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Per Annonce sucht Carmen einen »impotenten Mann fürs Leben« – und landet damit einen Knüller. Doch keiner der Bewerber, mit denen sie sich trifft, erfüllt ihre Erwartungen. Bis sie David kennenlernt. Und bei ihm wünscht sie sich, dass das mit der Impotenz wie ein Schnupfen wäre, der von allein vergeht. Die zahlreichen Versuche, ihn von seinem Leiden zu heilen, führen zu den komischsten Verwicklungen … – »Drei Wochen Impotenz würden vielen Männern guttun« (Gaby Hauptmann).
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Für Mutti
Dank an Maria Hof-Glatz, die »Kräuter-Hexe«
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Taschenbuchausgabe
2. Auflage 2011
ISBN 978-3-492-96154-7
Deutschsprachige Ausgabe: © 1995 Piper Verlag GmbH, München Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München
Stumpf klebt sein Blick an ihren Beinen. Es dauert eine Weile, bis Carmen das bemerkt. Zunächst denkt sie, es ist Zufall: Er denkt an irgend etwas und starrt dabei eben ihre Beine an. Dann merkt sie, daß er nicht an irgend etwas, sondern exakt an ihre Beine denkt. Sie sitzt ihm in den U-förmig aufgestellten Bänken des Seminarraumes genau gegenüber. Vorn erläutert der Seminarleiter eine Strategie, wie man zu höheren Verkaufszahlen kommen könnte, und ihr gegenüber sitzt ein Mensch, den dies ganz eindeutig nicht interessiert. Er hat zwar diesen Kurs gebucht und bezahlt, bekommt aber offensichtlich nichts davon mit. Carmen Legg beginnt, ihn zu testen. Sie stellt die Beine parallel; neigt sie leicht schräg, reibt dann die Nylons aneinander, so daß es ein leises, erotisches Geräusch gibt. Ihrem Gegenüber schießt die Röte ins Gesicht. Sie verändert die Position, wippt ein bißchen mit ihren hohen Absätzen, streckt die Füße etwas nach vorn, unter dem Tisch hervor, in seine Richtung. Er knetet seine Hände, lockert seinen Krawattenknoten. Blödes Spiel, denkt Carmen, gleich läuft ihm auch noch der Speichel aus den Mundwinkeln. Sie konzentriert sich wieder auf den Seminarleiter. Schließlich kostet die Schulung viel Geld, und wenn der da drüben nichts mitbekommt – bitte! Sie jedenfalls will in ihrem Beruf etwas erreichen.
Leicht angesäuert fährt sie an diesem Abend nach Hause. Sie könnte sich ja geschmeichelt fühlen, daß jemand ihren Beinen so viel Aufmerksamkeit schenkt. Aber im Gegenteil: Es ärgert sie. Wie im Zoo angestarrt zu werden. Von so einem widerwärtig geilen Typen. Carmen knallt Genesis in ihr Autoradio. Und mit der Kassette ändert sich langsam ihre Laune. Eigentlich urkomisch, findet sie, da fährt so ein Mann weiß der Himmel wie viele Kilometer, um an einem Seminar teilzunehmen, und legt dafür auch noch ordentlich Bares auf den Tisch, und wenn er dann wieder nach Hause fährt, hat er nichts außer unausgegorenen Gelüsten im Hirn und fragt sich, auf welchem Seminar er eigentlich war.
Carmen Legg hat es bisher immer genossen, wenn sie gut ankam. Sie ist groß, schlank, hat lange Beine und langes, rötliches Haar – mit ihren 35Jahren ist sie der Prototyp einer selbstbewußten, selbständigen Frau. Sie fährt einen schnellen BMW mit Lederausstattung und Klimaanlage, hat ihr eigenes, kleines Versicherungsbüro und ihre 100-Quadratmeter-Altbauwohnung mit Parkettboden. Sie fliegt zweimal im Jahr in Urlaub, ist eine gute Sportlerin und läßt nichts anbrennen. Aber solche Typen gehen ihr auf den Geist. In letzter Zeit verstärkt. Manchmal empfindet sie den bewundernden Blick eines Mannes schon als Zumutung. Soll er sie doch in Ruhe lassen mit seinem Jagdinstinkt. Ein guter Jäger findet immer seine Beute, hat ihr kürzlich ein neuer Kunde gesagt, als sie ihn am Telefon fragte, wer sie denn empfohlen habe. Wenn Sie bei mir eine Versicherung abschließen, sind doch wohl eher Sie die Beute, hat sie darauf geantwortet. Das fand der Herr am anderen Ende nun überhaupt nicht witzig.
Carmen ist zu Hause angekommen. Sie muß aussteigen, das Garagentor ist von irgendwelchen freundlichen Nachbarn mal wieder vorzeitig geschlossen worden. Sie ist noch nie für Gemeinschaftsprojekte gewesen und schon gar nicht für eine Gemeinschaftsgarage. Aber in dem kleinen Altstadtviertel geht es eben nicht anders. Ein leichter Herbstregen hat eingesetzt, und Carmen friert in ihrem dünnen Leinenkostüm. Hastig steigt sie wieder ein, fährt in ihre knapp bemessene Parklücke, nimmt Aktenkoffer, Tasche und Mantel und eilt über das Kopfsteinpflaster zu ihrem Haus auf der anderen Straßenseite, das fast nahtlos in die andern Altbauten übergeht. Sie ist froh, endlich im dritten Stockwerk anzukommen. An hohe Absätze haben die Herren Architekten bei der Konstruktion dieser unendlichen Holztreppen nicht gedacht. Carmen kickt die Schuhe weg, wirft Mantel, Aktentasche und Tasche auf den nächsten Sessel und geht zum Anrufbeantworter. Sie schaltet ihn ein und geht zur Küche, einen Raum weiter. Aha, Marlene wollte mir ihr essen gehen. Aber das war schon gestern abend, also passe. Fritzi erzählt wieder eine Liebes- und Leidensgeschichte. Auch abhaken. Fritzi hat immer Liebes- und Leidensgeschichten. Und das, was war das? Sie kehrt vor dem Kühlschrank um, geht zurück, läßt den Apparat zurückspulen. Herr wie war das? Sie drückt nochmals auf Rewind. Wer soll das sein? Herr Schrade? Kenne ich nicht. Was will er?
»Ich möchte Ihnen einen Bekannten vorstellen, Herrn Hermann, der eine große Fabrik besitzt und sich und die Firma besser absichern möchte. Herr Hermann ist aber nur heute in der Gegend. Vielleicht könnten Sie sich ja doch heute mit uns treffen, vielleicht zum Abendessen? Ich würde mich freuen. Bitte rufen Sie uns unter 01712557900 zurück. Es ist Sonntagabend, 18Uhr. Danke.«
Nachdenklich setzt sich Carmen auf die Lehne des Sessels, auf dem ihre Aktentasche steht. Was soll das – sie kennt weder den einen noch den anderen. Und außerdem ist sie geplättet, müde, sehnt sich nach einem Bad, einem Glas Wein und einem guten Spielfilm als Betthupferl. Ihr steht der Sinn jetzt ganz gewiß nicht nach Herrn Schrade und Herrn Hermann, wer immer das sein mag. Carmen steht wieder auf, geht zur Küche, hört im Hintergrund die anderen Anrufe ab. Mutter bittet um Rückruf, Frau Leisner ist Mutter geworden und möchte das Baby versichern. Schön. Aber dieser Herr Schrade läßt ihr nun doch keine Ruhe. Komisch, daß ihr ein Mann, den sie nicht kennt, ein Geschäft vermitteln will. Mit einem Kunden, den sie auch nicht kennt. Woher hat er überhaupt ihre Privatadresse? Andererseits, die Aussicht auf ein gutes Geschäft lockt sie immer. Und eine Firma, die vielleicht unterversichert ist – das hört sich nicht schlecht an. Carmen greift zum Telefon.
Drei Freizeichen, dann knackt es.
»Schrade.«
»Carmen Legg, guten Abend. Sie baten um einen Rückruf?«
»Da haben Sie Glück, wir wollten eben das Auto verlassen!«
Na und, denkt Carmen, dann wäre es auch egal gewesen. Wichtigtuer!
»Aber es ist nett, daß Sie noch anrufen.«
Schon besser, denkt Carmen.
»Sie sind wohl eben erst nach Hause gekommen?«
Was geht das ihn an?
»Ja, ich war auf einem Seminar.«
»Na gut, dann können Sie Herrn Hermann sicherlich auch gut beraten, ha, ha, ha!«
Ha, ha, ha!
»Sicher kann ich das. Ich finde nur Tag und Zeit etwas ungewöhnlich. Alle erforderlichen Unterlagen habe ich im Büro, es wäre also sinnvoller, er käme morgen früh dort vorbei!«
»Mag sein, aber Herr Hermann fährt morgen früh schon wieder zurück, da wäre es nicht schlecht, er hätte schon ein paar Anregungen von Ihnen im Koffer. Einen kleinen Lageplan oder so. Alles weitere können Sie ja dann ausführlich später besprechen!«
»Nun …wo sind Sie denn jetzt?«
»Noch im Auto, also flexibel. Wir wollten eben in die Bürgerstube gehen, aber vielleicht haben Sie ja einen besseren Vorschlag. Wir holen Sie auch gern ab!«
»Nein, nein. Aber fahren möchte ich eigentlich nicht mehr. Bei mir um die Ecke gibt es das Laguna, ein gutes italienisches Restaurant. Wäre Ihnen das möglich?«
Sie hört kurzes Getuschel, dann kommt das Okay.
»Ist das in der St.-Martin-Straße? Gut, wir sind um 21Uhr da.«
»Das paßt, ich reserviere einen Tisch auf meinen Namen!«
Kurz nach neun Uhr ist Carmen im Laguna, sitzt an ihrem Tisch, hat den Aktenkoffer mit Unterlagen und Verträgen unauffällig am Tischbein stehen und widerstrebt der Versuchung, sich ein Glas Rotwein zu gönnen. Behalte einen klaren Kopf, sagt sie sich, man weiß nie!
