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Coaching bietet Erwachsenen neue Möglichkeiten der ADS-Behandlung. Der Coach sucht den Klienten in seiner alltäglichen Umgebung auf, beschäftigt sich dort mit seinen Problemen und Stärken und entwickelt gemeinsam mit ihm praktikable Lösungen für die Bewältigung des Alltags. Christine Beerwerth ist Coach für Menschen mit ADS. Sie zeigt, wie Betroffene mit ADS umgehen können. Handfest und lebensnah.
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Seitenzahl: 215
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Christine Beerwerth
Suche dir Menschen, die dir guttun
Coaching für Erwachsene mit ADS
Das Buch
Nicht nur Kinder haben ADS! Für viele Erwachsene, die unter dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom leiden, ist der ganz normale Alltag eine große Herausforderung. Christine Beerwerth, die sich seit Jahren mit dem Thema ADS bei Erwachsenen beschäftigt, zeigt, dass es neue und wirksame Möglichkeiten der Behandlung gibt. Coaching bietet eine lebensnahe und pragmatische Alternative zur Therapie, die die Einnahme von Medikamenten sinnvoll begleitet oder sogar überflüssig macht. Der Coach sucht den Klienten in seiner alltäglichen Umgebung auf, beschäftigt sich dort mit seinen Problemen und Stärken und entwickelt gemeinsam mit ihm praktikable Lösungen für die Bewältigung des Alltags. Die Autorin benennt konkrete Handlungsstrategien und zeigt, dass die besonderen Fähigkeiten von Menschen mit ADS auch eine Chance sein können – wenn sie richtig erkannt und genutzt werden. Handfest und lebensnah – mit einem Geleitwort von Johanna und Klaus-Henning Krause, Pioniere auf dem Gebiet der Forschung und Behandlung von ADHS bei Erwachsenen.
Die Autorin
Christine Beerwerth, geboren 1963, coacht seit vielen Jahren Menschen mit ADS. Dieses Buch entstand im Rahmen der Tätigkeit des interdisziplinären ADS-Netzwerkes Münster.
Titel der Originalausgabe: Suche dir Menschen, die dir gut tun
Coaching für Erwachsene mit ADS
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2013
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlagkonzeption: Agentur RME Roland Eschlbeck
Umschlaggestaltung: Verlag Herder
Umschlagmotiv: © Designbüro Gestaltungssaal, Sabine Hanel/Alexandra Gober
Foto Christine Beerwerth: © privat
E-Book-Konvertierung: epublius GmbH, Berlin
ISBN (E-Book): 978-3-451-80461-8
ISBN (Buch): 978-3-451-06388-6
Gewidmet unseren fantastischen Kindern Carl, Joost und Marieke
Dieses Buch ist entstanden durch die praktische und geistige Unterstützung vieler Menschen, bei denen ich mich bedanken möchte. Leider ist es nicht möglich, jeden namentlich zu erwähnen. Ganz besonders danke ich meinem Mann Walter! Es war eine aufregende, spannende und zuweilen äußerst lustige Zeit. Ohne seine Beharrlichkeit, sein Wissen und seine Liebe und Geduld wäre ich aus manch schwieriger Situation während des Schreibens nicht herausgekommen. Er hat mich ermuntert zu erzählen und oft dafür gesorgt, dass der Wok für unsere Kinder etwas Leckeres hergab.
Ein ganz herzlicher Dank geht an Dr.Johanna Krause und Prof.Dr.Klaus-Henning Krause für ihr ermunterndes und umfangreiches Geleitwort. Darüber habe ich mich besonders gefreut.
Dem Netzwerk ADS-Münster mit seinen Partnern danke ich für die Zeit und ihr Wissen, das sie mir zur Verfügung gestellt haben. Es waren bereichernde Gespräche. Ein herzlicher Dank geht hier vor allem an die ADS-Selbsthilfegruppe
