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Der Oscar-prämierte Dokumentarfilm »Searching for Sugar Man« begeisterte Millionen Zuschauer weltweit und rührte Tausende zu Tränen. Die einzigartige Geschichte um die Suche nach dem Folksänger wird in diesem Buch erstmals ausführlich und mit vielen neuen Details von den Protagonisten des Films dargelegt. Der »Dylan aus Detroit« hatte Anfang der Sechziger zwei Studioalben voller poetischer Songs aufgenommen, die von der Kritik hoch gelobt wurden, aber kommerziell floppten. Also hängte der Musiker seine Karriere an den Nagel. Wovon er nichts ahnte: Im Südafrika der Apartheid wurden seine Lieder zu Hymnen der Protestbewegung, der Sänger wurde dort in den Siebzigern zum Star. Die Autoren Craig Strydom und Stephen Segerman machten sich auf die Suche nach Sugar Man – von dem alle dachten, er sei tot. Sie fanden ihn als einfachen Stahlarbeiter in seiner amerikanischen Heimatstadt wieder – und verhalfen ihm damit zu einer späten Karriere als Folk-Superstar.
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Das Buch
Der Oscar-prämierte Dokumentarfilm »Searching for Sugar Man« begeisterte Millionen Zuschauer weltweit und rührte Tausende zu Tränen. Die einzigartige Geschichte um die Suche nach dem Folksänger wird in diesem Buch erstmals ausführlich und mit vielen neuen Details von den Protagonisten des Films dargelegt. Der »Dylan aus Detroit« hatte Anfang der Sechziger zwei Studioalben voller poetischer Songs aufgenommen, die von der Kritik hoch gelobt wurden, aber kommerziell floppten. Also hängte der Musiker seine Karriere an den Nagel. Wovon er nichts ahnte: Im Südafrika der Apartheid wurden seine Lieder zu Hymnen der Protestbewegung, der Sänger wurde dort in den Siebzigern zum Star. Die Autoren Craig Strydom und Stephen Segerman machten sich auf die Suche nach Sugar Man – von dem alle dachten, er sei tot. Sie fanden ihn als einfachen Stahlarbeiter in seiner amerikanischen Heimatstadt wieder – und verhalfen ihm damit zu einer späten Karriere als Folk-Superstar.
Die Autoren
Craig BartHolomew Strydom, freier Autor und Werbetexter, schreibt u.a. Texte und Reportagen für den Rolling Stone.
Stephen »Sugar« Segerman ist Musikjournalist und Eigentümer des legendären Plattenladens »Mabu Vinyl«.
Die beiden Autoren leben in Kapstadt, Südafrika, und sind die Protagonisten des Dokumentarfilms »Searching for Sugar Man«, ohne die Rodriguez und seine Musik wohl nie ein solches Comeback erlebt hätte.
Craig Bartholomew Strydom &Stephen »Sugar« Segerman
Leben, Tod und Auferstehung des Sixto Rodriguez
Aus dem Englischen vonKristian Lutze
Die Originalausgabe erschien erstmals im September 2015 unter dem Titel
Sugar Man. The Life, Death and Resurrection of Sixto Rodriguez
bei Transworld Publishers, a division of the Random House Group Limited.
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ISBN 978-3-8437-1174-6
Copyright © Craig Bartholomew Strydom and Stephen »Sugar« Segerman, 2015
© der deutschsprachigen Ausgabe
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: © Polaris/eyevine
E-Book: LVD GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Für Malik
»Man bringt zwei Dinge zusammen, die vorher nicht zusammengebracht wurden, und die Welt hat sich verändert. Vielleicht merken es die Menschen nicht gleich, aber das ist egal. Die Welt hat sich trotzdem verändert.«
Julian Barnes, Lebensstufen(dt. von Gertraude Krüger)
»Man kennt Rodriguez nie besser als an dem Tag, an dem man ihm zum ersten Mal begegnet.«
Malik Bendjelloul, Regisseur von Searching for Sugar Man
»Maybe today, yeah
I’ll slip away«
Sixto Rodriguez, »I’ll Slip Away«
Prolog
Sundance
(2012)
»Was du übersiehst, ist, dass der Weg als solcher dich verändert.«
Julien Smith, The Flinch
In dem »Making of«-Bonusmaterial auf der DVD von Searching for Sugar Man gibt es einen Filmausschnitt, in dem Craig Bartholomew Strydom, der sogenannte Musikdetektiv aus dem Film, an einem verschneiten Abend vor einem Restaurant in Park City, Utah, eintrifft. Der Bürgersteig ist glatt, so dass er und seine Frau vorsichtig gehen. Regisseur Malik Bendjelloul, der ewig jungenhafte ehemalige Kinderschauspieler, kommt ihnen mit einer Kamera in der Hand entgegen. »Ist das Video?«, fragt Strydom absurderweise. »Ja, ist es«, antwortet der Regisseur in seinem englischen Singsang, eine Art zu reden, die er aus seiner Muttersprache Schwedisch übernommen hat. Malik will diesen Moment festhalten, denn es ist nach mehr als zwölf Jahren das erste persönliche Treffen zwischen Strydom und Stephen »Sugar« Segerman, seinem Mitverschwörer bei der Rodriguez-Story. Es ist der Eröffnungsabend des Sundance Filmfestivals. Heute ist der 19. Januar 2012, der sich als erster einer Reihe bedeutsamer Termine für diese Low-Budget-Dokumentation erweisen sollte. Was der kurze Filmausschnitt nicht zeigt – und nicht zeigen kann –, sind die vielen steinigen Wege, die zu diesem Moment in den Rockies geführt haben. So viele Bahnen haben sich bei der Produktion dieses Films und der Geschichte dahinter gekreuzt und werden es weiter tun. Noch weiß es niemand, aber obwohl es sich anfühlt wie ein Ende, ist dieser Abend erst der Beginn einer außergewöhnlichen Reise, die einem genialen, jedoch schwer fassbaren Musiker mit 40 Jahren Verspätung endlich die verdiente Anerkennung bringen wird.
Als Nächster trifft Segerman ein. Er leidet unter einem Jetlag und ist völlig durchgefroren, weil er gerade aus Südafrika eingeflogen ist, dem unwahrscheinlichen Schauplatz eines großen Teils dieser sehr amerikanischen Geschichte. Und in Afrika schneit es nur selten, egal was einem der Achtziger-Jahre-Band-Aid-Hit »Do They Know It’s Christmas?« weismachen will. Schon gar nicht zu Weihnachten. Segerman gibt sich genau wie Strydom alle Mühe, seine Emotionen zu beherrschen. Schließlich war es zum Teil seine Vision, die dazu beigetragen hat, der totgeborenen Karriere eines der enigmatischsten Musiker des 20. Jahrhunderts Leben einzuhauchen. Sixto Rodriguez, ein Zwei-Album-Flop, dem nach einem kurzen Schnuppern am Ruhm nichts anderes übrigblieb, als in seine Arbeiterexistenz zurückzukehren, ohne etwas von seinem riesigen Erfolg in Südafrika zu ahnen, einem von der Welt geächteten Land auf einem anderen Kontinent.
Strydom und Segerman geben sich im Schneetreiben die Hand. Strydom denkt zurück an die frühen 1980er, als ihm der Plan, herauszufinden, was mit Rodriguez geschehen war, wie eine Schnapsidee erschienen war. Das war vor seiner Begegnung mit Segerman. Die »Rote Gefahr« bedrohte Südafrikas Grenzen, und die Massen im Land wurden unruhig, deshalb ließ sich die Sicherheit der weißen Minderheit in ihren grünen Vororten nur durch den Einsatz von Truppen gewährleisten. Das glaubte zumindest die kurzsichtige Regierung der Nationalpartei unter Premierminister P. W. Botha. Genug Truppen gab es jedenfalls, weil alle männlichen Weißen einen zweijährigen Militärdienst ableisten mussten. Und so kam es, dass Strydom an einem Tag des Jahres 1984 eher nebenbei zum ersten Mal ein Album hörte, das sein Leben für immer verändern sollte. Es drang aus einem kleinen Kassettenrekorder eines Freundes, und die Texte hatten erfrischenderweise nichts Banales. Stattdessen sang eine Stimme Zeilen wie »I was born for the purpose that crucifies your mind« und »In the factory that you call your mind, graveyard thoughts of stone«. Wer war dieser Poet, fragte Strydom. Der Sänger hieße Rodriguez, erhielt er zur Antwort, und hätte sich auf offener Bühne umgebracht, nachdem er vorher seinen eigenen Nachruf vorgetragen hatte: »Thanks for your time, and you can thank me for mine, and after that’s said, forget it.« Strydom war fasziniert. Wer machte so etwas? Er nahm sich vor, eines Tages herauszufinden, wie der Musiker, den man nur unter dem Namen Rodriguez kannte, gestorben war.
