11,99 €
Portugiesisches Flair trifft mörderische Ambitionen: Ermittlungen an der Atlantikküste! Während Ria Almeida mit ihrem Umzug von Stuttgart nach Torreira beschäftigt ist, geht ein Notruf auf der örtlichen Polizeiwache ein: Bei einer Exkursion in ein nahegelegenes Naturschutzgebiet sind Studierende auf eine männliche Leiche gestoßen. Ria und Dorfpolizist João haben alle Hände voll damit zu tun, den Tatort zu sichern und sich die Umweltschützer vom Hals zu halten. Als Ria Comisario Baptista um Unterstützung bittet, ist der jedoch bei Gericht, wo sich die Verhandlung verzögert, weil der Richter fehlt. Der Richter, der tot zu Rias Füßen liegt ... Für alle Portugal-Fans und die, die es werden wollen, bietet Südlich von Porto wartet die Schuld die perfekte Kombination aus gemütlichen Abendessen und spannenden Ermittlungen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Südlich von Porto wartet die Schuld
MARIANA DA SILVA ist freischaffende Autorin und Redakteurin. Als älteste Tochter ihrer portugiesischen Familie in Stuttgart aufgewachsen, weiß sie, dass ein Kühlschrank nie leer sein sollte und Wein am besten schmeckt, wenn liebe Menschen am Tisch sitzen. Sie lebt und arbeitet in der deutschen Stadt mit den lebhaftesten Beziehungen nach Portugal: Hamburg.
»Wenn Ihr Richter sich ohnehin verspätet«, sprach Ria geduldig in den Hörer, »können Sie in der Zwischenzeit ja hierherkommen. Wir brauchen Sie hier, wir können ohne Sie nicht weitermachen.«Comissário Baptistas Antwort ging beinahe in seinem Brummen unter. »Almeida, ich warte seit Jahren auf diesen Moment. Glauben Sie wirklich, ich verpasse das jetzt, um nach Torreira zu kommen, nur weil Richter Loureiro im Stau steckt und vermutlich gleich um die Ecke biegen wird?«Ria rutschte das Herz in die Hose. Das würde ihm jetzt nicht gefallen.»Wie heißt Ihr Richter?«, fragte sie.»Loureiro«, antwortete Baptista.»Roque Loureiro.«»Sehen Sie, Baptista, die Sache ist die: Ihr Richter wird heute nicht mehr in Aveiro auftauchen.«»Ach, und woher wollen Sie das wissen?«, bellte er durch die Leitung.»Weil er hier tot zu meinen Füßen liegt.«
Mariana da Silva
Ein Portugal-Krimi
Ullstein
Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de
Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage April 2024© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2024Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte fur Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrucklich vor.Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, München Titelabbildung: © www.buerosued.de; © Nuno Tendais / Alamy Stock Foto (Boot) Autorinnenfoto: © Saskia AllersKarte: © Peter Palm, BerlinE-Book Konvertierung powered by pepyrusISBN 978-3-8437-3129-4
Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.
Auf einigen Lesegeräten erzeugt das Öffnen dieses E-Books in der aktuellen Formatversion EPUB3 einen Warnhinweis, der auf ein nicht unterstütztes Dateiformat hinweist und vor Darstellungs- und Systemfehlern warnt. Das Öffnen dieses E-Books stellt demgegenüber auf sämtlichen Lesegeräten keine Gefahr dar und ist unbedenklich. Bitte ignorieren Sie etwaige Warnhinweise und wenden sich bei Fragen vertrauensvoll an unseren Verlag! Wir wünschen viel Lesevergnügen.
Hinweis zu UrheberrechtenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
Das Buch
Titelseite
Impressum
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
Karte
Danksagung
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
1
Ankommen. Nicht nur örtlich, sondern auch im Herzen.
Torreira, Montag, 9:27 Uhr Ria
Durch das offene Fenster strömte eine leichte Brise frischer Frühjahrsluft herein, und Ria bildete sich ein, die Brandung des Meeres zu hören. Doch selbst die schmale Landzunge Torreiras, die zwischen der Ria de Aveiro und dem Atlantik lag, war zu breit, um die Wellen wirklich von hier aus hören zu können. Immerhin lag Mariposas und Joãos Wohnung mitten im Ort, und es waren doch ein paar Meter bis zum Strand. Sie war hier, und sie würde hierbleiben, dachte Ria, und ihr wurde ganz warm bei diesem Gedanken, als sie ein Ächzen aus ihren Gedanken riss. Sie ließ das Buch, das sie gerade in den Umzugskarton vor sich packen wollte, vor Schreck fallen und drehte sich ruckartig um. Mariposa war unbemerkt in das Gästezimmer gekommen, in dem Ria die letzten Monate gewohnt hatte, und setzte sich gerade mit schmerzverzerrtem Gesicht auf das Bett.
»Kam das Geräusch von dir oder dem Bett?«, fragte Ria und lachte.
»Ach, lass mich«, schnaufte ihre Cousine. Inzwischen konnte sie sich nur noch mit Abstützen hinsetzen. »Weiß der Geier, wie ich das noch länger aushalten soll.«
Mariposas Bauch war in den vergangenen Monaten der Schwangerschaft größer und größer geworden.
Jetzt, Ende März, stand Mariposa nur wenige Tage vor der Geburt – laut Aussage ihres Arztes konnte es ab jetzt jederzeit so weit sein oder eben noch zwei Wochen dauern – und hatte keine Lust mehr, schwanger zu sein.
»Meine Füße habe ich zuletzt vor einem Jahrzehnt gesehen«, hatte sie erst vor wenigen Tagen geschimpft, als sie abends auf dem Sofa keine bequeme Position gefunden hatte. Dass sie ihrer Schwangerschaft überdrüssig war, hieß nicht, dass sich Mariposa nicht auf das Baby freute. Ganz im Gegenteil. Seit Monaten waren sie und João völlig aus dem Häuschen. Nur war Mariposa inzwischen an diesem Punkt angekommen, an dem sie keine Vorfreude mehr verspürte, sondern einfach wollte, dass das Baby jetzt da war und sie ihren Körper wieder für sich hatte.
Ria wusste nicht, was sie auf den Missmut ihrer Cousine antworten sollte – sie konnte es schließlich nicht nachfühlen –, also würde sie versuchen, Mariposa abzulenken.
