Prefix of Death - Jill H. Heinrichs - E-Book

Prefix of Death E-Book

Jill H. Heinrichs

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Beschreibung

Unter dem Pseudonym Tambear zockt Tamara erfolgreich das Internetspiel Prefix of Death. Die Einladung in ein Elite-Gamerteam ist für sie die Gelegenheit, ihr langweiliges Leben hinter sich zu lassen. Das Problem nur: Die Mitglieder akzeptieren keine Frauen. Getarnt als Mann schafft Tamara es trotzdem in die Gruppe und wird in einen Strudel aus Eifersucht, Gier und knallharten Interessenskonflikten gesogen. Dass sie sich auch noch in den eigenwilligen Teamgründer James verliebt, macht es nicht leichter. Der anfängliche Traum wandelt sich zu einem Spiel auf Leben und Tod.

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HYBRID VERLAG

Vollständige elektronische Ausgabe

10/2020

 

© by Jill H. Heinrichs

© by Hybrid Verlag

Westring 1

66424 Homburg

 

Umschlaggestaltung: © 2020 by Hygin Graphix

Lektorat: Paul Lung, Milena Reinecke

Korrektorat: Petra Schütze

Buchsatz: Paul Lung

Autorenfoto: studioline Photostudios GmbH

 

Coverbild ›X-Farnhams Legende‹

© 2020 by tab visuelle kommunikation, Stuttgart,

& Creativ Work Design, Homburg

Coverbild ›Weltenwacht‹

© 2019 by Creativ Work Design, Homburg

Coverbild ›Myzel‹

© 2018 by Creativ Work Design, Homburg

Coverbild ›Remoment‹

© 2019 by Creativ Work Design, Homburg

 

ISBN 978-3-96741-082-2

 

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

 

 

 

Jill H. Heinrichs

 

Prefix of Death

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Roman

 

Vorwort

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

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15

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28

29

30

Noobikon

Nachwort & Danksagung

Jill H. Heinrichs

Hybrid Verlag …

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ihr seht und sagt: Warum?

Aber ich träume und sage: Warum nicht?

 

George Bernard Shaw

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Vorwort

 

›Prefix of Death‹ ist ein in Korea entwickeltes Free-to- play-MOBA. ›Glamorous Games‹ landete im Jahr 2008 damit einen Welterfolg. Weltweit wird ›Prefix of Death‹ von mehr als 80 Millionen Spielern gespielt und zählt zu den beliebtesten Computerspielen der Gaming-Geschichte.

 

Da dieser Roman diverse Begriffe aus dem Bereich des E-Sports enthält, die möglicherweise nicht geläufig sind, befindet sich auf den letzten Seiten ein Noobikon. Als Wortneuschöpfung aus Noob* und Lexikon ist es eine Erläuterung für Menschen, die sich nicht auf dem Gebiet des Computerspielens auskennen.

Sollte dir ein Begriff* also einmal unbekannt sein, scheue dich nicht, am Ende des Buches nach der Erklärung zu schauen.

 

 

 

 

 

 

 

Prolog

 

TamBear: Wenn mein Leben ein Buch wäre, würde der Titel ›Prefix of Death‹ lauten. Es würde über mein Schicksal berichten; und davon, wie die Begegnungen, die ich machte, mein Leben für immer veränderten.

 

 

Das Fell des riesigen, braunen Bären wölbt sich auf und ab, während er zwischen den langen Schilfhalmen auf seine Beute wartet. Aus seinem Maul strömt weißer Dunst und von seinen Lefzen tropft angedickter Speichel.

Da ist sie! Die großgewachsene, schwarze Katze stolziert vor dem Gebüsch, unwissend, dass er sich hier verbirgt.

Zack! Alles verlangsamt sich. Der Honigtopf zerbirst am Boden. Eine dichte Rauchwolke versperrt der Katze die Sicht. Ihre Pfoten kleben in der goldgelben Flüssigkeit, es gibt keine Möglichkeit mehr, dem Bären zu entfliehen. Er springt auf sie zu und raubt ihr Stück für Stück, Schlag für Schlag ihre Lebensenergie, bis sie in sich zusammensackt.

 

1

 

»Und wie war dein Tag?« Mum pickt in ihrem Erbsensalat herum. Sie schafft es, je drei Erbsen auf eine der vier Gabelspitzen zu stapeln und sie dann durch ihre fettreduzierte Möchtegernsahnesauce zu ziehen.

Ich sehe mit flehendem Blick auf die große Wanduhr über dem Esstisch. Gleich kann ich hier weg. Gleich sind die quälenden, oberflächlichen Fragen meiner Familie vorbei und ich kann in meine Welt flüchten. Glockenschläge von unserer alten Küchenuhr hallen durch das Zimmer.

»Ich bin oben, ja?«, rufe ich Mum zu, die frustriert aufseufzt. Sie bereut ihre neue Regelung, dass meine Schwester und ich ab 7:00 Uhr selbst entscheiden dürfen, ob wir bei unseren Eltern in der Küche oder in unseren Zimmern weiter essen wollen. Dass das positive Auswirkungen auf unsere Persönlichkeitsbildung haben soll, hat sie in irgendeinem Erziehungsratgeber gelesen. Doch mittlerweile ist sie nicht mehr besonders begeistert davon. Ehrlich gesagt ist mir das ziemlich schnuppe. Ich wäre so oder so nach oben geflüchtet, ob mit oder ohne Essen.

In meinem Zimmer angekommen, suchen meine Finger hastig den Lichtschalter und betätigen ihn. Ich stolpere über eine leere Coca-Cola-Flasche, die ich in die Ecke zu dem restlichen Leergut werfe. Dann betrete ich den kleinen Anbau und inspiziere stolz mein prachtvolles Domizil. Da ist es, mein Portal in eine andere Welt.

Als ich den Computer einschalte, leuchtet das hellgrüne Neonlicht am Lüfter auf. Das komplexe Getriebe surrt. Ein unvergleichliches Gefühl von Zufriedenheit durchströmt meinen Körper. Das Windowssymbol erscheint auf dem Desktop mit der typischen Eingangsmelodie und gibt dann die Sicht auf all meine Programme, Dateien und auf dem Desktop zwischengelagerte Bilder frei.

Ich klicke eilig und doppelt auf das Abbild eines Miniaturzauberbuchs. Den Icon* habe ich extra mitten auf dem Hintergrundbild positioniert, das mein Frettchen Rocky darstellt. Unsere Familie hat eigentlich drei Frettchen. Aber den schwarzen Wildfang habe ich eigenhändig aus dem Tierheim gerettet, weswegen uns eine besondere Freundschaft verbindet.

>Prefix of Death< leuchtet in großen Buchstaben auf dem Bildschirm auf und der Titelsong – eine Mischung aus Xylophontönen und Heavy Metal – erklingt. Der Rhythmus der Musik steht im Vordergrund. Er ist hart, pulsierend. Die Bässe, die aus den Boxen tönen, ergreifen förmlich meinen Körper. Sie durchströmen ihn, lassen ihn in kurzzeitigen Abständen vibrieren. Meine Armhaare stellen sich auf. Eine Gänsehaut überzieht meinen Körper. Ein freudiger Schauer. In meinen Fingerspitzen kribbelt es.

»Spiel starten«, flüstere ich aufgeregt und drücke den rotbraunen Button auf der oberen Bildschirmhälfte. Beim Anwählen aller Tastenfelder ertönt der metallische Schlag zweier Schwerter. Der Mauszeiger wird zu einem Hybrid aus dem Buchstaben P für ›Prefix‹ und einem Dolch mit ledernem Griff.

Ein Timer, der mir meine Wartezeit auf die anderen Mitspieler bestimmt, zählt nach und nach runter.

>Spiel wurde gefunden – Bestätigen Sie jetzt<

Ich bestätige, so schnell ich kann. An manchen Tagen, wenn die Server überlastet sind, dauert es ewig, ein Team zu finden. Furchtbare Minuten, in denen ich mir Youtube- Videos von Menschen ansehe, die irgendein Game zocken. Doch heute habe ich das Glück auf meiner Seite.

Die Auswahl der Champions wird mit einer bunten Animation eingeleitet, in welcher sich jedes Mal zwei zufällig ausgewählte Tiere im Mangastil bekämpfen, bis eines am Boden liegt. Der Bildschirm gibt dann den Blick auf alle spielbaren Charaktere* frei. Ich wähle TumbleBear, einen riesigen Bären mit dem klassischen Honigtopf in der Hand – mein Favorit. Er ist ein unglaublich starker Supporter*.

Das Spiel beginnt. Ich bin schon so erfahren darin, dass ich es wie im Schlaf beherrsche. ›Prefix of Death‹ ist im Moment die beliebteste Multiplayer-Online-Battle-Arena, die es auf dem Markt gibt. Und die einzige, in der man individuelle Charaktere aus First-Person-Perspektive* spielen kann.

Mit einem lauten Zischgeräusch erscheint TumbleBear auf der Startplattform. Ein Bannring verhindert, dass unser Team – bestehend aus fünf Mitgliedern – direkt in das Spielgeschehen starten kann.

Noch drei, zwei, eins. Der Bannring verschwindet und wir begeben uns auf das Spielfeld. Wenige Minuten später erhalten wir den ersten Kill*. Es läuft ausgezeichnet für mich.Nach einem erfolgreichen 52-Minuten-Game blinkt ein neues Chatfenster auf. Ich tanke meine real-live-Energie mit chemisch duftendem Taurindrink auf und klicke auf das Briefsymbol.

PhoenixHeaven: >Hallo TamBear, ich habe dich während deines Spiels beobachtet. Beantworte mir bitte eine Frage<

TamBear ist mein Username. Tam von Tamara, meinem echten Vornamen, und Bear wegen TumbleBear, meinem Lieblingscharakter in ›Prefix of Death‹.