Die Sonne steht schon tief über dem Deer Valley, und nach wie vor gibt es keine Spur von Rodriguez. Als Segerman und Strydom den ersten Stock des Restaurants betreten, sitzt John Battsek schon an einem langen Tisch, der speziell für diesen Anlass reserviert wurde. Simon Chinn, der Searching for Sugar Man zusammen mit Battsek produziert hat, läuft mit einem Handy in der Hand hektisch auf und ab. Beide Männer wirken extrem nervös, obwohl sie die Prozedur eigentlich kennen müssten. Beide haben die Reise schon mehr als einmal gemacht. Battsek hat die schwere Geburt diverser Dokumentarfilme begleitet, die irgendwann zu Preisen auf Filmfestivals führte. Zu seinen Kindern zählen Filme wie der Oscar-Gewinner One Day in September; Restrepo über den Afghanistan-Krieg und der von der British Academy of Film and Television Arts (BAFTA) ausgezeichnete The Impostor über einen Jungen, der vorgibt, ein vermisster anderer Junge zu sein, nicht zu verwechseln mit dem Titelhelden des heutigen Dokumentarfilms über die Suche nach einem Mann, der gar nicht wusste, dass er vermisst wurde. Rodriguez kommt zu spät, heißt es, aber auch die Marotten von Musikern dürften Battsek nicht fremd sein: Er ist unter anderem Produzent von Stones in Exile, einem Dokumentarfilm aus dem Jahr 2010 über das selbst auferlegte Exil der Rolling Stones in Südfrankreich zur Vermeidung der exorbitanten britischen Steuerforderungen, währenddessen das Album Exile on Main Street entstand.
Die Meilensteine in der Karriere des Produktionsleiters Chinn sind nicht weniger verheißungsvoll. Zu seinem Werk zählen Walk on Wire von James Marsch, ein Dokumentarfilm über den tollkühnen und komplett illegalen Drahtseilakt des Franzosen Philippe Petit, der am Morgen des 7. August 1974 in New York auf einem Seil von einem Turm der Twin Towers zum anderen balancierte. Würde Searching for Sugar Man in die Fußstapfen von Man on Wire treten? Der Film über Petits Coup hatte im Vorjahr das Sundance Festival eröffnet, bevor er Chinn und Marsh neben einem Haufen weiterer Trophäen einen Oscar eingebracht hatte. Chinn ist auch als Produzent eines weiteren James-Marsh-Films bekannt, Project Nim mit dem Schimpansen Nim Chimpsky, einer Erkundung tierischen Kommunikationsverhaltens unter dem Aspekt der amerikanischen Zeichensprache. Trotz der positiven Kritiken gingen bei diesem Anlass jedoch Mensch wie Tier ohne einen Oscar nach Hause.
Camilla Skagerström trifft ein, ins Gespräch vertieft mit Ann-Sofie Rase, einer schwedischen Theaterschauspielerin und Maliks Freundin. Auch Camillas Weg bis zu einem Platz am Tisch in diesem Restaurant in den Wasatch Back Mountains war ereignisreich. Von dem Tag an, an dem Malik anrief, um sie zu fragen, ob sie Searching for Sugar Man mit ihm drehen wollte, machte sie sich keine Illusionen, dass mehr von ihr verlangt werden würde als eine Kamera und ein Auge für den Film. Mit Malik zu arbeiten würde, von seinem natürlichen Enthusiasmus einmal abgesehen, ein wachsendes Maß an Überzeugung erfordern, das umgekehrt proportional zu der schwindenden Finanzierung des Projekts stand. Ein solcher Glaube mag zugegebenermaßen notwendiger Bestandteil jedes Dokumentarfilms sein, doch Glaube allein zahlt keine Rechnungen. Camilla freut sich, hier zu sein, und nimmt mit einem zufriedenen Lächeln Platz. Sie ist beschwingt von der Geburt ihrer ersten Tochter sowie von der Goldenen Palme von Cannes, mit der der Kurzfilm Micky Bader ausgezeichnet wurde, für dessen Kameraführung sie verantwortlich ist. Die in Cannes preisgekrönte Kurzdokumentation widmet sich dem Leben der 100-jährigen Holocaust-Überlebenden und Schwimm-Enthusiastin Ebba »Micky« Heyman, die sich weder vom Wetter noch von ihrem Alter oder den Jahreszeiten davon abhalten ließ, täglich mit ihren Freundinnen im Meer zu schwimmen. Der filmische Ansatz ist dem von Malik durchaus ähnlich. Dies ist Camillas erster Besuch beim Sundance Festival, sie wechselt einen nervösen Blick mit Malik. Er hatte das Sundance Festival schon lange vor Beginn der Dreharbeiten angepeilt. Und wenn jemand das wusste, dann sie, schließlich hatte sie ihn auf fast jedem Schritt des Weges begleitet.
Als die Bestellung aufgenommen werden soll, ist Rodriguez immer noch nicht eingetroffen. Matt Sullivan, Besitzer von Light in the Attic Records, scherzt, man müsse die Suche nach Sugar Man wohl noch mal von vorne beginnen. Matt ist aus ähnlichen und doch anderen Gründen hier am Tisch. Wenn Strydom der Musikdetektiv in der Geschichte ist, dann ist Matt der Musikarchäologe. Wie der Name seiner Firma andeutet, ist es Matts Aufgabe, sich durch Plattenkisten in vollgestellten Speichern, Garagen und anderen Lagerräumen zu wühlen, um das eine verschollene Meisterwerk zu bergen, das durchs Sieb gefallen ist. Rodriguez’ Debütalbum Cold Fact von 1970 war ein solcher Fund.
Auf einem Straßenflohmarkt in Los Angeles stieß er 2006 in einem Haufen Schallplatten auf ein interessant aussehendes Album, eine Compilation namens Come Get It I Got It von David Holmes mit einem Remix von »Sugar Man« als zweitem Track. Er legte die Platte auf und traute seinen Ohren nicht. Wem gehörte diese distanzierte, mysteriöse Stimme, die von »blue coins«, »silver magic ships« und »answers that make colours disappear« sang? Matt weiß mehr über Musik als die meisten Menschen, und wenn er ein Album oder einen Track entdeckt, von dem er noch nie gehört hat, ist es, als würde ein Kunstsammler auf einem Flohmarkt zufällig auf einen bisher unbekannten Picasso stoßen. Er verbrachte den Abend damit, nach weiteren Informationen zu forschen, förderte jedoch bis auf ein wenig Cyber-Rauschen aus Südafrika nichts zutage. In den Vereinigten Staaten existierte das Album praktisch nicht. Einen Rechteinhaber gab es offenbar auch nicht. Und selbst in seinem weiteren Umfeld von Musikenthusiasten hatte noch nie jemand von diesem phantomhaften Sänger namens Rodriguez gehört.