Zwei Männer stehen in der Tür. Carmen ist sofort klar: Das sind sie. Ein bißchen zu sehr auf chic gemacht, ein bißchen zu bunt, und für die ganze Aufmachung ein bißchen zu alt. Gut, aber darauf kommt’s ja jetzt nicht an.
Der Kellner bringt die beiden an ihren Tisch.
Die Begrüßung soll galant sein, fällt für Carmens Geschmack aber etwas zopfig aus.
»Sie müssen schon entschuldigen.« Hans Hermann küßt ihre Hand und lächelt sie dann mit schräg gelegtem Kopf an. »Aber wir sahen keinen anderen Weg. Herr Schrade hat mir so viel von Ihnen erzählt, daß ich dachte, ich müßte Sie einfach kennenlernen.«
»Aber ich kenne Herrn Schrade doch überhaupt nicht.« Carmen
schaut ihn kurz an. »Oder doch?«
»Nein«, bestätigt er. »Persönlich nicht.«
»So?« forscht Carmen. »Wie dann?«
»Im Rotary-Club hat Klaus Wiedemann sehr lobend von Ihnen gesprochen. Das sind für Herrn Hermann Referenzen genug.«
»Klaus Wiedemann ist unser Bezirksleiter.«
»Ja, ich weiß. Herr Meinrad war auch sehr angetan!«
»Meinrad? Ein Herr Meinrad hat mich kürzlich einmal angerufen, ich erinnere mich gut. Ist er auch im Rotary-Club ?«
»Ja, ja!«
»Er ist Jäger, nicht wahr?«
»Richtig«, lacht Herr Schrade und entblößt eine Reihe zu großer Jacketkronen. »Haben Sie ihn gegen die Kugeln der Waidmannskollegen versichert, oder woher wissen Sie das?«
»Der Schluß lag nah, er drückt sich sehr- sehr tierisch aus.«
»Ah.« Herr Schrade schaut Carmen leicht irritiert an und winkt dann nach dem Kellner.
»So, was kann ich nun für Sie tun?« Carmen möchte die Sache schnell hinter sich bringen und wieder nach Hause kommen. Ihr Bett wäre ihr bedeutend lieber als der Champagner, den Herr Schrade jetzt überlaut bestellt.
Marke Neureich, denkt Carmen, streicht ihr langes Haar zurück und will endlich auf das Geschäft zu sprechen kommen.
»Sie haben wunderschönes Haar«, sagt Herr Hermann in vertraulichem Ton und lehnt sich etwas zu Carmen herüber.
Blitzartig ist es Carmen klar. Die Herren suchen nette Gesellschaft, weiter nichts. Weiß der Kuckuck, was Klaus Wiedemann in seinem Rotary-Club so erzählt. Ihr erster Impuls ist aufzustehen und zu gehen. Dann überlegt sie. Wenn Ihr glaubt, euch mit mir einen netten Abend machen zu können, dann drehe ich den Spieß einfach um. Ich werde einen netten Abend erleben. Und Ihr einen teuren!
»Danke«, sagt Carmen und lächelt zurückhaltend, aber verbindlich.
Hans Hermann ist entzückt.
»Können wir jetzt auf Ihre Firma kommen?«
»Aber selbstverständlich. Oder wollen wir vorher noch einen Schluck Champagner auf unser gemeinsames Wohl trinken?«
»Aber gern!« Carmen hebt das Glas, Hans Hermann blickt ihr beim Anstoßen tief und bedeutungsvoll in die Augen, Herr Schrade lächelt freundlich, hält sich aber etwas zurück.
So läuft der Hase, denkt Carmen. Schrade will mit Hermann Geschäfte machen, und ich bin der Köder. Sie grinst. Ihr habt eben eines noch immer nicht begriffen, ihr Männer – wir Frauen denken mit dem Gehirn und ihr eine Etage tiefer. Na, das wird ein gemütlicher Abend werden. Das Spiel kann beginnen.
Carmen kennt sich selbst kaum noch. Sie zockt mit Blicken und Lächeln, mit erotischen Haarspielereien und neckischen Handbewegungen. Nach und nach zieht sie ihre Unterlagen heraus, erklärt, fragt nach, ganz seriöse Geschäftsfrau. Hans Hermann dauern diese ständigen Unterbrechungen zu lang.
»Gib her das Ding, Mädchen. Das ist gut, brauchst nicht so lang zu erklären, ich bin schließlich nicht beschränkt, das unterschreibe ich gleich!«
»Wir müssen aber trotzdem noch eine Versicherungsanalyse durchführen, damit wir Sie nicht doppelt versichern, Herr Hermann.«
»Ha, ha, zweimal ist besser als einmal, habe ich recht, Erhardt?« Erhardt Schrade, nach dem Champagner und der dritten Flasche Chardonnay auch nicht mehr ganz Herr seiner Sinne, nickt wissend. »Nicht schlecht, Hans, nicht schlecht!«
Um Mitternacht sind sie die letzten Gäste, um ein Uhr möchte der Wirt sein Lokal endlich schließen. Es kommt noch eine Runde Grappa a Casa, Carmen nippt und betrachtet sich stocknüchtern die Herren an ihrer Seite. Bin ja gespannt, was jetzt kommt!
»Ja, ich hole dann schon mal die Mäntel«, sagt Hans Hermann und steht etwas breitbeinig auf. »Und nicht weglaufen, meine hübsche Gazelle«, flüstert er laut mit einem etwas schiefen Blick zu Carmen.
»Wie sollte ich-ohne Mantel«, erwidert sie.
Hans Hermann lacht laut und schwülstig und geht zur Garderobe.
»Für diesen Dienst denken Sie dann aber auch mal an eine kleine Gegenleistung, nicht wahr?« Erhardt Schrade erscheint ihr plötzlich seltsam klar.
»Für welchen Dienst?«
»Na, ich meine, durch meine Vermittlung kassieren Sie ja jetzt
ganz gut ab!«
»Heißt das, Sie möchten Provision für die Abschlüsse haben?«
»Geld habe ich selbst genug. Denken Sie mal darüber nach!«
Carmen ruft sich innerlich zur Ruhe, Hans Hermann steht mit
den Mänteln da.
»Darf ich Ihnen hineinhelfen?« fragt er und streckt ihr den Mantel hin.
»Sehr liebenswürdig, ja! Und, Herr Hermann, vielen Dank für die Einladung, es war ein sehr interessanter Abend!«
»Es wird noch viel interessanter, ha, ha!«
Ja, das glaube ich auch, denkt Carmen, nickt leicht in Erhardt Sehrades Richtung und geht zur Tür.
Hans Hermann hat Mühe, Schritt zu halten.
»Halt, halt, nicht so schnell, wo wollen Sie denn hin?« Und leiser: »Gehen wir zu dir, oder hole ich uns ein Taxi?«
Carmen dreht sich um und sagt laut, auch für Enzo Caballo, den Wirt, bei dem sie Stammgast ist: »Ich befürchte, Sie haben da was falsch verstanden!«
»Was? Wie? Ich denke – das war doch klar …«
»Ich sehe, Herr Hermann, Sie waren auf der falschen Party. Tut mir leid für Sie. Falls sonst noch etwas unklar sein sollte, können Sie mich gern morgen im Büro anrufen. Zur Geschäftszeit. Besten Dank für den netten Abend und gute Nacht!«
Damit fällt die Tür schwungvoll zu, und sie läuft durch die Nacht nach Hause.
Im Treppenhaus atmet sie auf.
Mein lieber Mann, das war ja doch eine ganz schön heiße Geschichte. Morgen wird er alles stornieren. Dann war’s wirklich der perfekte Blödsinn! Vielleicht aber auch nicht. Dann hat sich’s tatsächlich gelohnt. Wer weiß?
Oben angekommen dreht sie den Haustürschlüssel herum, geht hinein, kickt die Schuhe weg, wirft die Aktentasche auf den Sessel, rechnet, während sie ins Bad geht, nach, was sie nun verdient hat, falls alles glattgeht, duscht schnell, putzt die Zähne, wirft sich ein flauschiges Nachthemd über und will ins Bett. Dort liegt schon einer.
»Du??«
»Das klingt ja nicht gerade begeistert! Freust du dich denn nicht?«
»Ob ich mich …? Nein, im Moment hat es mir wirklich die Sprache verschlagen. Ich denke, du kommst erst am Mittwoch.«
»Ach so, deshalb bist du so spät. Du denkst, du hast freie Fahrt. Wo warst du überhaupt so lange?«
»Komm, Peter, jetzt fang doch nicht mit so ’ner Tour an!«
Ihr Freund, in der Dunkelheit kaum auszumachen, setzt sich im Bett auf. Er hat nichts an. Klar, wozu auch. Schließlich will er mit ihr schlafen. Und wahrscheinlich ist er auch extra deswegen hergekommen. Aber sie will nicht. In ihr regt sich nicht der kleinste Funke Lust, sondern Ärger darüber, daß er so unangemeldet nackt in ihrem Bett sitzt.
»Hmmm!« Er stöhnt ärgerlich und läßt sich etwas unter die Bettdecke gleiten.
»Jetzt sei bloß nicht auch noch beleidigt! Du könntest doch zumindest vorher anrufen!«
»Hab ich doch. Dreimal. Aber das Fräulein Legg ist ja nie zu Hause!
»Ach so, ja, ab neun Uhr war ich weg!«
»Ich hab’s bemerkt. Und mit wem? Oder ist das auch ein Geheimnis?«
Sie setzt sich zu ihm auf die Bettkante, haucht ihm einen Kuß auf die Stirn. »Hey, grüß dich!«
Dann legt sie sich auf ihre Seite.