»Was kann ich denn noch einpacken?«, fragte Ria deshalb und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Viel hatte es nicht gegeben, da sie das meiste gar nicht erst ausgepackt hatte. Nachdem sie ihre Stuttgarter Wohnung gekündigt hatte, hatte sie ihre Möbel verkauft und fast alles andere aussortiert, außer ein paar persönlichen Erinnerungsstücken, Bildern und Büchern. Es war erstaunlich gewesen, wie viel Leben in so wenige Kartons passte.
»Nada«, sagte Mariposa und versuchte, sich an dem metallenen Kopfteil des Bettes hochzuziehen.
»Du hast vergessen, dass du gar nicht ausziehen musst, sondern hier wohnen bleiben kannst!« Sie beendete ihren Satz mit einem Schnaufen und ließ sich zurück auf die Matratze sinken.
»Was war das denn?«, fragte Ria belustigt.
»Ich wollte diese Umzugskiste wieder auspacken, da du das ja offenbar nicht vorhast.« Sie klang beleidigt.
Ria setzte sich neben sie aufs Bett und nahm Mariposas Hand in die eigene.
»Prima, was soll ich denn hier? Ich kann doch nicht für immer in eurem Gästezimmer wohnen.«
»Und wieso nicht?«
»Weil das schon bald das Kinderzimmer wird.«
Mariposa setzte zu einer Antwort an, doch Ria unterbrach sie direkt. »Nein, das Baby und ich werden uns das Zimmer nicht teilen.«
Ihre Cousine zog eine Schnute. »Aber das Baby braucht doch frühestens in drei Jahren ein eigenes Zimmer!«
Ria lachte auf. »Das glaubst du doch selbst nicht. Und außerdem: Ich bin doch gar nicht weit weg.«
Das stimmte, denn Rias neue Wohnung lag nur wenige Gehminuten entfernt. Wie alles in Torreira.
»Aber wieso musst du denn jetzt schon packen? Immerhin hast du deine neue Wohnung noch nicht einmal gestrichen. Und Möbel gibt es auch noch keine!«
Das stimmte, bisher bestand ihr neues Zuhause nur aus zwei Zimmern, einem Bad, einem Balkon und einer Küche, die immerhin schon eingebaut war.
»Irgendwo muss ich ja mal anfangen«, antwortete Ria.
Mariposa brummte etwas Undefinierbares und lehnte ihren Kopf an die Schulter ihrer Cousine.
»Versprich mir, mich nicht zu vergessen.«
Ihre Stimme zitterte hörbar, und Ria schob es auf die Hormone.
»Das werde ich schon nicht«, antwortete sie ernsthaft und tätschelte Mariposa die Hand.
Ruckartig setzte diese sich auf und schaute Ria eindringlich an. »Ich meine das ernst, Ria. Mit einem Baby ist man abgeschrieben, wenige Gehminuten hin oder her. Erst werde ich an mein Bett gefesselt sein, dann an den Kinderwagen.«
»Und ich meine das auch ernst, Mariposa. Ich werde dich nicht vergessen. Und ich werde so viel da sein, dass du dir wünschen wirst, mal deine Ruhe zu haben.«
Ria drückte ihre Cousine noch einmal, klatschte sich dann auf die Oberschenkel und stand mit einem »So!« schwungvoll auf. Sie mochte jetzt zwar in Torreira sein, aber einige deutsche Eigenarten würden wohl bestehen bleiben, immerhin war sie in Deutschland geboren und aufgewachsen. Ria verschloss gerade den Karton, als ihr Handy klingelte. Sie zog es aus ihrer Hosentasche und sah Joãos Namen auf dem Display.
»Dein Mann ruft an«, sagte sie zu Mariposa. João Pinto war nicht nur der Ehemann von Mariposa und baldige Vater ihres gemeinsamen Kindes, sondern stand damit auch in einem Verwandtschaftsverhältnis zu Ria, für das es keinen präzisen Ausdruck gab – weder im Deutschen noch im Portugiesischen. Sie hatten sich auf cunhada und cunhado geeinigt, Schwager und Schwägerin, auch wenn das nicht ganz richtig war. Außerdem war João der Leiter der örtlichen Polizeistation. Allerdings war er auch der einzige Polizist in Torreira. Mariposa hatte sich auf dem Revier bisher um den Empfang und alle anfallenden Bürotätigkeiten gekümmert. Als Ria vergangenen Herbst vor der Entscheidung gestanden hatte, nach Torreira zu ziehen, hatte Mariposa Ria angeboten, ihren Job im Revier zu übernehmen, solange sie selbst wegen des Babys nicht arbeiten konnte. Und Ria hatte angenommen, auch wenn sie dafür eigentlich überqualifiziert war. Zwar hatte sie in Stuttgart ebenfalls bei der Schutzpolizei Dienst auf Streife abgeleistet, doch eigentlich war sie Kriminalkommissarin. Den Schritt von der Ermittlerin zurück in die Uniform war sie damals freiwillig gegangen. Ein gebrochenes Herz war schuld daran gewesen.
Es war ein entspannter Job, denn in Torreira riefen die Einwohner mit Sorgen und Nöten die Polizei, die in Stuttgart nichts auf einem Polizeirevier zu suchen gehabt hätten: Mal mussten sie Katzen von Dächern retten, mal einen Auffahrunfall protokollieren oder eine ängstliche ältere Dame beruhigen, die ihre Haustür offen vorgefunden hatte, als sie vom Einkaufen zurückgekommen war. Bei Letzterer hatte es sich aber nicht um einen Einbruch gehandelt, sondern lediglich um die eigene Schusseligkeit beim Verlassen des Hauses. Ria beruhigte aufgelöste Bewohner, kümmerte sich um die Ablage und trank Kaffee. Dennoch langweilte sie sich nicht mit diesem entschleunigten Arbeitstag. Ganz im Gegenteil, er ließ ihr viel Raum und Energie, in Torreira anzukommen und ihr Leben hier neu aufzubauen. Sie ging jeden Morgen eine Runde joggen und genoss es dabei, den Atlantik nur für sich zu haben. Sie verbrachte viel Zeit mit ihrer Familie, verbrachte ganze Sonntage mit Mariposa auf dem Sofa, verabredete sich mit ihrem Jugendfreund Nuno auf ein Glas Wein, oder sie trafen sich alle in der Bar von Rias Onkel Bruno. Mit den steigenden Temperaturen konnte man endlich wieder auf der Terrasse der Bar sitzen, die längs zur Ria de Aveiro gelegen war, und den Blick über die weitläufige Wasserlandschaft schweifen lassen, während dahinter schemenhaft die Silhouette Aveiros zu erkennen war.
