direktors bekleidete.
Müller war ein untersetzter Mann mit blonder Tolle an der Stirn und einer Brille, die seinem runden Gesicht ein wenig Kontur verlieh. Bis zu seiner Ankunft im Waldfriede war er im Missionsdienst in Bulgarien eingesetzt worden, was ihm russische und bulgarische Sprachkenntnisse eingebracht hatte, die er allerdings nicht mehr so häufig nutzen konnte, seit die ausländischen Botschaften immer weniger Patienten ins Waldfriede schickten.
»Danke, dass Sie sich diesen Moment nehmen, ich weiß, dass Sie alle sehr beschäftigt sind«, begann Dr. Conradi und hielt den Brief hoch. »Heute Morgen ist uns dieses Schreiben vom Reichsgesundheitsministerium zugegangen. Darin wird angekündigt, dass man prüfen möchte, ob unser Haus für die Entbindung der Ehefrau eines hochrangigen Regierungsmitglieds infrage käme. Die Prüfung soll am Montag, den 28. August, um zehn Uhr stattfinden.«
»In zwei Wochen?«, fragte Schwester Maria erschrocken.
»Können wir nicht einfach absagen?«, meldete sich Schwester Else. »Wir sind nur verpflichtet, Patienten im Notfall anzunehmen.«
Dr. Conradi lachte freudlos auf. »Es handelt sich um die Gattin eines hohen Politikers. Eine Weigerung unsererseits könnte sehr zum Nachteil für das Waldfriede ausfallen. Besonders, weil Gunter Wiedemann die Delegation anführen wird.«
Der Name sagte nicht nur Hanna etwas.
»Ist dieser Wiedemann nicht derjenige, der uns damals enteignen wollte?«, fragte Carl Rohleder.
Schon seit einer Weile hatte Hanna nicht mehr an die Zeit gedacht, als sie kurz vor der Enteignung standen. Sie hatte Wiedemann nie selbst zu Gesicht bekommen, aber an die Geschichten, die der Doktor erzählt hatte, erinnerte sie sich noch gut. Damals, im Jahr 1919, hatte Wiedemann den Doktor ins Innenministerium vorgeladen und ihn damit konfrontiert, dass das Haus enteignet werden würde, sollte es sich nicht innerhalb von zwei Jahren rentieren.
Es war ihnen gelungen, das Waldfriede zu einem Krankenhaus zu machen, das in Zehlendorf und im restlichen Berlin geschätzt und geachtet wurde.
Wiedemanns zweiter Angriff bestand darin, den Stammbaum des Doktors und seiner Gattin einzufordern, in der Hoffnung, dass sie jüdische Verwandtschaft hatten. Auch dies konnten sie abwenden.
Und jetzt, wo er in den Rängen der Nationalsozialisten aufgestiegen war, kam er ihnen mit dieser Prüfung, wahrscheinlich in der Hoffnung, etwas finden zu können, um Dr. Conradi seines Postens zu entheben und den Adventisten das Waldfriede wegzunehmen.
»Ja, das ist er«, antwortete Conradi und verscheuchte damit Hannas Erinnerung. »Und ich komme nicht umhin, einen Hintergedanken bei ihm zu vermuten. Fällt die Prüfung zu unseren Gunsten aus, werden wir hier mehr SS im Haus haben, als drüben in der Siedlung im Vierling wohnt. Dementsprechend werden wir unter noch größerer Beobachtung stehen. Fällt die Prüfung allerdings zu unserem Nachteil aus, wäre es möglich, dass man darüber nachdenkt, das Haus unter eine andere Leitung zu stellen.«
Schweigen folgte seinen Worten. Alle wussten nur zu gut, wie dieser Leitungswechsel dann aussehen würde. Möglicherweise würde man auch ihre Kirche wieder verstärkt beobachten.
»Das bedeutet also, dass man uns nicht ablehnen darf, weil es hier an Sauberkeit, Gerätschaften oder politischer Einstellung mangelt«, meldete sich Hanna zu Wort. »Aber es wäre auch nicht tragisch, wenn man sich gegen uns entscheidet, weil man ein anderes Haus für geeigneter hält, obwohl bei uns alles in Ordnung ist.«
Früher hätte sie Zorn empfunden, doch jetzt verspürte sie nur Taubheit und Müdigkeit. Wie lange setzten sie sich jetzt schon gegen Schikanen zur Wehr?