Über die Seite Sugarman.org, die einzige echte Quelle von Informationen über Rodriguez, fand Matt Stephen »Sugar« Segerman, der ihn auf Cold Fact verwies. Nach einer langwierigen Suche konnte Matt sich die Rechte sichern, das Album entstauben und als Vinyl wiederveröffentlichen. An der Westküste erlangte es sofort Kultstatus als Underground-Juwel. Aber trotz Matts Einsatz und aller öffentlicher Aufmerksamkeit, die er mobilisieren konnte, erging es dem Album bei der Wiederveröffentlichung in den USA kaum besser als bei seiner Premiere; es geschah nichts außer einem kurzen Echoimpuls auf dem Radar von Musikfans in einem Nischenmarkt. »Main Street«-Amerika, aus dem Rodriguez seine Inspiration schöpfte, war offenbar nicht bereit, sich seine Musik anzuhören.
Im Erdgeschoss gibt es einen kleinen Aufruhr. Rodriguez ist endlich eingetroffen. Er kommt in den ersten Stock, an seiner Seite seine Freundin Bonnie und zwei seiner Töchter, Sandra und Reagan. Im Film treten alle drei Töchter auf, aber Eva konnte nicht zum Sundance Festival kommen. (Auffällig abwesend in dem 86-minütigen Film ist, wie Kritiker später anmerken sollten, der kleine Schwarm von Exfrauen und Exfreundinnen, die Rodriguez auf seinem Lebensweg begleitet hatten.) Seine Fahrt vom Flughafen zum Hotel und vom Hotel zum Restaurant war wie immer unbemerkt geblieben. Ganz in Leder mit einem Ry-Cooder-Hut und Roy-Orbinson-Sonnenbrille sieht Rodriguez aus wie ein Rockstar, den man erkennen sollte, jemand, dessen Platten man im Schrank stehen haben sollte. Er ahnt nicht, dass er nicht mehr sehr viel länger unbemerkt herumlaufen wird, vor allem nach dem heutigen Abend nicht.
»Ah«, sagt Malik und springt von seinem Stuhl auf, »der Star der Show ist da.« Aber das stimmt nur halb. Eigentlicher Star der Show ist, auch wenn er nur hinter der Kamera stand, niemand anderes als Malik selbst. Die Kellnerin kommt, die Bestellung wird eilig aufgenommen. Man droht, zu spät zur eigenen Premiere zu kommen. Strydom und Segerman genießen den Moment. Der Augenblick hat etwas Unwirkliches. Malik, der ohnehin schon eine höchst eigenwillige Diät hält, ist zu nervös, um sein Essen anzurühren. Stattdessen geht er von Gast zu Gast und bedankt sich bei jedem für seinen Beitrag zu der unglaublichen Geschichte. Aber für lange Lobreden bleibt keine Zeit. Chinn und Battsek drängen zum Aufbruch.
Der Schnee wirbelt in Augen und Münder, als die Gruppe zu mehreren Minivans und Taxis schliddert, die sie zu ihrem Ziel bringen. Vor den Fenstern gleitet ein winterliches Wunderland vorbei. Eine Leuchtreklame verkündet, dass der Film den Wettbewerb für den besten ausländischen Dokumentarfilm des 27. Sundance Festivals eröffnen wird. Drei weitere Filme sind im Laufe des Tages schon gezeigt worden. Hello, I Must Be Going als erster Kandidat für den besten amerikanischen Spielfilm, Wish You Were Here zum Start der Konkurrenz um den besten ausländischen Spielfilm und The Queen of Versailles im Wettbewerb um den besten US-Dokumentarfilm. Bei der Ankunft am Festspielkino bekommen alle Mitglieder des Sugar Man-Teams ein Armbändchen und einen Presse-Ausweis, der ihnen ungehinderten Zugang zu den Galas mit rotem Teppich und anderen Partys ermöglicht, zu denen die allgemeine Öffentlichkeit keinen Zutritt hat. Allein der Schriftzug Searching for Sugar Man und der »offizielle« Ausweis verleihen dem Moment eine besondere Würde.
Das Kino füllt sich langsam. Das Sugar Man-Team nimmt seine Plätze ein und kann es kaum noch aushalten. Es gibt keinen einzigen Grund, warum dieser Dokumentarfilm bei einem US-amerikanischen Publikum ankommen sollte, und das wissen sie auch. Eigentlich sollte er ähnlich schnell in Vergessenheit geraten wie die Karriere des Musikers, von dem er erzählt. Wie könnte jemand etwas anderes erwarten? Erstens darf man nicht davon ausgehen, dass irgendjemand in Amerika, geschweige denn im Publikum die Musik kennt. Und der Soundtrack eines Biopics, vor allem einer Biographie über einen Musiker, macht den halben Film. Und wie sollte irgendjemand die Musik zuvor schon mal gehört haben? Clarence Avant, Chef von Sussex Records, der Rodriguez 1969 selbst für das Label verpflichtet hatte und in dem Film einen kontroversen Auftritt hat, spottet, von Rodriguez’ erstem Album wären insgesamt vielleicht sechs Exemplare verkauft worden: »Meine Frau hat eins gekauft, ich habe eins gekauft, und vielleicht hat meine Tochter auch eins gekauft.«
Die Lichter in dem Kino gehen aus. Das Leben blinzelt.
TEIL I
DAS MYSTERIUM
1
Der andere Sugar Man
(1954–1996)
»Vielleicht sind wir mit der Vergangenheit fertig … aber die Vergangenheit noch nicht mit uns.«
Quiz Kid Donnie Smith, Magnolia
Wie viele weiße Südafrikaner – darunter zehn Jahre später auch Craig Strydom – hörte Stephen Segerman Rodriguez’ Album Cold Fact zum ersten Mal, als er seinen Wehrdienst ableistete. Das war 1972 auf dem Luftwaffenstützpunkt Swartkop in Pretoria. Zwei seiner Kameraden riefen Stephen zu ihrem Wagen. »Hey, Mann, hör dir das mal an«, sagten sie und drehten die Lautstärke auf. Der Wagen war ein goldener Ford Capri, in den 1970ern das ultimative Auto für einen jungen Mann. Der erste Song, der aus den Boxen dröhnte, war »Sugar Man« mit seiner unvergesslichen Stimme und dem Text: »Sugar man, won’t you hurry/Cause I’m tired of these scenes/For a blue coin won’t you bring back/All those colors to my dreams.« Danach folgte »Only Good for Conversation«. »My pocket don’t drive me fast/My mother treat me slow/My statue’s got a concrete heart/But you’re the coldest bitch I know.« Als Stephen zu Ende gelauscht hatte, war er Fan.
Wie in den Tagen vor Filesharing üblich, kopierte er das Album mit einem Doppelkassettendeck, wie es damals viele Leute besaßen. So begann die endlose Rotation (und das zigfache Kopieren) eines Albums, das von einer bedrückenden harten Arbeiterexistenz einen Kontinent entfernt erzählte.
Obwohl Cold Fact von staatlichen Radiosendern kaum gespielt wurde (mit seinen Bezügen auf Drogen und der kühn gestellten Frage, wie oft man schon Sex hatte, war es zu umstritten), erlangte das Album Kultstatus. 25 Jahre lang blieb Südafrika im Dunkel über das Schicksal von Rodriguez, und Rodriguez ahnte nichts von seinem Ruhm und seiner Fangemeinde in dem fernen Land. Wie auch, wo er doch absurderweise nicht einen einzigen Cent Tantiemen erhielt. Im Gegensatz zu den meisten Alben, die in die Platten- und später CD-Läden kamen und wieder verschwanden, steht Cold Fact seit 42 Jahren ununterbrochen in den südafrikanischen Regalen – für sich genommen, bestimmt ein Rekord.
Als Segerman Cold Fact 1972 zum ersten Mal hörte, war Rodriguez’ erste Veröffentlichung in den Vereinigten Staaten bereits in Vergessenheit geraten, genau wie der Künstler selbst. Um es mit den Worten von Mike Theodore zu sagen, dem Koproduzenten des Albums: »Amerika war einfach nicht bereit.« Würde es je bereit sein? Segerman sollte eine entscheidende Rolle bei der langen, von zahlreichen Wendungen gezeichneten Reise spielen, die schließlich zu Rodriguez’ verdienter Anerkennung in den USA und auf der ganzen Welt führte.
