Suffix of Death - Jill H. Heinrichs - E-Book

Suffix of Death E-Book

Jill H. Heinrichs

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Beschreibung

Nach dem tragischen Tod ihres besten Freundes Mycroft hat Tamara >Prefix of Death< abgeschworen. Doch der Besuch ihrer ehemaligen Rivalin, Amanda Raskopi, ändert einiges in ihrem Vorhaben, nie wieder ihr heißgeliebtes Computerzimmer zu betreten. Amanda will mit einem Frauenteam die Männerdomäne e-Gaming aufmischen. Der neue Spielmodus >Suffix of Death< kommt für dieses Vorhaben wie gerufen. Tamara willigt schließlich ein und begibt sich so in ein Verwirrspiel aus Absprachen und Intrigen unter der oberflächlich glitzernden Gamingwelt. Ist Amanda an ihren Fähigkeiten interessiert oder ist Tamara bloß Mittel zum Zweck? Mit dem Auftauchen von James Farck und weiteren alten Bekannten droht die Situation endgültig zu eskalieren.

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HYBRID VERLAG

Vollständige elektronische Ausgabe

10/2020

 

 

© by Jill H. Heinrichs

© by Hybrid Verlag

Westring 1

66424 Homburg

 

Umschlaggestaltung: © 2020 by Hygin Graphix

Lektorat: Paul Lung

Korrektorat: Petra Schütze

Buchsatz: Paul Lung

Autorenfoto: Olga Molleker Photography

 

Coverbild ›Operation Gay Bomb‹

© 2019 by Hygin Graphix

Coverbild ›Limes‹

© 2020 by Creativ Work Design, Homburg

Coverbilder ›X-Romane‹

© by tab visuelle kommunikation, Stuttgart,

& Creativ Work Design, Homburg

 

 

ISBN 978-3-96741-065-5

 

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

 

 

 

Jill H. Heinrichs

 

Suffix of Death

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

 

Wenn du etwas wagst, wächst dein Mut.

Wenn du zögerst, wächst deine Angst.

 

Mahatma Gandhi

Vorwort

Prolog

Sieben Jahre zuvor

Teil eins

1

Sechs Jahre zuvor

2

Drei Jahre zuvor

3

Zwei Jahre zuvor

4

Sieben Monate zuvor

5

Sieben Monate zuvor

6

Sechs Monate zuvor

7

Sechs Monate zuvor

8

Fünf Monate zuvor

9

Fünf Monate zuvor

10

Fünf Monate zuvor

11

Drei Monate zuvor

12

Zwei Monate zuvor

Teil zwei

13

Ein Monat zuvor

14

Neun Tage zuvor

15

Sechs Tage zuvor

16

Fünf Tage zuvor

17

Vier Tage zuvor

18

Drei Tage zuvor

19

Drei Tage zuvor

20

Ein Tag zuvor

21

Drei Stunden zuvor

22

Dreißig Minuten zuvor

23

24

25

Noobikon

Nachwort & Danksagung

Jill H. Heinrichs

Hybrid Verlag …

 

 

 

Vorwort

 

 

›Suffix of Death‹ ist die erste offizielle Erweiterung von dem Spiel ›Prefix of Death‹. In dem neuen Spielmodus muss man zu fünft eine Spielkarte von der Dunkelheit befreien. Dazu ist man gezwungen, gemeinschaftlich NPC’s zu töten, lichtspendende Türme zu aktivieren und zum Ende hin eine gewaltige Bestie zu besiegen. Schlussendlich verlässt man dadurch die Partie als Sieger.

Prolog

 

»Nun lasset uns beten, für all diejenigen, die uns die Zeit genommen hat. Für die, die nun mit diesem Schaf zusammen eine Herde im Himmel bilden dürfen. Mycroft McLanchester war ein guter Sohn, ein liebevoller Bruder und treuer Freund.«

Die Rede des Pfarrers rauscht an mir vorbei wie ein Schnellzug, der ohne Halt durch den Bahnhof rast. Die Hände habe ich vor meinem Körper gefaltet, den Blick unentwegt zu Boden gerichtet. Die Erde ist matschig, zertreten und klebrig. In der feuchten Masse — kurz vor dem Abgrund zum Grabloch — meine ich, für einen Augenblick Samuels gehässiges Grinsen zu sehen. Wie gut, dass er zwischen den Lebenden nie wieder sein Unwesen treiben kann. Bisher habe ich nicht gewagt, mir einen Bericht über die verhängnisvolle Nacht anzusehen. Geschweige denn, einen Zeitungsartikel darüber zu lesen oder mit meinen Eltern über die Auswirkungen zu sprechen. Zwar wurde ich von der Polizei verhört, doch die Beamten haben schnell gemerkt, dass man in meinem Zustand kein ordentliches Gespräch führen kann. Bloß eine Frage habe ich in dieser Nacht mit vollem Herzblut beantwortet: die angeforderte Stellungnahme zu der Ermordung von Samuel Theis.

Ohne Zweifel: Notwehr. Ich hatte es dem Polizisten mir gegenüber direkt ins Gesicht gebrüllt. Er sollte nicht denken, dass James in dieser Tragödie der kaltblütige Killer war. Ob mein Wort wirklich etwas genützt hat und James nicht im Gefängnis gelandet ist, wer weiß. Ganz bestimmt möchte ich in diesem Moment nicht an ihn denken. Eigentlich will ich das nie mehr. Jeder Gedanke an James kommt mir nämlich vor wie der bittere Verrat an Myc.

Meine Augen sind trocken. Ebenso wie meine Haut, die sich um meine Nasenspitze herum beginnt abzulösen.

Es ist komisch: Auch, wenn ich nachts vor Verzweiflung kaum atmen kann und stets von Schuldgefühlen übermannt werde, in der Gesellschaft anderer schaffe ich es nicht, meine Emotionen preiszugeben. Wenn mich jemand in ein Gespräch verwickeln will, blocke ich ab. Als ob Samuel nicht nur Myc, sondern auch mein Selbstbewusstsein getötet hätte. Ein seelischer Ballast drückt unentwegt auf meine Brust. Die Ermordung von Myc ist wie ein dunkles Mysterium, wie eine Sage, ein schweres Geheimnis, das ich nur mit einem einzigen anderen Menschen teile.

»Nur mit einem?«

»Clark! Verzieh dich!« Meine gezischten Worte gehen glücklicherweise in der kräftigen Stimme des Pfarrers unter. Mit einer schnellen Handbewegung schaffe ich es, dass Clark keinen Moment später verschwunden ist. Er kommt und geht, wie es ihm passt. Wieder drohen meine Gedanken zu James zu huschen, doch ich unterbinde dies mit einem Blick zum Grabloch.

Zwei schwarzgekleidete Männer lassen die dunkelbraun schimmernde Urne in den Boden. Die Gesellschaft schaut andächtig zu. Bloß wimmernde Töne durchbrechen die Stille. »Es war unsere Pflicht, ihn zu beschützen und wir haben versagt.« Die jammernden Worte von Mycs Mutter nähren mein Unwohlsein wie Benzin eine offene Flamme.Die Urne ist derweil im Erdboden versunken. Das Schluchzen von Mycs Mutter bahnt sich zu einem leisen Schrei an. Sie erstickt ihn mit einem dicht an ihre Lippen gepressten Taschentuch. Aus meinen Augenwinkeln beobachte ich sie weiter. Erst reibt sie sich mit dem bereits zerfetzten Taschentuch über die Wangen, dann suchen ihre von Leere gezeichneten Pupillen mich. Sie starrt zu mir. Ihre Augen wirken so traurig wie die von Myc in seinem letzten Lebensmoment. Mir war nicht bewusst, wie ähnlich sie sich sehen. Schnell richte ich meine Aufmerksamkeitauf die schwarzen Sneakers von Bill. Trotzdem spüre ich den Blick immer noch auf mir liegen.

»Sie vermutet sicherlich schon, dass es an dem Abend von Mycs Tod um dich ging, Tamara.« Clark steht wieder neben mir und wispert in mein Ohr.

»Das denke ich auch«, flüstere ich und sehe mich verstohlen um.

»Oh, die halten dich sowieso schon für verrückt.« Clark lacht. »Denkst du, es macht einen Unterschied, wenn sie dich mit mir reden hören?« Er nickt mit dem Kopf zu Mycs Mum und richtet seine Brille. »Sie macht dich hierfür sicherlich sogar verantwortlich.«

Ich nicke. Zweifelsohne: Mein naiver Plan hat Myc zum Tode verurteilt.

Mycs Mum schluchzt lauter, als ich zu ihr aufschaue. Sie starrt mich immer noch an und der Vorwurf liegt schwer in ihren wässrigen Augen. Mein Atem geht mit einem Mal tief. Mit der Luft strömt ein kurzer Anflug an Selbstsicherheit in meinen Körper und ich bin bereit, ihr direkt gegenüber zu treten. Warum ausgerechnet jetzt? Keine Ahnung.

»Ja!«, brülle ich und bin persönlich überrascht von meiner Lautstärke. »Ja, ich war es. Ich habe Myc auf dem Gewissen.« Die ganze Gesellschaft wendet sich zu mir. Mycs Mutter hält sich vor Entsetzen das poröse Taschentuch wieder vor ihren Mund. Sie verschluckt sich und beginnt zu husten.

»Tut nicht so, als seid ihr alle überrascht! Ich war es. Myc ist meinetwegen zu diesem verdammten Haus gefahren.«

»Tamara«, zischt Dad von rechts.

Von links rempelt mich Mum dezent mit dem Ellenbogen an. »Beruhige dich.« Sie raunt es nur, dennoch höre ich den entgeisterten Unterton.