Da gab es Mitarbeiter, die adventistische Kollegen anschwärzten wegen der Sabbatgottesdienste oder wegen vermeintlichem Kommunismus unter der Belegschaft. Und sogar unter ihren Glaubensbrüdern gab es welche, die die NSDAP über die Regeln der Adventisten stellten. Missgünstige Patienten schwärzten Schwestern an, die ihrer Meinung nach nicht sauber genug waren oder sich zu »frivol« und damit undeutsch verhielten. Einen Fall gab es sogar, in dem einem Pfleger Homosexualität vorgeworfen wurde. Der arme Bursche hatte sich Verhören unterziehen müssen und kam schließlich, nachdem man festgestellt hatte, dass an dem Vorwurf nichts dran war, mit Blutergüssen am ganzen Körper zurück.
»So sieht es aus, Schwester Hanna.« Dr. Conradi seufzte, dann fügte er hinzu: »Ich finde es fast schon beeindruckend, wie sich dieser Wiedemann in uns verbissen hat.« Er blickte in die Gesichter seiner Mitstreiter. »Ich würde Sie bitten, dafür zu sorgen, dass in Ihren Abteilungen alles in Ordnung ist, sodass es keine Beanstandungen geben wird. Das bedeutet auch, dass wir den Mitgliedern unseres Hauses, die nicht in der Partei sind, ans Herz legen müssen, sich wenigstens für den Zeitraum der Inspektion zu fügen und mit ›Heil Hitler‹ zu grüßen.«
»Dr. Hintze wird das gefallen«, bemerkte Hebamme Else spöttisch. Sie gehörte zu jenen, die dem neuen Chefchirurgen nicht über den Weg trauten. »Warum ist er nicht bei dieser Besprechung zugegen?«
»Er hat im OP zu tun«, antwortete Dr. Conradi. »Ich werde ihn später instruieren.«
»Die Leute sollen sich also verstellen«, sagte Elisabeth Bruhn seufzend. »So weit ist es schon mit uns gekommen.«
»Ich fürchte, ja«, erwiderte Dr. Conradi. »Trösten wir uns damit, dass wir wissen, wie es in unseren Herzen wirklich aussieht. Ich kann Ihnen nicht einmal sagen, was das größere Übel ist, aber zum Wohl des Hauses und unserer Anstaltsfamilie müssen wir diesen Termin so gut wie möglich über die Bühne bringen.«
Die Luft im OP-Saal war stickig. Die Tatsache, dass die Fenster wegen des Äthers offen stehen mussten, machte es nicht besser, denn die heiße Sommerluft konnte so ungehindert in den weiß gekachelten Saal eindringen.
Schweiß sammelte sich unter Helenes OP-Kittel und der Haube auf ihrem Kopf. Der Mundschutz produzierte noch zusätzliche Wärme. Am liebsten hätte sie sich das alles vom Leib gerissen. Aber sie war froh, dass Dr. Hintze sie assistieren ließ.
Die Patientin vor ihnen war sechsunddreißig Jahre alt und der Meinung gewesen, schwanger zu sein. Bei der Untersuchung stellte sich heraus, dass das vermeintliche Baby ein etwa zwei Kilogramm schwerer Tumor war, der sich in ihrem Bauch ausbreitete. Die Geschwulst hatte ihr bereits einen Teil der Körperfülle genommen.
Tumoroperationen waren sehr anspruchsvoll, in einigen Fällen wurden sie, weil die Wahrscheinlichkeit bestand, dass die Patientin unter dem Skalpell sterben könnte, nicht durchgeführt. Professor Sauerbruch hatte sich nie gescheut, selbst die komplizierteste Operation anzugehen, aber Helene wusste von anderen Ärzten, die diesen Mut nicht aufbrachten.
Doch die Patientin war einverstanden gewesen und Dr. Hintze fest entschlossen, sie von der Geschwulst zu befreien.
Der Eingriff dauerte nun schon eine Stunde, und allmählich hatten sie das Gefühl, dass sich die Geschwulst löste. Sehr lange Operationen waren noch immer riskant, zum einen wegen des Blutverlustes, zum anderen wegen der Narkose.
Dr. Hintze hatte sie bisher nichts anderes machen lassen, als die Wundhaken zu halten, doch das reichte Helene angesichts des Klimas im Raum voll und ganz.
Und nicht nur sie schien an ihre Grenzen zu kommen. Mit vorrückender Stunde bemerkte sie, dass Dr. Hintze immer angespannter wurde.