»Es ist überhaupt kein Geheimnis, Peter. Ich habe nur keine Lust, jetzt darüber zu reden. Es ist völlig harmlos, irgendwie lustig und doch ärgerlich, und ich erzähle es dir morgen, ich bin nämlich todmüde.«
»So«, er rutscht wieder in Halbstellung, »das kann ich mir lebhaft vorstellen!«
»Weißt du was? Du gehst mir auf den Nerv. Was sollen denn diese blöden Andeutungen?«
»Ich war schließlich zehn Tage fort. Und anstatt dich zu freuen, erzählst du mir, daß du müde bist. Dabei wollte ich dich ausführlich begrüßen!«
»Ja«, sagt sie und schlüpft unter die Bettdecke, »das kann ich mir vorstellen. Laß uns die Begrüßung morgen nachholen. »Früher warst du ganz anders!«
»Ach herrje, jetzt kommt diese Platte!«
Er legt sich beleidigt hin, zieht die Decke bis zur Nasenspitze. Sie betrachtet seinen Wuschelkopf. Na, vielleicht könnte ich ja doch noch Lust kriegen, überlegt sie und lauscht auf irgendwelche inneren Anzeichen.
»Dann kann ich ja auch gehen!« sagt er.
Keine inneren Anzeichen, nicht eine Spur davon.
»Na, prima«, sagt sie und stützt sich mit den Ellenbogen auf. »Dann tu’s aber auch und red nicht nur davon!«
Er bleibt liegen und überlegt. Natürlich hat er keinen Bock, jetzt, mitten in der Nacht, aufzustehen, sich anzuziehen und nach Hause zu fahren.
»Du liebst mich nicht mehr!« wirft er ihr vor. Den Kleiner-Junge-Ton kennt sie. Sie seufzt.
»Mein Gott, Peter, dramatisier doch nicht immer alles so schrecklich. Ich bin müde, ich hatte einen harten Tag, ich war auf einem Seminar, habe eben noch mit Kunden zusammengesessen, mir reicht es einfach für heute. Ist denn das so schwer zu verstehen? Das hat nichts mit anderen Männern zu tun!« Und im Nachsatz, etwas leiser, während sie sich ins Bett zurückgleiten läßt: »Und von mir aus kannst du auch bleiben!«
»Weshalb möchtest du nicht mit mir schlafen, Carmen? Hab ich etwas falsch gemacht? Etwas Falsches gesagt?«
»Wenn du so weitermachst, treibst du mich aus dem Bett!«
Das ist ja nicht auszuhalten, denkt sie und dreht sich auf die Seite. »Im Bad brennt noch Licht«, Peter hat die Decke wieder zurückgeschlagen. Sie sieht seinen Penis prall aufgerichtet in der Dunkelheit.
»Dann mach’ s aus!« murmelt sie.
Sie spürt, wie er nach ihrer Hand greift und sie zu seinem Glied führt.
Ach, jetzt versucht er, die letzten Register zu ziehen. Er meint wohl, die Berührung mit seinem Penis sei das Zaubermittel, das mich sofort lichterloh brennen läßt. Eigentlich eine Frechheit! Mit einem Ruck zieht sie die Hand weg.
»Wieso kannst du nicht akzeptieren, daß ich nicht will?«
»Weil ich’s einfach nicht glaube! Ich hatte noch nie eine Frau, die einfach nicht wollte! Und du warst früher auch nicht so!«
»Meinst du, das müßte jetzt in eine Grundsatzdiskussion ausarten, nachts um eins?«
»Ich bin noch munter!«
»Wie schön für dich!«
Wütend dreht sie ihm den Rücken zu.
»Morgen gebe ich eine Anzeige auf und suche mir einen impotenten Mann!«
»Das würde dir ähnlich sehen!«
»Wir können ja Freunde bleiben.«
Er trägt einen kurzen Bürstenschnitt und schaut sie schräg an. »Sie meinen das ernst, was Sie da aufgeben?«
»Natürlich! Glauben Sie, ich würde die Anzeige sonst bezahlen?«
»Das finde ich gut!«
Grinsend nimmt der junge, athletische Typ die Anzeige vom Tisch und trägt sie zu einem Stapel. Dann kommt er zurück und druckt die Rechnung aus. Carmen mustert ihn mit gespitzten Lippen: »Das heißt, wenn ich Sie sehe – ich könnte es mir vielleicht noch anders überlegen …«
Er, vielleicht 25Jahre alt, kommt näher, grinst sie frech an, so daß seine weißen Zähne aus dem braungebrannten Gesicht blitzen, und flüstert halblaut: »Bleiben Sie dabei. Das ist schon gut so. Ich bin schwul.«
Carmen lacht, bezahlt und hat noch ein Lächeln auf den Lippen, als sie den Zeitungsverlag durch die Drehtür verläßt.
Es ist nicht zu glauben, sagt sie sich. Es ist alles verdreht. Ich suche einen impotenten Mann, Peter will es am Tag viermal, der da ist schwul und jede dritte Ehe geht schief.
Ein Endvierziger, der ihr entgegenkommt, fängt ihren strahlenden Blick auf und gibt ihn zurück. Carmen legt noch eine Dosis zu. Kaum an ihr vorbei, kehrt er um und kommt ihr nach.
»Entschuldigen Sie, aber dürfte ich Sie vielleicht zu einer Tasse Kaffee einladen? Ich – es ist vielleicht ungewöhnlich, aber irgendwie habe ich das Gefühl, mit Ihnen reden zu müssen.«
»Sind Sie impotent?«
»Ich? Impotent? Nein! Wieso denn?«
»Dann geht’s leider nicht. Tut mir leid.«
Sie winkt ihm fröhlich zu, er bleibt völlig verdutzt stehen. So frei hat sich Carmen selten gefühlt. Ihr ist nach Kaviar und Champagner, heute abend, ganz gemütlich auf dem Sofa, genau so, wie es ihr paßt, in alten Leggings, mit einer Gurkenmaske auf dem Gesicht und einem rührseligen Spielfilm. Ach, kann das Leben schön sein.
Der Anruf und die Zeitung am nächsten Morgen kommen gleichzeitig. Sie sitzt bereits in ihrem kleinen Büro, hat einen Guten-Morgen- Kaffee aufgestellt und sich einige Kundenkarten herausgesucht, die sie bearbeiten will. Manches ließe sich sicherlich aufstocken. Aber kaum bringt ihre Mitarbeiterin die Zeitung, legt sie alles beiseite und schlägt sie mit einigem Herzklopfen auf. Da steht es. Oben. Mittig, fett umrandet, unübersehbar:
Wanted: Klarer Männerkopf
Attraktive, erfolgreiche 35erin sucht Mann für schöne Stunden, Unternehmungen, Kameradschaft. Bedingung: Intelligenz und Impotenz. Bildzuschrift: RZ 3417
Sie läßt das Telefon länger klingeln als gewöhnlich. Die Anzeige zieht sie in ihren Bann. Unglaublich, das stammt von ihr. Was will sie eigentlich mit einem impotenten Mann? Klar, sie bleibt dabei. Ab morgen wird sich alles ändern, ihr Leben wird einen völlig neuen Dreh bekommen. Sie wird endlich einen Mann haben, der nicht seinen Penis, sondern sie anbetet, mit dem sie feiern, leben und reden kann, ohne ständig von einem erigierten Glied bedrängt zu werden. Und wenn sie so eines mal will, bitte, in der Stadt laufen ja genug frei herum. Sie atmet tief ein und aus, dann nimmt sie den Hörer ab.
»Ja bitte, Versicherungsbüro Legg.«
»Anwaltskanzlei Lessing, guten Tag.«
»Guten Tag, was kann ich für Sie tun?«
»Wir vertreten Herrn Hermann.«
»Ach, wie nett! Was heißt das?«
»Wir nehmen die Interessen von Herrn Hermann wahr!«
»Diese Interessen kenne ich bereits …«
»Ach ja? Es geht um den gestern mit Ihnen abgeschlossenen Vertrag.«
Hab ich’s mir doch gedacht, denkt Carmen. Jetzt wird storniert. »Und was kann ich da für Sie tun?«
»Herr Hermann hat einige Verträge mit Ihnen abgeschlossen, die in bezug auf die bereits bestehenden Verträge nochmals überprüft werden müssen.«
Nett umschrieben, denkt Carmen bissig und fragt: »Wie darf ich das verstehen?«
»So, daß der Vorgang nun von uns in Zusammenarbeit mit der Firmenleitung überprüft wird.«
»Das ist Ihr gutes Recht!«
»Davon gehen wir aus.«
Arroganter Schnösel, ärgert sich Carmen, fügt aber freundlich hinzu: »Sie haben vierzehn Tage Zeit, sich alles genau zu überlegen. Danach können Sie nicht mehr zurücktreten.«
»Wir können aber präventiv stornieren, wenn wir merken, daß uns diese Zeit nicht reicht.«
»Einfacher wäre es, vorher noch mal miteinander zu reden. Vielleicht kann ich Ihnen ja bei Ihrer Arbeit helfen.«
»Das Problem ist, daß Herr Hermann öfter mal Dinge abschließt, die sich nachher als unnötig herausstellen. Seine Brüder und Geschäftsteilhaber haben damit so ihre Schwierigkeiten.«
Carmen muß sich ein Lachen verbeißen.
»Ja«, sagt sie, »das kann ich mir lebhaft vorstellen. Aber vielleicht waren diese Abschlüsse ja sinnvoller, als alle vermuten.«
»Das hoffen wir sehr.«
»Ich möchte mein Angebot zur Zusammenarbeit nochmals wiederholen.«
»Ich danke für Ihren Vorschlag und komme möglicherweise darauf zurück. Auf Wiederhören!«
Bevor Carmen den Gruß erwidern kann, ist drüben schon aufgelegt. Na, ganz so schlimm, wie sie anfänglich befürchtet hat, scheint’s nicht zu werden. Noch stehen die Chancen 50:50.