Ja, ich weiß. Es klingt bescheuert, aber das Problem war, dass – wie so oft – die Usernamen Tamara, Tam, Tammy oder Mara bereits vergeben waren. Und zu allem Überfluss habe ich meinen Usernamen, als TumbleBear auf den Markt kam, von Kampfbanane kostenpflichtig auf TamBear geändert. Klingt einfach seriöser, dachte ich mir damals. Andererseits weiß jetzt jeder Gegner sofort, wen ich spielen werde.

TamBear: >Was gibt’s?< Ich hoffe, nicht schon wieder die Antwort zu erhalten, die ich so oft hören muss.

PhoenixHeaven: >m oder w?<

Wütend klicke ich die Nachricht weg. Immer diese obszöne Frage. Wenn man m  für männlich schreibt, wird man sofort ignoriert, höchstens noch zu einem oder zwei Spielen eingeladen. Aber wenn man w  für weiblich schreibt, bekommt man die standardisierte Freundschaftsanfrage und widerliche, sexistische Fragen gestellt. Die letzten Male wollte mir ein User* mit dem Namen TonkTonk unbedingt sein bestes Stück mit der Webcam präsentieren. Dabei versteht keiner, dass das hier keine schmutzige Partnerbörse wie Tinder ist, sondern ein Onlinespiel.

>??<, blinkt es wieder fordernd auf.

PhoenixHeaven ist ziemlich aufdringlich, denke ich mir, und schreibe >m<, wie ich es immer tue, wenn mir jemand diese Frage stellt und auf Ignorieren nicht anspringt.

PhoenixHeaven: >Sehr gut, klick bitte auf diesen Link.< Im Anhang der Nachricht erscheint ein Hyperlink.

TamBear: >Bleib mir mit deinen Viren vom Hals!< Ich beende das Programm und werfe mich aufs Bett. Der Ton meines Messengers erklingt. Was ist denn nun schon wieder?

Myc, mein bester Freund, fragt mich nach einer Runde ›Prefix‹. Egal, der Typ von eben ist bestimmt schon offline, weil seine billige Anmache und versuchte Virusinfiltration nicht gezogen haben.

Ich öffne erneut das Spiel und lade Myc in meine Gruppe ein. Dann schließe ich kurzzeitig das Prefixfenster und öffne eine Musikplattform, um mich mit Macklemore zu beschallen. Im Augenwinkel sehe ich bereits, wie das Prefixsymbol aufblinkt. Es will mich darauf hinweisen, dass in der Software* etwas geschehen ist. Ich switche* zurück. Leuchtend blinkt eine Freundschaftsanfrage auf.

>PhoenixHeaven möchte mit dir befreundet sein< Genervt verneine ich die Anfrage. Kurz darauf erscheint erneut das Chatsymbol.

PhoenixHeaven: >Bitte klicke auf den Link, TamBear! Du verpasst sonst eine einmalige Chance!<

Pf, nicht zu fassen. Wie armselig ist der denn.

>Myc ruft an<, steht auf meinem Bildschirm und der Ton des online-Telefondienstes Skype* dudelt lautstark vor sich hin.

Ich versuche, auf >Anruf annehmen< zu drücken, doch mein Arbeitsspeicher gibt mal wieder den Geist auf. »Komm schon«, fauche ich und klicke wie verrückt auf den Annahmebutton. Plötzlich öffnen sich das Telefonfenster und gleichzeitig ein Internetbrowser.

»Scheiße!« Ich habe aus Versehen auch den Link unter dem Anrufannahmebutton aktiviert. Von unten klopft Mum gegen die Zimmerdecke. »Ja, ja«, rufe ich ihr hinunter, während ich die Website inspiziere.

>Heroes of the Prefix< steht in großen Buchstaben über einer Internetseite.

»Tammy, alles in Ordnung bei dir? Ist dein PC wieder down*?«, meldet sich Myc durch meine Kopfhörer zu Wort.

Ich nehme das ganze Headset von der Tastatur und lege es mir um. »Myc, warte mal kurz«, sage ich und lese mir die Page weiter durch.

 

>Sollten Sie von uns eine individuelle Einladung erhalten, können Sie mit dieser am Samstag, dem 14. November dieses Jahres an einem Casting teilnehmen, welches wir veranstalten, weil wir ein neues aktives Gruppenmitglied suchen. Wir befinden uns bereits in der Season* und benötigen Auswechselspieler – insbesondere Supporter – für die kommenden Matches. Deswegen sind die bevorstehenden Castings wichtig und sollten von den eingeladenen Spielern unbedingt wahrgenommen werden. Bitte beachten Sie, dass wir Sie ohne eine individuelle Codierung nicht an dem Spielercasting teilnehmen lassen können. Nähere Informationen zu Ort und Zeit sowie Ihr persönlicher Identifizierungscode befinden sich in Ihrer Einladung. Aufgrund einer enorm großen Anfrage ist die Anzahl an Einladungen streng limitiert. Bitte verstehen Sie daher, dass nicht jeder zu dem Casting erscheinen darf und Ort und Zeit nicht an Dritte weitergegeben werden dürfen. Im Falle eines Regelbruchs werden Sie automatisch für das Casting disqualifiziert.

Mit freundlichen Grüßen, die Heroes of the Prefix<

 

TamBear: >Was soll ich mit dem Castingquatsch?<

>PhoenixHeaven lädt ein Dokument hoch<, teilt mir das Chatfenster mit. Sollte das wirklich …?

PhoenixHeaven: >Wir sehen uns Samstag<

Ich klicke wie eine Wilde auf den Anhang ein. Es öffnet sich eine weiße Seite, auf der oben steht: >lade Inhalte<.

»Lad schneller«, kreische ich halb genervt, halb hysterisch.

Myc scheint mich stummgeschaltet zu haben oder auf der Toilette zu sein, zumindest reagiert er nicht auf mein Geschrei. Es öffnet sich ein Dokument. >Einladung zum Spielercasting< lautet die Überschrift.

Ich glaube, ich falle vom Stuhl. Ja, ich falle vom Stuhl. Als ich auf dem Boden sitze, fange ich an, lauter zu quieken als ein abgestochenes Schwein auf der Schlachtbank. An einem Spielercasting teilzunehmen, war immer schon ein Hirngespinst von Myc und mir. Es gibt zwar in Deutschland eine Menge Prefixteams, aber wir haben uns immer für zu schlecht empfunden.

Einfach so eingeladen zu werden, und das zum Casting einer der erfolgreichsten Prefixgruppen, ist der Wahnsinn.

»Ruhe«, höre ich es dumpf von Mum, die wohl beim Abwasch gestört wurde. Ich klopfe als Erwiderung zweimal auf den bereits mitgenommenen Holzboden meines Zimmers und rapple mich dann wieder auf. Mir kommt in den Sinn, dass alles bloß ein böser Scherz sein könnte. Ich überprüfe die Einladung. Oben in der linken Ecke steht ein seriös aussehender Code. Und unterschrieben hat James Farck, einer der Manager und zugleich der beste Spieler des Teams – der wahrscheinlich beste Spieler der gesamten Prefixgemeinschaft, wenn man der Werbung im Prefixportal glauben darf. Ich überfliege die Städte, in denen das Casting angeboten wird.

Bitte ein Ort, der nicht zu weit weg ist.

Fast am Ende der Liste angekommen, schwindet meine Hoffnung. Doch dann lese ich: Am 14. November in der Schubertstraße 23, Regensburg. Mein Wohnort Schwarzenfeld ist keine Dreiviertelstunde von Regensburg entfernt. In meinem Magen kribbelt es, als hätte ich einen Löffel Würmer hinuntergeschluckt. Mir wird warm und ich spüre mein Gesicht anschwellen.

Nicht zu fassen! Ich will PhoenixHeaven schreiben und ihm weitere Fragen stellen, doch er ist bereits offline.

»Was ist los?«, fragt Myc. »Ich war mir Essen machen und meine Mum wirft mit Kuchen durch die Gegend. Sie und Billy haben wieder …«

»Myc«, unterbreche ich ihn. »Ich bin zu einem Casting für Heroes of the Prefix eingeladen. Am Samstag!«

»Nie im Leben«, antwortet er.

»Doch, ich meine es ernst. Mein Spielername steht in der Einladung.« Ich tippe auf die Stelle in dem Dokument, wo TamBear eingetragen ist. Ein fettiger Abdruck meiner Fingerkuppe markiert das Bildschirmglas.

»Wo hast du die denn her?«

»In einem Regulargame* wurde ich angeschrieben und über den Prefixchat hat er sie hochgeladen!« Meine Worte überschlagen sich und die letzten Silben gehen in meinem Redefluss unter.

»Die sind mega krass, Tammy, und füllen Arenen bei ihren Matches. Warum sollten die dich einladen? Sowas kann man richtig leicht faken*!«

Ich schnaufe verächtlich auf. War ja klar, dass Myc – der Pessimist – mal wieder die Hoffnung zerstören muss, anstatt sie aufzubauen und anzufachen.

»Und selbst, wenn du bei denen eingeladen sein solltest«, fügt er hinzu. »Ich würde da an deiner Stelle nicht rein wollen. Die sollen zehn Stunden täglich trainieren. Und …«

Ich meine, Eifersucht aus seiner Stimme herauszuhören. Eifersucht und Misstrauen, ob ich ihn nicht doch verarsche. »Macht mir nichts aus«, sage ich schnell, denn ich bin immer noch überwältigt von meinen Gefühlen. Immerhin habe ich den Beweis vor mir. »Ich kann Prefix von mir aus den ganzen Tag spielen!«

»Ich hab noch nicht zu Ende geredet, Tammy. Unterbrich mich nicht immer.«

»Ja, ja. Mach dir mal nicht direkt ins Hemd.«

»Toll, jetzt hab ich den Faden verloren.«

Er hält inne und ich höre, wie er mit seinen Fingerspitzen auf die Tischplatte vor seinem Rechner trommelt. Der grüne Lack an dieser Stelle ist schon abgeplatzt, das Holz abgenutzt, und gibt einen ganz anderen Klang wieder als der Rest des Tisches.