Geleitwort
1. Einleitung und Standortbestimmung
1.1. Vom Firmenmanagement zum Lebensmanagement
1.2. Standortbestimmung des Coaching bei ADS
2. Coaching als Chance
2.1. Kein Funke ohne Zündspule
2.2. Emotionale Instabilität als Motor des Coaching
2.3. Der Coach ist keine moralische Instanz
2.4. Ausprobieren und Anpacken
2.5. Die angeborenen Besonderheiten sind das Tor zur Hilfe
2.6. Wenig Gefühl für sich selbst: Da kann der Coach helfen
2.7. Einfühlsam den Gesprächsfaden halten
2.8. Emotionale Nähe in Form von Humor
3. Coaching – gewusst wie!
3.1. Begeistert alles rundum vergessen
3.2. Ich weiß nicht
3.3. Schnellschüsse
3.4. Null Emotion – null Bock!
3.5. Emotionale Instabilität
4. Grenzfälle
4.1. Coaching und Erschöpfungsdepression
4.2. »Jetzt musst du aber!«
4.3. Eine Sozialstörung kann erfolgreiches Coaching verhindern
5. Berichte aus dem ADS-Netzwerk Münster
5.1. Die Therapie des ADS will getragen werden
5.2. Studienlage
5.3. Medikation
5.4. Und es geht doch!
5.5. Coaching durch Seelenverwandte
6. Medizin trifft Management
6.1. Wie finde ich einen Beruf?
6.2. ADS, was ist das?
6.3. Kritische Auseinandersetzung mit dem Stand der Wissenschaft
7. Anhang
Literatur
von Johanna und Klaus-Henning Krause
Eine Darstellung des Coaching bei Erwachsenen mit ADHS wird in der deutschen Fachliteratur bislang vermisst. Dabei ist diese Form der Hilfe gerade für diese Personengruppe ausgesprochen wichtig. In Bereichen wie Sport, Musik und Management nimmt der persönliche Coach längst eine wichtige Funktion ein; Nancy Ratey, Ehefrau von John Ratey, einem der Autoren von »Zwanghaft zerstreut«, spricht in diesem Zusammenhang davon, dass eine solche Partnerschaft oft den Unterschied zwischen dem Erlangen einer gewissen Kompetenz und dem Erreichen von Exzellenz ausmacht. Bei der ADHS ist Coaching dagegen bisher die Ausnahme. Dies hat sicher damit zu tun, dass ein therapeutisch notwendiges Coaching keine Krankenkassenleistung darstellt und in der Regel sehr teuer ist – ein professioneller Coach, der zur Verbesserung der Arbeitsleistung eingesetzt wird, berechnet meist weit höhere Stundensätze als etwa ein Psychotherapeut. Gerade ADHS-Betroffene, die wegen ihrer Unfähigkeit, eine Selbststrukturierung zu entwickeln, erhebliche Defizite in Ausbildung und Berufsausübung aufweisen, verfügen selten über die notwendigen finanziellen Mittel, mit Hilfe eines gezielten Coachings aus dem Chaos im Alltagsleben herauszufinden.
Christine Beerwerth ist dafür zu danken, dass sie auf sehr klare, einfühlsame und persönliche Weise beschreibt, was unter Coaching zu verstehen ist und inwiefern diese Methode des intuitiven Eingehens auf die Bedürfnisse und des Förderns der individuellen Fähigkeiten gerade für Patienten mit ADHS so wichtig ist. Positiv hervorzuheben ist weiter die ausgewogene Sichtweise der Autorin, die deutlich betont, dass in den meisten Fällen mit Coaching allein keine ausreichende Funktionsbesserung herzustellen ist und dass in der Regel bei schwerer Betroffenen eine medikamentöse Behandlung unumgänglich ist. Frau Beerwerth beschreibt zwar die bei vielen Betroffenen durchaus auch vorhandenen Stärken – nicht zuletzt durch die Möglichkeit der Hyperfokussierung auf besonders interessierende Bereiche –, begeht aber nicht den Fehler von Autoren wie Tom Hartmann, die die positiven Seiten der ADHS verklären und die Probleme, die diese Störung zu einem ernstzunehmenden Krankheitsbild machen, verharmlosen.
Vom Umfang des vorliegenden Buches solle man sich nicht abschrecken lassen; durch die zahlreichen eingestreuten Fallbeispiele und den flüssigen Sprachstil liest es sich spannend und wird nie langweilig – ein gerade für betroffene ADHS-Patienten sehr wichtiges Argument. Immer wieder gibt die Autorin Tipps und zeigt Tricks auf, sodass allein die Lektüre für manchen ADHSler schon einen gewissen therapeutischen Effekt haben dürfte. Interessant ist das Buch sicherlich auch für die Partner von Betroffenen, die einerseits mehr Verständnis für diese Störung entwickeln, andererseits einige der beschriebenen Möglichkeiten des Coaching aus der neuen Sichtweise positiv im Umgang mit ihren Partnern umsetzen können.