Carmen holt sich ihre Tasse Kaffee und liest nochmals ihre Anzeige durch. Ob sich da überhaupt jemand meldet? Ob ein impotenter Mann es fertigbringt, vor einer fremden Frau dazu zu stehen?
Sie rührt sich vier Würfelzucker in den Kaffee, da klingelt das Telefon.
»Ich nehm’s schon«, ruft sie ihrer Mitarbeiterin zu, die eben die Post durchgeht.
»Versicherungsbüro Legg, guten Tag.«
»Ich gratuliere dir zu deiner fabelhaften Anzeige. Damit sehe ich unsere Beziehung definitiv als beendet an.«
»Das brauchst du nicht, Peter, ich habe dir doch schon gesagt, wir können Freunde bleiben.«
»Freunde – so ein Blödsinn! Du suchst einen anderen Mann, also ist es zwischen uns beiden aus. So verstehe ich das.«
»Ich suche einen – ach, lassen wir das. Im Büro mag ich sowieso nicht über so etwas reden, das weißt du doch. Nimm’s einfach, wie es ist, wir beide können Freunde bleiben, wenn auch auf einer etwas anderen Ebene.«
»Freundschaft ohne Sex funktioniert nicht!«
»Dann bist du armseliger, als ich dachte.«
»Danke, das war ja nun wohl das Wort zum Sonntag!«
»Nein, zum Dienstag, und wenn du mit mir noch mal reden willst, bitte, wir können uns heute abend beim Italiener treffen.«
»Nein, danke, Carmen, ich glaube, das halten meine Nerven nicht
aus. Ich gehe lieber boxen.«
»Das kannst du doch überhaupt nicht.«
»Heute abend kann ich es, darauf kannst du dich verlassen!«
»Na schön, Peter, wenn du meinst…« Sie nimmt einen Schluck aus der Tasse, verbrennt sich dabei die Lippen: »Autsch, ist das heiß!«
»Sehr konzentriert scheinst du ja nicht zu sein!«
»Peter, es tut mir leid, ich muß arbeiten. Wir können uns gern heute abend sehen, oder sonstwann, aber jetzt habe ich keine Zeit. Ich wünsche dir einen schönen Tag, ciao!«
»Halt, halt- oder, na ja, dann eben tschüs!«
Carmen legt den Hörer auf die Gabel, schaut auf und trifft den Blick ihrer Mitarbeiterin Britta Berger, die sie beobachtet hat.
»Ärger?« fragt sie.
»Nicht mehr als sonst auch.«
»Eigentlich dachte ich immer, eine Frau wie Sie kennt so etwas nicht!«
»Wieso denn nicht?« Erstaunt blickt Carmen auf. »Ich glaube, Sie täuschen sich gewaltig. Ich bin eine Frau wie jede andere und habe deshalb auch Ärger wie jede andere!«
Sie schlägt die Zeitung zu und macht sich endlich an die Arbeit.
Die erste Sendung des Zeitungsverlages liegt drei Tage später im Briefkasten. DIN-A 5, billiges Braunpapier, harmlos versteckt zwischen zwei Rechnungen, einem Möbelprospekt und dem Werbebrief eines Vermögensberaters. Carmen tastet den Umschlag vorsichtig ab. Wie viele Briefe mögen wohl drin sein? Zwei, drei? Sie klemmt sich alles unter den Arm, nimmt die Aktentasche und läuft die Holztreppe hinauf.
»Mein Gott, Fräulein Legg, so sportlich heute?«
Die 80jährige Dame aus dem ersten Stock kommt ihr mühsam am Stock gehend entgegen.
»Nein, Frau Gohdes, aber ich hab’s so eilig, und außerdem habe ich heute flache Treter an, da geht’s schon.« Zwei Stufen oberhalb bleibt sie stehen. »Kann ich Ihnen helfen, Frau Gohdes?«
»Nein, sehr liebenswürdig, ich bin ja schon fast unten.«
»Ja, aber ich meine, wenn Sie eine Besorgung oder so etwas haben, ich bringe Ihnen die Sachen gern mit, ich muß sowieso einkaufen!« Die alte Dame dreht sich zu ihr um, und mit einem betretenen Gefühl sieht Carmen, daß sie feuchte Augen hat.
»Das ist sehr nett von Ihnen, darüber wäre ich wirklich froh.«
»Ja?« Carmen geht die zwei Stufen wieder hinunter. »Jetzt ist es aber schon zu spät, die Läden sind zu. Kann ich Ihnen morgen etwas besorgen?«
»Wenn ich Ihnen einen kleinen Zettel schreiben dürfte – und wenn es wirklich keine Mühe macht?«
»Nein, gewiß nicht, das tu ich doch gern. Ich hole den Zettel dann morgen früh bei Ihnen ab. Ist Ihnen halb neun zu früh?«
»Ach, nein, wissen sie, in meinem Alter braucht man nicht mehr so viel Schlaf. Der kommt dann schon von ganz alleine.«
»Aber da haben Sie doch noch Zeit!«
Carmen schaut in das Gesicht vor ihr und überlegt, was diese Frau wohl schon alles erlebt hat. Die Gesichtszüge verraten frühere Schönheit, doch die Haut ist jetzt faltig, die hellen Augen haben einen leichten Schleier. Wie mag sie früher ausgesehen haben? Und warum nennen sie alle im Haus Fräulein? Mit ihren 80Jahren? Hat sie keinen Mann, war nie verheiratet? Oder wollte sie ganz einfach keinen Mann? Ging es dieser alten Dame damals so wie ihr heute?
»Ja, dann«, sagt Elvira Gohdes und wendet sich wieder zum Gehen.
»Nein, warten Sie, Frau Gohdes, wollen wir denn nicht einmal ein Gläschen Wein miteinander trinken? Ich würde mich sehr gern mit Ihnen unterhalten.«
»Ach, Kindchen, was wollen Sie schon mit einer so alten Frau wie mir?«
»Reden, hören, wie es früher war, wie die Menschen so gelebt haben, was sie dachten, fühlten.«
»Ach so? Das freut mich. Wenn Sie wollen, kommen Sie doch gleich nachher. Ich wollte nur kurz zum Briefkasten.«
»Aber das kann ich doch für Sie tun …«
»Ne, Kindchen, lassen Sie mal, ein bißchen Bewegung brauchen meine alten Knochen schon auch.«
»Also abgemacht, in einer halben Stunde!«
Ja, gern!«
Seltsam beschwingt läuft Carmen die Treppe hinauf. Oben fällt ihr der Umschlag wieder ein. So ein Blödsinn, sich für heute abend zu verabreden. Was ist ihr nur in den Sinn gekommen? Sie hatte doch bei Spaghetti, einem Glas Rotwein und in aller Gemütsruhe diese Briefe lesen wollen. Sie schließt auf. Carmen zieht die Schuhe aus, legt den Packen unter dem Arm auf den Tisch, den Aktenkoffer auf den Sessel, geht ins Schlafzimmer, um Bluse und Hose gegen Leggins, dicke Socken und einen schönen weiten Wollpullover zu tauschen. So, jetzt ist der Abend eingeläutet. Und jetzt? Die Briefe gleich lesen oder als Schmankerl fürs Zubettgehen aufbewahren?
Als Kind schon hat sie die größten Weihnachtsgeschenke zum Schluß ausgepackt, und ihren ersten Liebesbrief trug sie drei Tage lang unter ihrem Pullover mit sich herum, bevor sie ihn endlich las. Schaffe ich es noch, die Neugierde auszuhalten? Noch ein bißchen? Sie ist darin Perfektionistin. Sie geht langsam auf den Tisch zu. Zumindest den braunen Umschlag kann sie mal aufreißen. Dann weiß sie, wie viele Briefe es sind. Sie fährt mit dem Zeigefinger unter den Klebeverschluß und öffnet ihn mit einem Ruck. Zwei längliche Briefe und ein Brief in einem kleinen, fast quadratischen Format fallen ihr entgegen. Sie setzt sich auf die Lehne des Sessels und studiert die Handschriften. Der Absender des einen länglichen Briefes scheint sehr stilbewußt zu sein. Oder er setzt sich gern in Szene. Die Anschrift ist schwungvoll mit schwarzer Tinte geschrieben, mit großen, ausschweifenden Buchstaben. Die beiden Fs von Chiffre reichen weit hinunter und enden in einer schwungvollen Schleife. Jedenfalls kein gewöhnlicher Mensch, befindet Carmen und legt den Brief weg. Der zweite längliche Brief wurde mit Maschine adressiert. Wie einfallslos. Carmen greift zum dritten. Kleine Druckbuchstaben, mit Kuli geschrieben. Gut, das sagt nicht viel aus. Mal sehen, der Name. Sie dreht den Brief um. Heinz-Peter Schulze. Also, der Name gefällt ihr nicht. Auf dem maschinell geschriebenen Brief stehen nur die Initialen D. S., damit fängt sie nicht viel an, und der dritte verschweigt seinen Namen.
Du mein Schreck, sie schaut auf die Uhr. Frau Gohdes wird schon warten. Sie schnappt sich eine Flasche Rotwein, greift zu einer Schachtel mit Keksen, Chips wird die alte Dame nicht mögen, nimmt den Schlüssel und saust hinunter. Elvira Gohdes steht in kunstvoller Schrift auf dem Messingschild unter dem Klingelknopf. Ganz anders als bei ihr oben mit dem selbstgeschriebenen Provisorium, das am Tag des Einzuges schnell angebracht wurde und wohl auch die nächsten Jahre noch unverändert hängen wird. Carmen drückt auf den Knopf. Und auch die Klingeln klingen unterschiedlich. Die hier läutet zart, in Glockentönen, Dreiklang. Bei ihr oben schrillt es einfach laut und erbarmungslos. Frau Gohdes macht auf. Sie strahlt, und ihr Gesicht legt sich in tausend Falten.
