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Die freche, witzige und überraschende Fortsetzung von "Prinzessin hasst Rockstar"! Zwar hat Maple nun der Öffentlichkeit Conors Geheimnis enthüllt. Doch lange kann sie sich nicht an ihrer gelungenen Rache erfreuen. Denn ihre Blitzhochzeit mit Conor soll fürs Fernsehen wiederholt werden. Und dabei wird als Conors Trauzeuge ausgerechnet der Mann an seiner Seite stehen, den Maple trotz aller Lügen nicht vergessen kann. Während sie notgedrungen ihre "Märchenhochzeit" mit Conor plant, steht sie vor der entscheidenden Frage: Was ist für sie wichtiger, Liebe oder Geld? Märchenhaft verROCKt - "Suche Liebe, biete Rockstar" ist der zweite Band der "Rockstar & Prinzessin"-Reihe! Die Bände der Reihe sind: Band 1: Prinzessin hasst Rockstar Band 2: Suche Liebe, biete Rockstar Band 3: Rockstar auf Abwegen
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Inhaltsverzeichnis
Suche Liebe, biete Rockstar
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
Epilog
Bonustrack: The New World
Bonustrack: Slip Away
Weitere Bücher von Barbara Schinko
Impressum
So lebte sie einige Zeit ganz armselig und in großer Dürftigkeit, da kam ein Mann und lud sie zu einer Hochzeit. […] Da kam auch ihr Vater und der ganze Hof, und sie ward prächtig geputzt nach ihrem Stand, und das Fest war ihre Vermählung mit dem König Droßelbart.
(aus: Brüder Grimm, König Droßelbart in: Kinder- und Hausmärchen Band 1, 1. Auflage 1812)
Mein Hochzeitsfoto. Besser gesagt: eines von vielen. Ich trug ein Brautkleid und darüber Conors – Liams – Anzugjacke, grinste belämmert in die Kamera und wedelte mit einem Strauß pinke Rosen. Neben mir Liam, der mir etwas ins Ohr flüsterte. Über uns der neongrelle Nachthimmel von Las Vegas.
Unter dem Bild, das zum Instagram-Account der Datingshow Ungeküsst – Eine Prinzessin findet die wahre Liebe gehörte, waren mehrere Tausend Kommentare. Viele davon lauteten einfach nur „SCHLAMPE!!!“; doch es gab auch Conor-Byrd-Fans, die es süß fanden, wie total ineinander verknallt wir aussahen. Schwer zu sagen, was davon die größere Beleidigung für mich war.
Ich wetzte auf meinem unbequemen Sitz in der Ankunftshalle des internationalen Flughafens von Los Angeles hin und her. Zog die Beine an, als sich jemand an mir vorbei drängte, und überzeugte mich mit einem raschen Blick, dass auch keiner in den letzten paar Minuten mein Gepäck geklaut hatte. Hier zu hocken war dumm. Mit jeder Sekunde schmolz mein Vorsprung auf mögliche Verfolger dahin. Ich sollte abhauen, bevor Conor oder Liam oder sonst jemand aufkreuzte.
Aber ich fühlte mich wie erschlagen: als hätten die neuesten Erkenntnisse den ganzen Flug gebraucht, um zu mir aufzuschließen.
Bis vor wenigen Wochen war ich Maple Leaf gewesen, frischgebackene Highschool-Absolventin und der Star der dritten Ungeküsst-Staffel. Nun war ich Maple Byrd und mit einem Rockstar verheiratet.
Zwei Rockstars, um genau zu sein.
Conor Byrd und ich hatten uns am Set kennengelernt und auf den ersten Blick gehasst. Er hatte mich nicht ernst genommen, ich seine Arroganz einfach nur abtörnend gefunden. Als ich es dann gewagt hatte, ihn live vor all den Kameras und dem Publikum als singende Krähe zu bezeichnen, hatte er mir Rache geschworen – und dafür gesorgt, dass ich sturzbetrunken in Las Vegas mit ihm verheiratet worden war. Oder besser gesagt mit seinem Zwillingsbruder, von dem niemand wusste.
Liam.
Der Name schmeckte noch immer fremd. Während der ganzen Zeit mit Liam auf der Ranch hatte ich ihn für Conor gehalten. Für ein neues, verbessertes Modell, für Conor Version 2.0. Meinen Conor.
Bis er mir alles gestanden hatte. Der Mann, den ich liebte, war eine Lüge. Meine Beziehung mit ihm war eine Lüge. Meine Ehe mit „Conor Byrd“ sowieso.
Keine Ahnung, warum mich Liam nach diesem Geständnis gehen hatte lassen. Conor, da war ich mir sicher, hätte es nicht getan. Liam hatte mir sogar Geld gegeben. Wie er das alles seinem Bruder erklären wollte? Nicht mein Problem.
Mein Problem war, dass ich nicht wusste, wie die Geschichte von hier aus weiter ging. Ich steckte das Handy weg und sah mich um. LAX war riesig. Wahrscheinlich hätte ich überallhin einen Anschlussflug kriegen können. Sogar zu Mom nach Connecticut. Nicht dass ich so scharf darauf war, sie und meinen Stiefvater Henry Schmitzke um Asyl zu bitten! Die andere Option, nämlich zu Dad und seiner Freundin Anita nach Philadelphia zu fliegen, kam erst recht nicht in Frage. Ich hatte zwar noch mein eigenes Zimmer im Penthouse, traute mich aber zu wetten, dass sie mich postwendend zurück zu Liam und/oder Conor schicken würden.
Was dann?
Erst einmal hier bleiben, beschloss ich spontan. L.A. hatte Millionen Einwohner, und dazu kamen noch mindestens ebenso viele Touristen. Solange ich mich nicht gerade auf Conor-Byrd-Konzerten in die vorderste Reihe drängte, würde es Conor und Liam schwerfallen, mich zu finden. Meine nächste Aufgabe bestand also darin, mir mit Liams Geld eine leistbare Bleibe zu suchen. Und dann könnte ich mich dem zweiten und weitaus wichtigeren Punkt auf meiner gedanklichen ToDo-Liste widmen:
Rache.
Gesagt, getan. Wobei mich rasch die ernüchternde Erkenntnis beschlich, dass ich mir das mit der Bleibe zu einfach vorgestellt hatte. Die Frau bei der Touristeninfo hatte mir auf meine Frage nach einer günstigen Unterkunft bloß eine Liste mit Hostels hingeknallt und sich dem Nächsten in der Schlange zugewandt. Das WLAN war hilfreicher gewesen, aber auch nicht viel. Zwar gab es laut den einschlägigen Hotelbuchungsseiten durchaus freie Zimmer in L.A.; doch erstens wusste ich nicht, wie lange ich bleiben würde, und das bedeutete, ich musste Geld sparen. Zweitens wollte ich nicht gefunden werden – und das hieß, ich bräuchte einen Vermieter, der es mit der Ausweispflicht nicht so genau nahm und möglichst keine Fragen stellte.
Mit einem zunehmend mulmigen Gefühl im Magen klickte ich mich durch die Bewertungen der billigsten Motels. „Kakerlaken“, „Prostitution“, „Drogenhandel im Flur“, „nächtliche Sex-Partys“ – angesichts solcher Kommentare verließ mich doch der Mut, und ich entschied mich um. Heute Nacht würde ich mir ein anständiges Hotel gönnen. Wenn mich dort jemand fände, wäre das eben Pech. Und morgen Früh, wenn all die Zuhälter, Drogendealer und Sexsüchtigen hoffentlich noch schliefen, konnte ich mich nach einer Alternative umsehen.
Ich buchte mir also ein Zimmer und machte mich auf den Weg.