Die Autorin ist in ihrem Buch nicht einseitig auf Coaching ausgerichtet; vielmehr kommen – von einem kompetenten Psychotherapeuten beschrieben – auch psychotherapeutische Ansätze zur Darstellung. Von großem praktischem Wert sind die Ausführungen zur Berufsfindung. Alles in allem haben wir hier ein liebenswert persönlich geschriebenes, ausgewogenes und praktisch sehr nützliches Buch vor uns, dem eine weite Verbreitung zu wünschen ist.
Ottobrunn
Dr.Johanna Krause
Prof.Dr.Klaus-Henning Krause
Liebe Leserin, lieber Leser,
schon als ich meine Arbeit als Coach begann, hatte ich vor allem diejenigen im Kopf, die als Chaoten gelten. Solche habe ich in meiner eigenen Familie. Recht schnell stellte sich heraus, dass viele meiner Klienten tatsächlich »Chaoten vom Schlage ADS« sind. Seit das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom in unserer Familie zum Thema wurde, das war im Jahr 2001, habe ich mehr und mehr dieser Menschen kennengelernt. Sie sind kreativ und schnell denkend, meist liebenswert und empathisch, aber eben auch impulsiv und chaotisch. Sie scheitern oft an den einfachen Widrigkeiten des Lebens.
Aus den täglichen Erfahrungen in meiner Familie ergab es sich, dass ich mich auch beruflich mit dem Thema »Coaching bei ADS« befasste. Schnell musste ich feststellen, dass es auf diesem Gebiet nur wenige Angebote gab. Und von dem, was ich vorfand, war einiges unzureichend. In der Sparte »Kinder mit ADS« sah es etwas besser aus. Elternschulungen und Ausbildung derer, die diese durchführen möchten, gab es bereits. Das ist auch gut so, denn ein Kind mit ADS zu erziehen, ist eine anstrengende Aufgabe, die weit bis in sein Erwachsenenalter reichen kann. Sich so lange an seine Eltern zu binden, strebt aber wohl kaum jemand an. Eine weitere Begleitung sollte sich daher am Coaching erwachsener ADSler orientieren.
Nicht Schule, sondern Werkstatt
Das Wort »Schulung« schien mir nicht passend für meine Arbeit, klingt es doch zu sehr nach Dozenten und Schulungsräumen. ADSler wissen selbst am besten, dass sie all die Dinge, die sie routiniert ausüben wollen, nur lernen können, indem sie sie selbst in die Hand nehmen, und zwar oft im eigentlichen Sinne des Wortes. Sie brauchen keine Klassenzimmer. Das, was geübt werden soll, muss im persönlichen oder beruflichen Umfeld geschehen: Begreifen durch Anpacken – wie in einer Werkstatt!
So, wie man als Nicht-ADSler Verantwortung für sein eigenes Leben übernimmt, müssen ADSler für das Management ihres eigenen, zugegeben etwas anderen Lebens, die Verantwortung übernehmen können. Das geht nicht ohne Aufklärung. Aufklärung darüber, dass sie in manchen Bereichen »anders ticken«, dass sie manche Dinge einfach nicht auf »normalem« Wege tun können. Häufig wird ADSlern fehlender Wille unterstellt, was sie zuweilen sehr verletzt. Denn es gibt Situationen, in denen das Gehirn nicht erkennt, was gerade »nicht normal« läuft. Aber für viele Aufgaben des Lebens gibt es – von mir durchaus positive gemeinte – »Krücken«, die einem ADSler helfen, sein Ziel zu erreichen. So, wie man Geh-Hilfen nach einer gewissen Zeit wieder abgeben kann, soll Coaching den ADSler dazu befähigen, irgendwann auf eigenen Füßen durchs Leben zu gehen. Es kann allerdings sein, dass man die Krücken hin und wieder noch einmal braucht. Davor ist niemand gefeit.
Ich kenne mein Ziel, der Kutscher den Weg
Bei der Recherche zum Thema Coaching stoßen Sie stets auf Aussagen renommierter Fachleute, dass dieser Begriff ins Management und in die Personalentwicklung großer und kleiner Firmen gehöre. Fast fühle ich mich wie eine Diebin, die einen Begriff aus der Wirtschaft gestohlen hat.