»Dann kann es auch nicht wichtig gewesen sein«, sage ich und verschränke die Arme.

»Ah, jetzt hab ich’s wieder! Moment, hier irgendwo müsste …«

»Was denn?«

»Warte mal kurz, ja? Ich muss meine Anschuldigungen auch untermauern.« Sein Name Mycroft passt wie Schokoladeneis zu Banane, wie TumbleBear zu mir, wie Essig zu Öl, schlichtweg einfach richtig gut. Er steht für Mycroft Holmes, den Bruder des wohl berühmtesten Kombinatorikers Sherlock Holmes, wobei Mycroft seinem Bruder in nichts nachgestanden haben soll. Mein Mycroft lässt auch liebend gerne Skandale auffliegen und liest sich Berichte, News und Artikel zu allem möglichen Scheiß durch. Ich höre, wie Myc etwas eintippt und mit der Mouse scrollt. Dabei murmelt er die ganze Zeit etwas Unverständliches vor sich hin.

»Wusste ich’s doch!«, ruft er mit einem Mal und schlägt, wie er es immer tut, wenn er Recht behalten hat, auf irgendetwas ein, sodass ich ein lautes Knacken durch mein Headset vernehme.

»Was wusstest du?«

»Die haben ordentlich Dreck am Stecken. Das Management von denen ist ganz schön antifeministisch.«

»Wie bitte?«

»Gegen Frauen.«

»So ein Schwachsinn.«

»Erinnerst du dich nicht an den Beitrag letztens? Den ich dir vorgelesen habe?«

»Keinen Schimmer«, gestehe ich. Wenn Myc mir etwas vorliest, höre ich meistens nicht zu. Es sind immer irgendwelche Forenchats oder andere spekulative Artikel, in denen alles dramatisiert wird, als stünde der Weltuntergang unmittelbar bevor.

»Das hat vor einer Season angefangen. Die Security hat bei jedem ihrer Castings reihenweise Frauen aussortiert. Bestätigt haben sie es nie, aber wer bestätigt auch schon, dass er Frauen von Castings fernhalten möchte. Es gab letztens erst einen Artikel über Sexismus in der Computerspielbranche. Die kamen nicht gut weg.« Myc räuspert sich. Seine Stimme bekommt einen mahnenden Unterton. »Letzte Season ist einiges bei denen vorgefallen. Warum dich überhaupt irgendwer einlädt, verstehe ich nicht. Warum die sich überhaupt Regulargames ansehen und nicht versuchen, Profis abzuwerben, noch weniger. Und wenn das mit der antifeministischen Haltung stimmt, dann bin ich mir beinahe sicher, dass es ein Fake sein muss.«

Ich überlege. »Nein, es kann kein Fake sein. Nur, weil die ein paar Frauen aussortiert haben, ist das noch lange kein Beweis für eine Frauenfeindlichkeit. Viele Frauen sind bei Online Games halt nicht so gut wie Männer.« Ich hebe lehrend den Zeigefinger, obgleich Myc mich nicht sehen kann.

»Ein paar Frauen? Du bist gut. Es waren alle! Die haben sogar Amanda Raskopi abgelehnt.«

»Die Profifrau?«

»Ja, die Profifrau! Als Weibchen hast du keine Chance. Die können dich faktisch nicht eingeladen haben. Außer …«

»Außer was?«

»Außer sie wissen nicht, wer sich hinter deinem Usernamen verbirgt. Aber ich bin mir sicher, dass die sowas zuerst checken, weil die Gruppe allem Anschein nach darauf einen großen Wert legt, wenn nicht sogar den größten. Schlag dir deine Einladung aus dem Kopf, Mädchen.«

Sollte die Frage nach meinem Geschlecht das erste Mal einen tieferen Sinn gehabt haben? »Warum hab ich immer so ein Pech?« Frustriert schüttle ich den Kopf und erinnere mich jetzt doch vage an den Post, den Myc mir vor einiger Zeit vorgelesen hat. Es ging um Frauen als Gamer und ihre Chancen in dieser Branche. Mir war es sowas von schnuppe, dass die HothP* kritisiert wurden. Ich schaue mir ab und an ihre Games an, um mir ein paar Spieltechniken von ihnen anzueignen, aber die Spieler als Personen interessieren mich im Allgemeinen so viel wie eine Kiste Tomaten. Dazu ist zu erwähnen, dass ich Tomaten hasse und eine, wenn auch hypochondrisch geprägte, Allergie gegen sie hege. Abgesehen davon habe ich seit einiger Zeit nicht mehr ihre Matches verfolgt. Der Grund ist ganz einfach: Die HothP betreiben einen Premiumchannel und der ist total überteuert. Deswegen habe ich James Farck auch noch nie in Aktion sehen können. Das Prefixportal schaltet aber andauernd Werbung, in der sein und Amanda Raskopis Name erwähnt und von ihren Fähigkeiten geschwärmt wird.

Vielleicht hätte dort auch bald mein Name gestanden.

»Lies dir das mal durch.« Myc schickt mir einen Hyperlink. Ich klicke ihn an. Ein Forum öffnet sich.

>Einmal Heroes of the Prefix, dann nie wieder!<, lautet die Überschrift einer Userin*. Weiter heißt es: >Ich war bei der Gamescom an ihrem Stand. Sie hatten eine mega geile Show mit Lasern und Promo-Matches! Bin extra nach Deutschland gereist, um mir von dem Team eine Unterschrift zu holen. Große Gamingevents in Schweden bleiben leider immer noch aus. *lach* Als mich mein Cousin, ein Arbeiter am Heroes of the Prefix Stand, zu ihnen schleuste, konnte ich mit anhören, wie einer der Securitys von HothP lauthals mit einer Frau diskutierte. Er sagte ihr, sie solle aufhören, Prefix zu spielen, weil Frauen viel zu schlecht seien. Ein anderer Mann hat ihm auch noch zwinkernd zugestimmt! Heroes of the Prefix? Nie wieder! Der Rest des Teams hat einfach gelacht!!! *unfassbar*<

Eine andere Userin namens LilacFlower schreibt unter dem Post: >Den Frauenhass des Teams habe ich auch zu spüren bekommen. In der Öffentlichkeit sind sie charming, aber wenn es darum geht, dass eine Frau Prefix spielt, sind sie Arschlöcher! Dabei haben Frauen einiges drauf. Das Ganze muss publik gemacht werden, damit sie ihre Fangemeinde – bestehend aus einer Menge liebestoller Frauen – endlich verlieren. Heroes of the Prefix hat einen richtigen Boygroupstatus bekommen *würg*. Hoffe, die DeathNote schlagen sie diese Season. I love Amanda!<

Unter diesem Post hat ein anonymer User* einen Kommentar in einem aggressiven Rotton verfasst: >Das neue Management von HothP – James Farck und sein Prefix-Talent in allen Ehren – hat eine gewaltige Macke!<

Ich kann mir zwar denken, dass das Chatforum namens Kriegerwalküre hauptsächlich von Frauen besucht und manchmal aus einer Mücke ein Elefant gemacht wird, aber trotzdem glaube ich ihren Beiträgen. Ich kann den Hass auf die professionellen Spieler, die sogenannten ›Heroes of the Prefix‹, förmlich schmecken. Mein Mund ist mit einem Mal so trocken wie nach einem Toastbrotesswettbewerb mit Myc.

»Nur Männer«, wiederhole ich leise und jegliche noch vorhandene Farbe weicht aus meinem Gesicht. »Myc, ich muss aber zu diesem Casting«, sage ich und Myc lacht erneut.

Er denkt, ich scherze. Er denkt, ich habe keine Einladung erhalten. Dass ich mich als Mann ausgegeben habe, gestehe ich ihm noch nicht. Er soll mir erst die Echtheit des Formulars beweisen, bevor ich wie ein Volldepp dastehe. Ich screenshotte den Desktop, hole einen USB-Stick aus der Nachttischschublade und ziehe die Bilder und die Einladung von PhoenixHeaven darauf. Dann hetze ich damit aus dem Zimmer. Mum redet auf mich ein, ich solle meine Hausaufgaben erledigen. Die letzte Zeit in der Oberstufe sei somaßgebend und richtungsweisend. Aber im Moment ist mir nur eines wichtig: ›Prefix of Death‹.

Und das wüsste sie auch, würde sie mir mal zuhören, wenn es um mich und meine Hobbys geht. Eigentlich müsste sie schon bei meinen Weihnachtsgeschenken – die sich ausschließlich auf Tuningmaterial für meinen Rechner beschränken – wissen, wofür ich mich interessiere. Dass dem nicht so ist, macht mich unfassbar wütend.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite klingle ich an Mycs Haustür. Ich höre seinen Bruder Billy fluchen und seine Mum schreien. Seitdem Bill seine Passion für Motorräder und Frauen entdeckt hat, sind die beiden wie zwei Hähne in einer Kampfarena: immer auf einen blutigen Streit aus.

Myc öffnet keuchend die Tür. »Tamara? Du warst auf einmal offline.«

»Myc, ich muss zu diesem Casting!«, wiederhole ich entnervt. Die ganze Situation kotzt mich jetzt schon an. Wieso muss alles so kompliziert sein und ich gelange an das einzige Team, das keinerlei Frauenquote besitzt?