Stephen »Sugar« Segermans Kemenate zu betreten ist, als würde man in seinen Kopf gucken. Tausende von Postern, Fotos, CDs, DVDs, Alben, Kassetten und allerlei Nippes bedecken jeden Zentimeter des Raumes. Nichts wird jemals weggeworfen, alles wird aufbewahrt, zweifach. Einmal über seine Sinne mit seinem Verstand, das zweite Mal als Objekt in seiner Sammlung. Wenn man ihn etwas fragt, hat er zwei Möglichkeiten. Er wird sich die Augen reiben und die Antwort entweder in seinem Kopf finden oder andernfalls den altmodischen Ansatz wählen und das Erinnerungsfaksimile von Hand finden, es in einer Schublade, einem Karton, einem Schrank oder sonst woher hervorkramen. Alles ist im Geist für einen schnellen Fund katalogisiert. Bis dahin hat es allerdings Jahre gedauert.
Stephen Segerman kam 1954, einen Monat nachdem Elvis die Sun Studios betreten hatte, in dem liberalen weißen Stadtviertel Emmarentina zur Welt, wo er eine normale jüdische Kindheit in Suburbia verlebte – das heißt sicher, behütet und weit entfernt von den Realitäten der Apartheid und der schwarzen Townships am Rand der Stadt, die ein paar Jahre später brennen sollten. In Emmarentina verbrachte Stephen den Großteil seiner Zeit damit, in seinem relativ kleinen Revier herumzuradeln. Er ging auf die Emmarentina Primary School, gefolgt von einem kurzen Aufenthalt auf dem Yeshiva College in Glenhazel, und machte seinen Abschluss an der Greenside High School; Synagogen, Geschäfte, Freunde und Sportplätze waren immer nur einen Steinwurf entfernt.
Wenn man von Bernard und Joyce Segermans Haus nach Süden geblickt hätte, hätte man vielleicht die Melville Koppies sehen können, einen Hügelkamm mit archäologischer Ausgrabungsstätte in der Nähe. Und in dem Jahr, in dem Stephen geboren wurde, hätte man direkt hinter den Melville Koppies und nicht einmal eine Meile entfernt auf das belebte, kosmopolitische Viertel Sophiatown stoßen können.
Sophiatown war ein (für Südafrika) untypisch gemischtrassiges Vorstadtviertel, das sich allmählich in Richtung der rein weißen Vorstädte Westdene und Newlands ausdehnte. Als die Nationalpartei 1948 an die Macht kam, begann man mit dem Instrument des rassistischen Immorality Amendment Act No. 21 von 1950 mit der Zwangsumsiedlung der schwarzen Bewohner von Sophiatown nach Meadowlands, einer Vorstadt von Soweto; Farbige (nicht zu verwechseln mit den Schwarzen) mussten nach Eldorado Park, Inder nach Lenasia und die Chinesen ins Zentrum von Johannesburg. Die Anti-Apartheid-Aktivisten Nelson Mandela, Ruth First, Helen Joseph und Father Trevor Huddleston verbündeten sich mit den Anwohnern, um die Zwangsumsiedlung noch zu verhindern, doch vergeblich. Vor Stephens erstem Geburtstag marschierten 2000 bewaffnete Polizisten in Sophiatown ein und brachten die Bewohner gewaltsam zu ihren neuen Unterkünften. Die frisch verkündeten Prinzipien der Apartheid waren klar: Menschen verschiedener Rassen konnten nicht zusammenleben. Als Stephen neun Jahre alt war, war Sophiatown dem Erdboden gleichgemacht und jede Spur des Viertels von der Karte Johannesburgs getilgt worden. Die weiße Vorstadt, die sich aus der Asche erhob, wurde dreist Triomf genannt, Afrikaans für Triumph.
In den folgenden Jahren entwickelte Südafrika sich weiter zum Polizeistaat, Nelson Mandela wurde wegen Hochverrats zu lebenslanger Haft verurteilt, Helen Joseph wiederholt unter Hausarrest gestellt (der letzte Arrest wurde 1985 aufgehoben, als sie 80 Jahre alt war). So viel Glück hatte Ruth First nicht. 1982 explodierte eine Paketbombe, die von den dunklen Kräften der Apartheid an ihre Adresse in Mozambique geschickt worden war, in ihren Händen und tötete sie auf der Stelle. Nur Father Trevor Huddleston, der unter anderem entscheidend dazu beigetragen hatte, dem 14-jährigen Hugh Masekela seine erste Trompete zu besorgen, kam unbehelligt davon und kehrte kurz nach den Zwangsumsiedlungen nach Großbritannien zurück.
So wie Südafrika in den Fünfzigern, Sechzigern und frühen Siebzigern organisiert war, bekam der junge Stephen von alldem nichts mit. Während im Hintergrund Rosemary Clooney und Frank Sinatra säuselten, erlebte er eine Kindheit, die so glücklich und normal war wie die jedes weißen südafrikanischen Jungen in seinem Alter. Im Haus der Segermans fehlte es nie an Musik, und es mangelte auch nicht an kulturellen Ideen. Jeden Freitagabend – und das sollte zu einem prägenden Faktor in Stephens Leben und für seine spätere Musikbesessenheit werden – kam sein Vater mit einem Bündel Überraschungen unter dem Arm nach Hause. Südafrika mochte seine Abkapselung vom Rest der Welt bereits begonnen haben, doch nichts konnte Bernard davon abhalten, die Welt zu sich nach Hause zu holen. Classic Comics, Look & Learn, das Knowledge-Magazin und ausgesuchte Bücher fanden ihren Weg ins Vorstadthäuschen der Segermans und wurden von den drei kulturhungrigen Geschwistern verschlungen, allen voran Stephen. »Mein Kopf war voll von dem Kram«, sagt er heute. Und wenn Zeitschriften und Bücher nicht reichten, gab es Schallplatten, und zwar jede Menge: vom Soundtrack von Mary Poppins und The Sound of Music bis zu Cliff Richard und Elvis Presley. Und während viele südafrikanische Eltern ihren Nachwuchs vor dem »Schmutz« von Leuten wie den Beatles »beschützen« wollten, waren Ringo, Paul, George und John im Haus der Segermans willkommen.
Die Sachen stammten von American Books, einem kleinen Buchladen, den Bernard zusammen mit seiner Schwester besaß. Das Geschäft war in der Eloff Street (direkt an der Kreuzung Park Station) und eine Schatzgrube von Büchern, Zeitschriften, Schallplatten und Spielsachen, aus denen sich das kulturelle Weltbild eines neugierigen Geistes speiste und das bei seinem kleinen Sohn die Liebe zur Musik förderte.
Seine Begeisterung fürs Lesen und Wissen führte Stephen als »Quiz Kid« zu einer ersten flüchtigen Begegnung mit dem Ruhm und viel später zu seiner Hauptrolle in der Rodriguez-Geschichte und dem Dokumentarfilm darüber. Die nächste Folge der Stephen-Story spielte jedoch bei der South African Broadcasting Corporation (SABC) in der Commission Street, ganz in der Nähe eines weiteren Unternehmens seines Vaters, der Schmuckfabrik A. Weinberg & Co an der Ecke Kerk Street und Polly Street im Stadtzentrum von Johannesburg.
1950, vier Jahre vor Stephens Geburt, startete die SABC den ersten kommerziellen Radiosender Südafrikas. Bis dahin hatte es nur den steifen englischen Nachrichtensender und seine strenge Entsprechung auf Afrikaans gegeben. Der neue Sender wurde nach Südafrikas Nationaltier benannt, dem Springbock. Schon bald war Springbok Radio die Hauptquelle für Unterhaltung in praktisch jedem weißen südafrikanischen Haushalt, wo alle gebannt auf die nächste Wendung in einer der zahlreichen Radiosoaps warteten. Schließlich ereignete sich das Ganze lange vor dem verspäteten Start des Fernsehens 1976.