Zweieinhalb Stunden, zwei Irrfahrten mit Bussen und mehrere Fußmärsche später kam ich völlig k.o. an. Ich hatte unterschätzt, wie groß L.A. war! Mein Hotel befand sich natürlich in Hollywood, weil ich mir die Chance, bloß einen Katzensprung vom Walk of Fame entfernt zu übernachten, nicht entgehen lassen wollte. Die kitschige, babyblaue Fassade sah auf den ersten Blick nicht allzu einladend aus. Wenigstens aber standen drinnen alle Zeichen auf Film: Riesige Poster von Marilyn Monroe in Wie angelt man sich einen Millionär?, Gregory Peck und Audrey Hepburn in Ein Herz und eine Krone sowie Katherine Hepburn und Spencer Tracy in Die Frau, von der man spricht schmückten die Wände der Lobby.
„Hi!“ Ich setzte mein sonnigstes Lächeln auf, musste aber leider trotzdem meinen Ausweis herzeigen, dessen Daten sich der Mittvierziger im schwarz-weiß-grau gestreiften Hemd an der Rezeption genau notierte. Auch dass ich keine Kreditkarte hatte und lieber bar bezahlen wollte, fand er offenbar komisch.
Mein kleines Zimmer mit angrenzendem Mini-Bad war ganz in Schwarzweiß gehalten. Audrey Hepburn in Ein süßer Fratz lächelte mich von der Wand gegenüber dem Bett an.
Erschöpft ließ ich mich der Länge nach auf die Matratze fallen. Nun, da ich hier war, kam mir meine Flucht von der Ranch unwirklich vor – fast wie ein Traum. Heute morgen hatte ich noch geplant, mit Liam Sex zu haben. Und jetzt? Wollte ich ihn am liebsten nie wieder sehen. Oder wenn doch, dann nur, um mich an ihm zu rächen.
Und eine gute Racheaktion, hatte mich meine ehemals beste Freundin Lindi gelehrt, brauchte sowohl Zeit als auch Planung. Gerüchte mussten zum Beispiel unglaublich genug sein, damit sie sich wie ein Lauffeuer verbreiten würden – aber zugleich der Wahrheit so nahe kommen, dass niemand sie anzweifeln würde. Erfolgsbeispiele gab es dafür jede Menge. Bloß konnte ich Liam ja wohl schlecht eine Schwangerschaft andichten oder behaupten, er hätte unter der Tribüne meiner Highschool mit jemandem vom Football-Team geknutscht.
Ich brauchte Hilfe, wurde mir klar. Was Racheaktionen anging, war meine Highschool-Clique einsame Spitze gewesen. Nicht nur Lindi! Amber hatte einmal Streit mit einer Cheerleaderin gehabt und deren Handynummer samt eindeutigen Botschaften an die Wände aller Jungenklos gekritzelt. Das hatte so gut funktioniert, dass ihre Feindin nach zwei Wochen die Schule gewechselt hatte. Und Yukiko mochte gern das harmlose Mäuschen spielen, aber ich hatte selbst gesehen, wie sie einem Mädchen in der Kantine Abführmittel ins Joghurt gemischt hatte.
Das einzige Problem? Sie alle würden mir nicht helfen. Lindi hatte mich am Set besucht und scheinbar ehrlich nicht kapiert, warum ich es schlimm gefunden hatte, mit Conor Byrd zwangsverheiratet zu sein. Ich duschte in meinem schwarz-weißen Bad, putzte mir die Zähne, spülte mir den Mund mit Wasser aus einem Steve-McQueen-Becher aus und ging ins Bett.
Und konnte nicht schlafen. Durch die weißen Vorhänge erahnte ich die Silhouette des Capitol-Records-Gebäudes. Das Rattern der Klimaanlage übertönte nur teilweise den Verkehr, dessen Geräusche durch die altmodischen Schiebefenster drangen. Der Lärm machte mich nervös. Zugleich ärgerte ich mich über mich selbst. Sehnte ich mich tatsächlich nach der Stille und Einsamkeit der Ranch zurück? Bei fast jeder Bewegung hatte ich dort Liams Blick auf mir gespürt. Hier dagegen war ich anonym, ein Gesicht unter Millionen – doch statt befreiend fühlte sich dieser Zustand eher beklemmend an.
Irgendwann döste ich doch ein. Und schrak mitten in der Nacht hoch. Ein Geräusch hatte mich geweckt. Nicht das Rattern der Klimaanlage, auch nicht der Straßenlärm, sondern … ein Klopfen am Fenster?
Mein Herz begann schneller zu schlagen. Lautlos erhob ich mich aus dem Bett und schlich zur Glastür, die auf meinen winzigen Gitterbalkon führte. Er war gerade mal so breit wie die Tür und das angrenzende Fenster. Die außen angebrachte Klimaanlage nahm mehr als die Hälfte des Platzes weg, ich quetschte mich daneben. Rostige Leitern führten hinunter zur Straße und rauf aufs Dach.
Eine vertraute Gestalt erklomm die Feuerleiter und schwang sich über das Balkongeländer. Liam. Laut seinen Tourdaten befand sich Conor zurzeit in New York – aber auch ohne dieses Wissen wäre ich mir hundertprozentig sicher gewesen, welcher Zwilling vor mir stand. Aus irgendeinem Grund sah ich ihn ganz in Schwarzweiß.
„Hi.“ Er lächelte verlegen. „Wohnt hier zufällig ‚die Frau, von der man spricht‘?“
„Sehr witzig!“, fauchte ich. „Und falls du glaubst, ich wollte mir einen Millionär angeln, hättest du besser deinen Bruder schicken sollen.“
„Warum denn so sauer? Wir beide haben doch alles, was wir brauchen. ‚Ein Herz–‘“, er ließ das Geländer los. Seine Hand kam theatralisch auf der Brust seines verschlissenen, schwarzen T-Shirts zu liegen. „‚–und eine Krone‘.“
Bei den letzten Worten deutete er auf mein Prinzessinnen-Krönchen aus der Show, das ich unerklärlicher Weise noch immer trug und nicht einmal zum Schlafen abgelegt hatte.
Ich streckte ihm die Zunge heraus. Er lächelte. Und ich wünschte mir, sagen zu können, ich hätte dabei rein gar nichts mehr empfunden, aber das stimmte leider nicht. Ich empfand sogar ziemlich viel.
„Wenn du es jetzt auch noch wagst, mich einen ‚süßen Fratz‘ zu nennen–“, hob ich zu einer Drohung an.
Und erwachte. Ruckartig setzte ich mich im Bett auf. Mein erster Blick galt der Balkontür. Sie war geschlossen. Natürlich, was denn sonst?
Um trotzdem auf Nummer sicher zu gehen, schwang ich die Beine auf den schwarz-weißen Bettvorleger, schlich barfuß durchs Zimmer und presste meine Nase an die Scheibe. Draußen war niemand zu sehen. Argwöhnisch rüttelte ich am Griff der Tür, dann an jenem des Schiebefensters daneben, das auch nicht gerade stabil aussah. Beide hielten stand.
Gut so. Das Letzte, was ich brauchte, war ein nächtlicher Besuch von Liam Verdammt-noch-mal Byrd! Ich kehrte ins Bett zurück und schlief wieder ein, während ich noch versuchte, mich von diesem Gedanken zu überzeugen.
Am Morgen drang grelles Sonnenlicht durch die allzu dünnen Vorhänge. Mit einem gemurmelten „Macht hier bitte mal einer das Licht aus?“ wälzte ich mich herum und wollte weiter schlafen. Aber das erwies sich als unmöglich. Nicht nur die Vorhänge in dem Hotel waren dünn, auch die Wände. Ich hörte, wie jemand duschte; an einer Tür hämmerte; laut im Flur sprach; und wie irgendwo ein Glas klirrend zu Boden fiel. Der Speisesaal musste ganz in der Nähe liegen … Und kaum fiel mir ein, dass das Frühstück im Zimmerpreis inbegriffen war, stieg mir ein unverkennbarer Duft nach Eiern und Speck in die Nase. Mein Magen knurrte.