Doch was heißt eigentlich Coaching? Das Wort kommt aus dem Englischen und bedeutet »Kutsche«. Welche Gedanken kommen Ihnen hierbei?
Sie fährt von Ort zu Ort,
auf ein selbst gewähltes Ziel zu.
Der Kutscher kennt den Weg.
Bei schlechtem Wetter ein geschützter Raum.
All diese Beschreibungen treffen im übertragenen Sinn auf das Coaching von Menschen mit ADS zu. Um sie vorwärts zu bewegen, verwende ich als »Fahrzeug« Maßnahmen (auch »Tools« genannt), die sich im Coaching von Führungskräften bewährt haben. Das war nicht geplant, sondern es hat sich in der praktischen Arbeit ganz von selbst ergeben. Dies ist kein Zufall, denn die Charakterzüge vieler Manager haben auffallende Ähnlichkeit mit denen meiner Zielgruppe. Aber Vorsicht! Nur wenige Dinge sind eins zu eins übertragbar.
Den Herausforderungen stellen sich nicht nur Manager!
Coaching für ADS wie für das mittlere und höhere Management? Aber sicher! Bei Wikipedia finden Sie unter »Anwendung von Coaching« folgenden Eintrag:
Coaching wird im Management, Vertrieb, wie auch im persönlichen Bereich bei Fragen im beruflichen und persönlichen Kontext eingesetzt. Durch die Anregung durch einen Experten werden die Handlungen im realen Umfeld durchdacht und gemeinsam nach besseren Handlungsalternativen gesucht.
In Fachbüchern spielt dieselbe Melodie, nur mit anderen Worten. ImHandbuch des Coachingvon Christopher Rauen finden Sie in einer ausführlichen Definition Sätze wie die folgenden:Zielgruppe sind Personen mit Führungs- und/oder Managementaufgaben … personenzentrierte Beratung auf Prozessebene … Hilfe zur Selbsthilfe … Coaching erlaubt keine manipulativen Techniken, da ein derartiges Vorgehen der Förderung von Bewusstsein und Eigenverantwortung entgegenstehen würde.
Alle reden davon, ihr Leben zu managen. Niemand nimmt mehr Anstoß daran. Coaching wird als unterstützendes Instrument in Firmen eingesetzt, um diese nach vorn zu bringen. Die Unternehmen haben in einer globalisierten Wirtschaft jeden Tag mit neuen Herausforderungen zu tun. Und so ist es auch im Leben eines ADSlers! Er stellt sich jeden Tag den besonderen Herausforderungen seines etwas anderen Lebens.
Ich coache ausschließlich im realen Umfeld und suche gemeinsam mit meinen Klienten nach besseren Handlungsalternativen. Kurz gefasst: Ich sehe die Anwendung des Begriffes »Coaching« für die im vorliegenden Buch beschriebenen Lebensbereiche als völlig korrekt an.
Die Gesetzmäßigkeiten des Coaching bei ADS werden in diesem Buch anhand des Lebensbereichs »Struktur und Ordnung« dargestellt. Das hat den folgenden Grund: Viele ADSler sind durch die ihnen angeborene Behinderung im Bereich der Arbeitsorganisation und Ordnung deutlich beeinträchtigt. Ihre starken Seiten können so kaum zur Geltung kommen. Die Felder Struktur und Ordnung werden hier also als Basis des Coaching dargestellt und durch Berichte über weitere Formen ergänzt, die von Partnern des ADS-Netzwerkes Münster betrieben werden.
Die Geschwister des Coaching: Pädagogik und Therapie
Wie der Pädagoge seinen Schüler, so will der Coach seinen Klienten, den »Coachee«, zu Erfolg und Tüchtigkeit führen. Mehr als die aktuelle Pädagogik stellt das Coaching die Frage nach dem Wesen des Klienten und nach seinen Zielen. Es will ihm helfen, seine Bestimmung zu finden. Wie ein guter Lehrer nimmt der Coach den Coachee so an, wie er ist. Das Ziel ist allerdings bescheidener. Das kann eine Examensarbeit sein, ein funktionierendes Büro, ein gedeihlicheres Familienleben oder letzte Schritte auf dem Weg in einen passenden Beruf.