»Herrgott noch mal!«, schrie er plötzlich und schleuderte das Skalpell von sich. Klirrend landete es unterhalb der Fenster auf dem Fliesenboden, eine kleine Blutspur nach sich ziehend. »Ich habe schon tausendmal gesagt, dass mein Handwerkszeug scharf sein muss!«, peitschte seine Stimme durch den Saal.
Helene beobachtete, wie die Schwestern zusammenzuckten und sich ängstliche Blicke zuwarfen.
Nur einmal war sie Zeugin eines cholerischen Ausbruchs von Professor Sauerbruch geworden. Damals hatte er einen Anästhesisten aus dem Saal geworfen, nachdem der Patient beim ersten Einschnitt in die Haut zuckte.
Dr. Hintzes Stimme donnerte nicht ganz so wie die des Professors, auch konnte man unter seiner Maske sein Gesicht nicht sehen. Doch der Blick, den er ihr im nächsten Augenblick zuwarf, ließ Helene zusammenfahren.
»Können Sie den Haken nicht mal ruhig halten?«, fuhr er sie daraufhin an. »Wie wollen Sie Chirurg werden, wenn Sie nicht mal Ihre Hände im Zaum haben!«
Helene atmete zitternd durch. Es sind nur die Hitze und der Äther, sagte sie sich und versuchte, sich zu beherrschen. Doch ihre Hände zitterten weiter.
Eigentlich hätte sie an die frische Luft gehen müssen. Doch was hätte Hintze wohl zu solch einer Bitte gesagt?
»Du liebe Güte!«, knurrte Hintze. »Kriegen Sie sich ein! Wir bekommen den Tumor nie aus der Frau raus, wenn mich Ihr Tatterich weiterhin so ablenkt!«
Helene biss sich auf die Lippe. Sie spürte, dass ein weiterer Fauxpas ihrerseits dazu führen würde, dass ein noch größeres Donnerwetter im Saal losbrach.
»Entschuldigen Sie bitte!«, erwiderte sie leise, und endlich gelang es ihr, ihre Hände zur Ruhe zu bewegen.
»Herr Doktor, der Blutdruck fällt!«, rief Schwester Selma nun, die die Vitalwerte überprüfte.
»Das auch noch!« Hintze erteilte eine rasche Anweisung, dann reichte ihm Schwester Grete eine Spritze. Diese injizierte er der Patientin in den Arm. Einige Minuten später gab Selma Entwarnung.
Routiniert löste Hintze nun den Tumor und warf ihn in die bereitstehende Nierenschale. »Tun Sie den in Formalin«, sagte er zu einer der beistehenden Schwestern. »Ich will ihn mir nachher genauer anschauen.«
Die Schwester kam der Anweisung wortlos nach.
»Können Sie denn wenigstens eine Naht legen?«, wandte er sich wieder an Helene.
»Natürlich.« Ihre Stimme verließ sie beinahe.
Hintze schnaubte. »Gnade Ihnen Gott, wenn die Wunde einen Zickzack ergibt! Dann können Sie sich gleich einen Ehemann suchen und brauchen bei mir nicht mehr anzutanzen.«
Helene gelang es, den Fluch zu unterdrücken, bis sie den OP-Saal verlassen hatte.
Obwohl sie die Wunde sehr sorgfältig vernäht hatte, hatte Hintze natürlich etwas daran auszusetzen gehabt. Er hatte seine Kritik noch vergleichsweise neutral geäußert, doch das war zu viel für sie gewesen. Genau genommen war dieser ganze Tag zu viel gewesen!
Ihre Fassung gerade noch so bewahrend, eilte sie zum Hinterausgang, dann stürmte sie nach draußen in den Garten. Dort brach es aus ihr hervor. »Dieser verdammte Mistkerl!«
Während der Schrei durch den menschenleeren Park hallte, hatte sie wieder die Stimme ihres Vaters in den Ohren: Vielleicht ist Chirurgie nicht das richtige Fach für dich. Einen Teufel werde ich tun und Kinderärztin werden, murrte sie im Stillen.
»Ich hoffe, Sie meinen nicht mich«, sagte plötzlich eine Männerstimme.
Helene blickte auf. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sich ihr jemand genähert hatte.
Der junge Mann mochte etwa in ihrem Alter sein, bestenfalls ein oder zwei Jahre älter. Er hatte dunkelbraunes Haar, dunkelblaue Augen, schlanke Gesichtszüge und trug ein kariertes Hemd mit grober Hose. Vor sich schob er eine Karre, auf der sich abgestorbene Blätter häuften.