»Sie ahnen nicht, wie es mich freut, daß Sie mich besuchen. Ich bekomme ja so selten Besuch. Manchmal denke ich mir, ich bin schon lebendig begraben.« Sie stutzt. »Aber was sage ich da. Bitte kommen Sie doch herein. Sie müssen ja denken …«
Carmen folgt ihr in die Wohnung. Sie hat den gleichen Zuschnitt wie ihre, aber sie wirkt völlig anders, wie aus einer anderen Zeit. Dunkle, schwere Eichenmöbel, echte abgetretene Läufer auf den langen Gängen, klobige Samtsessel, dicke Samtvorhänge. Überall liegen weiße Spitzendecken, in einer Vitrine stehen sorgfältig aufgereiht geschliffene Kristallgläser. Und an der Decke hängt ein alter, kunstvoll gearbeiteter Lüster.
»Bitte nehmen Sie doch Platz.« Frau Gohdes deutet auf einen der schweren Sessel.
»Ja, danke.« Carmen fühlt sich auf einmal befangen. Was soll sie überhaupt reden mit der Dame? Sie kann sie doch nicht einfach fragen, wie sie es früher mit den Männern gehalten hat?
Auf dem Weg zu ihrem Sessel sieht sie an einer Wand silbergerahmte Schwarz-Weiß-Fotos hängen.
»Darf ich?« Sie geht darauf zu. Frau Gohdes kommt nach, seufzt. »Ja, das sind die Erinnerungen. In meinem Alter lebt man nur noch in der Erinnerung. Aber das kann ein junger Mensch nicht verstehen.«
»Meine Mutter sagt das auch immer, und sie ist erst Mitte Sechzig.«
»So jung? Ach ja, mit Mitte Sechzig bin ich überhaupt erst aus Afrika zurückgekehrt.«
»Sie waren in Afrika?« Carmen ist verblüfft. »Was haben Sie denn
dort gemacht?«
Die alte Dame lacht auf. Ein kurzes, echtes, fröhliches Lachen. »Ich habe mein halbes Leben in Afrika verbracht!«
»Ehrlich«, staunt Carmen. »Als Missionarin? Oder wie?«
»Ja«, lacht Elvira Gohdes, »vielleicht auch ein bißchen als Missionarin, aber weniger für die katholische Kirche. Viel eher vielleicht für das Gebot der Nächstenliebe, das ja in jeder Religion existiert.«
»Das haut mich wirklich um«, sagt Carmen und schaut sich die Fotos genauer an. »Waren das Ihre Eltern?«
»Ja«, und sie zeigt mit ihrem Zeigefinger auf einen kleinen, weißen Fleck: »Und das bin ich. Im gestärkten weißen Kleidchen, damals vielleicht zweijährig. Und das hier sind meine Brüder, meine Schwester, das ist meine Tante. Sind alle tot. Natürlich.«
»Und das?« Carmen zeigt auf das verblichene Bild eines großen, farmähnlichen Gebäudes.
»Das ist mein Elternhaus. Meine Großeltern haben es 1887 in Deutsch-Südwestafrika gebaut, meine Mutter hat dort einen Deutschen geheiratet, und ich wurde in diesem Haus geboren. Sie wissen ja sicherlich, daß Deutschland das Land 1884 als Kolonie erworben h atte. Ja, und meine Großeltern waren unter den ersten Siedlern. Kolonialherren nannte man das damals. Ein schreckliches Wort. Aber sicherlich war es ein Unrecht, Menschen und Land einfach so zu kaufen. Ich habe später versucht, es mit meinem Beruf wieder ein bißchen gutzumachen.«
»Was sind Sie denn von Beruf?«
»Ärztin. Ich habe mich in Deutschland ausbilden lassen, was damals für eine Frau sehr ungewöhnlich und hart war.«
»Das ist ja hochinteressant.«
Carmen schaut die harmlose alte Frau vom ersten Stockwerk an. Da kann man mal sehen, was sich hinter so einer durchschnittlichen Menschenfassade alles verbirgt.
»Ich habe uns Wein mitgebracht, haben Sie Lust auf ein Schlückchen?«
»Da freue ich mich sehr. Aber ich habe auch eine Flasche hier. Ich hätte Ihnen gern selbst etwas angeboten.«
»Das können wir ja das nächste Mal machen«, lacht Carmen und will sich eben von den Bildern abwenden, als ihr ein Foto auffällt. Klein, gelblich, hinter verdorrten Rosen versteckt.
Ein Mann, kaum auszumachen, steht neben einem Flugzeug, einer offenen Propellermaschine.
»War das ein Freund der Familie?«
»Es war ein sehr guter Freund – ein wunderbarer Mensch!«
»Oh, und was ist passiert?«
»Hannes kam bei einem Flugzeugabsturz ums Leben, nicht lange, nachdem dieses Bild aufgenommen wurde. Mit dieser Maschine. Es war seine eigene.«
»Das tut mir leid.« Carmen schaut sich das Foto genauer an. Das Gesicht ist schlecht zu erkennen. Jung, wahrscheinlich verwegen, mit einer Fliegermütze und einem weißen Schal.
»Aber das ist doch schon sehr lange her. Haben Sie denn nie geheiratet?«
»Ich wollte heiraten. Aber das Schicksal hat mir einen anderen Weg gezeigt. Es sollte nicht sein.«
»Hmm. Aber all die Jahre? Sie haben doch sicherlich außergewöhnliche Männer kennengelernt?«
Elvira geht zu einer Schublade, holt einen silbernen Korkenzieher und nimmt zwei langstielige Gläser aus der Vitrine.
»Ach, wissen Sie, Männer waren für mich nie ein Thema. Für mich waren Menschen interessant. Egal ob Männlein oder Weiblein, Junge und Mädchen. Und Tiere. Ich habe auch Tiere operiert, junge Kühe auf die Welt gebracht, wenn sie eine Steißlage hatten. Ich habe überhaupt alles gemacht, was mit der Aussicht auf eine bessere Welt zu tun hatte.«
»Dafür bewundere ich Sie sehr. Ich tue eigentlich nur das, was mir guttut.«
»Ja, Sie sind ja auch noch jung!«
»Ich bin 35. Ich nehme an, mit 35 hatten Sie schon ständig eine Menge kranker Menschen um sich herum und eine Riesenverantwortung.«
»Heute sind die Menschen eben anders.«
Elvira schenkt ein, die beiden Frauen schauen sich an und prosten sich zu.
»Sie haben ein sehr interessantes Leben, Frau Gohdes.«
»Ich hatte ein sehr interessantes Leben, liebe Carmen, ich darf Sie doch Carmen nennen? Sie dürfen ruhig Elvira zu mir sagen, das macht alles leichter.«
»Ja, sehr gern! Zu komisch, jetzt lebe ich schon seit fünf Jahren in diesem Haus, und zum ersten Mal reden wir wirklich miteinander. Ist das nicht schrecklich?«
»Das ist die Zeit, Kindchen!«
»Wissen Sie, die Zeit ist wirklich seltsam. Also, daß eine Frau nach ihrer großen Liebe keinen Mann mehr anschaut, ich glaube, das gibt es heute nicht mehr.«
»Nun, ganz so war es ja auch nicht. Völlig abstinent bin ich nicht geblieben – und übrigens, Sie haben doch auch keinen Mann, oder?«
Carmen nimmt einen Schluck, kostet. »Hmm, der ist gar nicht schlecht. Schmeckt er Ihnen auch? Ich habe ihn zum Probieren aus der Vinothek um die Ecke mitgenommen. Soll ich Ihnen davon auch welchen besorgen? Ja?«
Elvira nimmt einen großen Schluck und läßt ihn langsam durch die Kehle rinnen.
»Mir ist er ein bißchen zu herb. Jetzt, so, angenehm, aber ich nehme doch lieber etwas Lieblicheres.«
»Kein Problem. Wir können ja mal eine Weinprobe veranstalten. Nein, Sie haben recht, Elvira, ich bin nicht verheiratet, aber das heißt nicht, daß ich keinen Mann habe.«
»Ja, ja, ich weiß schon«, sie lächelt verschmitzt, »der große, schlanke Mann, der oft spätabends kommt und morgens wieder geht. …«
»Ach, das kriegen Sie mit?«
»Ja, nun, ich sagte ja schon, in meinem Alter ist der Schlaf nicht mehr so wichtig … werden Sie heiraten?«
»Ja …« Carmen überlegt. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen das nun sagen soll – also, wir haben uns getrennt.«
»So? Das ist aber schade.« Sie zögert und schaut Carmen aus ihren leicht trüben Augen fragend an. »Oder nicht?«
»Nein, eigentlich muß ich Ihnen ehrlich sagen, in letzter Zeit gehen mir Männer fürchterlich auf den Nerv. Am besten ist es wirklich, man hat keinen!«
»Ach so, ich habe mir das nie überlegt. Ich habe Johannes relativ spät kennengelernt. In Südwest war das nicht so einfach, ich war schon Ende Zwanzig. Johannes war ganz einfach der Mann, den ich wollte, und nachher kam keiner mehr, der für eine Heirat in Frage gekommen wäre.«
»Heißt das …«, Carmen überlegt sich, ob man mit einer Dame von 80Jahren überhaupt so sprechen kann, »Sie haben nie mit einem Mann geschlafen?«
Elvira lacht herzhaft: »Natürlich glaubt ihr, früher seien wir total bigott und hinter dem Mond gewesen. Aber das denkt schließlich jede Generation von der vorhergehenden!« Sie schüttelt den Kopf: »Der einzige Grund, weshalb man sich zurückgehalten hat, war doch, weil es keine Pille gab. Was glauben Sie, was damals alles angestellt wurde, nur um kein Kind zu bekommen. Natürlich haben wir miteinander geschlafen. Aber was machen Sie nun? Bleiben Sie alleine, suchen Sie sich einen neuen Freund?«
»Haben Sie eine Tageszeitung da, Elvira?«
»Ja, natürlich. Warum?«
»Darf ich sie mal holen?«
»Sie liegt in der Küche auf der Anrichte, dort der Raum.«
»Danke, ich weiß, wo die Küche ist, ich bin gleich zurück.«
Mit der Zeitung kommt Carmen zurück, schlägt sie auf und hält Elvira die Anzeige unter die Nase.