Wie die Therapie will das Coaching die Kräfte des Klienten steigern. Fragen nach der Krankheit zu stellen, liegt ihm aber fern. Es wird vor allem nach den Stärken gefragt. Die Schwächen werden allenfalls insoweit betrachtet, als der Blick darauf zur Förderung der Stärken nötig ist. Dennoch werden Verhaltenstherapeuten, die sich schwerpunktmäßig mit ADSlern beschäftigen, aufmerken. Erfahrungen aus unserer Arbeitsgruppe zeigen, dass sie dort am erfolgreichsten waren, wo sie aus dem Bauch heraus Coaching betrieben haben.
Was also ist das: Coaching bei ADS? Sie können es so übersetzen: Es ist eine Frage des Anstandes. Es handelt sich um die Kunst des anständigen Umganges mit empfindsamen Menschen. Dazu benötigen wir Menschenkenntnis, die erst Dinge wie Takt, Höflichkeit und Hilfsbereitschaft ermöglicht. Das Coaching ist hier also eine Art ADS-Knigge. Intuitiv betrieben wird das, seit es Menschen mit ADS gibt. Erfreulich ist, dass Coaching von ADSlern neuerdings mit soliden wissenschaftlichen Erkenntnissen betrieben werden kann. Solche Erkenntnisse bestehen zurzeit über die spezifische Impulssteuerung, die Gefühlsbetontheit (Emotionalität) und das Planungsverhalten der ADSler.
Wurzeln
Die Wurzeln des »Coaching bei ADS« liegen in der Supervision, dem Coaching als Managementmethode, dem Elterntraining von Kindern mit ADS und in der Sozialarbeit. Coaching und Supervision haben sich in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr zu methodisch vielfältigen Dienstleistungen entwickelt. Dabei wurden reichlich Anleihen bei den unterschiedlichsten Schulen der Psychotherapie gemacht. Meines Wissens ist der Ansatz dieses Buches einzigartig, Coaching unter dem Aspekt einer besonderen Charaktereigenschaft zu betreiben.
Für die Zukunft wünsche ich mir unter dem Gesichtspunkt des Coaching mehr stärkenorientierte Forschung. Da stehen wir noch bei Null. Die Fragstellungen zur Forschung sollten aus der Praxis kommen. Meine Hoffnung ist, dass Bücher wie dieses dabei helfen können.
Das leidige Geld
Coaching bei ADS, wie es auch von Doris Ryffel-Rawak (2003) schon vor Jahren gefordert wurde, steht erst am Anfang. Die Notwendigkeit wird aber von vielen »alten Hasen« gesehen, die in der Therapie erwachsener ADSler tätig sind. Ein entscheidender Faktor ist die angemessene Finanzierung eines qualifizierten Coaching. Die Krankenkassen werden sich solange zurückhalten, bis die Methode etabliert ist. Das kann allerdings noch lange Zeit dauern. Die derzeitigen Abrechnungsziffern zur »Soziotherapie« werden dem Aufwand nicht gerecht. Sie sind kaum kostendeckend. Eine Fülle von bürokratischen Hemmnissen wirkt als weitere Sperre: Ausführlicher, schriftlicher (unbezahlter) Behandlungsplan, Stellungnahmen zur Notwendigkeit im Einzelfall, abstruse Anforderungen an die Qualifikation des verschreibenden Arztes und des Soziotherapeuten.
Erstattungsfähige Behandlungen beschränken sich derzeit meist auf Psychotherapie durch Gespräche. In Deutschland werden momentan (Frühjahr 2007) von den gesetzlichen Krankenkassen nicht einmal die Kosten für die Medikamente erster Wahl übernommen. Begründung: »für Erwachsene nicht zugelassen«. Warum die traditionelle Psychotherapie allein oft wenig ausrichtet, wird später noch ausführlich besprochen. Warum aber auch Medikamente häufig nötig sind, um ein adäquates Coaching durchzuführen, erfahren Sie ebenfalls weiter hinten im Buch.
Viele ADSler sind kreative Köpfe. Immer wieder scheitern sie jedoch im Beruf aufgrund von Mobbing oder wegen ihrer »Schusseligkeit«. Sie sind häufig unstrukturiert, verlegen Dinge oder beschäftigen sich so intensiv mit einer Sache, dass sie für eine gewisse Zeit alles andere vergessen (Hyperfokus genannt, dazu später im Buch mehr). So kommt es, dass man immer wieder auf ADSler trifft, die entweder ohne Arbeit oder »ewige Studenten« sind. Die Folgekosten sind nicht abschätzbar, von der verlorenen Bereicherung der Wirtschaft durch diese oft exzellenten und vorwärtsgerichteten Denker und Handwerker ganz zu schweigen. Viele von ihnen haben sich in die Selbständigkeit »gerettet« und kommen mit der nötigen Bürokratie nicht zurecht.