Meine Schwester packt meine Schultern und führt mich von Mycs Grab und den schockierten Menschen herum weg. Mum beobachtet unterdessen jeden unserer Schritte wie ein aufmerksamer Wachhund. Ihr Knigge hindert sie daran, uns zu folgen. Am liebsten würde sie ihren Wintermantel ausbreiten, um mich werfen und mich nie wieder unter ihm hervorkommen lassen. Sie ist mir ständig näher als mir lieb ist, verfolgt mich zeitweilen sogar zur Toilette. Es ist eine Mischung aus elterlicher Überfürsorge und schlechtem Gewissen.

»Tamara!« Clark steht mit aufgerissenen Augen mir gegenüber.

Als Erwiderung auf seinen erneuten Spontanauftritt verenge ich wütend meine Augen.

Er verschwindet nicht, streckt seine Hand aus und deutet mit seinem Zeigefinger hinter mich. Ich folge dem Wink mit meinem Blick und bereue es sofort. Das muss eine Illusion sein! James steht ein gutes Stück von der Menschenansammlung entfernt hinter einem fremden Grabstein. Er hat seine Hände in einem langen Filzmantel vergraben und schaut zu mir und meiner Schwester. Schreiend zucke ich zurück. Meine Schwester steht mit dem Rücken zu meinem Geistesstreich. »Atme einmal durch!«, befiehlt sie mit einer strengen Miene. Ich tue, was sie sagt und ziehe viel zu viel der kalten Winterluft in meine Lungenflügel. Mein Brustkorb brennt. Die Augen presse ich fest aufeinander. Als ich sie wieder aufschlage, ist James Jethro Farck verschwunden.

Meine Schwester rüttelt mich. »Du bist nicht schuld«, sagt sie. Auf eine komische, beinah verwirrende Art und Weise erinnert sie mich an mich. Genauso stand ich damals vor James. Und habe ihm mit derselben Überzeugung versucht zu versichern, dass er keine Schuld an den Machenschaften rund um meine Entführung trägt.

»Du weißt nichts«, flüstere ich und reiße mich von dem lockeren Griff meiner Schwester los. Sie macht keine Anstalten, erneut nach mir zu greifen. Ihre rosafarbenen Lippen spitzen sich und ihre Nasenflügel bäumen sich auf. Ein humorloses Lächeln huscht über ihr Gesicht.

Zielstrebig gehe ich zu dem Friedhofseingang und lasse sie einfach stehen. Sie folgt mir nicht, versucht, sich ein genervtes Geräusch zu verkneifen. Natürlich kriegt sie es nicht hin. Am Friedhofseingang bleibe ich stehen und sehe zurück. Meine Schwester gesellt sich wieder zu der tristen Ansammlung an Trauergästen.

Mum wirft ihr einen strafenden Blick zu. Dann versichert sie sich, dass ich am Eingang bleibe und mich nicht aus dem Staub mache. Kopfschüttelnd wende ich mich von ihr ab, als wolle ich damit ein unsichtbares Band zwischen uns lösen. Wohin sollte ich schon fliehen, außer in eine Welt der dunklen Träume? Ich lehne mich an das stählerne Eingangstor und höre dem Quietschen zu, das das rostige Material im Wind erzeugt. Ganz langsam gibt es unter meinem Gewicht nach und öffnet sich nach hinten. Das Quietschen ist leise wie der gequälte Schrei nach Hilfe durch ein Daunenkissen hindurch. Seit wann bin ich bloß so theatralisch? Ich schließe die Augen. Eine dumme Idee, denn in Sekundenschnelle eilen meine Gedanken zu der Nacht in Damians und Samuels Haus zurück. Ich höre die Kugel aus dem Lauf von James’ Pistole hechten. Auf der gegenüberliegenden Seite bricht der selbstgefällig grinsende Samuel zusammen.

Nachdem James Samuel erschossen hat, geht alles ganz schnell. Die Polizei trifft wenige Augenblicke später ein. Ein Notfallwagen kündigt sich mit heulenden Sirenen an und nimmt Mycs leblosen Körper mit sich.

Kauernd liege ich derweil auf dem Boden des Wohnzimmers und flehe weiterhin, dass Myc aufwacht. Vor mir erinnert nichts mehr als ein Abdruck auf dem Teppich an seine Existenz. Wieder und wieder reibe ich über den Rotweinfleck, als könne ich so die Vergiftung ungeschehen machen. James packt mich, als ich nicht aufstehen will. Dann bringt er mich zu den umherschwirrenden Psychologen, Beamten und Familienmitgliedern nach draußen. Er sagt kein Wort. Das letzte, was er mir widmet, bevor die Polizei ihn verhaftet, ist bloß ein Blick. Ein mitleidiger Blick von oben herab. Sein blaues Stück Regenbogenhaut verdrängt für den Bruchteil einer Sekunde den braunen Fetzen und hypnotisiert mich mit dem eisigen Ton eines Blizzards. Dann ist James in einem Streifenwagen verschwunden und hinterlässt mich bei Mum und Dad, die mir eine isolierende Decke um die Schultern werfen.

Die endgültige Nachricht über Mycs Tod bekomme ich auf den Punkt genau zwei Stunden später übermittelt. Dieser grauenvolle Abend liegt knapp einen Monat zurück.

Die Vibration meines Mobiltelefons rettet mich aus diesen Gedanken. Ich ziehe es aus meiner Jackentasche und spähe auf das Display. >Yoshi Aburame< steht in dicken weißen Buchstaben darauf und eine Fotografie von dem HothP-Mitglied ziert den Bildschirm dahinter. Es ist ein Schnappschuss, den ich auf dem Weihnachtsmarkt aufgenommen habe. Ein tiefes Seufzen entfährt mir, als ich den schelmisch lachenden Yoshi betrachte. Mit einer flinken Daumenbewegung drücke ich seinen Anruf weg. Er dürfte sich bereits daran gewöhnt haben.

»Warum machst du das?«, klingt es von der Seite. Erschrocken schaue ich mich um.»Clark? Bitte. Verschwinde einfach!«

»Warum soll ich immer verschwinden? Damit du glaubst, du seist nicht verrückt?«

»Nein, damit ich weiß, dass ich es nicht bin!«

»Ich versuche nur, dir zu helfen.«

»Deine Hilfe brauch ich nicht! Du schmierst mir nur aufs Butterbrot, was ich ohnehin schon weiß!«

»War ich es nicht, der dich gewarnt hat, zu Samuel zu gehen? Der dich vor dem ganzen Schlamassel retten wollte?«

Mit einem tiefen Atemzug verberge ich mein Gesicht zwischen meinen Handflächen und drücke mir die Finger auf die Augen, bis es schmerzt. »Verschwinde!«

»Ich bin immer noch hier«, spottet Clark.

Ich drücke fester zu, sodass ich meine Augäpfel klar unter meinen Fingerkuppen spüren kann. Dann: BUMM! Ein Gehirnfrost setzt ein. In Slow-Motion ziehe ich meine Finger auseinander und luge durch ihre Spalten hindurch. Clark hat die Hand gehoben und schaut mich mit aufgerissenen Augen an. Hinter ihm fallen die ersten Schneeflocken des Tages und wollen den Boden für sich einnehmen. Die Sonne ist hinter dicken grauen Wolken verdunkelt, doch ein einzelner Strahl fällt von der dichten Himmeldecke auf Clark. Der Sonnenstrahl durchschneidet seinen Körper und bricht an seinem Bein hinaus, um auf dem Kiesplatz vor dem Friedhofstor zu enden. Clark nimmt langsam die Hand hinunter. Er nickt mit zusammengepressten Lippen, als habe er verstanden, dass ich ihn nicht sehen will.

Sobald der Gehirnfrost das Weite sucht, wendet sich auch Clark zum Gehen. Er rennt in das angrenzende Waldgebiet. Ich bin allein. So, wie ich es mir gewünscht habe …

 

Sieben Jahre zuvor

 

Wind rauscht die ganze Fahrt über durch ihre Haare. Ihre Wangen sind rosig. Sie sind von der Anstrengung der Bewegung gezeichnet. Ihre Füße gleiten über den rissigen Asphalt. Doch trotz der schlechten Straße, die ihr den Weg nach vorne erschwert: Das schöne Gefühl der Freiheit durchströmt sie wie noch nie. Glückliche Fügung, dass sie die Inlineskater auf dem letzten Sperrmüll im Viertel gefunden hat. Sie sind ein Stück Freiheit in ihrem sonst so engen Käfig.

Eifersucht trübt kurze Zeit ihr berauschendes Empfinden. Sie beneidet die Menschen, die in einem goldenen Käfig leben. Denn sie haust in einem verrosteten, alten stickigen Käfig namens Kinderstube zusammen mit ihrer Mutter.

Ihre Mutter! Brennend heiß durchzuckt sie der Schmerz, wenn sie an sie denkt. Abrupt bremst sie mit ihren Skatern ab, stellt sie beinah völlig quer und kommt mit einem viel zu harten Ruck zum Stehen.

Die Gedanken an ihre Mutter ersticken den glockenhellen Ruf der Freiheit. Sie macht kehrt und gleitet langsam zurück, um nicht zu spät zu kommen.

 

»Wo warst du?« Noch bevor sie am Hauseingang ankommt, hallt ihr die Stimme ihrer Mutter durch das Küchenfenster entgegen.

»Ich …«, beginnt sie und versucht hektisch, die Inliner auszuziehen. Die Tür fliegt auf und vor ihr taucht die rundliche Frau auf. Sie bäumt sich, stemmt die Hände in die Hüften und schaut auf sie herab.

»Wenn du in keinem ganzen Satz antworten kannst, dann bist du nichts mehr als ein Taugenichts!« Mit vom Schreien gerötetem Gesicht schubst sie sie auf die harten Pflastersteine.