»Da, hier sehen Sie, wie mein nächster Mann aussehen soll!«
»Tut mir leid, ich sehe überhaupt nichts. In der Küche, neben der Zeitung, liegt auch meine Lesebrille – wenn Sie die noch …?«
»Aber klar!« Carmen springt auf, läuft raus, fühlt sich fast wie ein junges Mädchen, das der Mutter einen Streich beichtet.
Elvira Gohdes setzt die Brille auf und liest die Anzeige aufmerksam. Sie läßt sich Zeit. Carmen sitzt ihr gespannt gegenüber und nippt an ihrem Glas.
»Das haben Sie geschrieben?«
»Ja! Wie finden Sie es?«
»Ungeheuerlich!«
Carmen stutzt.
»Ungeheuerlich schlimm?«
»Ungeheuerlich gut. Phantastisch. Auf so etwas wäre ich ja nie gekommen!« Sie lacht aus vollem Halse.
Carmen lacht mit. Erst leise, dann lachen beide laut.
»Oh, mein Gott, ist die Welt verrückt. Haben Sie Antwort bekommen?«
»Ja, schon, aber noch nicht gelesen!«
»Nicht? Nun, weshalb denn nicht?«
»Ich bin noch nicht dazu gekommen – ich habe die Briefe erst aus dem Kasten gezogen, als ich Sie im Treppenhaus traf.«
»Und da haben Sie es geschafft, zu mir zu kommen und die Briefe liegenzulasssen?«
»Hab ich. Sie waren mir einfach wichtiger!«
»Das ist schön, aber meinen Sie nicht, es wäre Zeit, sie zu öffnen?«
»Sie meinen …?«
»Wenn es Sie nicht geniert …«
»Mich? Iwo, weshalb denn. Eine prima Idee, ich bin gleich zurück!«
»Und ich richte uns solange ein paar Schnitten.«
Elvira studiert die Handschriften und kommt zu dem gleichen Schluß wie Carmen. Zunächst einmal sollte der maschinell adressierte Brief geöffnet werden.
Vor Carmen liegt ein silberner Brieföffner, und sie schmunzelt über Elviras dezenten Stil. Das Herrenhaus steckt ihr also doch in den Knochen.
Sie öffnet den Umschlag und zieht einen mit Maschine geschriebenen Brief heraus.
»Also, man schreibt doch keinen persönlichen Brief mit der Schreibmaschine«, entrüstet sich Elvira. »Liegt ein Bild dabei?«
Carmen faßt mit den Fingern nochmals in den Umschlag. Tatsächlich. Ein Herr, schätzungsweise 50Jahre alt, kniet mit seinem Boxerhund im Gras vor einem Einfamilienhaus.
»Hm, die haben irgendwie Ähnlichkeit, die beiden«, sagt Elvira nüchtern, und Carmen prustet vor Lachen.
»Das halte ich nicht aus. Klar, man sagt ja, Hunde und Herrchen werden sich im Laufe der Jahre immer ähnlicher, genauso wie Ehepaare! Darauf müssen wir anstoßen.«
Sie trinken, Elvira schenkt nach, reicht ihr den mit vier Broten belegten Teller und fragt: »Was steht denn drin?«
Carmen beißt in eines der beiden Schinkenbrote, nimmt nochmals einen Schluck, greift nach der bereitgelegten Serviette aus gestärktem, weißen Leinen, natürlich, und beginnt zu lesen:
Liebe, verehrte Dame!
Sie sprechen ein Problem an, über das ich noch mit niemandem zu reden wagte. Vielleicht ist meine Hündin Amoritta die einzige, der ich manchmal von meinem Kummer erzähle. Es ist nicht, daß es nun den Mann ausmacht, ob er kann oder nicht, aber es ist schwer, damit fertig zu werden, wenn er nicht kann. Vor allem dann, wenn man alleine steht wie ich, einen gepflegten Freundeskreis hat und immer wieder gefragt wird, warum man nicht mit einer Frau zusammen ist. Aber welcher Frau würde ich schon genügen? Welche will einen Eunuchen wie mich haben? Ich kann doch keiner Frau beim ersten Mal sagen, daß ich nicht kann. Und ich habe es auch immer wieder probiert, geglaubt, es läge vielleicht an der Frau. Jetzt weiß ich, eine Frau wie Sie sind der Engel, auf den ich gewartet habe. Ich bitte Sie, schreiben Sie mir zurück, rufen Sie mich an, treffen wir uns. Ich wäre der glücklichste Mensch. Mit besten Wünschen.
Ihr Dieter Suske.
Carmen blickt auf.
Elvira hat den Kopf schief gelegt, nimmt einen Schluck.
»Ein Jammerlappen. In Afrika würde so einer zu nichts taugen!«
Carmen lacht: »Vielleicht gibt’s in Afrika keine Impotenz?«
»So genau habe ich das nicht nachgeprüft. Die Leute, die zu mir kamen, hatten andere Probleme. Furunkel, durchschnittene Sehnen, gebrochene Beine, eiternde Wunden …«
»Danke, wollen wir den nächsten Brief lesen?«
»Ja, also den legen wir mal zu Nein. Oder bin ich voreilig? Was meinen Sie, Carmen?«
»Wir legen ihn zu Nein – nein!«
»Gut, weiter!«
Carmen reißt den quadratischen mit den Blockbuchstaben auf.
Hey Girl,
ich weiß zwar nicht, warum du mich retten willst, aber red nicht lang: tu’s. Ich habe seit zwei Jahren Probleme. Nachdem ich meine Lebensgefährtin mit meinem besten Freund erwischt habe, wollte ich es ihr noch mal so richtig zeigen – und das war’ s dann auch. Mein Psychotherapeut sagte mir, ich hätte den Schock nicht überwunden. Und klar ist, wenn’s wirklich ein Schock war, was ich nicht glaube aber na ja, gut –, dann werde ich ihn alleine auch nicht überwinden. Also, schwing dich auf, schöne Entfesslerin, und eile zu mir. Ich bin der impotente Mann fürs Leben und mit Deiner Hilfe hoffentlich auch bald wieder fürs Bett. Ruf an, melde dich, ich freu mich auf dich, dein Heinz-Peter Schulze.
Elvira blickt auf, Carmen läßt den Brief sinken. »Muß ich mir das antun? Der hat ja wohl irgendwie alles falsch verstanden. Er will, daß ich ihn rette? Ja, wer bin ich denn? Werde den einen los, um bei dem anderen Aufbauarbeit zu leisten? Das wäre ja hirnrissig, das müssen Sie doch zugeben, Elvira!«
»Absolut! Ist kein Bild dabei?«
Carmen schüttelt den Briefumschlag.
»Auch noch feige, der Herr Romeo. Es wird schon seinen Grund gehabt haben, weshalb seine Freundin mit seinem Freund geschlafen hat. Wahrscheinlich fährt er Manta und hat einen silbernen Ring in der Nase.«
»Was?«
»Na ja, nicht ernst nehmen, Elvira, aber ad acta – oder?«
»Ganz weit weg!«
»Na gut, dann der letzte. Hoffentlich ist der was, sonst war das ganze Spektakel umsonst!«
»Es kommen sicherlich noch Zuschriften, und außerdem – so eine Anzeige läßt sich ja auch wiederholen!«
»Meinen Sie ehrlich?«
»Na klar, Sie sind doch nicht der Typ, der leicht aufgibt?«
»Normalerweise nicht, stimmt. Also, jetzt Herr Unbekannt, die
letzte Hoffnung.«
Carmen öffnet den Brief langsam und vorsichtig, nimmt noch einen schnellen Schluck aus dem Glas und zieht dann einen auf Bütten handgeschriebenen Brief heraus.
»Der Mann hat Stil«, nickt Elvira anerkennend.
»Eben nicht«, lacht Carmen laut.
»Wie?«
»Er hat eben keinen Stiel mehr – entschuldigen Sie, es war ein blöder Witz – also, jetzt geht’s los:
Liebe Inserentin,
ich mußte erst einmal überlegen, ob diese Anzeige ernst gemeint ist oder nicht. Dann dachte ich, mit so etwas macht man keine Witze – welche Frau sucht schon einen impotenten Mann, wenn sie keinen haben will?
Also: Ich bin seit etwa fünf Jahren impotent, und ich habe mich damit abgefunden. Ich kompensiere das mit Sport, mit netten Abenden unter Freunden, mit Besuchen im Theater oder in der Oper, ich lebe gern und muß gestehen, daß ich für mein Leben einen recht großen Aufwand betreibe. Eventuell ist dies meine kleine Macke, aber vielleicht sollten Sie das selbst herausfinden. Ihre Anzeige hat mir gut gefallen, ich bin ein »klarer Männerkopf«, aber nicht nur Kopfmensch, sondern auch für die alltäglichen Dinge des Lebens zu haben – und zu gebrauchen.
Ich würde mich freuen, Sie kennenzulernen.
Ein Foto liegt bei, ich bin schlank, 188Zentimeter groß, 86Kilogramm schwer, 50Jahre alt, Nichtraucher, Tier- und Weinliebhaber.
Gönnen Sie mir die Freude, Sie demnächst auf ein Glas Wein einzuladen,
Ihr Stefan Kaltenstein.