Kurzum: Solche Klienten verfügen selten über ausreichende Mittel für ein wirksames Coaching. So kommt es häufig zu Teilzahlungsvereinbarungen. Immer wieder treffe ich auf früher erfolgreiche Menschen, die irgendwann aufgrund ihres Alters (ab Mitte 40) ihre Handicaps nicht mehr kompensieren konnten. Sie haben aus besseren Zeiten noch Erspartes zur Verfügung und finanzieren sich so ihren Coach. Was aber wird aus den anderen? Hier ist sowohl die Gesellschaft als auch die Politik gefragt. Jeder hat ein Recht auf eine angemessene Behandlung, wenn er erkrankt. Denn ADS zählt zu den Psychischen Erkrankungen. Das stimmt auf der einen Seite. Auf der anderen Seite ist ADS aber auch ein Persönlichkeitsmerkmal, auf dessen Grundlage das von mir angewandte Coaching gelingt. Dieses kann dabei helfen, teure Behandlungen und Krankenhausaufenthalte zu verhindern und bleibende Folgeschäden zu vermeiden. Allerdings gibt es auch immer wieder Situationen, in denen ich als Coach den Klienten in ärztliche Behandlung übergeben muss.
Schwächen werden zu Stärken
Alle Menschen sind von Geburt an auf Gegenseitigkeit angelegt. Dieser Wesenszug bleibt Menschen mit ADS in besonderer Weise erhalten. Ihre vermeintlichen Schwächen wie ihr empfindsames Gemüt, ihre heftigen Emotionen und ihre Schusseligkeit verlangen nach einem ausgleichenden Partner. Im Gegenzug haben sie jedoch auch viel zu bieten: Einfühlsamkeit, unbedingte Hilfsbereitschaft, Kreativität und vieles mehr. Immer schon haben Menschen mit ADS andere Menschen gebraucht, um ihre Vorzüge zeigen zu können. Coaching macht sich dies zu Nutze.
Wie kam die Jungfrau zum Kinde?
Dieser Abschnitt könnte mit theoretischen Betrachtungen darüber beginnen, was das Besondere an Menschen mit ADS ist. Durch die Theorie bin ich aber nicht zu diesem Thema gekommen. Es war die Arbeit mit der Erwachsenen-Selbsthilfegruppe, die mich zum Coaching gebracht hat. Die Mitglieder suchen sich selbst die Hilfe, die ihnen am besten bekommt. Durch meinen Mann kam ich mit der Gruppe in Berührung, und mittlerweile verbinden mich viele persönliche Kontakte mit diesem Arbeitskreis. Ein wesentlicher Teil meiner Arbeit war und ist es, Anregungen aus der Gruppe umzusetzen und in nutzbare Bahnen zu lenken.
Auch in unserer Familie ist Coaching das Zauberwort. Das betrifft besonders meinen ADS-Mann. Mit Bevormundung hat Coaching nichts zu tun – ganz im Gegenteil: Es bringt den ADSler an sein selbst gewähltes Ziel. Es funktioniert, ohne ein Ungleichgewicht zwischen den Partnern entstehen zu lassen. Dazu später mehr. Kommen wir nun erst einmal zu den Geschichten, die zur Entwicklung des Coaching à la Münster geführt haben. Die Namen sind allesamt geändert.
Kleine Ursache – große Wirkung
Sicher sind Ihnen ADSler als sehr impulsiv bekannt. Das »Jetzt-unbedingt-etwas-tun-Müssen« ist nur eine Seite davon. Es gibt auch den Zustand »Es-jetzt-nicht-tun-Können«. So seltsam es sich anhört: Impulsivität beinhaltet beides.