Sie beginnt zu weinen. Ihre Mutter reißt an den Inlineskatern und schleudert sie in hohem Bogen durch die Luft.

»Hör auf!«, bringt sie ihrer Mutter entgegen, um das letzte Stückchen Freiheit in ihrem Leben zu verteidigen.

»Aufhören? Was bildest du dir ein?« Mit ihren wulstigen Fingern zieht die Frau die Holzaxt aus dem Scheit neben der Hauswand, geht zu den Skatern und beginnt, sie mit schnaufenden Geräuschen zu zerstören.

 

 

 

 

 

 

Teil eins

 

 

1

 

Monate ziehen dahin. Mein selbstauferlegter Verzicht auf jeglichen Neuigkeitenkanal oder Radiobeitrag, bereitet mir überhaupt keine Mühe. Der Frühling kommt und wechselt seinen Platz mit dem Sommer. Die Fotografen, die anfangs vor Mycs Haus gewartet haben, sind verschwunden. Aufgrund von Mycs Tod wurde Schwarzenfeld von der Presse zu einem zweiten Whitechapel erklärt.Dabei haben scheinbar alle die Grundsubstanz der Vorkommnisse außer Acht gelassen: ein Computerspiel.

Gut, einmal hat sich tatsächlich eine Reporterin von einer Gamingzeitschrift mit kiloweise Equipment durch unser Gartentor gequetscht.

»Die war nervig!« Clark taucht neben mir auf und stützt seine Hände auf meinen Schreibtisch.

»Ja, das war sie … Vor allem die Fragen über das Prefix-Finale und Mycs Ermordung kamen mir vor wie blanke Provokation.«

»Und dass sie dich gefragt hat, weswegen du alle mit der Tibor-Nummer zum Narren gehalten hast, war reiner Spott!«

Laut seufzend lehne ich mich in meinem Stuhl zurück. »Ja …« Keine Ahnung, woher sie um mein wahres Geschlecht wusste.

»Irgendwer hat sicherlich geplaudert.« Clark kratzt sich am Kinn.

Meine Gedanken huschen wieder zu der Reporterin. Ihre Fragen sind spitz und findig gewesen. Sie hat immer weiter in offenen Wunden herumgebohrt. Wieder entfährt mir ein tiefer Seufzer. Na ja, zumindest ein Gutes hat sie gehabt.

»Ach und das wäre?« Clark hebt fragend eine Augenbraue.

»Hör auf, in meinen Gedanken herumzuspuken!«

»Ich fand diese Frau einfach nur ätzend!«

»Sie hat mir immerhin gesagt, dass Brian endlich aus dem Gefängnis entlassen wurde. Wenn auch nur als beiläufige Info. Aber das war doch sehr wohl etwas Positives! Stell dir vor, Brian wäre ohne triftigen Grund zum Tode verurteilt worden.«

»Erstens: Auch in Amerika töten sie Gefangene nicht ohne triftigen Grund und zum Zweiten …« Clark grinst verschwörerisch. »… bist du sicher, dass du dieser eingebildeten kleinen Pressefrau nur wegen dieser Information eine Absolution erteilst?«

»Wie meinst du das?« Natürlich weiß ich genau, wie er es meint. Meine Gedanken hängen schon längst nicht mehr an den Informationen über Brian, sondern an anderen. Sie hat mir damals im selben Atemzug erzählt, dass James nicht verurteilt wurde.

»Hab ich’s mir gedacht! Daher weht also der Wind.« Clarks Grinsen wird breiter. »Du hast dich nicht gefreut, etwas über Brian zu hören, sondern über Ja…«

»Hör auf mit deinen Spinnereien!« Wütend packe ich mir ein Schreibheft und wedle damit durch seine Körpermitte. Clark verschwindet nicht. Genervt gebe ich nach und lege das Heft zurück. Der Stuhl knarzt laut, als ich mich wieder nach hinten lehne. Ich umklammere mit meinen Händen das Sitzpolster.

Clark räuspert sich. »Ich bin ja auch froh, dass James nicht verhaftet und die Notwehr in seinem Tun anerkannt wurde. Aber …« Er wiegt seinen Kopf hin und her. »Er hätte sich ruhig mal bei dir melden können.«

Ich winke ab. »Lass uns nicht weiter über James sprechen, Clark.« Sobald ich an James denke, komme ich mir wieder wie eine Verräterin vor. Myc ist gestorben, weil ich mich in die Machenschaften von Farck reinziehen lassen habe … Die Reporterin hat damals anscheinend erahnt, was die Erwähnung von James in mir auslöst und eine riesige Story gewittert.

Sie hat mit einem Mal nur noch Fragen über ihn gestellt: Wo ist James Farck momentan? Spielt er je wieder ›Prefix‹? Was sagt er zu seiner Freilassung?

So lange, bis Mum eingegriffen und die dreiste Frau abgewimmelt hat.

Seit diesem Tag spukt außer den an James noch ein weiterer Gedanke in meinem Kopf: Die Pressefrau hat gewusst, dass ich Tamara bin. Jetzt müssen es alle wissen.

Stöhnend sehe ich nach oben. Eine Kerbe in der Dachschräge erinnert mich wieder an Myc: Sie reißt mich aus der Illusion, ihn habe es nie gegeben. Die Kerbe ist Überbleibsel und zugleich Zeuge einer zu hoch geworfenen Cola-Dose. Vielleicht sollte ich sie beseitigen. Doch ich weiß, dass ich es nicht übers Herz bringen werde. Seufzend denke ich an Myc und mich im Unterricht von Herrn Richter zurück.

»War ganz schön langweilig ohne Myc, oder?«

»Hmh?«

»Ich meine, die letzte Zeit in der Schule. Na ja, wenigstens hast du jetzt dein Abitur.« Clark kommt auf die andere Seite des Schreibtischs und hockt sich neben mich, um mit mir zusammen aus dem Fenster zu gucken.

»Ohne Myc waren die letzten Unterrichtseinheiten unerträglich«, stöhne ich und versuche erst gar nicht, Clark wieder loszuwerden.

»Tja, und ohne Myc, bei dem du hättest abschauen können, war’s das auch mit den guten Zensuren.«

Warum möchte er mich immer provozieren? Wütend beiße ich mir auf die Unterlippe. »Zensuren hin oder her … Ich hab sowieso keine Wünsche für die Zukunft. Wer soll denn in meinem Alter schon wissen, was er werden möchte?«

»Rubina weiß es.« Clark grinst.

Rubina hat natürlich den Businessplan ihrer Eltern übernommen und will Bürokauffrau werden mit angehängtem Bachelor in Betriebswirtschaftslehre. Es klingt bereits jetzt nach gähnender Langeweile.

Als ich nichts antworte, legt Clark den Kopf schief und betrachtet mich mit abschätzendem Blick. »Versuchs doch mit den Empfehlungen, die du von der Schule bekommen hast.« Er grinst nach seinen Worten noch breiter, weil er genau weiß, dass nichts davon zu mir passt. Auf einem Informationstag in der Schule hat mir so ein Berater vorgeschlagen, dass ich Lehrerin werden solle. Die Begründung: weil ich gut mit Kindern könne. Danach musste ich mich ehrlich fragen, wann und wo mich jemand überhaupt schon mal mit Kindern hat umgehen sehen. Ich erinnerte mich ja selbst an kein einziges Mal mit den kleinen Plagegeistern.

Mein Mobiltelefon klingelt. Ich ziehe tief Luft ein, rege mich aber nicht.

»Geh ran, Tamara!« Clark richtet seinen Blick auf den vibrierenden Gegenstand neben mir.

»Wetten, es ist Yoshi?« Ich stöhne und schiele auf mein Smartphonedisplay. Natürlich ist er es …

»Na und?«

»Warum versteht er nicht, dass ich ihn nicht sprechen will?« Mit einer Daumenbewegung drücke ich Yoshi abermals weg. Er hat in der vergangenen Zeit ständig versucht, mich zu erreichen. Doch in einem Kontakt zu ihm empfinde ich einfach keinen Sinn. Meine Zeit bei den ›Heroes of the Prefix‹ ist vorbei. Ebenso wie alles andere, das an ›Prefix‹ erinnert.

Ich sitze am Schreibtisch und schaue aus dem Fenster. Ein Umzugswagen steht in der ehemaligen Einfahrt der McLanchesters und einige Möbelpacker räumen geschäftig verpacktes Mobiliar durch die Gegend. Kurz vor dem Sprinter hält ein Van. In ihm sitzen drei Personen. Eine Frau steigt aus und wirft ihr gelocktes Haar nach hinten. Sie trägt ein rosafarbenes Etuikleid und hält eine Clutch in ihren Händen. Unwillkürlich erinnert sie mich an Amanda Raskopi. Zuletzt habe ich die professionelle Computerspielerin auf der Aftershowparty des großen Finaltags gesehen. Kurz keimt in mir ein Gefühl der Anerkennung für sie. Schön, begabt, reich, strukturiert und mit einem starken Willen gewappnet. Doch dieses Gefühl schwindet augenblicklich, als ein Gedanke zu dem vergangenen Fernsehinterview mit ›Glamorous Games‹ huscht. Ein bitterer Geschmack breitet sich in meinem Mund aus. Sie hat damals bewiesen, dass ihr jedes Mittel recht ist, um zu gewinnen.

Auf der anderen Seite des Vans steigt ein Herr aus, der ein Freizeithemd in seine Chinohose gesteckt hat und sich nun mit stopfenden Bewegungen seiner Handinnenflächen versichert, dass auch wirklich der gesamte Stoff in seiner Hose verschwunden ist. Als er damit fertig ist, nickt er zufrieden und geht mit großen Schritten auf den Eingang des Hauses zu.