Myc bittet mich hinein. Ich kenne den Weg zu seinem Zimmer und gehe einfach vor, während er noch Getränke und ein halbes Stück Kuchen – das ziemlich zermatscht aussieht – aus der Küche holt. Oben riecht es nach Qualm. Seit neustem möchte Myc rauchen. Rauchen, sagt er, fördere seine Konzentration beim Spielen.

So ein Schwachsinn! Mit TumbleBear mache ich ihn alle Male platt, ob Raucher oder nicht.

Sein Lieblingschampion ist SilverDrage, was man unschwer in seinem Zimmer erkennt: Die Wände sind plakatiert mit Abbildern des silbernen Drachen mit dem langen eisblauen Bart und den starken Frostattacken*. Ich habe immer noch die Wette mit ihm laufen, dass ein Chinese SilverDrage entworfen hat. Er hingegen meint, ein übermotivierter Amerikaner mit Hang zu chinesischem Essen sei der Designer. Aber was davon stimmt, werden wir wohl nie herausfinden. Ich werfe mich aufs Bett und dem ins Zimmer kommenden Myc den Stick zu.

»Schau es dir selbst an!«, rufe ich und nehme ihm eine Flasche Fanta ab, die droht, aus seiner Hand zu rutschen. Myc lädt die Dateien auf seinen Desktop und beäugt sie einige Zeit über skeptisch. »Und? Was sagst du?«

Er kratzt sich am Kopf. »Ich weiß nicht, Tammy. So eine Einladung und der Code sind leicht nachzumachen. Warum sollten die gerade dich einladen?« Ich schnaube einmal wütend auf und reibe mir entnervt die Schläfen. »Versteh mich nicht falsch, du bist großartig und hast es manchmal echt drauf, aber das sind Vollprofis, die auf ganz anderem Niveau Mitglieder suchen. Wir sind immer noch im Crystalrang und werden wahrscheinlich niemals zu Goldspielern aufsteigen, geschweige denn zu Fighting-Spirits. In diesem Metier wird bei den Profis aber gesucht. Wer weiß, vielleicht steckt hinter der Nachricht ein Vergewaltiger, der dich bloß nach Regensburg locken möchte, um dich …«

»Quatsch«, verteidige ich meine letzte Hoffnung, eine echte Einladung erhalten zu haben. »Mein Gehirnfrost war im letzten Match zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Ich habe das Gefühl, dass er immer stärker wird. Ich konnte die Bildwechsel erkennen, Myc. Ich sah die verdammten, sich auswechselnden Bilder! Du kannst dir nicht vorstellen, was das für ein Flash war, als alles wieder Geschwindigkeit aufgenommen hat und ich wieder im normalen Tempo sehen konnte. Ich habe das Gefühl, dass sich meine Fähigkeiten in Prefix immer mehr ausbauen. Der Gehirnfrost ist zu meinem Partner geworden. Mit ihm kann ich …«

»Hör mal zu, erstens bin immer noch ich dein Prefix-Partner und zweitens: Nur, weil du durch deinen Gehirnfrost für ein paar Sekunden alles in Zeitlupe sehen kannst, heißt das nicht, dass du damit direkt zum Vollprofi wirst.«

Zu Beginn war der Gehirnfrost wahrlich nicht mehr als ein Fünkchen, das mir über die Schläfen in den Kopf schoss. Er hat mir für kurze Zeit meine Sinne benebelt. Doch, der Gehirnfrost kam häufiger. Er wurde stärker und von meiner Sucht nach ›Prefix‹ genährt. Trotzdem überlege ich. Myc hat Ahnung von gefakten Dokumenten. Er hat selbst schon auf Anraten von mir die eine oder andere Entschuldigung für uns erstellt, sodass wir anstelle des langweiligen Unterrichts zur Eisdiele konnten.

»Bist du sicher? Sicher, dass das leicht zu faken ist?«

»Überzeug dich selbst.« Myc weist mit seiner Hand auf den grell leuchtenden Desktop. >Myc ist der Größte<, steht als Überschrift über einem Dokument. Ich scrolle nach unten. >Myc ist toll, toller, am tollsten.< Darunter die Unterschrift von James Farck und in der oberen rechten Ecke steht ein zwölfstelliger Code.

»Irgendwer hat bestimmt rausgekriegt, dass du gerne zockst, Tam. Als Nächstes will er dann deine Kontodaten.« Er hält inne, als er meine traurige Miene bemerkt.

»Wir können zu einem Casting einer anderen Gruppe gehen, wenn du darauf so Bock hast. Immerhin …«

»Ist ja gut! Ich dachte nur … Ach, ist doch egal«, falle ich ihm ins Wort. Der Ballon, der sich mit all meinen Hoffnungen und Träumen gefüllt hat, platzt mit einem lauten Knall.

»Ach komm, unser Zweimannteam ist doch auch nicht schlecht.« Er lacht und streicht sich über sein mit Chipskrümeln bestreutes Shirt, das seinen schmächtigen Oberkörper kleidet.

Enttäuscht schlurfe ich zurück nach Hause. Das hatte ich mir anders vorgestellt. Wie dumm war ich, anzunehmen, dass mich jemand in ein Computerspielteam aufnehmen will, ich vom einen auf den anderen Tag berühmt werde und hier weg kann?

Die hätten mich als Frau eh nicht genommen. Zum Glück weiß Myc nichts von meiner Lüge. Er hätte mich als verrückt erklärt. Womöglich war es bloß wieder ein Perverser, der mich tatsächlich nach Regensburg locken wollte. Vielleicht hat Myc recht und ich sollte einfach zu einem offenen Casting eines anderen Teams.

Zuhause höre ich mir Mums Vorwürfe an, provoziere sie mit wahllosen Beleidigungen und schlage die Tür zu meinem Zimmer ins Schloss. Vom Boden lese ich ein paar verstreute Mangas auf und lege sie neben meine Animesammlung in das Regal. Jetzt kann Mum wenigstens nicht mehr behaupten, dass ich nicht aufgeräumt hätte.

Ich starte meinen Rechner und im Anschluss ›Prefix‹. Wehmütig lese ich mir den Chatverlauf von PhoenixHeaven und mir noch einmal durch.

»Wir sehen uns Samstag«, wiederhole ich leise und Wut keimt in mir auf. »Tun wir nicht!«, rufe ich dem Desktop entgegen und schreibe in großen Buchstaben >NEIN< zurück.

>PhoenixHeaven ist jetzt online<

Mist, Mist, Mist. Hektisch schließe ich den Chat wieder.

>PhoenixHeaven lädt dich zu einem Spiel ein<

Was soll das denn? Der Annahmebutton blinkt bedrohlich. Soll ich? Ich verneine die Anfrage und starte ein neues Match.

>Sie haben einen Beobachter<

Langsam nervt mich dieser PhoenixHeaven. Myc hat definitiv recht. Ein Mitglied der berühmten ›Heroes of the Prefix‹ würde niemals einem Regularplayer so viel Aufmerksamkeit schenken.

Ich wähle TumbleBear an und starte in der Anfangsarea*. Die richtigen Items* sind schnell gekauft und ab geht’s auf die Botlane*. Mit mir macht sich ScretchingFerret in die untere Region der Spielmap auf. TumbleBear ist etwas langsamer als das Frettchen und ich komme einige Sekunden verzögert am unteren Tower* an. In der Mitte hält BitingHorse die Stellung und oben hat sich MuscleRhino neben unserem Tower positioniert. ScretchingFerret beginnt, die Skeletons – kleine computergesteuerte Kämpfer, die die Spielmap* ablaufen – anzuhitten und so Gold für Gegenstände zu sammeln. Er macht das mit einer solchen Präzision, dass ich es in Erwägung ziehe, für uns ein Überraschungsmanöver einzuleiten. Von unseren Gegnern fehlt momentan noch jegliche Spur. Ich bin gerade dabei, mich in den Jungle* zu begeben, als ein Teammitglied >Top und Mid fehlt< in das Chatfenster schreibt. Aus dem eben noch so sicher scheinenden Kartenbereich, der den eigenen Charakter für Botlane*, Midlane* und Toplane* unsichtbar macht, kommen vier Gegner auf mich zu.

BUMM – ein stechender Schmerz zieht durch meinen Kopf und drückt an die Schläfen: Gehirnfrost. Mein Blickwinkel scheint sich zu verschieben. Es gibt nur noch die Bildschirmfläche meines Computers vor mir. Alles verlangsamt sich. Ich spüre meine Finger zucken. Der Bildschirm flackert, stockt, bis die einzelnen Bilder auf dem Monitor erscheinen, die normalerweise nicht für das menschliche Auge sichtbar sind. Erster Bildwechsel.

Ein kurzer Moment der Schwärze. KamikazeCat von rechts. Zweiter Bildwechsel. Der Flug des Honigtopfes erinnert mich an ein Kaugummi, das an einer Schuhsohle nach oben gezogen wird. Zäh und langsam bewegt sich das Wurfgeschoss. Seine Flugbahn leitet den dritten und vierten Bildwechsel ein. Der Honigtopf trifft KamikazeCat am Kopf und der darin enthaltene Brotaufstrich explodiert. Fünfter Bildwechsel. Die gelbe Rauchwolke behindert DeadDog. Er ist ein guter Champion, der ebenfalls in der Funktion als Supporter eingesetzt werden kann. Es handelt sich um einen untoten Dackel, dessen Körper durchsetzt ist mit knochigen Auswucherungen. Löcher in seinem Gesicht und seinem Hinterteil lassen seine Organe durchschimmern. Sechster Bildwechsel. Ich aktiviere die Fähigkeit Bärentatze und mit meinen langen Klauen zerstückle ich den auferstandenen Hund in drei Hälften, die kreuz und quer zu Boden fallen. Siebter Bildwechsel. EatingShrimp wirft eine Gabel nach mir. Ein Schmunzeln breitet sich auf meinen Lippen aus, als ich den rosafarbenen Kerl angehüpft kommen sehe. Dabei darf man ihn nicht unterschätzen. Die Gabel trifft mich beinahe von hinten, doch ich kann ihr ausweichen. Nach nur wenigen Sekunden, die sich viel länger anfühlen, ist der Gehirnfrost vorbei und alle vier Gegner tot. Schwindel erfasst mich, als die Bildwechsel schneller werden und schließlich wieder alles unfassbar rasant vor meinen Augen abläuft. Ich teleportiere mich mit zitternden Fingern zur Anfangsarea auf unsere Startplattform, um mein geschwächtes Leben wieder aufzufüllen.