»Oh nein, natürlich nicht.« Helene rang den Zorn, der in ihr brodelte, nieder. »Entschuldigen Sie, es war mir nur gerade alles etwas viel.«
Der junge Mann schenkte ihr ein mitfühlendes Lächeln. »Sie sind neu hier, nicht wahr?«
»Ja, heute ist mein erster Tag.« Als sie seinen fragenden Blick bemerkte, fügte sie hinzu: »Helene Jacobs.« Den Doktortitel vergaß sie nun selbst schon. Wenn es nach Dr. Hintze ging, hatte sie ihn ohnehin nicht verdient.
»Ich bin Timothy Davis.«
»Freut mich«, sagte Helene, dann stutzte sie. »Sind Sie Engländer? Ihr Name …«
»Mein Vater ist Amerikaner«, erwiderte er. »Meine Mutter ist aber von hier. Deshalb der abenteuerliche Name.« Er betrachtete sie. »Sie dürfen mich gern Timo nennen, das tun hier alle.«
»Oh, danke, das ist sehr nett …«, gab sie ein wenig verwundert zurück. »Ich … ich habe leider keinen Spitznamen.«
»Das macht nichts. Helene ist ein sehr schöner Name.«
Es lag Helene auf der Zunge, ihm ebenfalls ihren Vornamen anzubieten, doch dann fiel ihr ein, dass es für eine Ärztin vielleicht unangebracht war. »Ich wollte Sie nicht stören …«
»Das tun Sie nicht«, sagte er. »Mögen Sie mir erzählen, warum Sie so geschimpft haben?«
Helene runzelte die Stirn. Sollte sie das tun? Er war Gärtner, er würde nicht verstehen …
»Mein Chef scheint etwas dagegen zu haben, dass es auch Frauen in seinem OP gibt. Frauen mit einem Doktortitel.«
»Dann sind Sie eine richtige Frau Doktor, wie?« Timo lächelte. »Ihr Chef will sicher prüfen, aus welchem Holz Sie geschnitzt sind. Das hat unser Gartenmeister auch getan, als ich die ersten Tage hier war.«
»Nur können Sie an Pflanzen nicht so einen großen Schaden anrichten wie ich an Menschen.«
»Das glauben Sie! Was meinen Sie, was manche Setzlinge für Mimosen sind! Wir haben nur Glück, dass Gemüse und Bäume nicht schreien können.«
Helene lachte auf. »So was Ähnliches könnte auch mein Vater sagen.«
»Ist Ihr Vater auch Gärtner?«
»In gewisser Weise. Er arbeitet im Botanischen Garten.«
»Timo, wo bist du?«, tönte eine Männerstimme hinter ihm.
Als Helene sich umwandte, sah sie einen älteren Mann mit grau meliertem Haar, der ebenfalls Gärtnerkleidung trug. Er kam aus der Richtung der Gewächshäuser und hatte offenbar schon nach seinem jungen Kollegen gesucht.
Und auch für sie war es besser, wenn sie sich wieder auf ihrem Posten einfand.
»Ich komme, Herr Jasper!«, sagte er, dann wandte er sich ihr wieder zu. »Es war mir eine große Freude, Sie kennenzulernen, Frau Doktor. Und behalten Sie den Kopf oben, das wird schon!«
Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. »Ich bemühe mich.«
Der Gärtnerbursche grinste zurück, und auf einmal erschienen ihr die Bemerkungen von Dr. Hintze sehr weit weg zu sein.
***
»Brauchen Sie mich noch, Dr. Gregorius?«, fragte Hanna, nachdem sie die Fenster geöffnet hatte, um die verbrauchte Luft aus dem Sprechzimmer hinauszulassen. Kurz schloss sie die Augen und ließ die frische Brise über ihr Gesicht wehen, bevor sie sich umwandte.
»Nein, Schwester Hanna, machen Sie Feierabend«, antwortete der Doktor. »Ich werde im Haus noch einmal nach meinen Patientinnen schauen, und dann übergebe ich an Dr. Conradi.«
Hanna wünschte ihm einen schönen Abend und verließ das Ärztewohnhaus.
Der Wind strich durch die Baumkronen, und irgendwo stimmte eine Amsel ihr Abendlied an. Hanna lauschte eine Weile, dann setzte sie ihren Weg fort.
Sie freute sich auf das gemeinsame Abendessen mit ihren Kolleginnen. Dies vermittelte ihr wenigstens das Gefühl, dass der alte familiäre Geist des Waldfriede noch am Leben war.