Wichtig für diese Geschichte ist, dass Springbok Radio auch eine Show namens Quiz Kids im Programm hatte, basierend auf dem amerikanischen Original. Für die Sendung sandten Hörer Fragen ein, die eine Gruppe von Highschool-Kids vor unlösbare Probleme stellen sollten und mit denen man Preise gewinnen konnte – alles aufmerksam geleitet und entschieden von einem charmanten Moderator.
In der zweiten südafrikanischen Staffel von Quiz Kids war Paddy O’Byrne der Quizmaster und die SABC-Radiolegende Johnny Walker Produzent der Show. Die Kandidaten trugen zumindest zur Freude der Fotografen schwarze akademische Talare und Doktorhüte.
Stephen war 13 und in seinem ersten Jahr auf der Highschool, als der Direktor, ein gewisser Mr Jimmy Lane, eines Morgens auf der Schulversammlung verkündete, dass Springbok Radio Vorsprechen veranstalten würde, um eine neue Gruppe »Quiz Kids« für die nächste Staffel auszuwählen. Teilnehmer waren üblicherweise ältere Schüler im letzten Schuljahr. Nach Abschluss der Highschool durften Teenager nicht mehr an der Show teilnehmen und wurden durch jüngere Kandidaten ersetzt. »Alle interessierten Bewerber«, erklärte der Direktor, »sollen sich im Anschluss vor meinem Büro einfinden.«
Als Stephen vor dem Büro von Direktor Lane auftauchte, wartete bereits eine Handvoll anderer hoffnungsvoller Kandidaten. Es waren die besten Schüler der Schule, ältere Jungen und Mädchen, die selbstbewusst und nonchalant herumstanden. Stephen war ein 13-jähriger Grünschnabel, der seine Bar-Mitzwa gerade hinter sich hatte. Nach mehreren unbehaglichen Minuten kam schließlich Direktor Lane. »Danke, dass ihr gekommen seid, Jungs«, setzte er an, entdeckte dann jedoch den jüngeren Schüler, der nervös abseits stand, und unterbrach sich. »Du – mit dir rede ich später. Warte da drüben!«
»Aber ich bin wegen dem Quiz hier«, flehte Stephen kaum hörbar.
»Nun«, meinte der Direktor abschätzig, »das ist nur für Schüler der Abschlussklasse.«
Damit humpelte Stephen und was von seinem Selbstbewusstsein noch übrig war zurück in sein Klassenzimmer.
In der nächsten Pause sprach ein freundlicher älterer Junge, der an dem Morgen auch vor dem Büro des Direktors gewartet hatte, Stephen auf dem Hof an. »Mach dir keine Sorgen«, sagte er. »Ich sag dir, wo du für die Castings hingehen musst.« Also nahm Stephen den Bus in die Stadt, zu einer Zeit, als ein 13-Jähriger das allein noch ungefährdet konnte, und nahm an dem Auswahlverfahren teil. Mit Erfolg, und so begann sein erstes Jahr als eines der jüngsten Quiz Kids Südafrikas aller Zeiten und als das Quiz Kid, das am längsten im Rateteam blieb. Die Sendungen wurden unter der Woche vorproduziert, meistens in den SABC-Studios. Da die Fabrik seines Vaters in der Nähe lag, konnte Stephen nach jeder Aufnahme einfach mit ihm nach Hause fahren. Die Show wurde montags und donnerstags von 18.15 bis 18.30 Uhr gesendet.
In vielerlei Hinsicht wirkte sich Stephens Rolle als Quiz Kid positiv aus. Erstens verdiente er nicht schlecht und konnte ein Sparkonto eröffnen. Außerdem wurde er populär. Seine Eltern und Verwandten waren extrem stolz auf ihn. Ihre Hoffnungen, eines Tages sagen zu können »mein Sohn, der Arzt« oder »mein Sohn, der Zahnarzt« erfüllten sich frühzeitig in einem »mein Sohn, das Quiz-Kid«. »Die haben eine Menge Freude an mir gehabt«, erinnert sich Stephen. Die Kehrseite waren Erfahrungen, wie sie Kinder, die in jungen Jahren auch nur minimale Prominenz erlangen, typischerweise machen. Obwohl es nicht so schlimm war wie bei dem Quiz Kid Donnie Smith aus dem Film Magnolia, entdeckte auch Stephen die Nachteile des Ruhms. Täglich warfen ihm Mitschüler auf dem Hof oder auf dem Weg zum Unterricht wahllos Fragen hin. Wer hat dieses Buch geschrieben? Wer hat jenes Land entdeckt? Er musste eine Menge Häme und Spott einstecken und sehnte sich bald nach Anonymität.
Trotzdem blieb Stephen mehrere Jahre bei Quiz Kids, ehe er in das isolierte Leben eines Musikfans und Bücherwurms zurückkehrte. Sein Highschool-Abschluss fiel nicht besonders gut aus, und er hatte absolut keine Ahnung, was er danach mit seinem Leben anfangen sollte. Aber sein Wissensdurst und sein angeborener rebellischer Geist waren die perfekten Voraussetzungen, um Stephen zu einem wichtigen Akteur in der Rodriguez-Geschichte zu machen.
Im Jahr 1972 wurde Stephen zum einjährigen Wehrdienst bei den südafrikanischen Streitkräften eingezogen. Die allgemeine Wehrpflicht für weiße Männer war 1967 eingeführt worden, und zum Zeitpunkt von Stephens Einberufung war daraus eine ernste Angelegenheit geworden, weil sich im Norden Südafrikas Ärger zusammenbraute.
Der sogenannte Grenzkrieg brach im Jahr 1966 aus, als südafrikanische Sicherheitskräfte im Norden Südwestafrikas mit SWAPO-Rebellen aneinandergerieten. Im selben Jahr verabschiedete die UNO die Resolution 2145 und beendete damit das Recht Südafrikas auf Verwaltung des Protektorats, das es Ende des Zweiten Weltkriegs unter UN-Mandat geerbt hatte. 1968 erkannte eine zweite Resolution, Nummer 2372, die SWAPO als legitime Vertretung des Volkes von Südwestafrika an. In derselben Resolution wurde das Territorium zum Leidwesen Pretorias in Namibia umbenannt. Die Republik Südafrika, damals unter Premierminister B. J. Vorster, beharrte auf ihrem Recht und klammerte sich an das Gebiet, das praktisch zur fünften südafrikanischen Provinz geworden war. Die SWAPO begann einen langen Guerillakrieg für die Unabhängigkeit.
Als Stephen 1972 eingezogen wurde, spielte sich der Grenzkrieg vor allem auf einem schmalen Streifen Land im Nordosten Namibias ab, dem Caprivizipfel. Aber damit hatte Stephen nichts zu tun. Nach seiner Grundausbildung wurde er zur 100-Air-Force-Maintenance-Einheit in Pretoria versetzt, wo er seinen Dienst in einer Schreibstube ableistete. Stephens Anstrengungen beim Militär lassen sich am besten als NAAFI beschreiben, ein soldatisches Akronym für »no ambition and fuckall interest«. Und wer konnte ihm das verdenken? Er war erst 17 Jahre alt und sträubte sich wie ein großer Prozentsatz der Wehrpflichtigen jener Zeit, in einem Krieg zu kämpfen, in dem er keine persönlichen Interessen hatte, von Verständnis ganz zu schweigen. Zum Glück konnte er seine Zeit absitzen, ohne größere Wellen zu schlagen. Er vertrieb sich die Zeit mit Schachspielen mit einem Kameraden aus seinem Büro, ansonsten hieß es »Musik, Musik, Musik«.
Und so geschah es, dass Stephen eines Tages im Ford Capri seines Freundes zum ersten Mal Cold Fact hörte und sofort gebannt war. Es wurde zum Soundtrack seiner Militärzeit. Eigentlich hatte das Leben der jungen Männer, die auf dem Luftwaffenstützpunkt Swartkop in Pretoria stationiert waren, nicht viel gemeinsam mit dem des Mannes, der Songs über die Verhältnisse in den US-amerikanischen Innenstadtghettos sang; trotzdem fand das Album Widerhall. Und eine wichtige Gemeinsamkeit zwischen beiden Welten gab es doch. Beide Länder befanden sich im Krieg. Und die Kriege wurden geographisch weit entfernt vom alltäglichen Leben der Männer geführt, die ihn kämpften: für Südafrika an der südwestafrikanisch-angolanischen Grenze und für die USA in Vietnam. Und wie die meisten Kriege waren es Kriege der Politiker. Trotzdem spielten in dem Meer von Anti-Establishment-Texten auf dem Album nur zwei Zeilen tatsächlich darauf an: »the government gives you your slugs« und »I wonder about the soldier that dies«.