>Krass!<, schreibt ein Teammate*. Ich lächle und atme tief durch. Mit ein paar Schlucken aus einer Colaflasche verfliegt das schwindelige Gefühl. Zurück bleibt nur eine gewisse Müdigkeit.

Nach 46 Minuten haben wir gewonnen. In den letzten 20 hat Mum immer wieder gegen die Zimmertür geklopft, um mich zum Schlafen zu bewegen.

Ich tue ihr den Gefallen und warte in meinem Bett auf den wohl langweiligsten Sonntag überhaupt. Hoffentlich hat Mycroft morgen Zeit.

2

 

Die Sonne weckt mich, aber ich will noch nicht aufstehen.

»Tamara! Es gibt Frühstück!«, ruft Mum aus dem Erdgeschoss nach oben.

»Lass mich einfach mal in Ruhe«, kreische ich in mein Kissen, um einen weiteren Familienstreit mit Mum zu verhindern. Als ich meinen Kopf wieder vom Kissen löse, klebt eine Daune an meiner Lippe. Sie kitzelt mich bei jedem Atemzug. Ich puste einmal heftig, um sie loszuwerden.

Müde schleppe ich mich zum Bad, mache mich fertig und setze mich an den mit Detoxtee und Gemüse beladenen Frühstückstisch. Low carb lautet die neue Devise von Mum. Ich bin froh, dass sie mir wenigstens meine Cornflakes lässt.

Meine Schwester ist natürlich schon lange wach und sitzt gestylt als Klon von Mum mit einer Tasse Tee in der Hand neben mir. Als wäre ihre bloße, perfekte Anwesenheit nicht schon genug, zwitschert sie die ganze Zeit Lobpreisungen ihres neuen Arbeitgebers vor sich hin. Mum huldigt ihr selbstredend mit Komplimenten für den tollen Job. Ich schlage derweil mit meinem Löffel Wellen in die Milch meiner Frühstücksflakes. Ein Schwung Milch schwappt über den Schüsselrand und rinnt am Porzellan nach unten. Im selben Moment stolpert Dad mit seiner Krawatte in Händen die Treppe herunter.

»Hallo, meine bezaubernden Damen«, säuselt er, während er sich Mappen unter den Arm schiebt, die jeden Moment drohen, auf den Boden zu fallen. Seine Krawatte rutscht ihm vom Hals. Er versucht sie mit seinem Fuß aufzufangen, aber sein Gleichgewichtssinn reicht nicht für Mappen und Krawatte.

»Hallo, mein Schatz«, entgegnet Mum mit einem breiten Lächeln auf den Lippen. Sie sammelt die verstreuten Papiere, Kladden und Arbeitsschriften ein, drückt Dad einen Kuss auf die Wange und krault seinen Nacken. Die beiden sind nach all den Jahren noch immer verliebt. Eklig!

»Musst du etwa wieder arbeiten? Ich hatte gehofft, dass wir diesen Sonntag mehr Zeit für uns hätten.«

»Ich muss. Frank hat mit den Unterlagen für Frau Schneider ein gewaltiges Chaos angerichtet, das es nun zu beseitigen gilt.«

Mum stöhnt, bis sie ihr Lächeln, eingemeißelt in ihrem Gesicht wie in hartem Beton, wiedererlangt. »Erwartest du zufällig einen wichtigen Brief?«, trällert sie, bindet beiläufig seine Krawatte und schwebt zurück zum Tisch.

»Nein, wieso? Heute ist doch Sonntag.« Dad bedient die Kaffeemaschine. Mit einem Zischen tropft braune Flüssigkeit in seine BESTERVATER-DER-WELT-Tasse, die meine Schwester ihm letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hat.

»Ja, ich weiß, aber heute Morgen lag ein Brief im Flur. Vielleicht habe ich ihn gestern übersehen, als ich die Post geholt habe. Ein Absender steht nicht drauf.«

Mum steht wieder auf und holt von der kleinen hellbraunen Holzkommode im Flur einen weißen Umschlag. Herr Carlmeyer steht in verschnörkelter Handschrift darauf und ist ausschlaggebendes Indiz für mich, dass der Brief von Dads gestriegelten Arbeitskollegen kommen muss: Die einzigen Menschen auf der Welt, deren Handschrift aussieht, als hätte man die Schriftart Edwardian Script am PC verwendet.

»Zeig mal her!« Dad nimmt das Papier und reißt es auf. Mum schaut ihn dabei böse an, weil er keinen Brieföffner benutzt.

»Was ist denn das? Wieder eine Werbung. Für Computerspiele bin ich nun wirklich zu alt.« Er zerknüllt das Blatt und wirft es neben mich in den Mülleimer.

»Das wäre doch was für dich gewesen, Tamara«, hüstelt meine Schwester gehässig. Sie weiß genau, dass sie damit den Hass von Mum auf meine alltägliche Spielerei noch verschärft.

»Entschuldigt mich«, knurre ich und stehe auf. Ich will wieder zurück in mein Zimmer und meine Ruhe.

»Nicht so schnell! Deine Schüssel in die Spüle und den Müll bringst du auch noch raus!«, herrscht Mum.

Ich stöhne. Missmutig knalle ich die Schüssel ins Spülbecken und packe mir den Küchenmüll. Das stinkt!

Seufzend betrete ich unseren Vorgarten. Mum’s Illexansammlung ist unter Perfektion geformt und ersetzt die Buchsbäume, die letzten Sommer von gefräßigen Schädlingen dahingerafft worden sind. Ich gehe zu unserer Einfahrt und beobachte eine dicke Schmalzfliege, die sich aus dem Restmüll quetscht. Ihre Augen schimmern im Sonnenlicht wie lilafarbenes Metallpapier.

Als ich den Kücheneimer draußen entleere, fällt das zerknüllte Papier zu Boden. Mit einem Windzug wiegt es sich hin und her. Es nimmt dabei grüne Pigmente von Moosresten auf, die sich, wie bei einer Walze, auf dem Papierrücken verteilen. Ich kann einige Wortfetzen erkennen.

Einladung zum Spieler … Identifizierungs … Regensburg …

Das kann doch nicht wahr sein, oder? Ich falte es auf und drücke es auf den Pflastersteinen in unserer Einfahrt platt, um den ganzen Text lesen zu können. Es ist dieselbe Einladung, die ich gestern erhalten habe. Nur, dass bei dieser die Unterschrift mit Tinte gesetzt wurde. Und auch der Identifizierungscode ist per Hand geschrieben.

Den Mülleimer lasse ich einfach liegen und renne rüber zu Myc. Ich klopfe und klingele Sturm. Seine Mutter ist nicht zuhause. Dafür öffnet mir sein Bruder Billy die Tür.

Auch nicht gerade besser.

Er zieht einen Mundwinkel nach oben und streicht sich mit der flachen Hand über den kreuz und quer wachsenden Dreitagebart. Bevor er einen seiner blöden Scherze machen kann, stehe ich schon in Mycs Zimmer.

»Tammy?«, fragt er und schreckt auf, als er mich keuchen hört. Klackernd versucht er, eine glänzende Füllfeder zurück in ihren Deckel zu befördern. Auf dem Blatt Papier vor ihm prangen ein paar kunstvoll angefertigte Wörter und Herzen in roter Tinte.

»Ich … ich …«

»Hol erst mal Luft.« Myc bietet mir seinen quietschenden Schreibtischstuhl an.

Ich lehne ab und lege das zerknitterte Papier auf seinen Nachttisch. »Schau es dir an! Glaubst du es jetzt?«

»Was ist denn so eilig? Ich …« Myc hält mitten im Satz inne und betrachtet mit offenem Mund das Papier. »Tammy, woher hast du das?«

»Das wurde heute in unseren Briefschlitz geworfen.«

»Ist nicht wahr.« Myc fährt mit seinem Zeigefinger den Identifizierungscode und die Unterschrift von James Farck nach. »Warte mal!« Er geht zu seinem Kleiderschrank und schiebt seine Hemden beiseite. Seine angehäufte Kleidung wirkt wie ein bunter Zirkus: ein Aufgebot an Farben. Dabei ist jedes Teil im Einzelnen schlicht. Auf einem Brett hinter seiner Kleiderstange steht ein kleiner Pappkarton. »So, dann schauen wir mal.« Myc öffnet den Karton und holt ein Blatt heraus.

»Wo hast du das denn her?« Ein Hauch von Neid schwingt in meiner Frage mit. Myc hält ein Bild von SilverDrage in seinen Händen. Darauf prangt die Unterschrift von James Farck.

»Bill hat es mir zu meinem Geburtstag ersteigert. Eigentlich wollte ich es dir zu Weihnachten …«

»Und? Ist sie echt?«

Myc hält das Bild neben das zerknitterte Blatt Papier. »Die muss echt sein, Tammy. Siehst du den Bogen über dem F?«

»Ja«, rufe ich freudig. »Ja, da ist ein Bogen!« Grinsend fahre ich das F von Farck nach. Für einen Moment habe ich das Gefühl, als würde James Farck persönlich vor mir stehen.