Zu guter Letzt steigt ein Mädchen aus. Sie müsste jünger sein als ich. Ein Schauer läuft mir über den Rücken, als das Mädchen zu meinem Fenster hochschaut und ich in ihr grässlich überschminktes Gesicht blicke. Ich schüttle meinen Kopf und wende mich von dem Fenster ab. Mein Blick huscht schnell an meine Zimmerwand. Jetzt, wo die Tür geschlossen ist, fällt mir erst auf, dass ich hinter ihr noch eine alte Prefixliste hängen habe. Auf dem gelben Blatt Papier ist Mycs und meine Kill-Death-Statistik für die Seasons sechs, sieben und acht notiert. Jedes Jahr beginnt eine neue Season und mit ihr wiederholt sich der Kampf um den Titel Prefixchampion. ›Prefix‹ hatte ironischerweise mit Mycs Todestag in die neue Season gestartet. Season neun ist momentan in vollem Gang.

Es läutet an der Tür. Von unten höre ich Mums Stimme.

»Nein! Sie können nicht zu meiner Tochter. Es tut mir wirklich leid, Fräulein Ra…« Sie klingt hysterisch, während jemand zielstrebig über unsere alten Holzstufen nach oben geht.

»Nennen sie mich einfach Amanda«, erwidert die Person auf Englisch mit einem amerikanischen Akzent. Das kann doch nicht wahr sein. Kurz überlege ich, ob die Frau, die eben aus dem Van gestiegen ist, nicht vielleicht doch Amanda Raskopi war. Doch sie kann es nicht gewesen sein. Das Hausfrauenpendant von Raskopi ist schon lange in Mycs Wohnhaus verschwunden. Amanda muss unabhängig von ihr hier auftauchen oder fantasiere ich? Entstehen aus meinem Unterbewusstsein mehr Personen als bloß Clark?Welche bösen Schicksalsstreiche willst du mir noch spielen, Gott?

»Bitte Amanda, kommen Sie zurück!« Mum spricht mit aneinandergehefteten Wortfetzen aus Englisch und Deutsch. Ihre Sprache klingt fehlerhaft. Sie stolpert Amanda hinterher. Polternde Geräusche dringen durch meine dünne Zimmerwand.

Jemand drückt meine Tür mit einem Schwung auf. Eine altbekannte junge Dame steht mir plötzlich gegenüber. Sie fährt sich mit den Fingerspitzen über ihr Haar, um bloß keine Strähne aus ihrem gradlinigen Styling zu verlieren. Angezogen ist sie mit einer verwirrenden Mischung aus leichter Sommerbekleidung und Herbstlook. Ein bauchfreies Blümchentop ziert ihren Oberkörper. Darunter hat sie eine lockere Hotpants gezogen. Und trotz der angenehmen Sommertemperaturen hat Amanda sich einen dünnen Mantel und helle Boots zum Abrunden ihres Aussehens nicht nehmen lassen. Wie konnte ich sie nur mit der Frau von eben vergleichen? Sie hat rein gar nichts mit einer Hausfrau mittleren Alters gemein. Nein, Amanda Raskopi ist eine Erscheinung für sich. Männertraum, Girlievorstand, Zockerelite par excellence. Der Duft nach frisch gepflückten Wiesenblumen lässt mich nicht mehr daran zweifeln, dass es sich wirklich um Amanda handelt, die vor mir steht.

»Tamara? Wahnsinn. Wie schön dich zu sehen!«, ruft sie und kommt mit geöffneten Armen auf mich zu. Ihren Mund spitzt sie zu einem flüchtigen Küsschen, dass sie schmatzend in der Luft auflöst.

Mum hechtet hinter ihr her und zupft an ihrem Mantel. »Frau Raskopi! Verlassen Sie bitte dieses Zimmer.«

Doch die Blondine lässt sich durch Mum keine Sekunde beirren.

»Amanda?« Augenblicklich ziehe ich meine Unterlippe zwischen meine Zahnreihen und beginne, auf ihr herumzukauen.

»Die einzig Wahre«, erwidert Amanda. Sie streicht sich über ihre Mantelarme, als sie merkt, dass ich nicht gewillt bin, ihre Umarmung zu erwidern.

»Tut mir leid. Sie hat gesagt, sie vertreibt Kosmetikartikel. Ich habe sie zu spät erkannt«, entschuldigt sich Mum bei mir. Zeitgleich versucht sie, Amanda mit Tippen auf die Schulter auf sich aufmerksam zu machen.

»Was willst du hier?« Ich verschränke die Arme vor meiner Brust und mustere Amanda eindrücklich.

Amanda lächelt zuckersüß und ihre Stimme klingt ebenso. »Darf man sich nach den ganzen Gerüchten nicht selbst davon überzeugen, ob sie stimmen? Du hättest mir ruhig anvertrauen können, dass du eine Frau bist. Obwohl ich natürlich vollkommen verstehe, weswegen du es getan hast.«

Für einen kurzen Moment sticht ein imaginärer Dolch zwischen meine Rippenbögen. »Nun hast du ja gesehen, dass der Tratsch wahr ist und ich kein Mann.« Scharf ziehe ich Luft durch die Nase ein, um sie explosionsartig wieder auszuatmen.

»Brr …, kalt da draußen. Sowas nennt ihr Deutschen Sommer?« Amanda lenkt ab und setzt sich wie selbstverständlich auf mein Bett. Ihr Kopf befindet sich keine Handbreit von der Cola-Dosen-Kerbe entfernt.

Mum wirkt für den Bruchteil einer Sekunde fassungslos.

Sie schnaubt wütend auf und stemmt ihre Hände in die Hüften. »Raus hier!«

Amanda wendet unbeeindruckt ihren Blick zu der Prefix-Liste hinter meiner Tür. Um sie besser sehen zu können, legt sie sich ein Stück nach hinten. Sie spannt ihre Bauchmuskeln an, damit sie sich halten kann. Ein leichtes Sixpack hebt sich unter ihrer Haut hervor. Ich kneife meine Augen zu Schlitzen, als sie sich wieder nach vorne beugt und mich breit angrinst. Ihr plötzliches Auftauchen gefällt mir nicht. Zudem ist sie die einzige Person, die in Verbindung zu ›Prefix‹ steht, die es bis hierher und an Mum vorbeigeschafft hat.

»Ich rufe jetzt die Polizei!«, ist Mums letzter Versuch, die Blondine aus meinem Zimmer zu scheuchen. Und ich bin mir sicher, sie meint diese Drohung todernst.

»Tamara möchte wahrscheinlich sehr gerne hören, was ich noch zu sagen habe. Aber na gut.« Amanda zuckt mit den Schultern.

»Raus mit der Sprache!« Durch meine laute und forsche Tonlage quittiere ich Mums Versuche, Amanda loszuwerden.

»Der wahre Grund, weswegen ich hier bin, hat auch etwas mit deinem Geschlecht zu tun. Deinem richtigen Geschlecht.«

Fragend begutachte ich ihr Gesicht, doch ich kann nicht herauslesen, was sie beabsichtigt.

Sie lächelt verschmitzt und fährt säuselnd fort: »Du bekommst einen neuen Job.« Amanda schaut mich erwartungsvoll an, als müsse ich jetzt aufspringen und sie dankend umarmen.

Ich rege mich nicht. Sie löst eine seitlich angelegte Haarsträhne, wickelt sie um ihre Fingerkuppe, zieht ihren gespitzten Mund von rechts nach links und klimpert mit den Augen. Offenbar erwartet sie eine ernsthafte Antwort. Auf welche Frage?

»Ich glaube nicht, dass ich dir in irgendeiner Weise nützlich sein könnte. Egal, um welchen Job es sich auch handeln mag.« Meine verschränkten Arme ziehe ich noch enger an meinen Körper.

»Sag niemals nie«, sagt sie und beobachtet Mum, die uns immer näher kommt. Sie scheint sich jeden Augenblick zwischen uns zu drängen, um unseren Sichtkontakt zu unterbrechen. Ich rolle mit den Augen, als Mum sich direkt vor dem unwillkommenen Gast breit macht. Sie hat ihre Arme immer noch fest in die Hüften gestemmt. Wonder Woman wäre stolz, dass Mum ihre Pose wie ein waschechtes Double beherrscht.

Wie ich mich so hinter ihr befinde und das Szenario vor mir betrachte, finde ich das schon fast skurril amüsant. Ich merke, wie die Anspannung von mir abfällt. »Mum, kannst du uns bitte einen Moment allein lassen?«, frage ich und lasse meine Arme absinken.

Mum wendet sich mit einem Satz zu mir und mustert mich eindringlich. Sie fixiert mich mit ihrem Blick, als wolle sie sagen: Sicher? Ich kann sie jetzt auch endgültig für dich rausschmeißen!

»Bitte«, appelliere ich erneut. Beschämt muss ich gestehen: ich bin neugierig geworden. Was soll das für ein Job sein, den eine Amanda Raskopi für mich hat?

Mum nickt und verlässt das Zimmer, lässt meine Tür aber einen Spalt breit geöffnet. Amanda beobachtet vom Bett aus ganz genau, wie meine Mutter das Feld räumt. Sobald sie verschwunden ist, widmet Amanda sich wieder mir. »Tut mir übrigens leid wegen Miquel.«

»Das hätte Fräulein Raskopi besser nicht gesagt.« Clark mischt sich lachend ein. Kurz bevor ich ihn böse anfunkeln kann, verschwindet er wieder. Fast so, als habe er nur, wie in einer Chartshow, einen kurzen Seitenkommentar abgeben wollen.

»Er heißt Myc«, fauche ich Amanda zu und balle meine Hände zu Fäusten.