Als Stephen irgendwann ein Exemplar der LP in die Hände bekam, war er fasziniert von dem auffälligen Cover: das auf (oder in) eine Perle oder Kristallkugel montierte Bild eines Mannes mit schwarzer Sonnenbrille in einer blau-weiß gestreiften Hose, Sandalen und einer hellvioletten Lederweste mit einem tiefhängenden Medaillon, der im Schneidersitz gelassen in die Kamera blickt. Unter dem Foto sind im Step-and-Repeat-Verfahren drei Streifen mit grafischen Aufnahmen urbaner Szenen abgebildet. Im obersten Streifen sieht man, verschwommen, aber noch lesbar, das Wort »DRUG«, offenbar Anschnitt eines Drugstore-Schildes. Doch weil diese Bezeichnung für Apotheken und Drogerien in Südafrika unbekannt ist, wurde hier nur die zweite Bedeutung gelesen. (Die drei schwarzweißen Streifen der Original-US-Veröffentlichung sind in der südafrikanischen Version nachkoloriert worden, möglicherweise, um das Wort DRUG und vielleicht auch die Frau in der provokanten Pose auf dem untersten Streifen unkenntlich zu machen.)
Als Stephen das Album umdrehte, stellte er fest, dass auf dem Rückcover keiner der mitwirkenden Musiker genannt wurde. Abgedruckt waren lediglich die Texte der zwölf Songs sowie einige Credits für Arrangement und Produktion (Mike Theodore und Dennis Coffey), Tonmischung (wieder Theodore), Fotografie und Coverdesign sowie für ein New Yorker Studio, in dem das Album abgemischt worden war. Die einzigen anderen Informationen fanden sich auf dem Label der Schallplatte: klein gedruckt der Name Sixto Rodriguez, ein A&M-Records-Logo, ein Sussex-Records-Logo, die Liste der Tracks mit Längenangabe und die vorgeschriebenen Informationen über Komponist und Autor. Einige Tracks wurden einem Jesus Rodriguez zugeschrieben, andere dem Sixth Prince. Bei zwei Songs waren Gary Harvey, Mike Theodore und Dennis Coffey als Urheber angegeben. Ungeachtet all dessen und weil der Name Sixto Rodriguez auf keiner der folgenden Vinyl-Pressungen auftauchte, nahmen die Südafrikaner einfach an, dass der Künstler mit vollem Namen Jesus Rodriguez hieß. Der Sixth Prince blieb ein Rätsel.
Das Album wurde von A&M Records lokal unter der Nummer AMLS 67000 gepresst. In den Tagen des Vinyls hätte der Lizenznehmer eine Masterkopie bekommen müssen, von der er die Platte presst. Cold Fact lief kaum im Radio, und auch wenn keiner der Songs offiziell verboten war, wurden bestimmte Tracks von den Zensoren mit einem scharfen Gegenstand zerkratzt, damit sie auf staatlichen Radiowellen nicht gespielt werden konnten. Außer LM Radio, dem offiziellen Sender aus Lourenço Marques, den man in Südafrika über Mittelwelle empfangen konnte, gab es keinen anderen Sender als SABC.
Aber auch ohne im Radio gespielt zu werden, wurde das Album mit der Zeit ein Kultklassiker, der immer wieder kopiert und überall gespielt wurde.
Nach seinem Jahr in der Armee drückte Stephen sich um die Reserveübungen, indem er sich an der University of Witwatersrand einschrieb. Etwa zu der Zeit begannen Freunde ihn immer öfter »Sugar« zu nennen, eine Ableitung aus der falschen Aussprache von Segerman als »Sugarman«, einem in Südafrika sehr viel geläufigeren Namen. Genau genommen fing es 1977 in seinem letzten Jahr an der Universität an, als Stephen zu Hause aus- und in eine Neun-Personen-Kommune in einem großen zweistöckigen Haus in der Johannesburger Vorstadt Parktown einzog. Drei der neuen Bewohner hießen Stephen, ein Problem, das der Kopf der Kommune Stephen »Swaz« Swesky sofort erkannte, weshalb er jedem ohne weitere Umstände einen Zweitnamen verpasste. Damit wurde Segerman zu »Sugar«, ein Spitzname, der durch seine Besessenheit mit dem anderen Sugar Man noch passender schien.
Nach dem Studium folgte eine Zeit, in der Stephen Artikel verfasste, für die er nie so recht die dafür erforderliche Begeisterung entwickeln konnte. An dieser Phase seiner Laufbahn hatte der Segerman-Clan leider weniger Freude. Und etwa zur selben Zeit, als Rodriguez auf der anderen Seite der Welt in sein Leben als Fließbandarbeiter in der Autoindustrie zurückkehrte, begann Stephen in der Fabrik seines Vaters zu arbeiten, wo er Schmuck entwarf und Diamanten verkaufte, schließlich heiratete und eine Familie gründete.
Aber seine Liebe für die Musik verließ ihn nie. Anstatt die Musik in sein Familienleben zu integrieren, integrierte er die Familie in sein Leben mit der Musik. Er zog sich noch weiter in seine Muschel zurück. Sein perlmuttartiges inneres Heiligtum war ein kleiner Raum in der Mitte seines Hauses, in dem er jedes auffindbare Poster, Buch, Album und sentimentale Erinnerungsstück sammelte, das ihm in seinem Leben je etwas bedeutet hatte. Von seinen regelmäßigen freitäglichen Ausflügen zu diversen Plattenläden in Braamfontein und Hillbrow brachte er neue Alben, Bücher und Zeitschriften mit, die den Raum nach und nach weiter füllten. Auf einer dieser wöchentlichen kulturellen Pilgerfahrten entdeckte er auch The Best of Rodriguez, eine Compilation von 1982, die er noch nie gesehen hatte und auf der – zu seiner Überraschung – mehrere Rodriguez-Songs veröffentlicht waren, die er noch nie gehört hatte. Wie konnte das sein? Es hatte doch bestimmt kein weiteres Album gegeben? Wie hatte er das verpassen können? Und so machte er sich auf die Suche nach dieser zweiten Rodriguez-LP.
Im Laufe der Jahre kam es in Südafrika endlich zu politischen Veränderungen. 1989 zog das Land seine Soldaten aus Namibia und Angola zurück und beendete damit den Grenzkrieg, und als F. W. de Klerk das Amt des Premierministers von P. W. Botha übernahm, leitete er einen Reformprozess ein, der schließlich zur Freilassung von Nelson Mandela und anderer politischer Gefangener und den ersten demokratischen Wahlen 1994 führte, bei denen Mandela zum Präsidenten gewählt wurde.
1994 saß Sugar während eines Urlaubs in Kapstadt mit Freunden an der Camps Bay, unter ihnen auch Ronit Molko, die einige Zeit zuvor in die Vereinigten Staaten ausgewandert war, jedoch häufig nach Südafrika zurückkehrte, um Verwandte und Freunde zu besuchen. Ronit fragte Sugar, wo man in Kapstadt das Album Cold Fact als CD kaufen könnte. Sugar erklärte ihr, dass man es praktisch überall bekäme, sogar bei CNA, einer landesweiten Kette von Zeitungshändlern mit einer Filiale gleich gegenüber von dem Strand, an dem sie saßen. Die Antwort schien fast idiotisch naheliegend. »Oder du kaufst es einfach, wenn du wieder zu Hause in Amerika bist.«
»Das kann ich nicht«, erwiderte sie, »in den USA ist es schlicht nicht erhältlich.«
Ronit erklärte, dass sie das Album nirgendwo in Amerika gefunden habe. Niemand hatte je davon gehört. Das überraschte Sugar, weil jeder in Südafrika Rodriguez’ Musik kannte und besaß. Er war so berühmt wie Bob Dylan oder die Rolling Stones, und die Südafrikaner hatten natürlich angenommen, dass seine Musik überall auf der Welt erhältlich war. Zum ersten Mal bekam Sugar eine Ahnung davon, dass sie es vielleicht mit einem Kultalbum zu tun haben könnten. Die Annahme, dass man es in dem Laden gegenüber vom Strand erwerben konnte, erwies sich als zutreffend. Sie schlenderten rüber und kauften ein Exemplar von Cold Fact, das Ronit mit nach Hause nehmen konnte.