»Also, das hört sich doch richtig gut an!« Elvira hat sich vorgebeugt. »Zumal dieser Name für ihn spricht. Ich kannte auch einmal einen Kaltenstein – aber das ist lange her. Darf ich mal das Foto sehen?« Sie zieht die Brille etwas nach vorn, mustert das Bild, das Carmen ihr reicht: »Er sieht gut aus, leider ist er etwas zu jung, sonst könnte er mir selbst noch gut gefallen.«
»Ist das wahr? Wir können ja eine Anzeige für Sie aufgeben!«
Carmen kommen die tollsten Ideen. Sie sieht es bereits vor sich: Rassige 80erin sucht wackeren Lebensgefährten, oder so ähnlich. Carmen schaut sich das Foto selbst nochmals genauer an.
Ein markantes Männergesicht, in Großformat, scharf geschnitten, kurze Haare, voller Mund, blaue Augen.
»Der Mann ist doch nicht impotent. Das gibt’s doch nicht«, sagt Elvira und schüttelt den Kopf. »Ich habe mir impotente Männer wirklich immer anders vorgestellt!«
»Wie denn?« Carmen nimmt das Foto zurück und betrachtet es eingehend. Gefällt er ihr, spricht er sie an? Sie spürt nichts. Muß sie ja auch nicht, sagt sie sich dann, schließlich kommt es darauf jetzt nicht an!
»Nun, also ehrlich, ich weiß auch nicht. Ich habe mir ja auch noch nie Gedanken darüber gemacht …anders, eben!«
»Aha«, lacht Carmen, »und was meinen Sie? Kennenlernen?«
»Ja, aber sofort! Auf den Ja-Ja-Packen!«
»Alles klar, Elvira. Ich werde Ihnen alles erzählen!«
»Was heißt erzählen. Bringen Sie ihn doch einfach mit!«
Nun muß Carmen doch lachen.
»Das ist ja zum Schießen. Bisher dachte ich immer, Sie seien so ein stilles Mäuschen, vielleicht mal von einem Mann sitzengelassen worden, dann Lehrerin bis 65 und danach nichts mehr, und heute abend erfahre ich, daß sie Kolonialherrin waren, als Buschärztin arbeiteten und wahrscheinlich auch noch den Flugschein haben – oder?«
»Es geht in Afrika gar nicht anders, wenn man helfen will!«
»Sehen Sie, und jetzt wollen Sie mir auch noch meine impotenten Männer wegschnappen. Das habe ich davon!«
»Ist in Ordnung. Ich schreibe Ihnen jetzt den Einkaufszettel. Dann muß sich Delikateß-Scheideck nicht immer herbemühen. Der alte Herr ist auch schon über 60!«
»Tss«, Carmen schüttelt den Kopf. »Delikateß-Scheideck! Mich wundert nichts mehr. Ehrlich, heute abend bin ich gegen alle Überraschungen gefeit!«
»Auch dagegen, daß vor etwa einer halben Stunde ihr Freund nach oben gegangen ist und vermutlich gar nicht impotent auf Sie wartet?«
»Wie, woher wissen Sie das?«
»Ich kenne doch seinen Schritt. Er läuft immer leise und schnell – eben wie ein Mann voller Erwartungen.«
»Na, die erfülle ich ihm jetzt ganz schnell. Er fliegt nämlich postwendend raus. Ist sowieso schon eine Frechheit, einfach so aufzukreuzen. Da kann er den Schlüssel gleich hierlassen.«
Elvira schreibt einige Dinge auf den bereitgelegten Block und schiebt den Zettel zu Carmen hinüber. »Seien Sie nicht zu hart mit ihm – wissen Sie, er ist ja auch nur ein Mann!«
Carmen nimmt ihre drei Briefe und den Einkaufszettel, drückt Elvira Gohdes links und rechts einen Kuß auf die Wange. »Danke für den Rat – und es war schön, Sie kennengelernt zu haben. Sie sind eine wahre Bereicherung!«
»Das freut mich sehr, vielen Dank für alles – und wenn Ihr Freund überhaupt keine Heimat mehr hat – schicken Sie ihn herunter!«
»Ha«, lacht Carmen. »Ich muß Sie wohl wirklich im Auge behalten!«
Bis Carmen oben ist, hat sie sich einige markante Sätze überlegt. Sie ist gut gelaunt, beschwingt, der Abend mit Elvira Gohdes hat ihr Spaß gemacht. Auf eine Diskussion mit Peter hat sie überhaupt keine Lust. Eher, noch ein bißchen zu träumen, den Brief von Stefan Kaltenstein nochmals zu lesen, sich vorzustellen, was er wohl für ein Mann sein mag. Peter paßt überhaupt nicht mehr in ihre neue Welt. Sie schließt auf, geht betont laut hinein. Das Wohnzimmer ist leer. Mit einer fast schon ärgerlichen Aufwallung geht sie ins Schlafzimmer. Er wird doch nicht die Dreistigkeit haben …aber da ist er auch nicht. Sie schaut in die Küche, ins Bad, nichts. Selbst die Klinke zur Toilettentür drückt sie herunter. Elvira muß sich getäuscht haben, denkt sie und geht ins Wohnzimmer zurück. Gott sei Dank.
Da sieht sie auf dem Tisch ein weißes Kuvert. Das hatte sie vorher übersehen. Sie reißt es auf. Ihr Wohnungsschlüssel liegt drin und eine von Uli Stein gezeichnete Postkarte. Zwei Mäuse sitzen sich auf einem Bett gegenüber, die eine hat sich ein Präservativ über die lange Schnauze gezogen und sagt zur anderen: »Liegt keine Gebrauchsanweisung dabei?« Carmen lacht. Sie mag die Karten von Uli Stein. Auf die Rückseite hat Peter geschrieben:
Solltest Du doch wieder einen Mann brauchen, melde Dich einfach. So wie ich Dich kenne, wird es bald sein. Ich habe Dich sehr geliebt und liebe Dich noch immer. Aber ein Impotenter nimmt mir zumindest nichts weg, das beruhigt mich. Also lebe Dich aus und give me a call, wenn der Spuk vorbei ist.
Ich umarme Dich, Peter.
Hmm, denkt Carmen, Peter wirbelt ihre Gedanken durcheinander. Sie hätte sich jetzt so gern auf Stefan konzentriert, und da mischt sich Peter wieder ein und singt das Hohelied der Sexualität.
Gespannt sitzt Carmen auf der Straßenterrasse des kleinen Cafes. Sie ist vorhin nochmals bei der Zeitung gewesen und hat nach weiteren Zuschriften gefragt. Die würden ihr doch sowieso zugeschickt, war die Auskunft. Aber Carmen wollte sie gleich mitnehmen. Wer weiß, wie lange die Post braucht. Also stand die Frau mißmutig auf. Vier Briefe waren es.
»So viel?« Carmen war erfreut. Ihre Gesprächspartnerin zuckte die Schultern.
»Seien Sie doch froh, daß ich sie abhole, so haben Sie Porto gespart«, sagt Carmen fröhlich.
»Ist nicht mein Geld«, erwiderte die junge Frau lapidar.
»Auch ’ne Einstellung!« nickte Carmen beifällig. »Bravo!«, drehte sich um und ging.
Die vier Briefkuverts hat Carmen vor sich auf dem Cafetisch liegen und studiert sie. Aber nicht mehr ganz so interessiert wie gestern die ersten drei. Und vor allem auch etwas abgelenkt, denn sie hat sich mit Stefan Kaltenstein verabredet. Am Telefon hatte er sehr sympathisch geklungen. Sonore Stimme, gewählte Sprache und trotzdem spontan witzig.
Sie würde als Erkennungszeichen ein rotes Leinenkleid anziehen, erklärte sie ihm, und außerdem gab sie eine kurze Beschreibung von sich.
»Warum suchen Sie einen impotenten Mann?« wollte er zum Schluß noch wissen.
»Weil ich von potenten Männern die Nase voll habe«, gab sie zur Antwort.
»Also dann bis Montag. Ich freue mich.«
»Ja, bis Montag.«
Ein dunkelblauer Jaguar fährt langsam an dem Cafe vorbei. Carmen versucht, unauffällig etwas zu erkennen, was aber nicht gelingt, da die Scheiben dunkel getönt sind.
Erwarte nicht gleich wieder das Tollste, ruft sie sich selbst zur Ordnung. Trotzdem gibt sie ihm, mit Parkplatzsuche, etwa fünf Minuten, bis er hier erscheinen müßte. Und tatsächlich. Ihr Irish Coffee wird eben serviert, da geht ein einzelner Herr durch die Tischreihen. Sie erkennt ihn sofort. Groß, schlank, das markante Gesicht, ein rotes Poloshirt und helle Leinenhosen.
Einige Damen schauen ihm verstohlen nach.
Carmen grinst. Wenn ihr wüßtet …Aber nun ist sie doch aufgeregt. Er sieht gut aus. Eine Erscheinung, die den Mann von Welt verrät. Erfahren, erfolgreich, selbstbewußt.
Fast tut es Carmen leid, daß er impotent ist.
Überhaupt ist es ein komisches Gefühl, einen Mann zu taxieren und diesen kleinen Hintergedanken ganz auszuschließen.
Reiß dich zusammen, Carmen Legg, sagt sie sich. Dies ist mal einer, der nicht mit dir ins Bett will! Ist doch toll!
Sie hebt den Arm und winkt.
Er sieht es, nickt ihr von weitem lächelnd zu und steuert ihren Tisch zielstrebig an.
Carmen wird es flau im Magen. Was soll ich überhaupt mit ihm reden?
»Stefan Kaltenstein, guten Tag.«
»Carmen Legg, guten Tag, Herr Kaltenstein, bitte setzen Sie sich doch!«
Sie geben sich die Hände, Stefan Kaltenstein nimmt ihr gegenüber Platz.