»João«, nahm sie das Gespräch an. Ria hatte das Handy auf Lautsprecherfunktion gestellt. »Stell dir vor, deine Frau und ich debattieren gerade darüber, warum es eine gute Idee und die einzig richtige Entscheidung ist, dass ich aus eurem Gästezimmer ausziehe.«
»Es ist gar keine gute Idee, es ist völlig unsinnig, aber Ria ist auf diesem Ohr eindeutig taub«, rief Mariposa quer durch den Raum.
Ria schüttelte lachend den Kopf und ging aus dem Zimmer.
»Was brauchst du denn?«, fragte sie João, nachdem sie die Lautsprecherfunktion wieder ausgestellt hatte. Sie hatte sich eigentlich den Tag freigenommen, um ihre Sachen zu packen und in die neue Wohnung zu bringen. Dennoch war ihr ein Grund sehr recht, für einen Moment vor ihrer emotionsgebeutelten Cousine zu flüchten.
»Ich brauche dich hier. Wir haben eine Leiche«, kam João ohne Umschweife zum Punkt.
Die Dünen, das grüne Band Portugals
Montag, 10:03 Uhr Ria
Ria drückte den Knopf auf Mariposas Autoschlüssel und verriegelte den Wagen. Sie hatte sich das Auto ihrer Cousine geliehen, da João mit dem Dienstwagen unterwegs war und Ria noch kein eigenes Auto hatte. Sie gönnte sich einen Moment, um die warmen Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht zu genießen. Sie wurden jeden Tag kraftvoller. Dann überquerte Ria die Straße in Richtung der Dünen. João hatte ihr seinen Standort geschickt, er befand sich fast schon in Quinta das Ricos. Der Ort lag nördlich von Torreira, kurz bevor die Landzunge wieder auf das Festland traf. Viel gab es hier nicht, ein paar vereinzelte Häuser und natürlich die Holzstege, die im Abschnitt mehrerer Hundert Meter seitlich des Gehweges begannen und sich über den Dünen zu einem Wegesystem zusammenfanden. Sie reichten von der Straße bis zum Strand auf der anderen Seite der Dünen herunter, sodass man von beiden Seiten Zugang hatte. So konnten Touristen über die weitläufige Dünenlandschaft spazieren und sich die Pflanzenvielfalt anschauen, ohne das Naturschutzgebiet zu betreten und zu gefährden. Ria ging einen Steg entlang, bis sie die Kuppel der Düne erreicht hatte. Hier zweigten sich zwei mögliche Stege ab, einer davon führte auf der anderen Seite die Düne wieder hinunter in Richtung Strand. Dort sah sie João inmitten einer Gruppe Menschen stehen. Sie verstand, warum er sie angerufen und um Hilfe gebeten hatte. Als Mariposas Vertretung verließ sie das Revier für gewöhnlich nicht, ihre Arbeit fand an dem Schreibtisch hinter dem Empfang statt. Sie mochte ihren Arbeitsplatz, weil er sich in allem von ihrer Arbeit in Stuttgart unterschied: Sie hatte ganz normale Arbeitszeiten, sie war nicht auf Streife und kam demnach nicht in schwierige oder gar kritische Situationen.
Aber das hier war anders, João war allein schlichtweg nicht in der Lage, mit der Menge an Leuten fertigzuwerden.
Die Gruppe stand inmitten der Landschaft aus Sandhügeln und kakteenartigen Pflanzen. Es war Ria bis heute ein Rätsel, wie in diesem Sand, der ja nichts anderes war als Millionen klitzekleiner Steinchen, auch nur ein Grashalm wachsen konnte. Und wenn sie es hier konnten, wieso dann nicht auch einige Meter weiter? Wieso hörte der Bewuchs am Strand mit einem Mal auf?
Kurz bevor Ria die Ansammlung an Menschen erreichte, fing sie ihre galoppierenden Gedanken wieder ein und sammelte sich. Sie blieb auf dem Steg stehen, hier musste sie sich unter dem Geländer hindurchducken und die etwa vierzig Zentimeter auf dem Boden hinunterhüpfen. Denn natürlich endete keiner der Stege mitten in den Dünen.
João kam ihr entgegen. »Graças a Deus bist du da«, begrüßte er sie. Der Stress war ihm deutlich anzusehen, der Schweiß auf seiner Stirn glänzte im Sonnenschein, und er kniff angestrengt die Augen zusammen.
»Also, was haben wir?«, fragte Ria, die João durch die Dünen folgte. Ihr Schwager hatte sich am Telefon ziemlich bedeckt gehalten mit Informationen.
»Diese Gruppe junger Leute hier hat einen Toten gefunden.«
»Wer sind die?«
»Irgendeine Truppe aus Aveiro. So ganz habe ich es auch noch nicht verstanden. Studierende oder Naturschützer, irgendwie so etwas.«
»Und der Tote?«
»Der liegt hier«, antwortete João. Mit der Hand deutete er in eine Richtung, in der Ria jedoch nichts außer der Gruppe Menschen sehen konnte.
»Wir müssen sie hier wegschaffen«, sagte Ria leise zu João. Als hätten sie Ria gehört, drehten sich die ersten Köpfe in ihre Richtung. Noch bevor Ria sich die einzelnen Personen genauer anschauen konnte, blaffte sie eine Stimme an.
»Hey! Vorsicht, verdammt!«
Reflexartig blieben Ria und João stehen. Eine junge Frau löste sich aus der Gruppe und kam auf sie zu – ihr wütender Blick wanderte von Ria und João zu dem Boden vor ihren Füßen, den sie zu untersuchen schien, immer, bevor sie einen Schritt machte. Sie blieb vor ihnen stehen und zeigte energisch auf den Grund direkt vor Rias Füßen. Ein kleines, unscheinbares Nest lag dort, das von einem Vogel als Brutplatz gebaut worden war. Eier lagen jedoch nicht darin.