Also quälte ich mich aus dem Bett. Duschte, zog mich an, fand den Speisesaal und setzte mich an einen kleinen Zweiertisch in der Ecke. Auch das hätte für mich Luxus sein sollen oder wenigstens ein Hauch von Normalität: umgeben von anderen Gästen zu frühstücken – nach der Einsamkeit auf der Ranch und zuvor den strengen Regeln am Set, wo ich auf meinem Zimmer brunchen hatte müssen, um nicht versehentlich einem der männlichen Kandidaten zu begegnen.
Aber wie schon am Vorabend spielten mein Kopf und mein Herz nicht mit. Das Gewirr unzähliger Stimmen, die Schlange am Büfett und das unentwegte Rattern der industriellen Kaffeemaschine nervten einfach nur. Während ich mein fettarmes Joghurt löffelte, fragte ich mich unwillkürlich, was Liam in diesem Moment wohl tat. Ob er in der Küche der Ranch nur für sich selbst Blaubeerwaffeln buk.
Ob er mich vermisste.
Mit eiserner Willenskraft vertrieb ich den Gedanken aus meinem Kopf. Ich stellte mich beim Büfett an, wollte mir vom Obstteller ein paar Weintrauben schnappen und zog hastig die Hand zurück, als mir klar wurde, was ich tat. Dann ärgerte ich mich erst recht über mich selbst und nahm die Trauben trotzdem. War das meine Zukunft? Würde ich jedes Mal an Liam denken, wenn ich Weintrauben naschte, in einem Teich schwamm oder wenn, so wie vorhin beim Aufstehen, mein Blick im Badezimmerspiegel auf das Ahornblatt-Tattoo an meiner linken Schulter fiel?
In Gedanken setzte ich Punkt drei auf meine ToDo-Liste: so schnell wie möglich über Liam hinwegzukommen.
Erst einmal aber sollte ich mich wohl Punkt eins widmen und eine dauerhafte Bleibe für mich finden. Ursprünglich hatte ich vorgehabt, gleich nach dem Frühstück auszuchecken. Bloß – was käme dann? Die Aussicht, ein mit Drogen und Kakerlaken verseuchtes Motel nach dem anderen abzuklappern, verlockte mich wenig. Dann schon lieber Selfies auf dem Walk of Fame. Auch wenn ich sie nirgendwo posten dürfte.
Also bezahlte ich für eine weitere Nacht. Der Angestellte an der Rezeption musterte mich noch argwöhnischer als gestern, und ich nahm mir fest vor, mein Wohnungsproblem bis spätestens morgen Früh zu lösen und keine dritte Übernachtung am selben Ort zu riskieren.
Zunächst aber zog ich los. Bis zum Hollywood Boulevard musste ich bloß zwei Blocks weit laufen. Ich warf mich vor einigen der Sterne auf dem Gehsteig in Pose. Jede Menge Touristen waren unterwegs und gern bereit, mich im Tausch gegen ein Pärchen- oder Gruppenfoto zu knipsen. Die Gruppenfotos verschlangen mehr Zeit – aber wenigstens fühlte ich dabei nicht jedes Mal einen Stich durchs Herz, wenn der Mann das Mädchen anlächelte oder gar küsste.
Nach ein paar weiteren Fotos vom Chinese Theatre, vor dem Stars ihre Hand- und Fußabdrücke in Beton hinterlassen hatten, und vom Dolby Theatre, in dem die Oscar-Verleihungen stattfanden, blieb noch ein absolutes Muss übrig: das Hollywood-Schild in den Hügeln oberhalb der Stadt. Ich fragte mich durch und fand nach einigem Hin und Her einen Bus, der mich zu einem beliebten Aussichtspunkt bringen würde. Er war voll besetzt. Vor mir stand ein Junge und hielt sich an einer der Schlaufen fest, die von der Busdecke baumelten. Die Straße war kurvig, und wann immer der Bus schwankte und der Junge seinen Griff verstärkte, blitzte an seiner Hüfte unter dem Saum des bunten T-Shirts etwas Schwarzes auf. Unweigerlich musste ich bei dem Anblick an Liams Tattoo denken.
Ob er es inzwischen bereute? Immerhin hatte ich ihm das Motiv vorgeschlagen. Und damals angenommen, er hätte sich hauptsächlich meinetwegen darauf eingelassen: als moralische Unterstützung oder vielleicht um zu beweisen, dass er mindestens so taff war wie ich.
Jetzt aber fragte ich mich im Stillen, ob er die Gelegenheit nicht vielleicht eher genutzt hatte, um eine visuelle Grenze zwischen sich und Conor zu ziehen. Und was Conor tun würde, wenn er davon erfuhr – sofern es ihm Liam nicht schon längst gebeichtet hatte. Was hatten meine beiden Ehemänner während meiner Zeit auf der Ranch über mich geredet? Und was redeten sie jetzt?
Vor allem: Hatte Liam wirklich etwas für mich empfunden? Hatte ich den wahren Liam je gekannt? Oder hatte er nur mit mir gespielt und sich dabei die ganze Zeit über heimlich mit Conor abgesprochen, in dessen Rolle er ja schließlich geschlüpft war?
All die Fragen in meinem Kopf sorgten dafür, dass ich beinahe den Ausstieg verpasst hätte. Zum Glück wollte nicht nur ich das Schild sehen. Der Bus leerte sich fast komplett. Ich wurde praktisch mitgeschleift.
Tatsächlich hatte man von der kleinen Plattform aus einen guten Blick. Aber leider waren die meisten Besucher zu zweit, zu dritt oder in Gruppen unterwegs und brauchten dringend eine Fotografin. Ich konnte keinen Schritt tun, ohne dass jemand mit einem Handy, einem Tablet oder einer Kamera vor meiner Nase wedelte und mich bat: „Miss, würden Sie kurz–?“. Auch als ich vorgab, kein Englisch mehr zu verstehen, nützte es wenig.
Genervt verließ ich die Plattform bald und floh zur Haltestelle, um auf den Bus zu warten. Der babyblaue Cadillac am Straßenrand erweckte in mir Erinnerungen an Conors – oder, wie ich nun vermutete, eher Liams – Song für mich während der Minnesänger-Folge von Ungeküsst.
Damals hatte ich Conor bei der abendlichen Live-Show vorgeworfen: „Du klingst wie eine Krähe.“ Und nicht geahnt, dass diese Worte mein ganzes Leben aus der Bahn werfen würden.
Deprimiert und mit schmerzenden Füßen stolperte ich ins Hotel. Diesmal stand an der Rezeption ein Mädchen in meinem Alter. Sie trug eine schwarze Weste und sogar eine Krawatte über einer schwarz-weiß-grau gestreiften Bluse und begrüßte mich mit einem strahlenden Lächeln.
„Hi. Du musst Maple Leaf sein!“
Jähe Panik erfüllte mich. Du musst Maple Leaf sein. „Leaf“, nicht „Byrd“ – aber trotzdem. Was hieß das? Erkannte sie mich aus der Show? Was wäre besser: mich ohne ein Wort umzudrehen und abzuhauen oder so zu tun, als hätte sie mich mit jemandem verwechselt? Meine Finger krampften sich um den Schulterriemen der Handtasche. Mein ganzes restliches Gepäck lag noch im Zimmer.
Und wenn mich das Mädchen erkannt hatte, wem hatte sie von mir erzählt? Wussten Liam, Conor, Dad und/oder Anita, dass ich hier war? Lauerte womöglich schon einer von ihnen oben im Flur?