Als Sugar nach Johannesburg zurückkehrte, war seine Neugier angestachelt, und er nahm die Suche nach dem verschollenen Rodriguez-Album wieder auf, das er zwar nie gehört oder gesehen hatte, von dessen Existenz er jedoch wegen des Best of-Albums wusste. Er stöberte in allen ihm bekannten Johannesburger Plattenläden – Kohinoor Records in der Commissioner Street, Hillbrow Record Centre, Look & Listen und ein paar Secondhand-Läden in der Innenstadt –, doch ohne Erfolg. Bei einem Besuch erwähnte Sugar seine Suche nach dem zweiten Rodriguez-Album gegenüber seinem Freund Andre Bakkes in Midrand. Zu seiner Verblüffung schlenderte Andre lässig zum Plattenspieler, blätterte durch seine Sammlung und zog eine original südafrikanische Veröffentlichung von Coming from Reality aus dem Regal. Sugar war völlig perplex, nie zuvor hatte er ein Exemplar dieser mysteriösen LP zu Gesicht bekommen. Andre war so freundlich, sie ihm zu leihen.
Auf dem Cover des Albums war ein Foto von Rodriguez abgebildet, der in weißem Hemd und schwarzer Hose auf der Veranda eines baufälligen Hauses sitzt. Wieder sind seine Augen von einer dunklen Sonnenbrille verdeckt. Sein Haar ist länger gewachsen, und er starrt mit dem Hauch eines Lächelns in die Kamera. Hinter ihm sieht man eine mit Brettern zugenagelte blaue Tür, eine zerbrochene Stuhllehne und eine leere Flasche. Seltsamerweise steht neben seinem Schuh ein Kinderschuh, der seinem ähnelt. In der Hand hält er so etwas wie eine Plastiktüte oder eine Scherbe.
In Südafrika wurde das Album 1972 veröffentlicht, obwohl auf dem Label 1973 angegeben ist. Plattenfirma ist wieder A&M/Sussex, die Katalognummer SXBS 7012. Diesmal ist als Komponist aller Songs schlicht Rodriguez angegeben. Die einzige andere Nennung neben der von Produzent Steve Rowland lautet: »Impresario: Clarence Avant«.
Schon mit den ersten Tönen der akustischen Gitarre auf Coming from Reality wurde ein Maß an Selbstvertrauen deutlich, das auf Cold Fact so nicht zu hören ist. Rodriguez lädt die Zuhörer ein: »Climb up on my music, and my songs will set you free.« Sugar lehnte sich zurück und lauschte andächtig. Die Texte waren so prägnant wie auf dem Vorgänger-Album: »Have you ever had a fever/From a bittersweet refrain/Have you ever kissed the sunshine/Walked between the rain.« Sugar hatte das Fieber. Wieder.
Was folgte, war das zweite wichtige Ereignis in einer Reihe von Zufällen, die damit begonnen hatten, dass Andre die LP in seiner Sammlung hatte. Kurz nach dem Fund von Coming from Reality rief Andy Harrod an, ein anderer enger Freund Sugars aus der lokalen Musikindustrie, der ihm berichtete, dass die Plattenfirma nach einer unberührten Kopie von Coming from Reality suchte, weil man das Album auf CD veröffentlichen wollte.
»Warum presst ihr es nicht von der Masterkopie?«, stellte Sugar eine weitere scheinbar naheliegende Frage, weil das Plattenfirmen schließlich so machten.
»Na ja«, erwiderte Andy zögernd, »offenbar haben sie keine Masterbänder.«
Wie konnte das sein? Die Geschichte wurde immer rätselhafter. Mit Andres Erlaubnis überreichte Sugar Andy die LP von Coming from Reality, der sie an die Plattenfirma weitergab. Die war entzückt, ein derart gepflegtes Vinyl-Exemplar zu bekommen, und Andy und Sugar wurden als Dank und zur Belohnung eingeladen, den Text für das Booklet der neuen südafrikanischen CD-Veröffentlichung zu schreiben, die unter dem Namen After the Fact – Coming from Reality auf den Markt gebracht wurde.
Eine Woche später hatten die beiden Freunde die Liner Notes zusammengeschustert; ein ziemlich normaler und gewöhnlicher Text bis auf einen zukunftsweisenden Absatz:
Konkrete, harte Fakten über den Künstler namens Rodriguez sind nicht bekannt. Man weiß nicht einmal, ob er noch lebt oder tot ist. Gibt es dort draußen einen Musikdetektiv?
2
Von Kimberley bis zum Mond
(1964–1997)
»Das Mittel gegen Langeweile ist Neugier. Ein Mittel gegen Neugier gibt es nicht.«
Dorothy Parker, amerikanische Dichterin und Satirikerin
Als Craig Bartholomew Strydom diesen Absatz im Booklet der Rodriguez-CD las, die er gerade in dem Look-&-Listen-Musikladen ausgepackt hatte, wo er arbeitete, traute er seinen Augen nicht. Ein paar Jahre zuvor hatte Craig es sich selbst zur Aufgabe gemacht herauszufinden, wie Rodriguez gestorben war. Dieses Mysterium stand auf einer Liste von geplanten Artikeln, die in seinem Büro an der Wand hing. Nun hatte er jemanden gefunden, der dieselbe Frage stellte.
Wie Stephen sollte auch Craig eine Rolle bei der Wiederentdeckung von Rodriguez spielen. Doch als 2012 durch die Pressemitteilung zur Ankündigung des Filmes Searching for Sugar Man der Namenszusatz »Musikdetektiv« verbreitet wurde, musste er klarstellen, dass er nie in seinem Leben Musikwissenschaftler oder Detektiv war. Behutsam erklärte er die Entstehung dieses seltsamen Titels in zahlreichen Frage-und-Antwort-Runden bei Filmfestivals, unter anderem vor 1000 Zuschauern in New York City. Letztendlich erschien es ihm leichter, einfach zuzugeben, dass er in der Tat ein Musikdetektiv war, der erste seiner Art.
In der Diamantminenstadt Kimberley, in der Craig 1964 geboren wurde, prallten hochfliegende Träume von einem Leben als Schriftsteller oder Musikwissenschaftler auf die Realitäten eines eher regional ausgerichteten Jobangebots. Ein großer Prozentsatz der Bevölkerung der Stadt arbeitete in den Minen oder für Unternehmen, die von den Minen abhängig waren. Sein Vater und vier der fünf Brüder seines Vaters waren irgendwann bei De Beers oder einem Tochterunternehmen beschäftigt. (Auch Craig sollte für kurze Zeit als Diamantensortierer für De-Beers jobben.) Hätte man 1871 auf der Vooruitzigt-Farm der De Beer-Brüder keine Diamanten gefunden, würde Kimberley heute höchstwahrscheinlich auf keiner Landkarte existieren.