»Es ist das erste Mal, daß ich mich unter solchen Bedingungen mit einer Frau treffe«, sagt er und schüttelt leicht den Kopf. »Ich bin noch ganz erstaunt über mich selbst!«
»Ja?« lacht Carmen. »Das kann ich mir vorstellen. Ich bewundere Ihren Mut!«
»Nun, nachdem ich Sie gesehen habe und weiß, daß Sie durchaus zu der zivilisierten Sorte Mensch gehören, bin ich froh darüber.«
»O Gott – was haben Sie denn erwartet?«
Er zögert kurz.
»Ich weiß nicht recht, vielleicht ein zahnloses, teigiges Wesen, grau im Gesicht und mit Haaren auf der Brust!«
»Ha.« Carmen greift zu ihrem Irish Coffee, zieht an dem Röhrchen, schaut ihn dabei verschmitzt lächelnd an. »Ich glaube«, sagt sie und zieht noch mal, »bei dem Vergleich kommt so ziemlich jede Frau gut weg!«
»Aber Sie besonders!«
»Danke, ich nehm’s als Kompliment!«
»Es ist die Wahrheit. Und das macht mich natürlich noch stutziger. Denn bei einer häßlichen Frau hätte ich verstanden, daß sie das Suchen nach einer intakten Beziehung aufgegeben hat. Aber Sie?«
»Suchen Sie nach dem berühmten Haken?«
»Irgendwie wahrscheinlich schon«, sagt er und winkt dem Kellner.
»Es gibt keinen. Ich habe es Ihnen ja schon am Telefon gesagt. Ich suche ganz einfach einen Mann, der phantasievoll ist, gern gute Gespräche führt, der Spaß am Leben hat und der nicht nur von morgens bis abends das eine im Sinn hat. Das kann einem nämlich ganz schön auf die Nerven gehen.«
»Guten Tag der Herr, was darf ich Ihnen bringen?«
Der Kellner stört Carmens Gedankengänge. Sie war eben so schön in Fahrt.
»Dasselbe wie die Dame bitte. Und einen Erdbeerkuchen. Haben Sie Erdbeerkuchen?«
»Ja, aber jetzt ist Pflaumenzeit, und ich könnte Ihnen auch einen wunderbar frischen Pflaumenkuchen anbieten.«
»Mag sein, danke, ich bleibe aber doch lieber bei Erdbeeren. Ich darf doch annehmen, daß die auch frisch sind?«
»Ja, ja – sicherlich der Herr, natürlich. Gern. Wird gleich serviert.«
Carmen beobachtet Stefan. Keiner, der sich etwas aufdrängen läßt. Und keiner, der leicht nervös wird. Die Hände, langfingrig und sehr gepflegt, liegen ruhig auf dem Tisch, er macht durch und durch den Eindruck eines Mannes, der immer alles unter Kontrolle hat. Und ausgerechnet ihm spielt die Natur einen Streich. Oder wer weiß, vielleicht gerade deshalb?
»Gut.« Er blickt sie wieder an, voll in die Augen, wie ein Mann, der eine Frau ganz schnell verführen will. »Sie mögen mit all dem recht haben. Aber meinen Sie nicht, daß dann – auch bei Ihnen – zwischendurch mal der Wunsch nach einem ebenbürtigen Partner kommt? Was würden Sie da machen? Fremdgehen?«
Fremdgehen? Das ist für Carmen in diesem Zusammenhang ein seltsames Wort.
»Ja«, bekräftigt er. »Würden Sie sich fürs Bett einen anderen Partner suchen?«
»Darüber habe ich noch nicht nachgedacht«, weicht sie aus.
»Na, sehen Sie, das sollten Sie aber. Denn stellen Sie sich vor, Impotente haben auch Gefühle. Wenn Sie meine Freundin wären und würden trotzdem mit einem anderen Mann ins Bett gehen, würde mich das sehr verletzen.«
Carmen wird es unbehaglich. So bis in die letzte Konsequenz hat sie sich das nicht überlegt. Und es stimmt schon, so dann und wann wollte sie es eigentlich gar nicht ausschließen. Das hatte Peter völlig richtig gesehen.
»Sie sind sich da nicht sicher?« sagt er, die Augen leicht zusammengekniffen. Wegen der tiefstehenden Herbstsonne, oder weil er ein etwas kritischer Zeitgenosse ist? Carmen kann es nicht einschätzen.
»Vielleicht sollte man sich ja auch erst ein bißchen besser kennenlernen«, versucht sie die Situation zu retten.
»Nein, Carmen. Sie müssen sich zuerst sicher sein, was Sie wollen. Ich möchte mich nicht in Sie verlieben, um nachher festzustellen, daß Sie mir nur das Herz aufreißen.« Er schaut sie an. Carmen sucht eine passende Antwort. »Und zum Verlieben sind Sie«, fährt er fort.
»Danke. Sie aber auch!«
»Nett von Ihnen. Aber ich mache Ihnen einen Vorschlag. Wir unterhalten uns nun ein bißchen über Gott und die Welt, trinken unseren Irish Coffee und essen den Kuchen – möchten Sie übrigens auch einen? Keinen? Nein? Auch keinen frischen Pflaumenkuchen? – und dann trennen sich unsere Wege. Sobald Sie sich Klarheit über das verschafft haben, was Sie wirklich wollen, rufen Sie mich an. So einfach ist das!«
Carmen nickt nur. Ihr fällt beim besten Willen nichts ein. Ihm jetzt zu beteuern, daß sie überhaupt im Leben mit keinem Mann mehr schlafen will, wäre auch nicht korrekt. Zwischendurch mal, mit dem einen oder anderen – warum nicht? Aber, da hat Stefan recht, sie hat das alles zu wenig durchdacht. Oder der Typ da sieht es zu eng. Das wird’s sein. Ist doch eigentlich klar, daß keine Frau einem impotenten Mann fürs Leben treu sein kann.
Das Gespräch zieht sich mit Belanglosigkeiten über Irish Coffee und Kuchen hinweg, und sie gehen noch gemeinsam zum Parkhaus.
Tatsächlich, hat sie es doch gewußt. Der Jaguar gehört ihm. Paßt zu ihm. Beide haben etwas von englischem Landadel.
Sie verabschieden sich mit kräftigem Händedruck.
Im Auto schiebt sie die Genesis-Kassette in den Recorder. Der ist viel zu straight, sagt sie sich. Der ist so gerade, daß bei ihm zu Hause sicherlich kein Buch schief steht. Wahrscheinlich lebt er in einem Schloß und heißt auch nicht Stefan Kaltenstein, sondern Stefan Graf zu Kaltenstein oder so ähnlich. Und ich müßte dann immer adrett im Kleidchen nebenhertanzen und die perfekte Gastgeberin spielen. Ne, das schenke ich mir.
Sie fährt in ihre Garage, das Garagentor steht offen, welch Wunder, und geht langsam über die Straße. Mit den hohen Absätzen versucht sie immer genau die Pflastersteinmitte zu treffen und bloß nicht in die Fugen zu geraten. Kopfsteinpflaster ist für Carmen das typischste Zeichen für Männerherrschaft im Städtebau. Wenn Sportwagenfahrer gegen Städte Recht bekommen, weil sie mit ihren tiefer gelegten Autos in verkehrsberuhigten Zonen an den hohen Schwellen hängengeblieben sind, was würde den Herren Bürgermeister erst blühen, wenn ihnen Tausende von Frauen ihre aufgerissenen Absätze auf die polierten Schreibtische werfen würden? Die Städte wären bankrott! Sind sie ja sowieso, denkt Carmen, blickt hoch und sieht Elvira am Fenster.
Sie winkt ihr zu, gestikuliert, daß sie gleich vorbeikommen würde.
Kaum daß Elviras Tür hinter ihr ins Schloß gefallen ist und sie in dem Wohnzimmer aus längst vergangenen Zeiten steht, bricht es aus ihr heraus: »Es war eine totale Niederlage! Elvira, ich habe mich saublöd benommen!«
»Gott, Kindchen, was ist denn? Das Treffen mit Stefan Kaltenstein?«
Carmen läßt sich aufs Sofa sinken und ist den Tränen nahe.
»Können Sie es sich vorstellen? Ein Mann wie aus dem Bilderbuch- und impotent? Ist das nicht furchtbar?«
Elvira stellt zwei Weingläser auf den Tisch.
»Aber Sie wollten es doch so, Carmen!«
Carmen sieht die Weingläser und winkt ab. »Aber so nicht. So wollte ich es nicht – Elvira, ich kann heute keinen Wein trinken. Hätten Sie Selters da?«
»Oh, das muß ja ganz schlimm gelaufen sein. Wollen Sie erzählen?«
Carmen schaut auf und nickt: »Dazu bin ich ja schließlich hergekommen! Ich fühle mich so, ich weiß nicht, so halbwertig. So, als sei dieser Stefan der ganze Mann und ich die halbe Frau. Er hat mich hingestellt wie ein kleines Schulmädchen, das irgend etwas erzählt, was es nicht richtig weiß. Und das Schlimme ist, Elvira, er hatte recht!«
»Was ist er denn für ein Mann, dieser Herr Kaltenstein?«
»Es ist schwer zu erklären, Elvira. Er ist sicherlich ein Mann, wie jede Frau ihn sich wünschen könnte. Aber ich glaube, er ist auch verdammt schwierig. So ein Mimöschen, ich glaube, er hört das Gras wachsen.«
»Vielleicht ist er durch seine Impotenz so geworden!«
»Herrje, hoffentlich haben nicht alle solche Probleme. Das kann ja stressig werden!«
Und dann erzählt Carmen ausführlich von ihrem Treffen. Elvira nickt und meint zum Schluß, daß sie diesen Mann gut verstehen könne.