»Oh, desculpa«, entschuldigte sich Ria, »das habe ich nicht gesehen.«
»Natürlich nicht, so blind, wie ihr hier durchtrampelt. Also wirklich!«
Überrascht schaute Ria zu João, doch der zuckte nur ratlos mit den Schultern. Langsam dämmerte es Ria, dass er ihre Hilfe nicht aufgrund der Anzahl der Leute brauchte, sondern weil es sich anscheinend um ganz spezielle Charaktere handelte. Beschwichtigend hob Ria die Hände nach oben. »Okay, ich werde besser darauf achten.«
»Das will ich auch hoffen«, antwortete die Frau und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie machte nicht den Anschein, als würde sie Ria und João passieren lassen.
»Dennoch müssen wir weiter«, sagte Ria. Doch bevor sie auch nur einen Schritt gehen konnte, tauchte hinter der jungen Frau eine weitere Person aus der Gruppe auf. Es war ein Mann, etwa in Rias Alter. Sein leuchtend rotes lockiges Haar und seine helle, fast rosige Haut ließen ihn aus der Gruppe hervorstechen. Er hatte etwas Wikingerhaftes an sich, und der starke Akzent, mit dem er ein rudimentäres, aber verständliches Portugiesisch sprach, verortete ihn eindeutig auf die Britische Insel.
»Was ist hier los?«, fragte er mit derselben schroffen Energie wie seine junge Kollegin. Ria mochte ihn nicht.
»Es wird wieder mal gewissenlos durch die Dünen getrampelt«, schimpfte die Frau.
»Das geht so nicht«, der Mann hielt sich nicht lange mit Nettigkeiten auf. »Das hier ist ein unfassbar fragiles Ökosystem, ein fast einzigartiger Mikrokosmos, hochgradig gefährdet. Ihr könnt hier nicht einfach durchtrampeln, wie es euch gefällt!«
In seiner Erregung war er mitten im Satz vom Portugiesischen ins Englische gewechselt. Ria kannte das. Auch ihr passierte es häufiger, dass sich schwäbische Ausdrücke in ihre portugiesischen Erzählungen mischten, gerade, wenn sie aufgeregt war. Und dennoch, es reichte ihr langsam.
»Wir trampeln hier nicht durch«, sagte sie energisch, »wir sind auf dem Weg zu dem Fundort einer Leiche.«
»Da kann man doch trotzdem etwas aufpassen«, wetterte nun die junge Frau wieder.
Ungläubigkeit machte sich in Ria breit. Hatten diese Leute komplett den Bezug zur Realität verloren?
»Da vorn liegt ein Toter!« Sie brüllte fast.
»Und hier liegen Millionen Tote«, brüllte die Frau zurück und zeigte wieder auf den Boden zwischen ihnen. Das konnte doch nicht ihr Ernst sein.
Ria atmete einmal tief durch, um ihre Selbstbeherrschung wiederzuerlangen. »So, und jetzt zum Mitschreiben. Da vorn liegt eine Leiche, und während wir hier diskutieren, trampeln Ihre Freunde an meinem Fundort herum. Das ist auch ein fragiles Ökosystem und zudem eines, das wirklich unwiederbringlich ist. Also entweder lassen Sie jetzt diese unsägliche Diskussion sein und uns jetzt unseren Job machen …«
»Oder?«, fragte der Brite provozierend.
»Oder ich zeige Sie an, schließlich erfüllen Sie hier gerade den Tatbestand der Behinderung einer Ermittlung!«
»Das war ja klar«, feixte der Brite und schob sich vor seine Mitstreiterin. Dass er dabei nur wenige Zentimeter neben das Nest trat, bekam er gar nicht mit. Er reckte das Kinn nach vorn und fixierte Ria mit seinem Blick. Alles an ihm wirkte zum Angriff bereit. Das schien auch João bemerkt zu haben.
»Okay, Leute, jetzt atmen alle einmal tief durch. Wir versprechen, auf Nester und Ähnliches zu achten. Ich persönlich werde alle unterweisen, sich entsprechend zu verhalten. Aber wir müssen jetzt unsere Arbeit machen, immerhin ist ein Mensch gestorben – und das nicht freiwillig.«
Die letzten Worte ließen einen Hauch Bestürzung auf den Gesichtern der beiden Zeugen erkennen. Endlich, dachte Ria.
»Ich möchte, dass Sie mich auf die Stege begleiten. Wir brauchen noch Ihre Aussagen. Meine Kollegin wird sich so lange um die Fundstelle kümmern. Okay?«
Der Brite wollte offensichtlich etwas sagen, doch João schob einfach ein »Super, dann los« hinterher und bugsierte die beiden in Richtung der Holzstege und wies sie an, dort kurz auf den Rest zu warten.
»Ich hoffe, sie haben noch nicht allzu großes Chaos angerichtet«, schnaufte João, als er wieder zu Ria aufschloss. Bei dem sandigen Untergrund reichten schon wenige Schritte aus, um aus der Puste zu sein.
»Mh«, machte Ria. »Naturschützer also.« Das könnte ihnen eine Hilfe sein. Oder Steine in den Weg legen.
»Senhoras e Senhores«, lenkte João die Aufmerksamkeit der restlichen Gruppe, als Ria und er bei ihnen ankamen, »bitte folgen Sie mir jetzt. Ich bitte Sie auch, genau darauf zu achten, wo Sie hintreten.«
»Das wissen wir doch«, löste sich eine Stimme aus der Gruppe.
João nickte beschwichtigend. »Natürlich achten Sie auf Nester und Ähnliches. Ich jedoch spreche von Gegenständen, Fußspuren oder Vergleichbarem. Sollten Sie etwas sehen, weise ich Sie an, mir Bescheid zu geben und nicht daraufzutreten oder, sollte es sich um einen Gegenstand handeln, es nicht in die Hand zu nehmen. Das alles könnten Beweise in einem noch ungeklärten Todesfall sein. Das Thema ›Behinderung einer Ermittlung‹ hatten wir ja gerade erst. Dann wollen wir mal.«
Der kleine Trupp setzte sich langsam und ohne Gegenwehr in Bewegung, und João drehte sich noch mal zu Ria um. »Rufst du ihn an?«
Ria nickte. Sie wusste genau, was João meinte, obwohl sie diesen Anruf lieber nicht hätte tätigen müssen. Doch bevor sie zum Handy griff, wollte sie sich den Toten genauer ansehen.