Erst als sie hinzufügte: „Dad hat gesagt, du hast deinen Aufenthalt um eine Nacht verlängert“, wurde mir klar, dass sie meinen Namen bloß von der Gästeliste kannte. Ich konnte wieder atmen. Ungefragt reichte sie mir den Zimmerschlüssel, und ich streckte automatisch die Hand danach aus. Meine Finger zitterten.
Das Mädchen schien es nicht zu bemerken. „Wie findest du Hollywood?“, fragte sie und lehnte sich vertraulich über die Theke. Ein rascher Blick verriet mir, dass ich der einzige Gast in der Lobby war. „Wenn du genug vom 0815-Touristenprogramm hast, gebe ich dir gern ein paar Tipps. Du bist doch hier, um nach Promis Ausschau zu halten, oder?“
Irgendein Instinkt brachte mich dazu, den Kopf zu schütteln. „Nein. Ich bin hier, um mein Glück zu machen.“
Ungläubig starrte sie mich an. Und lachte dann plötzlich auf. „Hätte ich mir denken können – bei einem Namen wie Maple Leaf. Der ist doch nicht echt, oder?“
„Echt schon.“ Obwohl das auch nicht stimmte, immerhin hieß ich nun Maple Byrd. „Aber nicht mein ursprünglicher Name“, gab ich zu. „Ich habe ihn an meinem achtzehnten Geburtstag ändern lassen.“
Ich hätte fast noch einen von Lindis Witzen hinzugefügt. Zum Beispiel, dass ich früher Clover Leaf, „Kleeblatt“, statt Maple Leaf, „Ahornblatt“, geheißen hatte. Aber das hier, begriff ich, war die einmalige Gelegenheit, zu beweisen, ob ich wirklich schauspielern konnte.
Also lehnte ich mich ebenso weit wie das Mädchen vor und raunte: „Und ganz ehrlich? Meine Eltern wollten mich nicht herkommen lassen. Sie sagen, ich habe nicht das Zeug zum Star. Deswegen habe ich mein Sparbuch geplündert und bin heimlich abgehauen.“
Ihre Augen wurden groß. Dabei war diese Story doch der absolute Klassiker. Ich hätte angenommen, dass so etwas in Hollywood täglich vorkam. Wenn auch vielleicht nicht unbedingt in diesem Hotel.
Um Zeit zu gewinnen und meine Gedanken zu ordnen, kaute ich auf meiner Lippe. Und musterte das Mädchen dabei, als überlegte ich, ob ich es wagen dürfte, ihr meine Geheimnisse anzuvertrauen.
„Da du dich hier so gut auskennst, könntest du mir vielleicht helfen?“, tastete ich mich weiter vor. „Ich bin erst seit gestern hier, und ein Hotelzimmer ist für mich auf Dauer nicht drin. Außerdem habe ich Angst, dass mich meine Eltern finden. Mein Stiefvater … Er kann sehr unangenehm werden. Verstehst du?“
Sie nickte fast ein bisschen zu schnell.
Ich ging aufs Ganze. „Du hast nicht zufällig eine Idee, wo ich eine leistbare Bude finde? Ich meine, bevor ich auf der Straße oder in einem dieser üblen Motels voller Zuhälter und Drogendealer schlafe–“
„Meine Tante führt ein Motel“, sagte sie, und ich krümmte mich innerlich. Autsch! Wenn sie das mit den Zuhältern persönlich nahm …
Doch sie redete schon weiter: „Es ist ein bisschen abgelegen, drüben in Boyle Heights, aber meine Tante hält alles sehr sauber und ich kann dir garantieren, dass sich dort keine Kriminellen herumtreiben.“ Sie griff zum Telefon. „Soll ich fragen, ob sie für dich ein Zimmer frei hat?“
Am nächsten Morgen zog ich um. Silver, das Mädchen von der Rezeption, gab mir eine prall gefüllte Plastiktüte mit Geschenken für ihre Tante Charlene mit und erließ mir im Gegenzug den halben Preis für die zweite Nacht. Lieber hätte ich die paar Dollar mehr bezahlt und bei der Hitze nicht zusätzlich zu meinen beiden Koffern auch noch ihren Kram – darunter einen riesigen Karton mit dem Logo einer Bäckerei, der intensiv nach Schokolade roch – quer durch L.A. gekarrt. Aber das konnte ich ihr schlecht sagen.
Dank Silvers Beschreibung fand ich das Antonella Motel ohne größere Probleme. Es lag in einem unscheinbaren Wohn- und Gewerbegebiet zwischen einer Tankstelle und einer Kirche eingezwängt, etwa hundert Meter von einer Schule entfernt.
Beim Betreten des niedrigen Hauptgebäudes war das Erste, was ich sah, ein riesiges, mit Seidenblumen geschmücktes Marienbild in einer Wandnische hinter der Rezeption. Als nächstes fielen mir die Fenster auf. Sie erinnerten mit ihren bunten Mosaiksteinen an Kirchenfenster, und auf jedem prangte mindestens ein Kreuz. Ich begann zu kapieren, warum sich Silver so sicher gewesen war, was die Kriminellen anging.
An der Rezeption befand sich eine Glocke. Ich klingelte. Sofort krächzte eine Frauenstimme „Komme schon!“ Trotzdem wartete ich eine ganze Weile, bis die Tür des angrenzenden Büros aufschwang.
Bei Tante Charlenes Anblick verstand ich dann auch, warum. Sie wirkte noch nicht so wahnsinnig alt, ich hätte sie auf höchstens fünfzig geschätzt – doch sie musste irgendein Rückenleiden haben und stützte sich schwer auf ihren Rollator. Unendlich langsam schlurfte sie Schritt für Schritt näher. Über ihrer bunt bestickten, weißen Bluse baumelte ein mit rubinroten Steinen besetztes Krufizix an einer Silberkette.
Am Ziel angekommen, richtete sie sich ächzend ein wenig auf und stützte beide Unterarme auf die Empfangstheke. Ihre dunklen Augen in dem hageren, verhärmten Gesicht musterten mich so lange und so misstrauisch, dass ich Angst bekam, nach all den Strapazen doch noch auf der Straße zu landen.
Also lächelte ich zuckersüß, richtete ihr erst einmal Silvers Grüße aus und stellte dann die Plastiktüte auf die Theke: in der Hoffnung, der Kuchen oder was auch immer in dem Karton war – ich hatte nicht reingeguckt – würde sie milde stimmen.
Ein knappes Nicken belohnte meine Bemühungen. „Ich habe die Nr. 2 für dich vorbereitet. Das Zimmer ist ein bisschen klein, aber für eine Person–“ Tante Charlene unterbrach sich. Sie lauschte wohl einem Geräusch, das ich nicht ausmachen konnte. Und schrie dann plötzlich gellend: „Nico-LÁS!“
Ich zuckte zusammen.
Die hintere Gebäudetür flog auf. Ich erhaschte einen kurzen Blick auf brüchigen Asphalt und ein paar geparkte Autos, bevor ein dunkelhäutiger, junger Mann eintrat.
„Si, señora, was darf ich tun?“, fragte er Tante Charlene und grinste mich dabei verschwörerisch an.
„No te ‚Si, señora‘ mi”, bellte Tante Charlene: „Hör mit dem ‚Jawohl, meine Dame‘ auf” – so viel Spanisch verstand sogar ich. Der junge Mann grinste daraufhin nur breiter, als wäre der gesamte Austausch ein Running Gag zwischen ihnen. Vielleicht war er das ja auch.
„Stell den Kuchen in den Kühlschrank, steck das Geld in den Safe und dann zeig Silvers Mädchen die Nr. 2“, befahl ihm Tante Charlene. Ebenso geschäftsmäßig wandte sie sich an mich: „Fünfzig Dollar die Nacht oder drei-zwanzig die Woche im Voraus. Ich nehme nur Bargeld. Silver sagt, das ist kein Problem.“ In den letzten Worten schwang so etwas wie eine Frage mit.