Der Tellerturm zu Babel
Elke hatte ein Problem mit dem Geruch und der Optik der Kochecke in ihrer Studentenbude. Der Abwasch stapelte sich in beachtlichen Höhen. Das Problem in einer halben Stunde zu beseitigen, das ging gar nicht. Technisch gesehen kein Problem, wenn ein Aufraffen möglich gewesen wäre. Der Berg blieb unangreifbar, obwohl Elke einiges versucht hatte: Es ging nicht mit Musik, nicht morgens früh, nicht abends spät, nicht mit Rotwein oder Schokolade als Belohnung. Das Fiasko machte Elkes Laune so zu schaffen, dass auch das Studium ernsthaft beeinträchtigt wurde. Sie brachte es nicht fertig, etwas Sinnvolles zu beginnen, solange das Geschirr vor ihrer Nase stand. Kleine Ursache, große Wirkung!
Irgendwann klagte Elke in der Selbsthilfegruppe ihr Leid. Eine andere Studentin kam daraufhin zwecks Hilfestellung zu Besuch. Wie sich herausstellte, musste sie weder spülen noch abtrocknen. In Gesellschaft ging es Elke so leicht von der Hand, dass sie die Arbeit mit Freude allein machte. Bei den ADSlern der Münsteraner Gruppe gab es einige Lacher, dann ein intensives Nachdenken. Es stellte sich heraus, dass fast alle Gruppenmitglieder ähnliche Probleme haben. Alleine nicht putzen, nicht aufräumen, nicht für die Magisterarbeit schreiben können – diese Dinge führten die Hitliste an. Morgens nicht aufstehen können, einen Tag nicht strukturieren können, eine Hausarbeit für das Seminar nicht gliedern können usw. kamen hinzu. Selbstständige hatten Probleme mit der Rechnungsstellung und der Steuer, was sie an den Rand des Ruins führte. Solche Aufgaben konnten viele nur in Gesellschaft oder im Gespräch leisten.
Schnell bahnten sich Geschäfte an: Du leistest mir Gesellschaft beim Aufräumen, ich dir beim Abwasch. Ich rufe dich morgens an, damit du aus dem Bett kommst. Du gehst mit mir die Gliederung der Seminararbeit durch. Von dieser Stunde an hat sich die Gruppe immer intensiver mit dem Thema Coaching beschäftigt. Elkes Geschirrstapel war der Auslöser.
Die Frage ging um, warum denn einiges nicht ohne die Hilfe eines anderen zu schaffen ist. An der Intelligenz oder am Fleiß liegt es nicht. Die von dieser seltsamen Lähmung Betroffenen haben oft überdurchschnittliche Fähigkeiten. Diese Leute sind wirklich alles andere als doof oder faul. Eine weitere Frage war, warum bestimmte Dinge nicht erlernbar oder therapierbar sind. Vergebliche Versuche in beide Richtungen hatte es reichlich gegeben.
Himmelhoch jauchzend oder zu Tode betrübt, aber im Beisein des Trainers endlich zur Sache motiviert
Das Gefühlsleben vieler Menschen mit ADS gleicht dem Wetter eines Sonntags im April. Seltsam ist, dass sie den Wechsel von Sonne und Gewitter selbst mitbekommen und einordnen können. Sie sind ihm aber hilflos ausgesetzt und auf die Gefühlslage anderer Menschen angewiesen.
Der Mann mit drei Persönlichkeiten
Der zündende Gedanke zu dieser Säule des Coaching kam mit Ludger. Er hatte mit seinem »Drive« und seinen guten Ideen eine mittelständische Firma aufgebaut. Sein Teilhaber und Geschäftsführer hatte ihn aber irgendwann »rausgemobbt«. In einer Erschöpfungsdepression kam Ludger in eine psychiatrische Klinik und nahm wegen der Nebendiagnose ADS Kontakt zum Netzwerk ADS-Münster auf. Er arbeitet seither in der Selbsthilfe mit. Der Aufenthalt in der Psychiatrie ist ihm nicht gut bekommen. Viele Geschichten könnte man davon erzählen. Eine wurde für das Konzept des Coaching wichtig. Auf den ersten Blick hat sie gar nichts mit dem Thema zu tun.
Ludger erzählte, er habe in der Klinik im Wesentlichen mit drei Therapeuten zu tun gehabt. Das seien ganz verschiedene Typen gewesen. Der Erste war fröhlich, munter und humorvoll. Der Zweite war versteckt aggressiv, fordernd, »so ein Oberlehrer«. Der Dritte wiederum war mitfühlend traurig, »so ein ganz Bemühter«. Nun tauscht sich so ein Stations-Team aus. Dabei fiel auf, dass Ludger beim ersten Therapeuten fröhlich und alles andere als depressiv gewirkt hatte. Beim zweiten war er aggressiv und »bockig«. Beim dritten dagegen wirkte er tieftraurig. Das fanden die Therapeuten bemerkenswert, bemerkenswert ärgerlich, und sie machten Druck. Druck aber konnte Ludger nach dem Mobbing, dem Verlust der Firma und schweren gesundheitlichen Problemen nicht mehr ertragen.