Der Mann lag mit dem Gesicht voran im Sand.
»Immerhin wissen wir dieses Mal sicher, dass es sich um Mord handelt«, seufzte Ria und ging in die Hocke, um alles genauer betrachten zu können. Vor ihrem inneren Auge spannte sich eine weiße Fläche auf, auf die sie die Beobachtungen gedanklich pinnte.
Das hellblaue Hemd des Mannes war blutverschmiert, der Fleck zog sich fast über den gesamten Rücken. Am dunkelsten war der Stoff an der Stelle, an der Ria die durchtrennten Fasern erkennen konnte. Etwas hatte den Stoff zerrissen und dabei einen etwa zwei Zentimeter breiten Riss hinterlassen. Ria vermutete, dass es derselbe Gegenstand war, der sich gleich darauf in den Körper des Toten gebohrt hatte. Ein Messer vielleicht oder irgendein anderer spitzer Gegenstand, der nun aber nicht mehr zu sehen war. Genaueres konnte sie im Moment nicht erkennen, nicht, ohne den Toten zu berühren, und das würde sie lieber der Gerichtsmedizin überlassen.
»Mindestens um ein Tötungsdelikt«, murmelte sie und untersuchte mit ihrem Blick den Bereich um den Toten. Zu groß war ihre Sorge, dass noch mehr Spuren zerstört werden würden. Von hier aus konnte sie nichts im Sand oder Dünengras entdecken, das wie eine mögliche Tatwaffe aussah.
Auch aus der Position, in der er lag, konnte Ria nichts Eindeutiges herauslesen. Sie konnte weder unnatürlich verdrehte Gliedmaßen sehen, noch wirkte sein Kopf überstreckt. Es sah aus, als wäre er zusammengebrochen und in dieser Position liegen geblieben, fast so, als würde er schlafen. Auf seinem Hinterkopf erkannte sie zahlreiche Silbersträhnen, die sein Haar durchzogen, und auch, wenn sein Gesicht nicht zu erkennen war, schätzte sie ihn auf Mitte 40 oder älter. Seine Kleidung wirkte teuer. Sie konnte zwar nirgends das Logo einer Marke sehen, aber die hochwertigen Stoffe und deren Verarbeitung sprachen für sich. Ria sah, dass auf der Ledersohle seiner eleganten schwarzen Schuhe noch die Reste eines Emblems zu sehen waren. Sie vermutete, dass die Schuhe handgearbeitet, vielleicht sogar maßgeschneidert waren. Auch sie ließen darauf schließen, dass es sich um einen Mann handelte, der sich eine Karriere erarbeitet hatte, die mit einem gewissen Lebensstandard verbunden war. Ria sah eine Uhr unter dem linken Hemdärmel hervorblitzen. Mit ziemlicher Sicherheit also Rechtshänder.
Ria kam wieder aus der Hocke hoch und klopfte sich mit den Fäusten leicht gegen die Oberschenkel, um die eingeschlafenen Muskeln wieder aufzuwecken. Da sah sie es. Etwa einen Meter hinter dem Leichnam lag etwas Dunkelbraunes im Sand, halb verborgen von einer Pflanze. Sie zögerte. Vielleicht war es nur etwas Holz oder eine Wurzel. Vielleicht aber auch nicht. Sie ging im großen Bogen um den Leichnam auf die Stelle zu und zog ein Paar Latexhandschuhe aus der Hosentasche. Die hatte sie immer dabei, in Torreira bisher aber noch nie gebraucht. Sie bückte sich und schob das Blatt der Pflanze ein Stück beiseite. Ein Portemonnaie lag dort im Sand. Ohne es aufzuheben, klappte sie es auf. Ein Münzfach rechts, mehrere Karten in den dafür vorgesehenen Schlitzen links und ganz vorn ein Sichtfach, in dem die Cartão de Cidadão steckte, die portugiesische Entsprechung eines Personalausweises. Das Gesicht konnte Ria schlecht vergleichen, aber Roque Loureiro, dem dieses Portemonnaie gehörte, war 1,79 Meter groß. Ria blickte zur Leiche. Das konnte hinkommen. Zudem war Roque Loureiro 57 Jahre alt, und in diesem Alter hatten Männer recht häufig grau meliertes Haar. Sie klappte das Portemonnaie wieder zu und hoffte, dass die Spurensicherung ihr ihre Neugierde verzeihen würde. Es wurde Zeit für den Anruf.
Ria zog ihr Handy aus der hinteren Hosentasche und suchte in ihren Kontakten nach der Nummer. Es klingelte ein paarmal, bevor das Gespräch angenommen wurde.
»To?«, brummte Baptista ins Telefon.
Ihre anfängliche Aufregung war augenblicklich verflogen, ganz offensichtlich war alles beim Alten bei Comissário Joaquim Vitor Baptista, den Ria bei ihrem unfreiwilligen ersten Fall in Torreira vergangenen September kennengelernt hatte. Es war um den Tod einer jungen Frau gegangen, der auf den ersten Blick wie ein Unfall ausgesehen hatte, ausgelöst durch eine allergische Reaktion. Doch die Schwester der Toten hatte als Anwältin in Porto gearbeitet und war überzeugt davon gewesen, dass ihre Schwester keines natürlichen Todes gestorben war. Sie hatte den armen João so sehr unter Druck gesetzt, dass dieser Ria um ihre Hilfe gebeten hatte. Und so war Ria irgendwie in diese Ermittlung gerutscht.