»Bist du immer noch am Trauern? Hör mal, du kennst doch dieses Sprichwort: Das Leben geht weiter. Manchmal sollte man auf diese Omasprüche hören.« Sie hebt lehrend ihren lockenumwickelten Finger nach oben. Die Haarsträhne schnellt zurück wie ein gespannter Gummizug und fällt auf ihre Wange ab, ehe sie sich hüpfend zu den anderen streng nach hinten gekämmten Haaren gesellt.

Demonstrativ lange ziehe ich Luft durch meinen Mund in meine Lungen und lasse die Luft durch die Nase wieder hinausströmen. Ganz ruhig, Tamara.

»Also.« Betont lässig überschlägt sie ihre Beine und streckt sich, bis ihre Handflächen an die Deckenschräge schlagen. Ihr Nagel kratzt einmal an den Brettern der Dachschräge vorbei und bleibt kurz in der Cola-Dosen-Kerbe hängen. Sie gähnt und spricht dann weiter: »Also, es ist so, die neunte Season läuft bereits einige Zeit.«

»Prefix interessiert mich nicht mehr.« Die Worte zischen schnell zwischen meinen Zahnreihen hervor. Mit Schwung wende ich meinen Drehstuhl wieder zum Fenster.

»Warte doch erstmal ab, was ich zu sagen habe.« Sie steht auf und stellt sich neben mich. »Also, die neue Season ist vor einigen Monaten gestartet. Dennoch hat Glamorous Games beschlossen, dass sie aufgrund der stagnierenden Spielerzahlen einen neuen kooperativen Spielmodus einführen wollen. Dieser Spielmodus soll vordergründig auf Turnieren gespielt werden. Das heißt, alle alteingesessenen Prefixteams starten bei null und es werden im gleichen Zug viele neue Prefixteams aufkommen.«

»Machst du dir um DeathNote Sorgen?« Ich stütze meinen Kopf in meine Hände. Meinen Blick banne ich auf das ehemalige Wohnhaus von Myc.

»Nein, nein, definitiv nicht.« Sie legt ihren Kopf schief. Aus meinen Augenwinkeln erkenne ich ihr Grinsen. Sie betrachtet mich eine kurze Weile. Was will sie?

»Und was dann?« Ich wende mich ihr wieder zu und mustere sie erneut eindrücklich. Ihre Lippen zucken höher, um ihr Lächeln zu verbreitern.

»Ich will ein neues Team zusammenstellen.« Die blauen Augen funkeln.

»Was denn für ein Team?«

»Ein Frauenteam.«

Sechs Jahre zuvor

 

Bald jährt sich Jesu Geburt. Alle Kinder erwarten diesen Tag voller Vorfreude und sobald das letzte Mal die Schulglocke vor den Weihnachtsferien läutet, gipfelt diese Spannung und äußert sich in vor Glück strahlenden Gesichtern. Die Schülerinnen und Schüler stürmen lachend und kichernd aus dem Schulgebäude. Alle, bis auf sie. Sie wechselt an diesem Tag bloß von einem grauenvollen Ort zum nächsten.

Wenn man sie fragen würde: Wieso fliehst du nicht einfach? Dann hätte sie vermutlich selbst keine Antwort.

Sie fühlt ihrer Mutter gegenüber eine tiefe Verpflichtung. Eine hasserfüllte Liebe, die sie an sie bindet. Zumal ihre Mutter sie sowieso überall, wo sie hinfliehen könnte, verfolgen würde. Dessen ist sie sich mehr als sicher.

Seufzend macht sie sich auf den Heimweg. Bis zum Weihnachtsmorgen sind es noch drei Tage. Ihre Mutter will, dass sie beide diese Tage ohne ein Wort miteinander auskommen. Die Stille in dieser Zeit wäre für den einen oder anderen vielleicht eine harte Strafe, für sie ist sie eine tröstende Stütze, die sie Kraft für die schmerzenden Augenblicke danach sammeln lässt. So ist sie zumindest bis Weihnachten vor den Schreien ihrer Mutter sicher. Leider gilt dies aber nicht für Körperlichkeiten …

Sie öffnet ohne ein Hallo die Tür und geht in die Küche, um schweigend das Mittagessen vorzubereiten. Ihre Mutter sitzt derweil im Wohnzimmer.

»Was tust du da?« Die Stimme ihrer Mutter lässt sie zusammenzucken. Mit vor tiefem Entsetzen aufgerissenen Augen taucht sie im Türrahmen auf und schnaubt laut wie nach einem Kampf. Der Blick ihrer Mutter ist wirr.

»Das … das Essen«, antwortet sie ihr und klammert sich an die Küchentheke hinter sich. Sie wünscht sich in diesem Moment so sehr, dass ihre Mutter bloß betrunken oder unter dem berauschenden Einfluss einer Droge steht. Doch dem ist nicht so.

Wie automatisch wendet sie jetzt ihrer Mutter eine Wange zu. Doch sie schlägt sie nicht. Sie sackt bloß in sich zusammen und beginnt schluchzend zu weinen. »Du bist die Strafe Gottes!«, wimmert sie ihr zu.

Wie lodernde Flammen peitschen sie die Worte ihrer Mutter. Sie kniet sich zu ihr und beginnt verzweifelnd immer die gleiche Frage zu stellen: »Was habe ich denn falsch gemacht? Was?«

Ihre Mutter schließt kurz die Augen und reißt sie danach mit einem kräftigen Ruck auf. »Du hast Jesus ermordet! Er liegt dort in der Pfanne. Du abscheuliches Kind!« Mit einer harten Geste weist sie auf den Herd.

Sie dreht sich, dem Wink ihrer Mutter folgend, zu der Pfanne um und sieht das Schweinefleisch darin schwarz werden. Röchelnd übergibt sie sich von der Vorstellung, Jesu Christ gebraten zu haben, mitten in die Küche.

Ihre Mutter stützt sich hoch, geht zum Herd und nimmt die Pfanne. Dann reißt sie ihr das Hemd nach oben, um das heiße Fleisch auf ihren nackten Rücken zu schleudern.

2

 

»Keine Chance«, sage ich und deute mit meiner Hand zur Tür.

»Mit mir tust du dir ohnehin keinen Gefallen.« Ein finsterer Blick huscht über meine Gesichtszüge und ich ziehe die Augenbrauen zusammen. »Die Prefix-Gemeinde hält mich für eine Schwindlerin. Mir bleiben nur wenige Sympathiepunkte nach der Tibor-Nummer.« Meine Stimme bekommt ungewollt einen zittrigen Unterton.

»Deine Abwesenheit aus der Prefix-Liga hat in der Tat große Wellen geschlagen«, kommentiert Amanda meine Worte.

»Siehst du! Was soll ich in einer Community, wo sie mich gar nicht mehr haben wollen?«

»Jetzt wirst du ganz schön melodramatisch, oder?«

»Mich interessiert das alles nicht mehr!«, keife ich.

»Hast du denn nicht die Gamingchannel verfolgt? Sie geben nicht dir die Schuld. Wirklich nicht!«

»Und wem dann?«

»Dem immensen Druck, dem man ausgesetzt ist, wenn man als Frau professionell spielen möchte. Die Prefix-Welt braucht jemanden wie dich! Jemanden, der für die Rechte der Frauen einsteht und allen Computernerds zeigt, dass man keine Frauenquote braucht. Frauen sind einfach ein Teil der heutigen Elite!«

»Ist das nicht etwas zu hoch gegriffen?« Ich ziehe spöttisch einen Mundwinkel nach oben. Doch muss ich ihn kurz darauf wieder hinunterziehen, weil es sich anfühlt, als habe ich in eine unreife Zitrone gebissen. Ein Gehirnfrost vereist meinen Blick und lässt Amanda in Zeitlupe ihre Mimik verformen. Meine Umwelt ist wieder einmal lahmgelegt. Die Frostetappen kommen weitaus unregelmäßiger als noch vor ein paar Monaten. Amanda schüttelt wie betäubt ihren Kopf, bis der Gehirnfrost nachlässt. Mein Körper droht, in dem Schreibtischstuhl zusammenzusacken, und über meine Hände legt sich ein Film aus Schweiß.

»Alles ok bei dir?« Amanda mustert mich eindringlich, als ich mich an der Tischplatte festklammere. Mein Atem stößt in kurzen Abständen aus meiner Nase.

»Ja.« Japsend wische ich mir mit der flachen Hand etwas Schweiß von der Stirn. Dabei verteile ich ihn nur und unglücklicherweise ein paar Tropfen der salzigen Flüssigkeit in meine Augen. Sie brennen. Unentwegt blinzle ich und hoffe, so den Schmerz wegzuzwinkern.

»Tamara? Ist alles in Ordnung bei euch?« Mum lugt durch den Türspalt und klopft zögerlich. Sie überwacht mich seit Mycs Tod bei allem, was ich tue. Manchmal auch ohne, dass ich es selbst bemerke. Sie taucht plötzlich neben mir auf. Dabei hat sie eigentlich kaum Mühe, über meine Handlungen Überblick zu behalten, denn seit Mycs Tod handle ich kaum noch. Wenn es nicht ums Essen oder Schlafen geht, verlasse ich nur selten mein Zimmer.

»Miss Carlmeyer, ich brauche noch einen Moment«, sagt Amanda und holt mich so zurück in die Realität. Sie versucht Mum hinaus zu winken. Diese wäre aber nicht das Ebenbild einer Helikopter-Mutter, wenn sie sich einfach abspeisen ließe.

»Tamara muss sich ausruhen!«, entgegnet sie Amanda.

»Ist es nicht Tamara überlassen, was sie jetzt tut?« Die Blondine lächelt provokativ.

»Sie ist meine Tochter!« In Mums Augen spiegelt sich eine Mischung aus Wut und Unsicherheit.