Myc inspiziert derzeit die Umschlagfetzen, die ich vorsichtshalber ebenfalls eingesteckt hatte. »Ähm … Tammy?«

»Ja?«

»Warum ist der Brief denn an Herrn Carlmeyer adressiert? Meinst du, die denken vielleicht wirklich, dass du ein Mann …?«

Mist. Jetzt ist es an der Zeit, Myc zu beichten, was der Inhalt von PhoenixHeavens und meinem gestrigen Chat war. Ich hatte gehofft, dass es nicht an diesem zumindest für mich unbedeutsamen Detail liegt, dass ich diese Einladung in Händen halte. Nein, eigentlich hoffe ich es zu diesem Zeitpunkt immer noch.

»Ich habe PhoenixHeaven gestern eventuell …« Ich schlucke laut. »Also aus Versehen geschrieben, dass ich männlich bin«.

»Warum das denn, Tammy? Und ich rede mir den Mund fusselig, dass das Ding gefakt sein muss, weil die nichts von Frauen halten. Du hättest ruhig mal sagen können, dass du dich für einen Typen ausgegeben hast.«

»Ich hab vermutet, dass das wieder ein Verrückter ist, der sich besser auf die Suche nach einer billigen Partnerbörse machen sollte, wenn er bloß Teenagerinnen angraben will. Deswegen hab ich geschrieben, dass ich ein Mann bin. Du kennst doch meine Abwehrmethoden.«

Myc schüttelt wieder und wieder den Kopf.

»Ach komm, Myc. Es muss doch eine Lösung für das Dilemma geben, oder?« Ich ziehe einen Schmollmund. »Oder?«

»Jetzt schau mich nicht so an!« Er wiegt seinen Kopf hin und her. »Na ja. Du hast wenigstens eine Einladung bekommen. Die Lösung wird sein …«

»Ja? Spuck aus!« Ich knuffe seine Schulter.

»Wenn du da als Frau nicht reinkommst, gehe ich einfach für dich hin.« Er streckt mir die Zunge raus.

»Du hast sie wohl nicht mehr alle. Die Chance, mit Prefix Geld zu verdienen, lasse ich mir nicht entgehen«, sage ich ernst und muss an das Preisgeld der letzten Season denken. Es ging in die Millionenhöhe.

Die letzten drei Seasons haben ›Heroes of the Prefix‹ immer gewonnen, weswegen ihr Hass gegen Frauen den Anhängern wohl auch egal ist. Ruhm zählt mehr als Charakter. Im Moment sogar für mich, die ich in ein Team möchte, das zu 99,9 Prozent nicht von meinem Geschlecht begeistert sein wird. Eine traurige Feststellung, dass man des Geldes wegen Rassismus oder Vorurteile ignoriert. Na ja. Die Anhänger von den ›Heroes of the Prefix‹ haben bloß ein einziges Mal der Gruppe wirklich abgeschworen. Und das, bevor Farck mit dem neuen Management und den neuen Investoren die Leitung übernommen hat.

Ich stöhne lauthals. »So ein Mist. Immer passiert mir sowas!«

»Jetzt krieg keinen Nervenzusammenbruch«, sagt Myc und tätschelt mir die Schulter. »Die Season hat ja auch schon begonnen. Selbst wenn du da genommen worden wärst, dann nur für die letzten drei Championmatches, und ob du da gegen einen erfahrenen Teamspieler eingetauscht wirst, bezweifle ich. Ich meine, Heroes of the Prefix besteht aus dreizehn Mann.«

»Es scheinen einige Spieler ausgestiegen zu sein. Zumindest steht auf der Website, man soll das Casting dringend wahrnehmen und sie suchen bevorzugt einen Supporter. Rate mal, was ich seit einigen Wochen nur noch zocke?« Ich stöhne wieder. »Ich wurde persönlich eingeladen, Mycroft!«

Ich weiß, wie sehr er es hasst, Mycroft genannt zu werden.

Den Namen haben ihm seine Eltern gegeben, nachdem sie in ihrem Buchclub alle Sherlock Holmes Bücher behandelt hatten. Dabei sind die ursprünglich irischen Einwanderer eigentlich Amerika-Fans und halten nicht viel von Großbritannien. Ihr Wohnzimmer und die Küche sind mit Route66-Schildern regelrecht geflutet und zu Weihnachten lässt es sich Mycs Dad nicht nehmen, eine imposante Festtagsbeleuchtung aufzubauen. Der riesenhafte Santa verpasst dem einen oder anderen Kind zwar einen gewaltigen Alptraum, aber für Mycs Eltern ist er die Verkörperung des amerikanischen Traums. Aus ihrer Liebe zum amerikanischen Vaterland entsprang wohl auch die Namensidee für ihren Erstgeborenen.

»Hast du nicht die Chatbeiträge gelesen? Frauen sind es nicht wert, Prefix zu spielen«, patzt Myc, sichtlich beleidigt über meinen Angriff.

»Ach, halt doch die Klappe, du Idiot!«, blaffe ich zurück.

Myc zuckt, sein Gesichtsausdruck wird milder. »Die sind auch total wählerisch. Hab mal gehört, die haben bei einem Casting von fünfzig Spielern nur einen einzigen Mann genommen. Farck soll sich seine Spieler immer schon vorher ausgucken. Und sein Username ist nicht PhoenixHeaven, sondern Farcknator, so viel steht fest, Tam.«

»Wer soll PhoenixHeaven denn sein? Und wie ist er an die Unterschrift gekommen?«, frage ich und überlege. Ich hatte mir ausgemalt, wie Farck vor seinem teuren Gamer-PC sitzt und mich beobachtet. Mich, als TamBear.

»Von mir aus, vielleicht ist PhoenixHeaven jemand, der im Namen von den HothP Spieler in Regulargames beobachtet und einlädt. Aber selbst dann sind deine Chancen gleich null, weil du kein Fighting-Spirit bist, sondern Tamara Carlmeyer aus Schwarzenfeld im Crystalrang.«

›Prefix of Death‹ unterteilt Spieler in verschiedene Kategorien, damit Anfänger mit Anfängern spielen und Fortgeschrittene je nach ihrem Können Gegner desselben Ranges bekommen. So gibt es in aufsteigender Reihenfolge Ruby, Opal, Emerald, Crystal und Gold. Der Sprung von Crystal auf Gold gelingt nur den wenigsten Spielern. Wenn man ihn geschafft hat, dann gehört man zur Zocker*elite. Diejenigen, die ›Prefix of Death‹ professionell spielen, erlangen zusätzlich zu dem Goldstatus den Titel Fighting-Spirit. Die Ränge werden nach den Siegen, der Siegbeteiligung, den Toden und Tötungen berechnet. Ich bin mir beinahe sicher, noch ein paar Wochen mehr und der Gehirnfrost – kombiniert mit intensivem Zocktraining – würde mich dem Goldrang zumindest näher bringen.

»Aber wieso kriege ich dann diese persönliche Einladung? Der Code und die Unterschrift sind handschriftlich. Vielleicht ist PhoenixHeaven einer der anderen Manager! Dann ist er ein wichtiger Part des Teams und kann für mich ein gutes Wort einlegen. Das muss es …«

»Nein, keiner von denen spielt noch Prefix, das sind alles Geschäftsleute, bis auf Farck. Und hast du dir überhaupt mal überlegt, wie stalkerhaft das ist, dass du diese Einladung bekommen hast? Die haben deine Adresse herausbekommen und den Brief hier höchstpersönlich, ohne Poststempel, eingeworfen.«

»Ja, aber dann muss ihnen doch etwas an mir liegen.«

»Probieren kannst du es. Ich schätze mal, wenn die deine Adresse haben, finden sie auch bald heraus, wer noch bei euch wohnt. Die erfahren schneller, als dir lieb ist, was für ein Geschlecht du hast. Und ich bin gespannt, wie viel ihnen noch an dir liegt, wenn sie wissen, dass du eine Frau bist.«

»Der Brief war an Herrn Carlmeyer adressiert und nicht an Frau. Ergo: Sie wissen es nicht! Es muss doch …«

Der nervige Ton eines Skype-Anrufes erklingt und Myc wendet sich zum Desktop. »Es ist Rosemarie«, sagt er mit einem fast schon entschuldigenden Blick.

Rosemarie ist Mycs neue Flamme. Seine alte war ich. Es passt mir nicht recht in den Kram, dass Myc mit Rosemarie flirtet. Aber ich kann keine Ansprüche an ihn stellen. Immerhin habe ich mit ihm Schluss gemacht. Das hat unsere Freundschaft ziemlich belastet, aber es ist auch schon einige Zeit her. Ich nicke Myc zu. Er bestätigt den Anruf.

»Hallo Süße, was gibt’s?«, säuselt er dem starren Profilbild von ihr entgegen. Rosemarie kichert und ich spüre förmlich, wie sie rot wird.

»Mir geht’s gut, aber du sollst mich doch nicht immer Süße nennen«, lacht sie, bedacht darauf, kindlich-naiv zu klingen. So richtig offiziell ist es bei den beiden anscheinend noch nicht. Ich muss grinsen.

»Kann ich zu dir kommen?«, fragt sie.

Myc zögert. »Ja, aber …«

»Schon gut«, flüstere ich ihm zu. »Wir reden morgen in der Schule weiter.« Myc macht eine dankende Geste und verspricht mir, morgen eine Lösung parat zu haben.

Meine Socken sind mit trockenen Kuchenstücken übersät – letzte Überbleibsel von der gestrigen Mutter–Sohn–Schlacht, als ich sie in meine Schuhe stecke. Myc bleibt oben und redet mit Rosemarie.