Ich versicherte ihr, dass es kein Problem war. Einstweilen noch nicht, fügte ich im Stillen hinzu. Was ich tun würde, wenn ich Liams Geld aufgebraucht hatte? Keine Ahnung.
Erst einmal bezahlte ich die dreihundertzwanzig Dollar, weil das billiger als sieben Tagesraten war. Nicolás verschwand mit dem Geld und Silvers Plastiktüte im Büro und kam wieder, während sich Tante Charlene noch samt ihrem Rollator in diese Richtung quälte. Er sagte etwas auf Spanisch – bot ihr wohl Hilfe an. Sie bellte eine Antwort, die ich nicht verstand.
Reumütig zuckte er die Schultern und drehte sich zu mir um. Er griff bereitwillig nach meinen beiden Koffern und führte mich durch die hintere Tür zu einem langgestreckten Bungalow. Nur der Streifen brüchigen Asphalts trennte diesen vom Hauptgebäude. Dürres Gras spross aus den Ritzen und Sprüngen im Boden. Auch der Bungalow sah mit seinem fleckigen, grauen Putz und einem halb verdorrten Rosenstrauch vor jeder Tür nicht allzu einladend aus. Immerhin waren an der Mauer in regelmäßigen Abständen Klimageräte befestigt.
Nicolás plauderte auf dem kurzen Weg die ganze Zeit über in ziemlich schlechtem Englisch. Er blieb neben einem der geparkten Autos stehen und wies mich auf eine Tür rechts am Hauptgebäude hin. „Waschen, Wäsche trocknen. Du verstehst? Du bringst Wäsche, du zahlst, alles gut.“
Spontan ließ er einen Koffergriff los und wedelte mit der nun freien Hand in Richtung der Straße vor dem Motel. „Ist Münzwäscherei, aber ist teuer. Nicht gut.“ Erwartungsvoll starrte er mich an, bis ich nickte.
„Du Auto?“
Ich schüttelte den Kopf und verkniff mir jede Antwort wie: „Nein, ich bin kein Auto.“ Oder dass ich wohl kaum in der sommerlichen Hitze mein Gepäck zu Fuß quer durch die Stadt schleppen würde, wenn ich eines hätte.
„Gut, sehr gut.“ Er grinste verschwörerisch. „Gäste trinken. Machen–“ Er ließ auch den zweiten Koffergriff los, ballte theatralisch die Fäuste und tat, als hämmerte er auf die Motorhaube des Wagens neben uns ein.
„Anderer Gast–“, er setzte eine grimmige Miene auf und fuchtelte so drohend mit den Fäusten, dass ich vorsichtshalber einen Schritt zurückwich. „Cops kommen. Nicht gut.“
Wieder sah er mich erwartungsvoll an, bis ich „Danke für die Warnung“ murmelte und inständig hoffte, das würde genügen.
Ich war heilfroh, als er die Tür mit der Nr. 2 aufschloss – auch, weil mir von drinnen kühle Luft entgegenschlug. Der Deckenventilator lief auf Hochtouren. Und die schweren, braunen Vorhänge vor den beiden Fenstern machten das Zimmer angenehm schattig.
„Gut?“
„Ja, ja, sehr gut“, erwiderte ich hastig, gab Nicolás ein paar Dollar Trinkgeld und schloss sicherheitshalber hinter ihm ab. Erst dann nahm ich mir die Zeit, mein neues Zuhause ausgiebig zu betrachten. Das Schlafzimmer war in einem Ockerton gestrichen. Über dem Doppelbett, das fast den ganzen Raum einnahm, hing ein Bild der Jungfrau Maria. In die linke hintere Ecke war ein Nachtkästchen gezwängt; in die rechte ein Kühlschrank, auf dem sich Mikrowelle, Wasserkocher, zwei Becher und zwei Teller stapelten. Am Fußende des Betts blieb gerade genug Platz für meine beiden Koffer, einen Klappstuhl und ein wackeliges Holztischchen mit einer Seidenblume in einer Plastikvase.
Mehr Möbel gab es nicht. Auch keinen Fernseher. Das fensterlose Bad nebenan war winzig und müffelte. Ich verstaute meinen kleineren Koffer unter dem Bett, zerrte den größeren mangels Alternative vor das Nachtkästchen, sank auf die kackebraune Tagesdecke nieder und versuchte sehr, nicht an die Tausend-Meilen-Ranch zu denken. An die Weite, die nur von schroffen Felsen durchbrochen wurde. An den Schwimmteich, dem Liams Kopf und seine nackten Schultern gefolgt von seinem Oberkörper entstiegen …
Er würde lachen, wenn er sähe, wohin mich meine Flucht geführt hatte.
Energisch riss ich mich zusammen und rief mir meine ToDo-Liste ins Gedächtnis. Punkt eins: eine leistbare Bleibe finden. Abgehakt.
Nächster Schritt – Punkt zwei. Rache.
Rache an Conor Byrd und ja, auch an Liam. Und seit gestern hatte ich dazu sogar schon eine konkrete Idee. Der Geistesblitz war mir mitten auf dem Hollywood Boulevard gekommen, als ein junger Mann mir und den anderen Touristen Tickets für die Aufzeichnung irgendeiner TV-Show in Burbank angeboten hatte.
Ich würde ein Enthüllungsbuch schreiben: Die ungeschminkte Wahrheit über Ungeküsst. Dazu vielleicht noch einen Untertitel, der auf die Tagline der Show Eine Prinzessin findet die wahre Liebe Bezug nahm.
Eine Prinzessin wird nach Strich und Faden verarscht? Ich notierte mir diesen Einfall gleich am Handy. Und dann Stichworte zu all den Sachen, die ich wusste. Nicht nur das mit Conor, Liam und der Hochzeit in Las Vegas. Auch, dass Anitas Produktionsteam die Kandidaten schon vor Drehbeginn in drei Stapel sortiert und nur ein Bruchteil von ihnen überhaupt je die Chance gehabt hatte, ins Finale zu kommen.
Und das war längst nicht alles! Mädchen von zwölf bis achtzehn bildeten die Hauptzielgruppe der Show. Wenn die erst mal läsen, wie Lilian, eine der Produktionsassistentinnen, aus ihrer Handtasche Drogen gedealt und ihre Freundin Suzy sich währenddessen durch die Crew geschlafen hatte, wäre der Ruf von Ungeküsst als harmlose Familienunterhaltung rasch dahin.
„Dad=Produzent“, schrieb ich. Niemand außer Anita und uns beiden hatte beim Dreh gewusst, wie ich zu meiner Rolle als Prinzessin gekommen war. Nämlich dadurch, dass mein Dad nicht nur Anitas Partner in Liebesdingen, sondern zugleich ihr Geldgeber war. Ein abgekartetes Spiel von vorne bis hinten.
Ich hatte das Material für ein Buch, um das sich alle Verlage reißen würden. Ich war berühmt, na ja, wenigstens halbwegs berühmt. Conor Bryd sowieso. Allein sein Name oder Foto auf dem Cover sollte doch wohl für ein paar Millionen Verkäufe sorgen!
Und im Gegensatz zu den meisten Promis, die in ein Enthüllungsmanuskript bloß reinschreiben konnten, dass ihr Mann nicht ganz so gut im Bett war wie gedacht oder dass ihr Kindermädchen heimlich Beruhigungstabletten schluckte, hatte ich wirklich etwas zu erzählen.
So also lautete meine ebenso simple wie geniale Idee. Das Buch wäre die perfekte Rache an Conor und Liam, an Dad und Anita und allen, die mein Leben ruiniert hatten. Und nebenbei hätte ich damit wohl auch finanziell ausgesorgt, jedenfalls für die nächsten paar Jahre.
Nun musste ich das Ding nur noch schreiben.