Das Klima im Haus hatte sich grundlegend verändert. Damals, als sie im Jahr 1920 unter prekären Bedingungen begonnen hatten, das ehemalige Sanatorium zum Krankenhaus Waldfriede umzugestalten, hatten sie sich noch als Familie gesehen, als eine untrennbare Einheit.
Doch mittlerweile hatte Hanna das Gefühl, dass sie jeden Schritt mit Vorsicht setzen, jedes Wort mit Bedacht wählen musste. Dass die Partei ihre Ohren überall hatte.
Und jetzt kam noch diese Inspektion hinzu. Als hätten sie nicht schon genug Arbeit und Druck von allen Seiten! Und sie hatten keine andere Wahl, als mitzuspielen. Würden die Zeiten je wieder anders werden? Hanna hatte das Gefühl, dass sich ein Gewitter zusammenbraute und der Blitzeinschlag kurz bevorstand.
Ehe sie sich im Speisesaal einfand, wollte sie nach ihrer Post sehen. Schon lange hatte sie nichts mehr von ihren Eltern gehört, außerdem wartete sie schon viele Monate auf einen Brief von Lilly Kirsch, ihrer ehemaligen Kollegin, die vor mittlerweile sechs Jahren das Waldfriede verlassen hatte und ihrem Ehemann, dem jüdischen Professor Kirsch, nach Prag gefolgt war.
Der vermeintlich sichere Hafen war seit dem 15. März dieses Jahres zur Falle geworden: Deutschland hatte ein Protektorat über Böhmen und Mähren verhängt, und damit war das, wovor sie geflohen waren, ihnen wieder gefolgt. In den Nachrichten war von der Kennzeichnung jüdischer Bewohner Prags zu hören gewesen. Kurz zuvor, im Februar 1939, hatte Hanna noch einen Brief von Lilly erhalten, doch seitdem herrschte Funkstille. Auch der Brief, den sie ihr vor einem Monat geschrieben hatte, war ohne Antwort geblieben.
In ihrem Zimmer angekommen, musste sie allerdings einsehen, dass es keine Post für sie gab. Eike Rasmussen, den sie bei einer Reise mit Frau Conradi nach Skodsborg kennengelernt hatte, blieb ihr ebenfalls noch immer einen Brief schuldig. Mit dem dänischen Anwalt pflegte sie seit einigen Jahren eine Brieffreundschaft, die mal mehr, mal weniger rege war. Sie mochte den Mann, und manchmal wünschte sie sich, dass sie mehr füreinander sein könnten. Doch die Vernunft und das Waldfriede hatten bislang die Oberhand behalten.
Hanna schälte sich aus ihrer Schwesterntracht und zog ein einfaches blaues Kleid über. Eigentlich hatte sie sich gut gehalten. Mit ihren vierundvierzig Jahren war sie immer noch schlank, und ihr dunkelblondes Haar hatte nur wenige silberne Strähnen. Warum also fühlte sie sich eigentlich alt?
Ein Klopfen riss sie aus ihren Gedanken. »Ja, bitte?«, rief sie verwundert. Wer sollte um diese Zeit zu ihr wollen?
Als sich die Tür öffnete, wandte sie sich um.
Ihre Schwester zu sehen, war eine Überraschung. Sie trug einen dunklen Mantel, ihr blondes Haar war im Nacken zu einem Knoten geschlungen.
»Leni, was machst du denn hier?« Erst im nächsten Augenblick erkannte sie, dass Leni geweint haben musste. »Um Gottes willen, was ist passiert?«, fragte sie und stürmte zu ihr.
Leni warf sich in ihre Arme und begann zu schluchzen. »Mutter ist heute Mittag gestorben!«
Mit einem lauten Seufzen schlüpfte Helene aus ihrem Kittel. Ihre Füße brannten, und sie wünschte sich, noch bequemere Schuhe als diese seltsamen abwaschbaren Latschen tragen zu können. Der einzige Lichtblick des Tages war der junge Gärtner gewesen. Seine dunklen Locken und die blauen Augen gingen ihr nicht mehr aus dem Sinn. Wie er sie angelächelt hatte! Ganz warm wurde ihr ums Herz, wenn sie sich sein Bild ins Gedächtnis rief.