»Heißt das etwa, dass sie ihr Eigentum ist?«

Stöhnend wende ich mich von den beiden ab. Ich stütze meinen Kopf auf meine Hand und schaue nochmals zum Fenster hinaus. Der Umzugswagen parkt gerade aus und verabschiedet sich mit einer kleinen Auspuffwolke Richtung Schwarzfelder Einkaufsmeile. Der Van der frisch eingezogenen Familie bleibt einsam zurück. Die Familienmitglieder, die er transportiert hat, sitzen gemeinsam in der Küche. Neid breitet sich in mir aus, weil sie ein ganz normales Leben führen dürfen.

Ich hatte mir vor nicht allzu langer Zeit eine Besonderheit gewünscht; etwas, das mich von anderen unterscheidet. Jetzt, wo ich dem Ernst des Lebens begegnet bin, trage ich die Narben dieses Treffens als Besonderheit bei mir. Der Preis dafür war jedoch viel zu hoch. Man soll eben vorsichtig sein, was man sich wünscht.

»Gut, ich gehe«, resigniert Amanda und zieht sich ihren Mantel zurecht. Bevor sie mein Zimmer verlässt, hält sie sich am Türrahmen fest und widmet mir ein letztes Mal ihre Aufmerksamkeit. »Sag mir Bescheid, wenn du deine Meinung änderst. Du wärst ein Vorbild und keinesfalls das Gespött der Leute. Denk dran: Das Leben geht weiter!«

Ich nicke.

»Und im Übrigen: Mycroft hat das Spiel genauso geliebt wie du, nicht wahr? Würde er wollen, dass du hier allein versauerst, anstatt es auf ein neues Level zu heben?« Sie zwinkert mir zu und verschwindet die Treppe hinunter.

Wieso wusste sie auf einmal, dass Myc Mycroft heißt? Hat sie mich vorhin einfach nur provozieren wollen?

Mum bringt sie nach unten und schließt hinter ihr die Tür mit einem lauten Geräusch. Dann kommt sie wieder nach oben und stellt sich mitten in mein Zimmer. Sie zieht fragend eine Augenbraue nach oben.

»Amanda wollte nur wissen, ob ich Lust habe, bei ihr mitzuspielen«, antworte ich ihrer stummen Frage.

»Bei DeathNote?« Mum weiß heutzutage um einiges besser Bescheid, was die Gamingszene und die Zusammenhänge zwischen den E-Sport-Teams betrifft. Trotzdem hört sie sich immer noch wie ein Vollnoob an, wenn sie darüber redet.

Ich grinse. »Ne. Sie will die Frauenrechte durchdrücken. Ein eigenes Frauenteam eröffnen. Amanda Raskopi eben. Die gibt niemals auf, sich profilieren zu wollen.«

»Und?«

»Und was?«

»Möchtest du es diesmal als Tamara wagen und bei ihr mitmachen?«

Durch Kopfschütteln begleitet verziehe ich meine Lippen. Mum lächelt erleichtert. Ich glaube kaum, dass sie sich mit der Tatsache zufriedengestellt hätte, dass ich wieder anfange, ›Prefix‹ zu spielen. Mum gibt dem Spiel sicherlich einen Teil der Schuld daran, dass unser Leben momentan alles andere als normal verläuft.

Mit einem tiefen Atemzug stehe ich auf und gehe an ihr vorbei, die Treppe hinunter. Mum folgt mir.

»Irgendwas musst du aber machen«, fügt sie hinzu, als wir gemeinsam im unteren Flur ankommen. Ich reagiere nicht darauf.

»Ich weiß, du hast dir nach all dem eine Auszeit verdient … Aber ewig kannst du nicht ohne Weiterbildung bleiben. Wofür hast du ansonsten dein Abitur gemacht? Such doch mal nach einem schönen Studiengang. Vielleicht etwas im Gesundheitswesen?«

»Mum, ich finde schon etwas …« Nach diesen Worten verkrümle ich mich auf das Sofa im Wohnzimmer, um fernzusehen.

 

Beim Abendessen sind wir heute wieder nur zu dritt. Ein paar Mal im Monat kommt meine Schwester mit Brötchen vorbei und lockert die Stimmung am Tisch etwas auf. Doch heute Abend leider nicht. Sie lebt jetzt im Norden Deutschlands mit einem Studenten, den sie durch Dads Firma für Steuerberatung bei der letzten firmeneigenen Weihnachtsfeier kennengelernt hat. Dad ist unglaublich stolz, dass sie mit einem waschechten Steuerberaternachwuchs zusammen ist.

Eine Bilderbuchbeziehung … Ich schätze, bald habe ich einen Schwager. Ironie des Schicksals: Obgleich sich mein Lebens-Puzzle stetig weiter ausbaut, sind zwei Puzzleteile für immer verschollen. Teile aus dem Zentrum meines Lebensbildes. Myc und … Jam… Ach, Tamara! Wieso kannst du Myc nicht seine letzte Ehre erweisen und deine Gedanken von James abwenden?

»Verschwende keinen Gedanken mehr an ihn«, flüstert mir nun auch Clarks schwebender Kopf von der Seite zu. Weil niemand sonst ihn hört, bleibt die bedrückende Stille am Abendbrottisch bestehen.

»Amanda Raskopi war heute hier«, beginnt Mum einen Versuch, das peinliche Schweigen zu durchbrechen. Clarks Gesicht löst sich augenblicklich in Luft auf.

Dad nickt Mum zu. »Und? Was wollte sie?« Er widmet seinen Blick mir und schmiert sich eine viel zu dicke Schicht Yoghurtbutter auf eine Scheibe Vollkornbrot. Ich bin fast schon stolz, dass auch Dad was von der Gaming-Szene mitbekommen hat und weiß, wer Amanda ist.

»Sie wollte Tamara wieder zum Computerspielen bewegen.«Mum drückt ihre warme Hand auf meine kühlen Fingerspitzen. Wieder huscht dieser Anflug an Besorgnis über ihr Gesicht.

Dad legt seine Brotscheibe ab, richtete sich etwas auf und sieht mich an. »Und?«

»Ich habe abgelehnt. Prefix ist für mich erledigt …«, flüstere ich.

»Also, ich finde, so sehr Mycrofts Verlust auch noch schmerzt, du solltest nach vorne blicken. Wenn man von einem Pferd abgeworfen wurde, ist es das Beste, sofort wieder aufzusteigen. Vielleicht hilft es dir, die ganzen Geschehnisse zu verarbeiten.«

Mum wirft Dad einen strafenden Blick zu. Doch er springt schon lange nicht mehr darauf an. Durch die Fehde mit ihr hat er ein gutes Stück Selbstbewusstsein zurückerlangt. Er zuckt mit den Schultern. »Einen Versuch wäre es jedenfalls wert. Aufhören kannst du immer noch.«

»Ich weiß nicht …«, murmelt Mum. Sie sieht dabei säuerlich zwischen mir und Dad hin und her. Angespannt, wie bei der Pflichtverteidigung eines Mörders, redet sie weiter. »Computerspielen ist nun mal kein Pferd. Und die Abstinenz von dem Spiel schadet dir in keinem Fall. Nur, weil jetzt diese eingebildete Amanda hier hereinspaziert, sollst du alles verwerfen, was du dir über Monate aufgebaut hast? Ich würde mir von ihr nichts sagen lassen. Hast du denn eigentlich schon einen Studiengang gefunden, der dich eventuell interessieren könnte? Wir müssen bald auch über die Finanzierung deines Führerscheins reden. Dein Vater und ich haben dir das Geld bloß geliehen und es ist langsam an der Zeit, dass du es uns zurücküberweist. Findest du nicht?«

Ach ja, dieser verflixte Führerschein. Zu meiner großen Verwunderung hatten Mum und Dad zugestimmt, mir die Fahrstunden und die abschließende Prüfung zu finanzieren, sodass ich nach Weihnachten starten konnte und vor knapp drei Wochen fertig geworden bin. Ich bin wahrscheinlich die einzige Person in Schwarzenfeld, deren Praxisstunden sich über ein halbes Jahr gezogen haben.

»Ich suche mir bald einen Job.« Beschwichtigend nicke ich Mum zu.

»Da sind wir ja beruhigt. Ich hatte schon in Erwägung gezogen, das Haus zu verkaufen und unter eine Brücke zu ziehen, wenn uns die Fahrschule noch mehr Fahrstunden in Rechnung gestellt hätte«, witzelt Dad, während er sich Tee einschenkt.

»Ich weiß genau, dass euch das Geld nichts ausmacht.« Ich strecke Dad die Zunge raus.

»Schulden sind Schulden«, mischt sich Mum ein.

»Zur Not kann ich es doch einfach von meinem Sparbuch neh…«

»Kommt nicht in Frage!«, unterbricht Mum mich augenblicklich. »Dieses Geld ist für eine Universität gedacht.«

»Aber …«

»Kein aber! Das Geld für den Führerschein musst du schon durch einen geeigneten Job zurückzahlen. Oder du gehst studieren und wir gucken, dass wir deine Zahlungsfrist verlängern.«

Warum habe ich Mum bloß die Verwaltungsrechte für mein Prefix-Gehalt zugesprochen? Damals war es günstiger, wenn sie die Gelder auf sich anlegt. Höchstwahrscheinlich könnte ich mir die Verfügungsgewalt irgendwie erklagen, aber das ist es mir nicht wert. Sie hat ja recht, wenn man studieren will, braucht man jede Menge Eigenkapital.