Ich verlasse sein Haus und vertiefe meine Hände in meinen Jackentaschen. Dieser Winter verspricht kälter zu werden als die letzten. Meine Überlegungen kreisen um einen Spaziergang, um den Kopf zu entleeren. Doch ich entscheide mich dafür, mich sofort Mum zu stellen, die mich wegen meines Aufstandes eben zur Rechenschaft ziehen wird. Besser, man bringt die unangenehmen Momente hinter sich, als vor ihnen zu flüchten. Vor Mum zu flüchten, wäre so oder so ausweglos. Ich ziehe den Pelzkragen meiner Jacke nach oben und schnappe mir den umgestoßenen Mülleimer, der in der Einfahrt liegt. Ich seufze. Eine kühle Brise lässt das Laub auf der Straße rascheln. War da jemand? Ich meine, einen Schatten gesehen zu haben, doch niemand ist da. Ich bin ganz alleine.

Mit einem prüfenden Blick betrete ich unseren Hausflur. Mum ist nirgends zu sehen. Mein Vorteil. Ich lasse die Schuhe an und schleiche zur Treppe. Was ist das? Ich erkenne die Handschrift sofort wieder. Auf unserer Kommode im Flur liegen fünf weitere Briefe, alle adressiert an Herrn Carlmeyer. Ich schnappe sie mir und betrete die erste Stufe. Sie knarrt bedrohlich auf. Fuck.

»Tamara?«, erklingt es aus der Küche.

»Mist«, fluche ich leise.

»Hast du deine Hausaufgaben für morgen schon erledigt?« Ich höre Mum ungeduldig mit ihrer Fußspitze auftippen.

»Lass das meine Sorge sein. Ich bin gerade in einer sehr schwierigen Phase, Mum«, sage ich so genervt, wie ich nur kann, und husche nach oben.

»Such dir endlich mal Arbeit, anstatt im Anbau oder bei Mycroft zu hocken!«

Ich verschwinde in meinem Zimmer. Demonstrativ knalle ich die Tür ins Schloss. Sie soll mich in Ruhe lassen. Immer liegt sie mir mit ihrer Arbeit in den Ohren. Als ob ›Prefix‹ keine Arbeit wäre!

Einen Moment lang starre ich die Briefe an. Plötzlich schießt mir durch den Kopf: Vielleicht wird ja ›Prefix‹ bald meine Arbeit sein!

Ich öffne die Tür zu dem kleinen Nebenraum. Die Türklinke lässt sich nur schwer drücken und klackt bei jeder Betätigung laut. Eigentlich verbirgt sich hinter der gelb getünchten Holztür ein begehbares Ankleidungszimmer, aber wozu sollte ich so etwas brauchen? Ein begehbares Computerzimmer ist um einiges cooler. Ich sauge mit meiner Nase den Geruch nach abgestandener Cola und muffigem Elektrosmog ein.

»Scheiße, der PC!« Das grüne Licht am Lüfter brennt noch immer und ein surrendes Geräusch teilt mir mit, dass ich ihn gestern nicht ausgeschaltet habe. Durch ein Wischen der Maus leuchtet der Desktop auf. ›Prefix‹ ist noch immer geöffnet. Mahnend blinkt das Programm auf: Drei neue Chatbeiträge von PhoenixHeaven.

Nachricht Nummer eins: >Was ich noch sagen wollte …<

Nachricht Nummer zwei: >Du hast sehr gut gespielt!<

Nachricht Nummer drei: >Nein, fantastisch!;)<

Ich merke, wie Hitze in mein Gesicht steigt. Wer auch immer hinter PhoenixHeaven steckt, er scheint in mir etwas zu sehen, das ich selbst nicht mit fantastisch bezeichnen würde. Ich beherrsche ›Prefix‹ zwar. Aber ich bin in manchen Spielen genauso fehl am Platz wie andere Noobs*. Ich fahre den PC herunter und schaue auf meinen Schreibtisch. Dabei fällt er auf meine Hausaufgaben, aber ich entscheide mich bewusst, sie nicht zu machen und werfe mich aufs Bett.

Diese Nacht werde ich nur von ›Prefix‹ träumen, das weiß ich.

3

 

Die Schulglocke klingelt. Ich renne die letzten Stufen der langen Steintreppe nach oben. Keuchend halte ich mich an einem Pfeiler fest. Nur noch ein paar Meter, sage ich mir und raffe mich wieder auf.

In der Klasse wartet schon ein wütender Herr Richter. Er steht vor einer befleckten Wand. Die gelben und roten Striemen sind unserer Klasse und dem nahegelegenen Fast-Food-Imbiss geschuldet. Kaum jemand kann die sauren Gurken auf den Cheeseburgern ausstehen, weswegen sie in regelmäßigen Abständen an der Tapete unseres Klassenraumes landen.

»Fräulein Carlmeyer? Sie sind zu spät.« Herr Richter klopft auf seine Armbanduhr und weist mich ungeduldigen Blickes auf meinen Platz.

»Entschuldigen Sie«, keuche ich und schmeiße meinen Rucksack unter mein Pult. Myc schielt zu mir rüber.

»Pass auf, heute ist mit dem nicht zu scherzen.«

Herr Richter hört Mycs Stimme, so leise er auch gesprochen hat, und wirft ein Stück Kreide auf seinen Schulordner. Myc zuckt zusammen.

Ich grinse schadenfroh, während Myc mit seinem Ärmel versucht, den weißen Staub von seinen Unterlagen zu wischen.

»Ruhe jetzt, verdammt!«, ruft Herr Richter und spuckt dabei die Schüler auf den vorderen Plätzen an. Als er sich zur Tafel wendet und beginnt, die Verben aufzuschreiben, die wir für eine Analyse von Homo Faber verwenden sollen, rutscht Myc näher zu mir.

»Ich hab eine Lösung«, sagt er.

Ich werde hellhörig. »Spuck schon aus!«, zische ich ihm zu, während er ein zerknittertes Blatt Papier aus seiner Hosentasche holt. Darauf ist ein Strichmännchen mit überdimensional großen Brüsten aufgemalt.

»Sehr witzig, du Dumpfbacke! Ich lasse mir keine Brustimplantate einsetzen. Das ist es mir nicht wert. Und was soll das überhaupt bringen?« Ich verschränke die Arme. Dann überlege ich und schmunzle. »Obwohl«, sage ich, nachdem ich Riesenbrüste und eine Menge Geld gegen kleine Brüste und keinen Cent abgewogen habe.

Myc schlägt mir auf den Hinterkopf. »Du Idiot, warte doch ab!«

»Aua«, erwidere ich wütend und reibe mir den Nacken.

Im selben Moment bricht Herrn Richter ein Stück Kreide ab. Fluchend versucht er, die Schublade seines Lehrerpults zu öffnen, wo der Kreidevorrat liegt. Als Myc sich versichert hat, dass Herr Richter abgelenkt ist, dreht er das Papier um. Auf der Rückseite ist ein Strichmännchen mit Krawatte und Hut zu sehen.

»Was willst du mir damit sagen?«, frage ich.

Myc hebt seinen Zeigefinger hoch. Darunter kommt ein Pfeil zum Vorschein, an dessen Ende Tammy steht. Ich zucke verständnislos mit den Schultern.

»Du wirst zum Mann, Mensch!«, flüstert Myc mir zu und wendet das Blatt erneut hin und her.

»Herr Richter? Tamara und Mycroft tauschen Zettel!«

Ruby, die miese Klassenschlampe, eigentlich gestraft mit dem Namen Rubine Schmidt, schnipst mit ihrem Finger und zeigt auf Myc und mich. Dabei zwinkert sie uns selbstgefällig zu. So eine blöde Kuh!

»Verdammt nochmal! Ruhe jetzt!«, ruft Herr Richter und kommt unserem Pult gefährlich nah. »Ihr beide, raus!« Er weist mit seiner Hand auf die Tür.

Ich beschwichtige ihn im Gegenzug mit einer Geste meiner Hand. Na gut, ich zeige ihm den Mittelfinger. Wenn wir schon zum Direktor müssen, dann bitte mit triftigem Grund und nicht, weil wir getuschelt haben. Ruby zeige ich ihn direkt mit, was sie empört schnaufen lässt. Yes, 1-1.

Herr Richter läuft puterrot an. Er zermalmt einen imaginären Knochen zwischen seinem Ober- und Unterkiefer. Seine Zähne schaben knirschend aufeinander.

Ich ducke mich und gehe gespielt in Deckung. Unsere Klassenkameraden lachen, was Herrn Richter überhaupt nicht gefällt, und worunter jetzt auch noch die Kreide in seinen Fingern leiden muss. Wutentbrannt zieht er sein uraltes Kastenhandy unter einem Ordner hervor, um die Sekretärin anzurufen. Durch vier knappe Worte weiß sie alles Nötige, um sich auf unser Ankommen vorzubereiten: Tamara, Mycroft, fahrlässige Ruhestörung. Die Klassentür schließt sich hinter uns.

»Ruhe jetzt! Ich kann so nicht arbeiten!«, höre ich Herrn Richter noch gedämpft, als wir bereits ein gutes Stück den breiten Flur der Schule entlang gegangen sind. Myc und ich müssen beide losprusten.

»Den hättest du nicht mehr provozieren dürfen«, lacht Myc.

Ich zucke mit den Achseln. Hat Herr Richter verdient, denke ich mir. Wir setzen uns auf zwei mitgenommene Holzstühle vor das Zimmer des Rektors. Die Sekretärin nickt mir grüßend zu. Sie kennt mich schon durch einige andere fahrlässige Ruhestörungen in Herrn Richters Unterricht. Ich mag es nun mal nicht, wenn man mich anbrüllt, und Ruby erwischt Myc und mich öfter beim Reden, als mir lieb ist. Ich muss schmunzeln und fühle mich rebellisch.

»Also, nochmal zu meiner Idee«, sagt Myc.