Joaquim Vitor Baptista war der Comissário, den die Polícia Judiciária geschickt hatte, um in dem Fall zu ermitteln. Aus einem unglücklichen Missverständnis heraus hatte Baptista angenommen, dass João und Ria ein Team wären, und die beiden hatten den Moment verpasst, ihm die Wahrheit über Rias Mitarbeit an dem Fall zu sagen. Als Baptista das rausgefunden hatte, war er zu Recht erbost gewesen. Wenngleich er und Ria sich immer besser verstanden hatten, je länger die Ermittlungen angedauert hatten. Seit sie den Fall gelöst hatten, hatten sie nichts mehr voneinander gehört. Ria hatte ein paarmal überlegt, ob sie sich bei Baptista melden sollte, seit sie wieder in Torreira war, sich am Ende aber doch immer dagegen entschieden. Wieso, wusste sie auch nicht so genau.
»Bom dia, Baptista, hier ist Ria Almeida«, begann Ria das Gespräch, wurde jedoch jäh unterbrochen.
»Was wollen Sie?«, bellte der Hauptkommissar aus Aveiro. Während der Ermittlungen im vergangenen Herbst hatten sie sich kurzzeitig geduzt und eigentlich im Guten verabschiedet. Doch davon schien nichts mehr übrig geblieben zu sein.
»Ich habe einen Toten hier, und dieses Mal lässt sich gleich sagen, dass ein Strafbestand vorliegt«, antwortete sie gelassen. Dass sie gar nicht erst auf Baptistas Launen reagieren durfte, hatte sie bei ihrem ersten Aufeinandertreffen schon gelernt.
»Rufen Sie wen anders an, ich habe keine Zeit!« Er klang abwesend, so als hätte er Rias Worte gerade nur aufgenommen, aber die Information gar nicht verarbeitet.
»Baptista«, wiederholte Ria energischer. »Hier liegt ein Toter, vermutlich eine Stichwunde im Rücken. Ich brauche Sie hier.«
»Und wissen Sie, was ich brauche? Dass dieser verfluchte Richter endlich auftaucht. Immerhin endet heute das richterliche Untersuchungsverfahren, und ich will diesen van der Steen endlich für immer hinter Gittern wissen!«
Ria erinnerte sich. Während der Ermittlungen vor ein paar Monaten steckte Baptista noch mitten in einem anderen Fall: Es war um Ermittlungen im Bereich der organisierten Kriminalität gegangen, hauptsächlich Drogenhandel. Die Kollegen in Aveiro hatten eine riesige Razzia angesetzt und damit ausreichend Beweise zusammenbringen können, sodass die Staatsanwaltschaft ein Verfahren gegen den Mann hinter all dem, Thijs van der Steen, eingeleitet hatte. Bevor es aber in die Hauptverhandlung ging, wollte der Richter in besagtem richterlichen Untersuchungsverfahren den Fall und seine Verhandlungstauglichkeit prüfen. Ria hatte erst vor wenigen Tagen darüber in der Zeitung gelesen.
»Wenn Ihr Richter sich ohnehin verspätet, können Sie in der Zwischenzeit ja hierherkommen. Wir brauchen Sie hier, wir können ohne Sie nicht weitermachen.«
»Almeida, ich warte seit Jahren auf diesen Moment. Glauben Sie wirklich, ich verpasse das jetzt, um nach Torreira zu kommen, nur weil Richter Loureiro im Stau steckt und vermutlich gleich um die Ecke biegen wird?«
Ria rutschte bei dem Namen das Herz in die Hose.
»Wie heißt Ihr vermisster Richter?«, fragte Ria, um sicherzugehen.
»Loureiro«, antwortete Baptista. »Roque Loureiro.«
»Baptista, Ihr Richter wird heute nicht mehr in Aveiro auftauchen.«
»Ach, und woher wollen Sie das wissen?«, bellte er durch die Leitung.
»Weil er hier tot zu meinen Füßen liegt.«
»Ich bin in einer Dreiviertelstunde da.«
Was man eigentlich sagen möchte: Es ist schön, dich wiederzusehen.
Montag, 11:37 Uhr Ria
Während Ria den Toten genauer betrachtet hatte, hatte João die Naturschützer über die Stege in den Dünen zum Strand hinuntergebracht. Einige Meter weiter gab es dort ein kleines Strandcafé. Er hatte sie aufgefordert, dort zu warten, war dann zu seinem Auto gegangen, um Absperrband zu holen, und anschließend zu Ria zurückgekehrt. Gemeinsam hatten sie den Fundort großräumig abgesperrt. Die losen Enden des schwarz-gelben Bandes verliehen der Szenerie eine zusätzliche Dramatik. João wartete nun an der Straße vorn auf den Comissário, und Ria fragte sich, wie lange Baptista wohl noch brauchen würde, als sie endlich ein Stimmengewirr hörte, das vom Wind zu ihr getragen wurde. Sie ging die wenigen Meter zum Steg. Einen Augenblick später tauchten João und Baptista dort oben auf, begleitet wurden sie von zwei weiteren Personen, die Ria auf die Distanz nicht erkennen konnte.
Baptista sprang in die Dünen und nickte ihr flüchtig zu, machte aber keinerlei Anstalten, stehen zu bleiben. Stattdessen schritt er Richtung Fundort und duckte sich unter dem Absperrband hindurch. Eine solche Begrüßung nach über sechs Monaten, in denen sie sich nicht gesehen hatten, überraschte sie kaum. Dass Umgangsformen noch nie seins gewesen waren, wusste sie nur zu gut.
João sprang vom Steg und hielt den beiden Frauen, die hinter ihm waren, seine Hand hin. Die Erste der beiden ergriff sie und ließ sich elegant vom Steg in den Dünensand gleiten.
»Ria, du erinnerst dich sicher noch an Doutora Barros, die Gerichtsmedizinerin aus Aveiro«, stellte João Amaya Barros vor. Natürlich erinnerte sich Ria noch, die Gerichtsmedizinerin hatte sie im Herbst bei ihrem ersten Fall kennengelernt. Ria schätzte sie auf Anfang 50 und bewunderte sie jedes Mal für ihre natürliche Eleganz. So wippten die langen dunkelbraunen Haare immer in sanften Wellen, und ihre Finger waren stets manikürt. Kleine Perlen zierten ihre Ohrläppchen, und sie trug ein dezentes, aber stimmiges Make-up. Doutora Barros lächelte Ria an, und die Frauen schüttelten sich zur Begrüßung die Hand.