Ein ironisches Hmh von Dad bringt das Gespräch zum Erliegen. Ein stereotyper Familiensmalltalk löst es ab, dessen einziges Bindeglied ich bin. Ohne meine Anwesenheit würden die beiden Alten sich womöglich nur noch anschweigen oder anschreien. Woran ich das fest mache? Es sind ihre vielsagenden Blicke, die sie sich gegenseitig zuwerfen. Hasserfüllt, missgelaunt und missgönnend … Und, obgleich ich genau weiß, weswegen die Grundstimmung im Hause Carlmeyer einem Vulkan kurz vorm Ausbruch gleicht, habe ich Mum versprochen, das Thema um meinen verstorbenen Onkel nicht mehr anzusprechen. Mein Prefix-Abenteuer hat in weitaus mehr Leben Wellen — oder eher Tsunamis —geschlagen als bloß in meinem eigenen.

Lustlos helfe ich Mum, unsere Teller vom Abendessen zu spülen und abzutrocknen. Anschließend schlurfe ich wieder die Treppe nach oben.

»Nacht Mum«, rufe ich noch hinunter in die Küche, als ich beinahe oben angekommen bin.

Sie steckt den Kopf durch den Türrahmen. An ihrer Wange klebt ein Rest Spülschaum. Das Geschirrtuch hat sie sich über die Schulter geworfen. »Gehst du schon schlafen? Mit Abwaschen ist ein Abwasch noch nicht erledigt. Das weißt du schon, oder? Meinst du, das Besteck fliegt von alleine in seine Schublade?«

»Entschuldige, aber ich kann nicht mehr. Morgen helfe ich auch beim Einräumen. Ich ruh mich noch etwas aus und dann gehe ich Richtung Bett. Wahrscheinlich sehen wir uns erst morgen wieder.« Während ich spreche, gehe ich weiter nach oben.

Mum seufzt laut. »Na gut.« Sie verschwindet wieder in der Küche und ich höre Töpfe scheppern und Schubladen schließen.

Mit einem Ruck öffne ich meine Zimmertür. Die Türklinke fühlt sich warm an, als hätte sie zuvor jemand in Händen gehalten. Als ich sie wieder hinter mir geschlossen habe, lehne ich mich mit dem Rücken dagegen und lasse mich daran zu Boden sinken. Es ist mein tagtägliches Abendritual.

»Ich dachte schon, du würdest nicht auftauchen«, sagt Clark und legt die Hände unter seinen Nacken. Er liegt breitbeinig in meinem Bett und schaut zu der Dachschräge.

»Bin ich jemals nicht aufgetaucht? Wo soll ich schon hin?« Mit meinen Fingerspitzen streiche ich durch meine Haare. Sie sind wieder ein Stück länger geworden. Einen Zopf vermag ich mit ihnen nicht zu binden, aber sie reichen mir bereits wieder über die Ohrmuscheln.

»Du hast recht. Trotzdem, es ist jedes Mal aufs Neue schön für mich, dass du mit mir sprechen willst.« Clark hatte über die Monate geschafft, dass ich ihn in mein Leben etabliere. Er scheint nicht mehr als eine Projektion meines Unterbewusstseins zu sein. Man kann ihn nicht anfassen und er verschwindet, sobald ich ihn jemandem zeigen möchte. Mal aus dem Fenster, mal aus der Tür oder aber, er löst sich einfach in Luft auf. Höchstwahrscheinlich sind es meine zerrüttenden Gefühle, die ihn immer und immer wieder erschaffen. Im Endeffekt ist es auch egal, warum er erscheint, aber trotz seiner manchmal nervigen Kommentare ist er der einzige, mit dem ich wirklich reden kann.

»Ich weiß, dass du am liebsten hier weg willst. Und ich weiß auch, dass du wieder spielen willst. Du sehnst dich danach.«

»So ein Quatsch! Wenn ich mich danach sehnen würde, dann säße ich nicht hier, sondern da.« Mit meiner Hand zeige ich auf den verschlossenen Computerraum am anderen Ende meines Zimmers.

»Du machst mir nichts vor. Es brennt dir unter den Fingernägeln«, erwidert er und wendet seinen Kopf zu mir. Dabei kneift er nacheinander abwechselnd seine Augen zusammen, als wolle er testen, ob sie wirklich funktionieren. »Ich kann es nicht mehr!« Ein Gefühl der Traurigkeit durchzuckt meine Brust, lässt meinen Atem tief werden und ich verzerre meinen Mund.

»Klar kannst du!« Clark dreht sich auf die Seite und bettet seine Handflächen unter seiner Schläfe. »Es ist so einfach wie simpel. Du musst nur das Zimmer öffnen und siehe da, da steht dein Rechner.«

»Ich sollte wohl eher nach einem geeigneten Studiengang Ausschau halten, als mir meine Zeit mit meinem alten Computer und einem blöden Spiel um die Ohren zu schlagen«, entgegne ich ihm und mustere sein seitlich gedrehtes Gesicht. Er schaut jetzt wieder zur Decke, als überlege er eine passende Formulierung für seine Gedanken. Die schwarzen Bügel seiner Brille schimmern.

»Du weißt doch bereits genauso gut wie ich, dass der optimale Beruf, deine wahre Berufung, nicht in irgendeiner Universität in Deutschland zu finden ist.« Clark macht eine abwertende Geste mit der Hand in meine Richtung, bevor er sie wieder unter seinen Kopf zurücksteckt und erneut nach oben schaut.

»Ach Clark …« Mit geschlossenen Augen lasse ich seine Worte für einen Moment auf mich wirken. Als ich meine Lider aufschlage, ist Clark verschwunden. Mühselig stehe ich auf. Meine Unterlippe schmerzt, als ich sie erneut zwischen meine Zähne ziehe und beginne, sie wie ein zähes Stück Fleisch zu zerkauen. Ich gehe zu meinem Nachtisch und krame einen Schlüssel hervor, an dessen Band ein gummierter Supernintendo in Miniaturform baumelt.

Stückchen für Stückchen komme ich dem Anbau näher. Mit einem leisen Klacken drehe ich den Schlüssel in dem Schloss und die Tür springt einen Spalt breit auf. Eben so viel, dass ich mein PC-Gehäuse sehen kann. Ein breiter Fleck aus getrockneter Tomatensauce klebt neben dem Powerbutton. Erinnerungen an vergangene Tage, an Matches, an Mycroft und an James keimen in mir. Doch sie huschen auch hinüber zu Stefano Brandao, Mera und Samuel …

»Was ich dir noch sagen wollte«, spreche ich aus, was Stefano Brandao seinerzeit geschrieben hatte. »Du hast gut gespielt … nein, fantastisch …«

Augenblicklich muss ich auch an Brandaos hämisch grinsendes Gesicht denken. Ich will auf einmal nichts lieber, als es ihm heimzahlen. Ihm zu beweisen, dass ich nicht nur wegen seiner Gutherzigkeit im HothP-Team war, sondern zu Recht! Ich habe Talent.

Das Klingeln meines Mobiltelefons hinter mir reißt mich aus meinen Gedanken. Seufzend schließe ich mit einem leisen Klacken die Tür zum Anbau, damit Mum nicht frühzeitig von meinen Überlegungen Wind bekommt. Sie würde direkt etwas wittern, wenn sie das offene Zimmer sieht. Dann gehe ich zu meinem Nachttisch und inspiziere das Display des Smartphones.

>Unbekannte Nummer ruft an<, steht darauf. Zuerst will ich den Anrufer mit einem Wisch meines Daumens abwimmeln. Doch dann kommt mir in den Sinn, dass es vielleicht Amanda sein könnte. Ungeachtet der Tatsache, dass ich ihre Idee eines Frauenteams für ein Hirngespinst halte, würde ich ihr gerne noch die eine oder andere Frage bezüglich des neuen Spielmodus stellen. Also bestätige ich und nehme an.

»Tamara?«, spricht eine Frauenstimme.

»Ja?«

»Hier ist Mera, Mera Cicarlo.«

Irgh, damit hatte ich nicht gerechnet. Hektisch reiße ich das Mobiltelefon von meinem Ohr.

»Warte bitte, bevor du auflegst!«, tönt es mir laut und blechern entgegen. Und irgendwie verzweifelt.

»Was willst du?« Während ich spreche, halte ich das Mobiltelefon immer noch ein gutes Stück von mir entfernt, den Finger über dem roten Hörer-Symbol schwebend.

»Ist er bei dir?«

Mein Atem geht unregelmäßig. Natürlich weiß ich sofort, wen sie meint. »Mera, James ist für mich noch nicht mal mehr einen Satz wert. Dass ich über ihn reden muss, dass du überhaupt denkst, dass er bei mir sein könnte, verärgert mich.« Es überrascht mich, wie diplomatisch meine Worte klingen. Und wie ich es schaffe, keinen allzu wütenden Unterton beizumischen.

»Aber …«

»Es gibt kein aber, mach’s gut!« Ich beende das Telefonat, schnappe nach Luft und setze mich aufs Bett. Ihre Worte zu hören, ist wie ein kalter Waschlappen im Gesicht.

»Tamara, Prefix war mal deine Zukunft!«, wispert Clark mir in mein Ohr. Er hockt direkt neben mir auf dem Bett.

»Was spielt das jetzt für eine Rolle? Hast du eben nicht mitbekommen, wer angerufen hat?« Mit verschränkten Armen schaue ich ihm in die hinter Glas verborgenen Augen. Seine Haut scheint über meine Zeit bei den ›Heroes of the Prefix‹ gealtert zu sein. Tiefe Furchen zeichnen seine Stirn und Wangen.

»Lass dir deine Zukunft nicht von irgendjemandem kaputt machen!«

Mit meiner Hand wedle ich in der Luft umher und Clark verpufft. Aber er hat recht. ›Prefix‹ war meine Zukunft und jetzt ist es vielleicht dieser neue Spielmodus. Einen Versuch ist es wert! Der lähmende Gedanke an James Farck sollte keine Hürde für meine Zukunftspläne sein. Er ist gegangen und ich muss mich damit abfinden. Für einen kurzen Moment will mich das Gefühl, das sein Name in mir ausgelöst hat, überrennen. Doch ich kämpfe es nieder, atme durch und stehe auf.