Drei Tage lang konzentrierte ich mich ausschließlich darauf. Morgens duschte ich und holte mir im Tankstellenshop nebenan Sandwiches, eine Packung Trockenfrüchte (das einzige Obst oder Gemüse im Sortiment) und zwei Flaschen zuckerfreie Limonade, die zwar grässlich schmeckte, aber wenigstens Koffein enthielt. Den Rest der Zeit verbrachte ich in meinem Zimmer und tippte die Enthüllungsstory in mein Handy.
Auch wenn die Umgebung dafür nicht die ideale war. Das Motel lag an einer vielbefahrenen Straße, und wenn nicht gerade die Kirchenglocken bimmelten, sausten von früh bis spät Busse und LKWs vorbei. Zwar sah ich nur selten einen der anderen Gäste. Doch alle hatten Autos, die sie mit quietschenden Reifen direkt vor dem Bungalow parkten. Und bei der Tankstelle gab es außer dem Shop auch noch ein unscheinbares Lokal, das sich nachts als äußerst gut besuchte Bar entpuppte. Bis um drei Uhr Früh wurde dort auf Spanisch gestänkert und gegrölt.
„Schreiben, schreiben, immer schreiben. Nicht gut“, informierte mich Nicolás am dritten Tag, als er mit einem Stapel frischer Handtücher vor meiner Tür stand. Inzwischen hatte ich erfahren, dass er der Hausmeister des Motels und zugleich so etwas wie das „Mädchen für alles“ war. Wenn Imelda, die ältliche Putzdame, bei den vielen Gästen nicht mehr hinterher kam, half er auch ihr bei der Arbeit.
„Ich schreibe“, erzählte er mir ungefragt, nachdem er die Handtücher auf dem Tisch abgesetzt und wohl einen Blick auf das dort liegende Handy geworfen hatte. „Drehbuch. Für Film. Bam-bam-bäng Actionfilm, du verstehst?“ Er unterstrich seine Beschreibung mit einer geballten Faust und einem Grinsen und wartete auf mein Nicken.
„Und keiner will“, fuhr er dann fort. „Schreibe neues Drehbuch. Bam-bam-bäng Actionfilm mit Küssen-Küssen.“ Diesmal täuschte er ein paar Hiebe an, grinste, spitzte die Lippen zu einem Kussmund und machte laute Schmatzgeräusche, während ich vergeblich auf ein rettendes „Nico-LÁS!“ aus dem Hauptgebäude wartete.
„Keiner will. Nicht gut. Frau schimpft!“ Er grinste mich an. Instinktiv huschte mein Blick zu seiner rechten Hand. Tatsächlich: ein Ehering.
„Sagt: Nico, du musst schreiben nur kleines bisschen.“ Er deutete mit Daumen und Zeigefinger an, wie klein. „Dann frag: Wer will? Niemand will. Du hörst auf zu schreiben.“
Diese Weisheit hallte in mir nach, als er gegangen war. Ich trug meine Handtücher ins Bad, warf mich bei der Rückkehr aufs Bett und schloss die Augen. Ein Buch zu schreiben war jedenfalls mühsamer, als ich mir erträumt hatte, sogar mit einem bereits fixen und fertigen Plot. Wenigstens vorübergehend damit aufzuhören, hatte durchaus seinen Reiz.
Und der Rat von Nicolás‘ Frau klang logisch. Warum die ganze Arbeit auf mich nehmen, wenn ich nachher womöglich mit einem unverkäuflichen Manuskript dastand?
„Du brauchst einen Agenten“, erklärte mir Charlene am selben Abend, als ich eigentlich nur zur Rezeption kam, um nach Toilettenpapier zu fragen.
Bei dem Wort „Agent“ musste ich an Conor denken. Er hatte natürlich einen Manager, der seine Interessen vertrat. Und der schon einmal gedroht hatte, die Show wegen Rufschädigung zu verklagen: damals, als ich Conor live vor Publikum und Kameras eine Krähe genannt hatte.
Was würde er erst tun, wenn er mein Buch läse? Sollte ich mir vorsichtshalber eine Art Gegen-Manager oder Gegen-Agenten besorgen? Wobei „Agent“ sehr nach Geheimdienst klang. Erledigten so etwas nicht doch eher Anwälte?
„Wie bitte?“, erwiderte ich höchst geistreich, als ein paar Sekunden verstrichen sein mussten und mich Charlene zunehmend ungeduldig musterte.
„Einen Agenten“, wiederholte sie. „Nicolás sagt, du schreibst ein Buch.“
„Äh, ja.“ Ich hatte immerhin schon das erste Kapitel fertig: die Hochzeit in Las Vegas. Vielleicht nicht die allerbeste Entscheidung, weil ich mich daran kaum erinnerte, aber es war trotzdem ein starker Einstieg. Hoffte ich.
„Ich kenne einen Agenten.“ Das verblüffte mich, bis mir wieder einfiel, in welcher Stadt ich mich gerade aufhielt. Vermutlich wäre es schwieriger gewesen, hier jemanden zu finden, der noch nie daran gedacht hatte, berühmt zu werden.
„Wollte selbst mal Drehbücher schreiben. Hat leider nicht geklappt“, ergänzte sie nüchtern. Sie kritzelte etwas auf ein Post-It und reichte es mir. „Ruf ihn an.“
Der Agent war am Telefon zunächst äußerst kurz angebunden, was auch daran liegen konnte, dass ich ihn erst einmal nach seinem Namen fragen musste. Sobald er aber hörte, von wem ich seine Nummer hatte, wurde er so überschwänglich, dass ich anfing, zu rätseln, ob Charlenes Beziehung mit ihm wirklich nur eine geschäftliche gewesen war.
Hugh Morris – „Nenn mich Hugh, wir sind hier doch alle Freunde“ – lud mich gleich für den nächsten Tag zu Mittag in sein Büro „in Beverly Grove nur ein paar Schritte hinter dem Wilshire Boulevard“ ein, was er mehrmals so betonte, als sollte mir diese Adresse irgendetwas sagen. Ich googelte nach dem Telefonat die Straße, die zu meiner Erleichterung noch in L.A. lag. Mit zwei Bussen bräuchte ich fast eine Stunde, um hinzukommen.
Also duschte ich am Morgen ausgiebig und wusch mir die Haare. Ich trug Make-up auf und schlüpfte in mein Lieblings-Designerkleid und die schillernden Heels, die mich fast zehn Zentimeter größer machten und mir immer eine Extraportion Selbstvertrauen verliehen. Heute konnte ich sie dringend gebrauchen! Dann machte ich mich auf den Weg zum Bus.
Die ersten Zweifel kamen mir kurz vor der Haltestelle. Eine Ladenfront nahe dem Ende der langen Straße war über und über mit Graffiti beschmiert. Plastikplanen bedeckten die Fenster, Müll und Glasscherben lagen auf dem Parkplatz davor. Ein paar Frauen, alle viel älter als ich und auffällig grell geschminkt, lehnten an der Fassade, rauchten Zigaretten und unterhielten sich leise.
Schon von weitem fiel mir eines auf: Wann immer die Ampel am Ende der Straße auf Rot umschaltete und die Autos daher langsamer wurden, lösten sich die Frauen von der Ladenfront und warfen sich in sexy Posen. Es war ziemlich eindeutig, auf welche Art von Mitfahrgelegenheit sie hofften.
Den Fußgängern schenkten sie keine Beachtung und diese ihnen ebenso wenig – bis auf eine Gruppe junger Latinos, die von der anderen Straßenseite etwas auf Spanisch herüberriefen, woraufhin ihnen eine der Frauen den Mittelfinger entgegenstreckte. Als ich aber näher kam, fingen die Prostituierten an, miteinander zu tuscheln. Eine wies auf meine Heels und gackerte spöttisch. Eine andere rief mir etwas zu, von dem ich nur das Wort „trabajo“, „Arbeit“, verstand.