In der Selbsthilfegruppe lösten Vorgänge wie dieser die Suche nach Ursachen und vergleichbaren Verhaltensweisen aus. Immer wieder zeigte sich, dass Menschen mit ADS die Stimmung eines Gesprächspartners übernehmen, häufig sogar in verstärkter Form. Oft bleibt das von ihnen selbst aber unbemerkt. Es ist, als hätten sie gar keine eigene Emotion. Das hat natürlich Folgen. In Abwesenheit jeder Empfindung kann man nicht aktiv werden. Diesen Zustand kennt auch jeder Mensch, der nicht von ADS betroffen ist. Es ist das Gefühl, welches sich nach mehreren durchwachten Nächten einstellt. Mit Lähmung ist es vielleicht am besten beschrieben. Erst wenn eine andere Person ihre mittlere Gefühlslage sozusagen leihweise zur Verfügung stellt, ist an Arbeiten zu denken. Wie langsam deutlich wurde, war das auch bei den Spül- und Aufräumbesuchen von Elke und ihren Freundinnen der Fall gewesen.
Daher lautet der Rat, der im Grunde für jeden Menschen gilt: »Suche dir Menschen, die dir guttun!« Bei ADS ist er besonders wichtig. Für Ludger wäre es die beste Hilfe gewesen, wenn die Klinik ihn nur mit dem fröhlichen Therapeuten zusammengebracht hätte. Damit wären drei grundlegende Forderungen erfüllt worden:
Coaching bei ADS gelingt nur, wenn es beiden Freude macht.
Es setzt eine mittlere, aber positive Emotion des Coachs voraus.
Es zählt das Hier und Jetzt.
Das, was sonst zu den erschöpfenden Bürden der ADSler gehört – sich nicht gegen die Stimmungen anderer Menschen abgrenzen zu können –, ist die Grundlage des Coaching. Menschen mit ADS sind von Natur aus auf die Zusammenarbeit mit anderen angelegt. Allein »versumpfen« sie. Baron Münchhausen mag sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf ziehen; Menschen mit ADS lernen das nie. Coaching kann die rettende Hand bieten.
Tipps und Tricks
Suche dir Menschen, die dir guttun!
ADSler sind zur Gesellschaft geboren.
Gemeinsam geht, was allein unmöglich ist.
Kein kindlicher Ehrgeiz: »Ich will aber alleine!«
Macht’s keinen Spaß, macht’s keinen Sinn.
Das Übliche auf den Kopf stellen
Im Leben eines ADSlers gibt es immer wieder Menschen, die ihn mit seinen Eigenheiten als schlecht erzogen bewerten. Oder als dickfällig und nicht kompromissbereit. Rücksichtslos wird er genannt und »über längere Zeit nicht zu ertragen«. Für einen Coach gibt es kein moralisches Bewerten dessen, was der ADSler tut. Der Coach kommt ins Spiel, wenn der Klient um Hilfe ruft, und zwar nur dann, wenn er selbst ruft. Geht die Initiative nicht vom Klienten aus, gibt es keine Hilfsmöglichkeit vom Coach.
Dieser schaut dann erst einmal, welche Möglichkeiten der ADSler hat. Berater ist er und nicht etwa der erhobene Zeigefinger. Dies ist für die meisten eine neue Erfahrung. Da kommt jemand, dessen erstes Ziel es nicht ist, den ADSler zu bewerten oder zu tadeln, weil er etwas nicht schafft. Der Coach fragt:
Was brauchst du?
Was kannst du?
Was blockiert dich?
Womit bekommst du das in den Griff?
Wie kann ich helfen?
Viele mussten sich Zeit ihres Lebens für das rechtfertigen, was sie tun oder wie sie es tun. Vor allem aber, dass sie einige Dinge auf ganz andere Weise erledigen, als es üblich ist. »Anders« muss jedoch nicht »schlechter« heißen. Im Gegenteil: Lösungen können besser sein. Wichtig ist in jedem Fall, dass sie individuell passen.