»Haben wir es jetzt mal?«, hörte Ria da die Stimme einer weiteren Frau vom Steg poltern. Auch João drehte sich erschrocken um und hob entschuldigend die Hände. Die Frau drückte ihm ihren kompakten Rollkoffer in die Hand. Dann duckte sie sich ebenfalls unter dem Geländer hindurch, hielt die Kamera fest, die sie um den Hals trug, und sprang beherzt in die Dünen. Ria hoffte, dass ihre Knie der Belastung standhielten, denn die Frau war mit Abstand die Älteste in ihrer Runde.
»Und diese nette Dame ist Donna Maria …«, begann João, doch die Donna unterbrach ihn direkt.
»Ach menino, lass mal, das schaff ich schon allein«, sagte Donna Maria, packte Ria an den Armen und musterte sie von oben bis unten. Die Krempe des großen Sonnenhuts, den sie trug, wippte bei der Bewegung. Bei jeder anderen Person wäre Ria das wohl unangenehm gewesen, doch sie hatte die Forensikerin aus Aveiro ebenfalls im Herbst kennengelernt und sie mit ihrer unangepassten, aber sehr ehrlichen und authentischen Art direkt ins Herz geschlossen.
»Endlich schaust du mal nach was aus, Kindchen. Nicht mehr so blass und leer wie beim letzten Mal«, lautete das Urteil der Forensikerin, das so schonungslos war, wie Ria es erwartet hatte. Dennoch hielt sie die Donna für eine beeindruckende Frau, mit 70 Jahren und ihren 1,55 Metern war sie die unangefochtene Herrscherin – in ihrem Labor, im gesamten Revier und nun auch bei diesem Fall. Ria hatte nichts dagegen einzuwenden. In ihrem früheren Leben war Donna Maria Gattin eines Privatiers in Porto gewesen und hatte ein Leben zwischen Luxus und Benefizgalas geführt. Nach dem Tod ihres Mannes, da war sie gerade einmal 40 Jahre alt gewesen, hatte sie Forensik studiert und war einige Jahre später fertig ausgebildet nach Aveiro gekommen. Seitdem war das Labor in der obersten Etage des Kommissariats ihr Revier. Ob sie nach wie vor Teil der gehobenen Gesellschaft war, wusste Ria nicht. Die Donna lebte ihre schrille Extravaganz nicht nur durch ihren unbeugbaren Charakter aus, sondern auch durch bunt gefärbte Haare und Nagellack in knalligen Farben.
»Muss an der guten Luft liegen«, antwortete Ria und fügte hinzu: »Es ist schön, Sie zu sehen, Donna Maria.«
Donna Maria tätschelte ihr den Oberarm.
»Was haben wir?«, fragte Doutora Barros und beendete damit das nette Geplänkel. Doch bevor Ria ihr eine Auskunft geben konnte, unterbrach ein lautes »Fuck!« ihr Gespräch. Erschrocken blickten alle vier in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Aufgrund der hügeligen Dünen konnten sie von hier aus nur Baptistas Kopf sehen. Ria sprintete als Erste los, bis sie das Absperrband erreicht hatte.
Sie fand Baptista, der neben der Leiche stand, die Hände in die Hüften gestemmt, aufs Meer blickend.
»Was ist los?«, fragte sie.
Nun waren auch die anderen zu ihnen aufgeschlossen.
»Er ist es«, sagte Baptista mit zusammengepressten Zähnen.
»Wie können Sie sich so sicher sein? Sein Gesicht liegt im Sand«, antwortete Ria.
»Joaquim, du hast doch nicht …?«, fragte die Doutora drohend.
Er blitzte sie an. »Ich musste es einfach wissen!«
»Estúpido!« Die Gerichtsmedizinerin versuchte nicht einmal, so leise zu sprechen, dass Baptista sie nicht hörte.
Auch Donna Maria schaute Baptista tadelnd an. »Du weißt es eigentlich besser«, sagte sie nur, ehe sie sich zu ihrem Rollkoffer beugte, den João neben ihr abgestellt hatte, und die Schnallen aufschnappen ließ.
»Joaquim, ich weiß, dass du ihn kriegen willst. Aber doch nicht, indem du auf meiner Leiche herumtatschst, auch noch ohne Handschuhe, mir meinen Fundort kontaminierst und womöglich wichtige Spuren zerstörst!« Doutora Barros hatte sich vor ihm aufgebaut.
»Ja, weiß ich«, fuhr Baptista sie an. Er drehte sich weg, schlüpfte unter dem Absperrband hindurch und ging ein paar Schritte. Ria beobachtete, wie er sich die Haare raufte. Niemals hätte sie geglaubt, dass Baptista sich einmal nicht ans Protokoll halten würde. Dass dieser Impuls stärker gewesen war als die penible Genauigkeit, die den Comissário ansonsten so auszeichnete. Doch das zeigte nur, wie verbissen er bei diesem Fall war.
Hastig löste Ria ihren Blick von Baptista, bevor diesem – oder einer der anderen Anwesenden – auffallen konnte, dass sie ihn anstarrte. Hinter Baptista bemerkte sie eine Person auf dem Steg, über den sie alle gekommen waren. Sie war zu weit weg, um sie genauer zu erkennen – kaum mehr als ein dunkler Schemen, der dort regungslos stand und in ihre Richtung zu blicken schien. Sie hoffte, dass es sich bei der Person um einen gewöhnlichen Spaziergänger handelte, und dennoch ziepte es kurz in Rias Bauch. Sie schirmte mit der Hand ihre Augen gegen die Sonne ab in der Hoffnung, etwas besser zu sehen. Auch wenn für den Spaziergänger die Sonne günstiger stand, vermutete Ria, dass er nicht viel von dem Geschehen hier mitbekommen konnte, immerhin lag der Fundort der Leiche hinter einem Hügel. Womöglich würde er aber die flatternden Enden des Absperrbandes oder einen ihrer Köpfe entdecken und davon angelockt werden. Sie kniff die Augen zusammen, um vielleicht doch noch das ein oder andere Detail erkennen zu können, doch da ging der Spaziergänger auch schon weiter. Ria blickte ihm noch einen Moment hinterher, als sie das Klicken einer Kamera vernahm. Sie drehte sich wieder um und sah Donna Maria, die Fotos von dem Toten in seiner ursprünglichen Position machte.