»Vergiss es«, unterbreche ich ihn. »Ich hab auch kurz darüber nachgedacht. Aber es ist bescheuert. Nein, unmöglich. Ich kann kein Mann werden!«

»Du kannst, Tammy!«, entgegnet Myc begeistert. »Es ist so leicht. Es gibt so viele Filme, in denen das thematisiert wird.« Er klopft mit seinem Zeigefinger auf das Sitzbrett des Holzstuhls und streicht dann seine Haare glatt.

»Myc, Filme sind Filme. Wir leben nun mal in keinem Film und niemand ist dämlich genug, das nicht zu bemerken. Leonie aus der Zehnten siehst du auch an, dass sie kein Mann ist.«

»Ey, die ist ja auch ’ne Lesbe und will nicht ganz wie ein Mann aussehen.« Er stöhnt und ich rolle mit den Augen.

»Guck mal. Kurzhaarschnitt, Männerlook – so einfach geht das. Und Brüste hast du eh keine.« Er lacht. Ich schlage ihm gegen den Arm. Das Lachen vergeht ihm sofort. Er reibt sich die schmerzende Stelle.

»Fräulein Carlmeyer? Bitte eintreten!« Die Sekretärin – Frau Vogt – öffnet mir die Tür. Als ich ins Büro des Direktors eintrete, flüstert sie mir Toi, Toi, Toi in mein Ohr. Dabei streicht sie mir mehrmals meinen Arm, als ob sie kalte Bratensauce an ihm abwischen wollen würde. Mycroft bleibt mit einem wehleidigen Schnaufen zurück und wartet darauf, bis er dran ist.

»Fräulein Carlmeyer«, Direktor Braun wendet seinen Drehstuhl zur Tür, »das dritte Mal diesen Monat. Wollen Sie Herrn Richter in die Klapsmühle bringen?«

Ich überlege.

»Das war eine rhetorische Frage.« Er lacht und stützt sich auf dem Tisch auf, um von seinem lederüberzogenen Sitz hochzukommen. »Du musst versuchen, ihn zu verstehen, der Lehrerjob ist anstrengend.«

»Der Schülerjob auch«, witzle ich.

Ich weiß, dass er mich mag. Und dass Herr Richter selbst unter den Lehrern nicht sonderlich beliebt ist. Direktor Braun entwischt ein kurzes Lächeln, ehe er wieder seine ernsthafte Miene zurückerlangt.

»Ach, Tamara. Jetzt geh mal wieder in den Unterricht und sag Mycroft, er muss nicht zu mir kommen. Der Arme hat immer solche Angst vor mir.« Er zuckt verständnislos mit den Schultern und widmet sich einem Brief, der sich tiefschwarz von den anderen auf seinem Schreibtisch abhebt. Ein Schauer erfasst meine Arme. Ich fühle mich diesem Einzelexemplar verbunden. »Und sag Herrn Richter, ihr hättet Sonderaufgaben von mir erhalten, sonst habe ich ihn nachher auf der Matte stehen.« Er zwinkert mir zu.

Ich muss schmunzeln. Wir haben echt großes Glück mit unserem Direktor. Ich wünsche ihm noch einen schönen Tag und gehe wieder zu Myc.

»Und?«, fragt er mit zittriger Stimme, als ich mein am Boden zerstört-Gesichtaufsetze.

»Wir bekommen eine Suspension von zwei Wochen.« Ich stütze mein Gesicht in die Hände und fange an zu schluchzen. Dabei luge ich durch die kleine Lücke zwischen meinen Fingern. Myc wird kreidebleich und schluckt laut.

»Das kann ich Mum nicht erklären, dann geht sie auf mich los. Und bei meinem Glück nimmt sie keinen Kuchen.« Er fasst sich mit der Hand an den Kopf und reißt an seinen Haarspitzen.

»Ja, sie hat mir gestern gesagt, sie wollte Suppe kochen.« Ich lache laut auf.

»Du Sau, verarsch mich nicht immer!« Myc bekommt wieder Farbe im Gesicht.

»Noch fünf Tage bis Samstag, bis dahin brauche ich eine realistische Lösung«, sage ich und bin wieder entmutigt. Ich muss in dieses Team. ›Prefix‹ ist eine durchaus realistischere Zukunftsperspektive, als mit meinen grottenschlechten Noten einen Platz an einer renommierten Universität zu bekommen.

»Ich finde meine Idee ja gut«, erwidert Myc.

»Spinner!«

 

Es ist Donnerstagmorgen. Die letzten Tage haben keine Lösung ergeben. Unzufrieden rolle ich mich in meinem Bett hin und her. Warum ist das Leben entweder öde oder scheißkompliziert? Kann es nicht etwas dazwischen geben? Ich habe zur zweiten Stunde, doch trotzdem bin ich jetzt schon wach. Müde reibe ich meine Augen und muss an die Worte von PhoenixHeaven denken.

»Ich war fantastisch«, wiederhole ich. Aber ich werde mich nicht beweisen können. Die letzten Nächte habe ich damit verbracht, tausende Beiträge von wütenden Frauen zu lesen. Sogar Männer kritisieren den Frauenhass. Wenn ich das Management der Gruppe google, taucht immer wieder nur der Name von James Farck auf. Die anderen Mitglieder der Gruppenspitze werden nicht genannt. Nirgends gibt es einen Namen oder Bilder von ihnen.

Ich frage mich, ob Farck derjenige ist, der für den Frauenhass im Team verantwortlich ist. Der fing nämlich an, als er Teil des Managements wurde und das Team übernahm. Prompt wurde Zara, die Auswechselsupporterin, rausgeschmissen. Im Internet wird er dafür oft beschuldigt und zur Rechenschaft gezogen.

Dieser James Farck scheint ein richtiger Widerling zu sein. Was könnte er denn bloß gegen Frauen haben? Einige munkeln, Farck wurde von seiner Mutter geschlagen und deswegen könne er heute nicht mit Frauen zusammenarbeiten, andere vergleichen ihn sogar mit dem Diyu Mörder, der im Moment die Schlagzeilen füllt. Den Vergleich zwischen einem frauenhassenden Management und einem Serienkiller, der es auf Frauen abgesehen hat und sie mit Ritualen aus der chinesischen Unterwelt foltert, finde ich dann aber doch etwas zu makaber.

Ich schaue nochmal auf die Uhr und mache mich auf ins Bad. Duschen, frühstücken, mit Mum über meine nicht gemachten Hausaufgaben diskutieren, das Rad zur Schule nehmen. Alles so, wie jeden Morgen. Herr Richter versucht, mit uns Lieder für die Weihnachtsfeier nächsten Monat einzuüben. Ich schlafe halb. Ruby hält mich mit ihrem quietschenden Sing-Sang wach. Wenigstens zu etwas ist die blonde Trulla gut. Myc ist heute nicht zur Schule gekommen. Er hatte gestern Krach mit Rosemarie. Das macht den Schulalltag noch unspektakulärer als sonst. Ich trödle auf dem Nachhauseweg und fahre mit dem Rad noch eine Schleife über den Dorfplatz. Die Langeweile zieht sich über den Nachmittag hin. Das Mittagessen ist eine aufgewärmte Kartoffelsuppe. Dem Rumoren meines Magens zu urteilen, war sie nicht mehr ganz frisch. Ich gehe in mein Zimmer und starte ›Prefix‹, aber niemand ist online. Alleine habe ich keine Lust.

»Pst! Tamara, hier drüben.«

»Was?« Ich drehe meinen Drehstuhl mit so einer Wucht, dass ich beinahe zur Seite wegkippe. »Mum?« Keine Antwort. Niemand ist im Raum. Die Langeweile verpasst mir schon Wahnvorstellungen.

Ich widme mich wieder meinem Bildschirm und google abermals James Farck. Leider gibt es bis auf einige verpixelte Bilder von der Gamescom oder anderen Zockerevents kein Foto von ihm. Seine Setcard ist auch nicht öffentlich. Jedes Mal, wenn ich mir ein Game, bei dem er mitgespielt hat, anschauen möchte, werde ich mit derselben Floskel abgespeist:

>Wollen Sie James Farck und die anderen Mitglieder des HothP-Teams näher kennenlernen, ihre Spiele und ihre Fertigkeiten bewundern? Dann holen sie sich für nur 13 Dollar monatlich den exklusiven Zugang zum HothP-Premiumchannel, auf dem alle Spiele mit James Farck zu sehen sind.<

Wie viel sind denn 13 Dollar in Euro umgerechnet?Dieser Channel ist gar nicht mal unerschwinglich. Ich überlege kurz, ob es eine Chance gibt, an Mums Kreditkarte zu kommen, aber vertreibe diesen Gedanken augenblicklich, als ich an meinen letzten gähnend langweiligen Hausarrest denken muss. Mum hatte sogar mein Computerzimmer abgeschlossen und den Schlüssel versteckt.

Was soll so besonders an diesem James Farck sein, dass er nur auf einem beknackten Premiumkanal zu sehen ist?

Vielleicht ist er einfach so nerdig, dass er sich lieber nicht im gesamten Worldwideweb präsentieren will. Ich muss grinsen, als ich mir einen dicken Jungen mit pickeliger Stirn und Hornbrille vorstelle. Der Boss der Zocker.

Ich werfe mich aufs Bett und starre an die Decke. Die Bretter an der Dachschräge sind etwas schief, vielleicht sieht es aber auch von hier unten nur so aus. Ich gähne und drehe mich auf die Seite. Mit meiner Hand taste ich unter die Matratze. Ich habe gefunden, wonach ich suche. Die kleine Truhe öffnet sich mit einem knarrenden Geräusch. In ihr liegt eine Liste.

Dinge, die ich vor meinem 18. Lebensjahr getan haben will, von Tamara Carlmeyer