»Hach! Was für ein Tag!« Schwungvoll trat Irene an den Spind neben ihr. Im Gegensatz zu ihr wirkte sie regelrecht frisch. Ihre Wangen waren leicht gerötet, und sogar ihre Frisur saß noch, was Helene nach mehrfachem Auf- und Absetzen der leinenen OP-Haube nicht von sich behaupten konnte.
»War es bei euch auch schlimm?«, fragte sie.
»Nun ja, wie man es nimmt. Dr. Meyer hat mich auf der Inneren herumgeführt und mir dann einen Haufen Krankenakten zum Studieren gegeben. Ziemlich interessante Fälle. Einige von ihnen habe ich schon kennengelernt. Und bei dir?« Irene blickte sie an und runzelte die Stirn. »Du siehst ja aus, als wärst du unter die Räder gekommen.«
»So fühle ich mich auch«, sagte Helene. »Dr. Hintze hat mich gleich mit in den OP genommen. Dort habe ich stundenlang Haken halten müssen, und dann hat er die Geduld verloren. Er hat ein Skalpell im hohen Bogen durch den Saal geschleudert. Die Schwestern sahen aus, als wollten sie flüchten.«
»Das denkst du dir doch aus!«
»Nein, genau so ist es passiert!« Dass sie angeschrien worden war und Hintze ihr nahegelegt hatte, lieber zu heiraten, verschwieg sie. Irene brauchte ihre Niederlagen nicht zu kennen, sonst zog sie sie irgendwann mal damit auf.
Ihre Freundin hängte den Kittel in ihren Spind, stellte sich vor den Spiegel und richtete ihre Haare. Dann zog sie ihre Handtasche hervor. »Was würde ich jetzt für eine Zigarette geben!«, sagte sie, während sie begann, das Innere zu durchwühlen. Nach einer Weile wurde sie fündig, dann schien ihr das Rauchverbot innerhalb des Hauses wieder einzufallen, und sie steckte das Etui zurück.
»Wenn das deine einzige Sorge ist …«, sagte Helene mit einem Augenrollen. Dr. Conradi hatte recht, es wäre wirklich besser, wenn sie aufhören würde.
Irene versetzte ihr einen Knuff, dann fragte sie: »Hast du Lust, heute Abend ein wenig auszugehen? Wir sollten unseren Einstand feiern!«
»Tut mir leid, meine Eltern haben Besuch und bestehen darauf, dass ich anwesend bin.«
»Oh«, machte Irene. »Ein neuer Heiratskandidat?«
»Hör bloß auf«, erwiderte Helene. »Wahrscheinlich wieder ein Kollege mit einem wohlerzogenen Sohn. Oder gleich ein junger Kollege, ein Grünschnabel, der gerade sein Studium hinter sich gebracht hat und den mein Vater unter seine Fittiche nehmen will.«
»Denk dran, ein Grünschnabel bist du auch noch.«
»Wir sind jetzt Assistenzärztinnen!«, protestierte Helene. »Das ist mehr als ein Medizinalpraktikant, vergiss das nicht.«
Das Haus ihrer Eltern lag in der Tulpenstraße, nicht weit vom Botanischen Garten entfernt, ein gelb gestrichener Bau mit einem Mansardenwalmdach, in das zwei weitere Fenster eingelassen waren. Ein großer Garten umgab das Gebäude, das zur Straße hin durch einen hölzernen Jägerzaun abgegrenzt wurde.
Bratenduft stieg Helene in die Nase, als sie die Pforte aufstieß. Ob der Besuch schon da war? Sie lauschte, doch von der hinteren Terrasse waren keine Stimmen zu vernehmen.
Sie wollte gerade die Schlüssel aus der Tasche ziehen, da sprang die Haustür auf, und ihre Mutter kam ihr entgegen. »Kind, wo bleibst du denn? Der Besuch wird gleich eintreffen!«
Wilhelmine Jacobs trug eine lindgrüne Seidenbluse und einen dazu passenden waldgrünen Rock. Ihr kastanienbraunes Haar, das Helene nur zu gern von ihr geerbt hätte, war in elegante Wellen gelegt.
»Ich habe mich noch mit Irene unterhalten«, sagte Helene, während ihre Mutter sie am Arm packte und förmlich ins Haus zerrte. In der Küche hörte sie Berta, das Dienstmädchen, werkeln. »Ich muss mich doch nur ein wenig frisch machen.«
»Beeil dich damit«, erwiderte ihre Mutter streng. »Ich habe dir das apricotfarbene Kleid herauslegen lassen. Das bringt deinen Teint zum Strahlen.«