Ich zwang mich zu einem unverbindlichen Lächeln, eilte so schnell wie möglich vorüber und warf bei der Haltestelle erst einmal einen langen Blick auf meine Spiegelung in einer Glasscheibe. Mein Kleid war doch nicht zu kurz, oder? Und mein Make-up dezent genug? Natürlich hatte ich das eine oder andere Gerücht darüber gehört, wie man es als hübsches, junges Mädchen in Hollywood zu etwas bringen konnte …
Erwartete sich Charlenes Agent etwa das von mir? Hatte er mir deshalb so rasch einen Termin angeboten?
Punkt zwölf Uhr stand ich vor einem unscheinbaren Bürogebäude und starrte das Klingelschild an: „Morris Talent- und Literaturagentur“. Ein Teil von mir hatte gute Lust, zu kneifen. Aber ich wollte den weiten Weg auch nicht umsonst hinter mich gebracht haben. Während ich auf die Klingel drückte, fielen mir alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen ein. Natürlich viel zu spät. Ich hatte nicht einmal Haarspray in der Handtasche, obwohl Amber schwor, der eigne sich vorzüglich als Pfefferspray-Ersatz.
Dass eine Frauenstimme nach meinem Namen fragte, beruhigte mich ein wenig. Auch der Empfangsbereich im sechsten Stock wirkte auf den ersten Blick durchaus seriös. Alles war in Grautönen gehalten, und die Dame hinter dem Schreibtisch bot mir sogar Kaffee an, den ich dankend nahm.
Sie hatte mir gerade erst die Tasse samt Unterteller gereicht, als die Tür des eigentlichen Büros aufschwang und mich der Agent herein befahl. Mit kleinen Schritten, bemüht, nichts von dem Kaffee zu verschütten, folgte ich seiner Einladung.
Hugh Morris sah weit älter aus, als er am Telefon geklungen hatte. Mindestens siebzig. Das konnte für mich gut sein – oder nicht. Ich hoffte wirklich, wirklich, wirklich inständig, dass ich falsch lag, was seine Erwartungen anging.
„Du kennst also Charlene“, begrüßte er mich launig. „Bäckt sie noch immer diesen himmlischen Krabbenauflauf?“
Verdutzt stammelte ich ein Ja, weil das allemal höflicher schien als die Alternative Woher zum Teufel soll ich das wissen?
Damit gab er sich zum Glück zufrieden und bot mir einen Stuhl vor seinem großen Mahagoni-Schreibtisch an. Der Tisch, auf dem ich meinen Kaffee abstellte, war auffallend leer. Ich hätte erwartet, dass er vor Papier überquellen würde. Hugh sank in einen mit Leder bezogenen Drehstuhl, sodass uns die Tischplatte trennte. Trotz der heutigen Hitze trug er ein blütenweißes Hemd mit langen Ärmeln. Und Hosenträger. Sie waren rot mit kleinen, schwarz-weißen Filmklappen darauf. So weit kam ich mit meiner Musterung, ehe mir klar wurde, dass Hugh wiederum mich anstarrte – genauer gesagt den Ringfinger meiner rechten Hand.
Ich spürte, wie meine Wangen heiß anliefen. Ehrlich gesagt hatte ich bis zu diesem Moment ganz vergessen, dass ich Conors – sollte wohl heißen: Liams – Ring noch trug. Peinlich berührt hätte ich ihn mir am liebsten hier und jetzt vom Finger gerissen. Aber das würde erstens komisch wirken und mochte Hugh zweitens zu einem völlig falschen Schluss verleiten. Also bedeckte ich ihn bloß mit der freien Hand.
Hugh lehnte sich zurück. „Du hast ein Enthüllungsbuch geschrieben. Über“, er schnippte mit den Fingern, als könnte er den Namen aus der Luft herbei hexen. „Irgendeine Show? Sorry, ich weiß, du hattest mir gesagt, welche. Aber ich hatte davon noch nie gehört.“
„Ungeküsst“, warf ich ein. „Eine Prinzessin findet die wahre Liebe.“
„Ach ja.“ Er nickte. „Die ungeküsste Prinzessin, das war es.“ Und bevor ich ihn verbessern konnte, redete er weiter: „Wo habt ihr noch einmal gedreht?“
„In Arkansas. In einem historischen Schloss“, beeilte ich mich, hinzuzufügen. „Dem Miner‘s Castle.“
Hugh hob eine Braue und musterte mich. Ungefähr so, als wäre meine Antwort gleichbedeutend mit Im Vorgarten meiner Oma, und die Hauptdarstellerinnen waren mein Wellensittich, meine Schulfreundinnen und ich.
„Und du sagst, du hast für mich eine Leseprobe mit drei Kapiteln.“
Okay, hier hatte ich am Telefon vielleicht ein bisschen geflunkert. Aber das würde ich hinkriegen.
„Es ist derzeit noch ein Kapitel. Ein langes Kapitel“, betonte ich. „Lang“ war ein relativer Begriff und konnte alles Mögliche bedeuten. „Ich füge die Kapitelunterteilungen nachher ein.“
Ungeduldig wedelte er mit einer Hand. „Die Leseprobe.“
Also kramte ich das Handy hervor und entsperrte es. Seinem Gesichtsausdruck nach hatte er eher so etwas wie ein ausgedrucktes und geheftetes Manuskript erwartet. Noch dazu sah ich erst beim Öffnen der Datei, dass dort unter dem Titel noch „Maple ???“ stand, weil ich mir bis zum Schluss nicht sicher gewesen war, ob ich „Maple Leaf“ oder doch das reißerischere „Maple Byrd“ hinschreiben sollte.
Autsch. Das wirkte wohl nicht wahnsinnig professionell.
Hugh nahm das Handy entgegen und klickte sich durch die ersten Seiten. Er las. Rollte die Augen. Las weiter. Hörte damit auf und musterte mich – hob skeptisch eine Braue. Ich begann meinen Schnellschuss bitter zu bereuen und wünschte mir nun, ich wäre nie gekommen. Um mich nicht völlig entmutigen zu lassen, schloss ich die Augen, aber das half wenig. Ich konnte Hugh verächtlich schnaufen hören.
Nach einer gefühlten Ewigkeit – auch wenn laut der altmodischen Uhr hinter dem Schreibtisch nur wenige Minuten vergangen waren – reichte er mir das Handy wieder. „Willst du meine ehrliche Meinung hören?“
Danke, lieber nicht, war ich versucht, zu sagen. Ich riss mich zusammen. „Ja, bitte.“
„Das ist Dreck“, erwiderte er unverblümt. „Hundekacke auf der Straße des Erfolgs. Es gibt einen Grund, warum die meisten Stars ihre Enthüllungsbücher von professionellen Ghostwritern schreiben lassen.“
Ich öffnete den Mund. Doch seine nächsten Worte rollten wie eine Flutwelle über mich hinweg. „Und mal abgesehen vom Stil. Diese ganze wilde Geschichte. Zwillinge mit vertauschten Identitäten? ‚Ich wurde gegen meinen Willen von meiner bösen Stiefmutter mit einem heißen Rockstar verheiratet‘-Fanfiction? Das glaubt doch kein Mensch.“
„Aber so ist es passiert!“
„Bist du dir sicher? ‚Der Champagner war mir zu Kopf gestiegen. Ich fühlte mich wie in einem Traum‘“, zitierte er auswendig und sah mich bedeutsam an.
Wieder wollte ich etwas einwerfen. Wieder ließ er mir keine Gelegenheit dazu. „Und selbst wenn: Wie viel könntest du vor Gericht – und glaub mir, falls du das hier veröffentlichst, wirst du vor Gericht stehen – beweisen?“
Alles. Weil es die Wahrheit ist, nichts als die nackte, ungeschminkte Wahrheit. Die Worte wollten über meine Lippen, doch ich schluckte sie hinunter.