Mit einer Energie getrieben, die mich hätte Bäume ausreißen lassen, laufe ich zu dem Anbau zurück. Dort angekommen drehe heftig den Schlüssel um, reiße die Tür auf und stürme zu meinem Rechner. Mit Wucht drücke ich auf den Power-Knopf. Dabei reibt sich ein bisschen der Tomatensauce ab und bröckelt zu Boden. Ich bin erstaunt, wie unspektakulär das Gefühl ist, als der PC hochfährt. Die Lüfter beginnen zu surren. Sie blasen eine kleine Staubwolke in den Schimmer der niedrigstehenden Sonne. Schweiß benetzt meine Stirn. Hier drin steht die Sommerhitze wie in einem Brutkasten. Den Kopf auf meine Hände gestützt, beobachte ich das Windowszeichen, das in einer schier unermüdlichen Gelassenheit meinen Desktop hinter sich versteckt.

Ich öffne das Zimmerfenster, um den Staub in Freiheit zu entlassen.

Auf dem Bildschirm erscheint nun endlich mein Hintergrundbild. Röchelnd huste ich, schlucke viel zu heftig, als mir Myc entgegenlacht, der dabei ist, eine Toastscheibe in seinen Rachen zu stopfen. Dass ich dieses Foto besitze, hat Myc nicht gewusst und ich wollte ihn irgendwann damit aufziehen. Es ist aus einem spontanen Moment heraus entstanden. Die Fotografie zeigt uns beim Toastbrotwettessen. Wie bei jeder unserer Essensschlachten ist er eine Scheibe vor mir.

Meine Augenlider zittern. Bitte, kein Gehirnfrost. Mein Kopf verschont mich mit einer Slow-Motion-Aufnahme dieses Anblicks und das Hintergrundbild wechselt eine Fotografie weiter. Glücklicherweise zu einem Frettchenbild und nicht zu einem erneuten Moment der innigen Freundschaft mit Myc.

Gerade, als ich mit dem Mauszeiger ›Prefix‹ suchen will, halte ich inne. Will ich ›Prefix‹ spielen? Ja oder nein? Auf der linken unteren Bildschirmhälfte finde ich das Icon. Der Mauszeiger huscht hinüber zu dem Miniaturzauberbuch. Er umkreist es drei Mal, bis ich mich entschließe, ihm das Ok zu geben und mit einem Doppelklick ›Prefix‹ zu öffnen. Das Fenster des Spiels erscheint auf dem Desktop. Meine Haut beginnt zu kribbeln. Dieses Gefühl nach unendlicher Freiheit kehrt zurück. Es durchzuckt meinen Körper, es lässt mich nach Luft schnappen und nicht mehr klar denken. Es ist Wahnsinn. Es ist … Was für ein Scheiß … Die Prefixsoftware brauchtUpdates. Massig Updates. Entnervt knalle ich meinen Kopf auf die Tastatur. Das kann bei unserer Internetleitung Stunden dauern. Schmerzend drückt sich die Space-Taste gepaart mit dem V und dem B auf meine Stirn. Ich lege meinen Kopf zur Seite und beobachte den Downloadbalken, der träge Millimeter für Millimeter einen Schritt nach vorne macht. Ich blähe meine Nasenflügel auf, um die drückend warme Luft einzusaugen. Gähnend will ich mich aufrappeln, um mir etwas zu essen zu holen. Doch ich stocke, bleibe sitzen. Mir fällt eine Werbung ins Auge, die groß im Newsfeed* der Prefixseite unter dem Downloadbalken prangt.

>Die Prefix-Welt verändert sich. Nichts ist mehr das, was es einmal war. Dunkelheit zieht auf. Finsternis ergreift die Spielkarte. Sei dabei, bei einem Kampf gegen die Schwärze! Verteidige dein Team und werde Teil eines epischen Abenteuers!<

Ja klar, der neue Spielmodus. Eins muss man ›Glamorous Games‹ lassen: Sie haben es drauf. Meine aufkommende Müdigkeit, begleitet durch einen großen Hauch updatebedingter Langeweile, ist verflogen. Ich klicke auf den Trailerlink*, der unter dem Werbepitch* steht. Die Internetseite von ›Prefix of Death‹ öffnet sich und füllt ein Viertel des Bildschirms aus, während weiterhin — im Fenster dahinter — fleißig die Updates installiert werden. Das Trailervideo auf der offiziellen Website startet automatisch. Mein Bass ist viel zu hart eingestellt und meine Boxen zu laut. Ein metallisches Kreischen hallt mir entgegen und läutet so das Werbevideo für den neuen Spielmodus ein. Schnell halte ich mir die Ohren zu und drehe mit meinem Ellenbogen die Lautsprecher leiser. Im Video bahnt sich ein düsterer Schleier den Weg durch den altbekannten ingame-Jungle der Prefixmap. Er erfasst die Bäume, den Wasserfall und alle NPC’s, die in ihm hausen. Diese verändern sich und bekommen leuchtende, gierige Augen. Ihre Felle werden pechschwarz und sind durchzogen mit pulsierenden Strängen aus hellem Licht, die an ihren Häuptern enden.

Ohne mich mit dem Spielmodus viel beschäftigt zu haben: Er repräsentiert bereits jetzt mein von Dunkelheit ergriffenes Inneres. Ebenso finster ist momentan meine Gedankenwelt.

Der Trailer wechselt weiter und zeigt einen Teil von einem normalen Prefix-Match so, wie ich es kenne. Unvermittelt bricht das laufende Match ab.

»Erlebe eine Revolution!«, tönt es mir entgegen.

Die neue, von Schwärze übermannte Spielkarte poppt auf.

»Kämpfe mit vier Mitspielern gegen die Finsternis! Aktiviere Türme, um Licht zu erzeugen! Erlege Monster, um nicht von ihnen getötet zu werden! Und gib gut Acht! Es könnte sein, dass du dem Abgrund näher bist, als dir lieb ist …«

Die Spielkarte verkleinert sich von Zeit zu Zeit. An bestimmten Stellen zerfrisst sie die Schwärze. Man muss aufpassen, dass man sich nicht in einem Bereich befindet, der innerhalb von Sekunden vom Radar verschwindet. Zwar taucht der verdunkelte Spielkartenschnipsel wieder auf, doch ohne Spieler. Man bleibt vernichtet, wenn man in die Schwärze gerissen wurde.

Sollte man es jedoch schaffen, zu überleben und alle Türme zu aktivieren, spawnt ein überdimensionales Monster. Eine Mischung aus einem Dementor und einer Klapperschlange. Es versucht, die Überbleibsel des Teams zu verschlingen. Es scheint die Endphase zu sein. Getötete Spieler spawnen in ›Suffix of Death‹ nicht neu. Dieser Spielmodus ist weitaus komplexer, als ich es angenommen hätte. Zum Ende des Trailers erscheint in dicken Lettern: >Season Nummer eins in Suffix of Death.<

 

Die Updates und zusätzlichen Features* sind nach einer gefühlten Ewigkeit geladen und ich kann mich nach einem Neustart der Prefixsoftware endlich einloggen. Zu meiner Verwunderung ist es jetzt aufgesplittet in zwei Hälften. Die eine in typischer Prefix-Optik, die andere in Graustufen, mit lilafarbener Überschrift ›Suffix of Death‹. Auf beiden Bereichen kann man eine Spielrunde starten. Das Ganze verspricht interessant zu werden. Los geht´s in ›Suffix of Death‹. Schauen wir doch mal, ob ich ein›Hero of the Suffix‹werden kann.

Drei Jahre zuvor

 

Sie stellt eine beschämende Tatsache fest: Je älter man ist, desto mehr möchte man den Wohlstand, den andere haben. Es hat sie Überwindung gekostet, sich zu diesem Gedanken hinreißen zu lassen. Immerhin ist es oberstes Gebot, nicht das Gut eines Zweiten zu begehren. Doch sie will nicht mehr in dem Vergleich zu anderen Kindern so aussehen, als sei sie arm; als habe sie keine Besitztümer. Sie weiß zwar sowieso nicht, wem sie schreiben oder mit wem sie telefonieren soll. Doch alle anderen haben Mobiltelefone, PC’s oder Laptops. Das macht sie traurig. Chatpartner hin oder her.

Ihre Mutter verbietet ihr wirklich alles, bis auf die verhasste Schule, was ihr einen Kontakt zu anderen ermöglichen könnte.

Leider ist es ausgeschlossen, dass sie bloß einen Wunsch zu Weihnachten äußert oder zum Geburtstag und dann alles bekommt, was sie will. An Feiertagen gedenken sie zu Hause nur Gott. Geburtstage werden nicht gefeiert.

Darum muss sie diese Konsequenz ziehen. Sie weiß, dass es nicht rechtens ist. Aber ihr Wunsch nach Gleichberechtigung zu anderen Jugendlichen und der Drang, Menschen in derselben Lebenslage zu finden, ist stärker. Schnell wie eine Welle, die nach vorne saust, um kurze Zeit später im Meer zu verschwinden, geht sie in den kleinen Elektronikladen, nimmt sich blitzschnell den begehrten Laptop und flüchtet nach draußen. Der Raub bereitet ihr einen Kick, ein wohliges Kribbeln im Bauch. Dennoch, sie schwört sich, dass sie so etwas nicht nochmal machen will.

Wenigstens hat sie jetzt ein Stück Freiheit zurück.

 

3

 

Ok, ein ›Hero of the Suffix‹ werde ich definitiv nicht. Eine verschwindende Spielfeldplatte verschluckt mich schneller, als ich ›Suffix‹