Dann holte sie eine Plane aus dem Koffer und legte diese neben dem Körper aus. Doutora Barros kam ihr zu Hilfe, packte den Mann an den Schultern, während Donna Maria nach seiner Hüfte griff. Auf ein Zeichen der Donna drehten sie den Leichnam um. Jetzt konnte auch Ria sein Gesicht sehen. Und obwohl der Tod einen Menschen veränderte, erkannte Ria den Mann auf dem Ausweis wieder.
Ria bemerkte Baptista, der sich wieder neben sie gestellt hatte. Er schob sein Handy in die Hosentasche. »Ich habe eben mit Senhora Correia telefoniert, Loureiros Sekretärin. In Aveiro warten alle noch auf das Erscheinen des Richters, sie kümmert sich darum.« Er fuhr sich mit der Hand über sein Gesicht, dann schaute er auf den toten Körper vor ihm. »Ich will wissen, was hier passiert ist. Ich muss nicht wissen, wer das war, das weiß ich ganz genau. Ich will wissen, wann und wie und welche Beweise wir haben.«
Er brüllte zwar nicht, doch seine Wut war nicht zu übersehen.
»Wer war es denn?«, fragte Ria.
»Thijs van der Steen«, knurrte Baptista, und Ria erinnerte sich, dass er diesen Namen vorhin schon einmal erwähnt hatte.
»Gegen ihn war die Razzia vergangenen Herbst angesetzt?«, fragte sie, und Baptista nickte.
»Seit Jahren sind wir ihnen auf den Fersen, aber noch nie hat es für eine Verurteilung gereicht. Hier und da haben wir mal einen seiner Dealer erwischt, aber an ihn sind wir nie rangekommen. Bis jetzt. Dieses Mal hatten wir genug beisammen, es wäre auf jeden Fall zu einer Verurteilung gekommen, da sind die Staatsanwaltschaft und ich uns ganz sicher. Und dann liegt der Richter tot in der Pampa.«
Diese Vermutung lag nahe, schloss für Ria aber keine weiteren Möglichkeiten und Motive aus. Der Richter hätte Opfer eines dummen Zufalls gewesen sein können, zur falschen Zeit am falschen Ort. Es könnte sich genauso gut um einen Mord aus Liebe, Hass oder Gier handeln, zum jetzigen Zeitpunkt hatten sie keine Hinweise, die gezielt in eine dieser Richtungen deuteten. Doch diese Optionen behielt Ria geflissentlich für sich. Zumindest in diesem Moment.
»Sitzt er wegen des aktuellen Verfahrens nicht gerade in Untersuchungshaft?«, fragte sie stattdessen.
Baptista funkelte sie zornig an, als sei sie ihm mit ihrer Frage in den Rücken gefallen. »Wir wissen alle, dass das niemanden davon abhält, einen Mord in Auftrag zu geben.«
Theoretisch mochte er recht haben, aber das hier war nicht der Wilde Westen. Das hier war Torreira, ein kleines Fleckchen Erde auf einer Landzunge im Norden eines kleinen Landes namens Portugal. Die Chance, hier einem Auftragskiller zu begegnen, war dann doch sehr gering.
Donna Maria tätschelte Baptista fast fürsorglich den Arm und blickte ihm fest in die Augen. »Wir kriegen ihn.«
Dann zog Donna Maria ihre Handschuhe ab. Ria sah, dass ihre Nägel in einem grellen Türkis lackiert waren. Dass eine siebzigjährige Forensikerin knallbunten Nagellack trug, war vielleicht ungewöhnlich. Doch nicht so ungewöhnlich wie der Umstand, der Ria gerade erst bewusst wurde. »Donna, was machen Sie eigentlich hier?«
Eine Forensikerin am Tatort, das sah man selten.
»Glauben Sie mir, mir gefällt das auch nicht, hier am Tag in der Natur unterwegs zu sein. Ich bin ein Geschöpf der Nacht«, sagte sie theatralisch und spielte damit vermutlich auf ihre Zeit als Grande Dame von Porto an.
»Ich habe sie gebeten mitzukommen. Die Spurensicherung braucht länger, und ich konnte unter keinen Umständen warten«, schaltete sich Baptista ein. Dann musterte er Ria. »Die Frage kann ich direkt an Sie zurückgeben. Was machen Sie hier?«
»Ich habe Sie so vermisst«, antwortete Ria schneller, als ihr lieb war. Woher diese Antwort kam, wusste sie nicht. Dafür aber, dass ihre Wangen gerade leicht erröteten. Sie hoffte, dass es niemandem auffiel.
Die Donna lachte leise auf. »Na, das glaube ich sofort, Herzchen.«
Ria grinste, einerseits, weil es ihr peinlich war, dass Donna Maria recht hatte: Sie hatte die Zusammenarbeit mit Baptista vermisst. Andererseits, weil sie sich die Frage vor sechs Monaten in Stuttgart genauso selbst gestellt hatte. Eine Antwort hatte sie damals nicht. Ihre Eltern kamen dort bestens ohne sie zurecht, an ihrem Job hatte sie auch nicht gehangen. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihr aus, als ihr klar wurde, dass sie heute genau wusste, was sie in Torreira machte.
»Das hat alles seine Richtigkeit«, schaltete sich João ein. »Ria hat den Posten meiner Frau übernommen, und bevor daran irgendwelche Zweifel aufkommen: Dank der europäischen Rechtsprechung ist das kein Problem. Sie hat inzwischen sogar einen Dienstausweis, ist zum Führen einer Schusswaffe berechtigt und volles Mitglied unseres Reviers.«
Ein Zusatz, der allein für Baptista bestimmt war, da war sich Ria sicher. Dieser schaute von ihr zu João und wieder zurück. »Wieso tragen Sie dann keine Uniform?«
In gewisser Weise tat sie das ja, sie trug ihre Uniform: Jeans und ein weißes Shirt.
Wieder war es João, der als Erster antwortete. »Weil Ria eigentlich hauptsächlich als Bürokraft fungiert. Dass sie heute mit rausmusste, ist eine Ausnahme und nur dem Umstand geschuldet, dass es hier vorhin von Menschen nur so wimmelte.«
Mit fragendem Blick forderte Baptista João auf weiterzusprechen.