Und dachte nach. Liam hatte mir im Vertrauen gestanden, dass er und nicht Conor mich in Las Vegas geheiratet hatte. Auf dem Trauschein stand Conor Ian Bryds Name. Welcher Zwilling mir seinen Ring an den Finger gesteckt hatte, wussten nur wir drei. Und wenn sich Liam auf die Seite seines Bruders schlüge, stünde es zwei Aussagen gegen meine.
Und der Rest? Ich hatte meine drei Kandidatenstapel längst nicht mehr. Ich konnte nicht beschwören, dass mir Anita in Las Vegas so etwas wie K.O.-Tropfen eingeflößt hatte. Honda, die Assistentin des Kostümbildners, hätte wenigstens Lilians und Suzys Eskapaden am Set bezeugen können. Aber erstens standen wir nicht mehr in Kontakt, und zweitens – so wie ich Honda kannte, bezweifelte ich, dass sie mutig genug dafür gewesen wäre.
Das Einzige, was ich ziemlich sicher beweisen konnte, war, dass mein Dad mit Anita schlief. Aber das würde vor allem meiner eigenen Glaubwürdigkeit schaden.
„Dachte ich mir“, kommentierte Hugh mein beredetes Schweigen. Er seufzte tief und verwandelte sich innerhalb eines Atemzugs vom knallharten Geschäftsmann in einen mitfühlenden, alten Opa.
„Wenn du meinen Rat willst, Mädchen: Ich an deiner Stelle würde mir das Ganze noch einmal ernsthaft überlegen. So wie das hier aussieht, fasst es garantiert kein Verlag auch nur mit der Kneifzange an. Und selbst falls du den Stil gründlich überarbeitest, falls du dir – was ich dir unbedingt empfehle – einen Profi als Co-Autor nimmst: Bist du bereit, dich auf einen Rechtsstreit in Millionenhöhe einzulassen?“
Stumm schüttelte ich den Kopf. Hugh stand von hinter seinem Tisch auf, reichte mir die Hand, betätigte dann die Sprechanlage und bat seine Sekretärin, ihm ein Lunch-Sandwich zu bestellen. Mit dem sicheren Gefühl, mich komplett blamiert zu haben, stolperte ich aus seinem Büro. Die Sekretärin telefonierte gerade mit einem Lieferdienst. Als ich vorbei kam, hielt sie mir eine Schachtel Papiertaschentücher hin: reflexartig, so als wäre es ganz normal, dass Mädchen wie ich schniefend Hughs Büro verließen.
Meine Beine fühlten sich bleischwer an, während ich zurück ins Motel wankte. Wenigstens standen vor der Ladenfront nur mehr zwei Frauen, und beide ließen mich in Ruhe. Vermutlich, dachte ich bitter, weil ich aussehen musste, als hätte mich mein Freier, Zuhälter oder wer auch immer gerade ausgeraubt. Allein bei diesem Gedanken kam ich mir so schmutzig vor, dass ich nach meiner Rückkehr erst einmal duschte. Die kleine Kabine mit den quadratischen, beigen Fliesen vom Boden bis zur Decke war das Gefängnisartigste an der ganzen Unterkunft. Und auch wenn ich, so oft es ging, lüftete, roch sie noch immer modrig. Es gab nicht einmal einen beweglichen Duschkopf. In die Seifenschale passte gerade das Mini-Fläschchen Shampoo, das ich aus Silvers Hotel geklaut hatte.
Nachher ließ ich die Badtür sperrangelweit offen stehen und riss auch das hintere Zimmerfenster auf, damit der Dunst entweichen würde. Ich starrte auf den schmalen Streifen brüchigen Asphalts hinter dem Motel und auf den ebenso schmalen und verwahrlosten Park mit ein paar Bänken vor der Kirche daneben. Eine Gruppe Latino-Jungs hing dort ab. Einer sah mich, sagte etwas, und sofort guckten auch die anderen in meine Richtung.
Der Größte sprang schwungvoll von der Bank auf und lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht an den Maschendrahtzaun, der das Motel von der Kirche trennte.
„¿Hola chica qué tal?“, schrie er zu mir herüber. Ich knallte das Fenster so heftig zu, dass die Scheibe klirrte und mir ein paar Splitter vom weißen Anstrich des Rahmens entgegen fielen.
Entmutigt sank ich in Leggings und einem grauen Jerseytop aufs Bett. Ich war meinem Ziel noch keinen Schritt näher gekommen. Natürlich könnte ich es bei einem anderen Agenten versuchen oder tatsächlich einen Ghostwriter beauftragen, aber Hughs Warnung hatte sich in mich gebrannt. Dad und Anita würden mich verklagen, wenn ich das, was hinter den Kulissen von Ungeküsst abgelaufen war, an die Öffentlichkeit trug. Conor und sein Manager sowieso. Liam …
Schwer zu sagen. Wieder sah ich seinen bedauernden Blick vor mir, als er mich gehen hatte lassen und mir noch dazu Geld und seinen Autoschlüssel gegeben hatte. Liam hatte etwas für mich empfunden. Aber genug, um untätig zu bleiben, während ich ihn und seinen Bruder ruinierte?
Moment mal! Mit einem Ruck setzte ich mich auf. Da ich nun schon bereit war, auf ein Buch mit meinem Namen als Autorin und vor allem auf den damit verbundenen Ruhm und Reichtum zu verzichten, eröffneten sich mir doch weitaus mehr Möglichkeiten. Was, wenn zum Beispiel Conors und Liams kleine Zwillingsverschwörung auffliegen würde – und mir niemand nachweisen könnte, dass die Info von mir kam?
Wieder musste ich an meine ehemals beste Freundin Lindi denken. Gleich in der ersten Woche unseres Abschlussjahrs an der Highschool hatte sie sich mit Jaydee Swennson zerstritten. Und überall herumerzählt, diese würde um guter Noten willen mit dem Mathelehrer schlafen.
„Sind doch nur Gerüchte“, hatte sie meine Einwände beiseite gewischt. „Glaubst du, irgendwer weiß in drei Tagen noch, dass er die Info von mir hatte? Und ich sage ja auch nicht, dass. Ich frage nur: ‚Hast du schon gehört–? Kannst du dir vorstellen–?‘“
Noch am selben Tag hatte Anna Heys dann Jaydee bei der Essensausgabe vor allen Mitschülern eine dreckige Schlampe genannt. Allzu gut erinnerte ich mich an Lindis selbstzufriedenes Grinsen und ihren triumphierend hochgereckten Daumen. Gerüchte entstanden immer und überall, quasi von selbst, sie hatten keinen Autor. Und somit könnte mich auch niemand verklagen, oder?
Lindi war, was Rache betraf, eben eine Klasse für sich gewesen. Und ich hatte ihr oft genug zugehört, um wenigstens in der Theorie zu wissen, wie man bei solchen Aktionen vorging.
„Du brauchst zuerst Beweismaterial“, hatte sie uns erklärt. Das konnten diese wieder verschließbaren kleinen Beutelchen mit etwas Puder drin sein („Josie Williams dealt auf dem Pausenhof Drogen“), Nacktfotos aus dem Internet mit hineinkopierten Gesichtern („Kendall Thomas geilt Perverse für Geld auf“) oder sogar der Schwangerschaftstest, den sie und Amber gut sichtbar im Waschraum der Highschool platziert hatten. Tags zuvor hatten wir Yukikos Lhasa-Apso-Hündin Ayano draufpinkeln lassen. Und während der paar Minuten Wartezeit darüber gewitzelt, wie schräg es wäre, wenn deren Urin tatsächlich „positiv“ testen würde.