In dem Jahrzehnt, in dem Craig geboren wurde, war Kimberley jedoch nicht mehr als ein verschlafenes Minenstädtchen, ein bloßer Schatten der früheren multiethnischen Stadt, die es zum Höhepunkt des Diamantenrausches und bei ihrer Gründung gewesen war. Glücksritter aus allen Himmelsrichtungen waren scharenweise in den Ort geströmt, um bei der ansteckenden Lotterie von Mutter Natur mitzuspielen. Während des Diamantenrausches konnte man beobachten, wie Diamantengräber aus Russland, Australien, Kalifornien, Großbritannien und Brasilien nach einem anstrengenden Arbeitstag in provisorischen Saloons zusammensaßen und Geschäfte machten. Ihnen dicht auf den Fersen folgten die Industriemagnaten, die das Business mit ihrem Geld konsolidierten. Diamantenförderung war anfangs vielleicht ein Wettrennen bis zum Grund, das das größte künstliche Loch der Welt hinterließ, doch durch die Industrialisierung kam es nach und nach zu einer Konzentration auf wenige große monopolistische Unternehmen. In seinen Anfangstagen war Kimberley wie der Wilde Westen. Was konnte ein Junge in einer Stadt, die auf Träumen gegründet war, anderes tun, als zu träumen?
Weniger als ein Jahr bevor Rodriguez einen Kontinent entfernt Cold Fact veröffentlichte, hockte der fünfjährige Craig mit seinem Vater vor dem Radio und lauschte gebannt der Live-Übertragung der ersten Mondlandung. Als Craig am nächsten Morgen den Milchmann am Tor ihres Hauses in einer Siedlung des Minenunternehmens in der Ernest Oppenheimer Avenue begrüßte, erzählte er ihm aufgeregt von der Mondlandung, die für sein kindlich staunendes Gemüt ein wahres Wunder gewesen war. Zwei Männer, Neil Armstrong und Buzz Aldrin, waren auf der Mondoberfläche gelaufen! Den Blick noch immer zum Himmel gewandt, in den der Junge gewiesen hatte, fragte der Milchmann Craig, ob er den Mond auch einmal besuchen wollte. Craig konnte sein Glück kaum fassen, als der Milchmann großzügig anbot, ihn an seinem freien Tag mit dorthin zu nehmen. Pläne wurden geschmiedet, am kommenden Sonntag früh aufzubrechen. Die Anweisung war klar: Warte im Vorgarten neben dem Steingarten mit den Minikakteen. Der Sonntag kam. Der Milchmann nicht. Eine Stunde später fand die Mutter den Jungen in Tränen aufgelöst, die Arme um seinen ordentlich gepackten Rucksack geschlungen.
Craigs Eltern Bert und Gladys waren von gemischter englischer und afrikaanser Abstammung, sprachen zu Hause jedoch Englisch. Sein Vater war Laienprediger, beide Eltern waren unerschütterlich religiös. Trotzdem genoss Craig eine glückliche Kindheit. Seine Eltern waren liebevoll, fürsorglich, ewig jung und engagiert, nicht leicht mit fünf Kindern und einer Handvoll streunender Cousins. Craigs Großmutter war in ihrer Jugend Opernsängerin gewesen, und er hatte einmal verzaubert gelauscht, als sie Weihnachten in der City Hall eine Bachkantate gesungen hatte.
Im Gegensatz zu den Segermans rannte die Popkultur den Strydoms nicht direkt die Bude ein, sickerte jedoch hin und wieder durch. Craigs früheste musikalische Erinnerung ist der Song »Downtown« von Petula Clark, den er auf der Rückbank des VW Variants seines Vaters vor sich hin sang. Einmal stieß er im Zimmer seiner Mutter auf eine Schublade voller LPs – Beatles, Rod McKuen, Françoise Hardy, Roy Orbinson und Elvis. Rückblickend erscheint es seltsam, dass seine frommen Eltern solche Musik im Haus hatten. Noch unpassender erschien Barry Whites Single »You’re the First, the Last, My Everything«, die sein Vater eines Tages als Hochzeitstagsgeschenk für seine Mutter mitbrachte. Schwarzer Soul? Natürlich stand Cold Fact 1972 schon in den südafrikanischen Regalen, allerdings in begrenzter Stückzahl, und es gab keine Möglichkeit für Craig oder seinen Vater, von der Platte zu hören. Es sollte bis 1984 dauern, bis das Album Craigs Weg kreuzte. In Sachen Popkultur war Kimberley eher langsam.
Wenn die Stadt doch mal eine Dosis abbekam, war sie kurz und heftig. Wie an dem Abend, als er und sein Bruder in Schlafanzug und Bademantel im Wagen ihres Onkels Peter warten mussten, als Rabbitt, Trevor Rabins zweite Band – und die südafrikanische Antwort auf die Beatles –, in die Stadt kam. Die Befehle seines Onkels missachtend, schlich Craig sich in die Lobby der City Hall und erhaschte einen ersten Blick auf langhaarige Fans und kreischende Groupies kurz vor der Ohnmacht.
1973 verkündete Craigs Vater, dass sie auf eine Farm 26 Kilometer außerhalb von Kimberley ziehen würden. Wer dachte, dass sie damit die Diamanten hinter sich lassen würden, lag falsch. Sein Vater hatte die Leitung einer Tagebaumine am Ufer des Vaal River übernommen. Obwohl Craig sich dadurch noch weiter von der Popkultur entfernt sah, hatten die zwei Jahre auf der Farm einen wichtigen Einfluss auf ihn. Zusammen mit seinem Bruder und einer Schwester besuchte er eine Dorfschule namens Klipdam Holpan Primêr in der Nähe der Stadt Windsorton. Hin und wieder trat der Fluss über die Ufer, Brücken wurden weggespült, und sie wurden zu Hause von ihrer Mutter unterrichtet. Klipdam hatte damals nur 26 Schüler und erlaubte Craig erste Ausflüge in die Welt des Detektivspielens. Der ewige Träumer kletterte auf den Wasserturm auf dem Schulhof und beobachtete die anderen Kinder durch sein Taschenteleskop. In der Schule wurde er auch in erste Prügeleien verwickelt, ein willkommenes Ende seines verhätschelten Lebens. Als einer von nur zwei englischen Jungen auf einer überwiegend afrikaansen Schule bedurfte es mehrerer Scharmützel, um so etwas wie einen Status zu erwerben. Und was die wenigen Mädchen in seinem Alter betraf, war die Konkurrenz unter den Jungen hart. An goldenen Sommerabenden wurden Filme an die Mauer des Schulgebäudes projiziert, und an einem Samstag saß ein allseits begehrtes Mädchen namens Anne eine ganze Filmrolle lang auf Craigs Schoß. Das war eine Errungenschaft – sowohl was seinen Status als auch frühe romantische Erfahrungen betraf –, und obwohl Craigs Beine taub wurden und kribbelten, hätte den Zehnjährigen nichts dazu gebracht, Anne aufzufordern aufzustehen.
Während außerhalb des Farmhauses die Apartheid in vollem Gange war, zimmerte Craigs von Natur aus philanthropischer Vater eine provisorische Kirche und übernahm die Rolle des Betreuers für die kleine Gemeinde von Schwarzen, die dort lebten und arbeiteten. Um ihren geringen Lohn zu subventionieren, karrte er große Mengen von Kutteln an, die sie zum Einkaufspreis erwerben konnten. Außerdem ersparte er der Township die Kosten für das Anmieten eines Leichenwagens, mit dem die Toten zu den sonntäglichen Bestattungen gefahren werden konnten. Hin und wieder sah man den gelben VW-Familienkombi, der den Variant ersetzt hatte, mit fünf Kindern (wie bei den Waltons im Fernsehen), einem Sarg (angeblich leer: eine rare Notlüge von Craigs Vater) und einem 125-Liter-Behälter mit Innereien über die Straße zockeln. Die Fracht, die sommerliche Hitze und deren olfaktorische Folgen sorgten dafür, dass diese Erfahrung für immer ins Gedächtnis des Jungen gebrannt wurde, ob er wollte oder nicht.
1975 zog seine Familie zurück nach Kimberley, und im Juni des folgenden Jahres explodierte weiter nördlich in Johannesburg die Township Soweto. Schwarze Jugendliche, die sich weigerten, auf Afrikaans, die Sprache der Unterdrücker, unterrichtet zu werden, begannen zu rebellieren. Die Polizei eröffnete das Feuer, und zahllose tote Kinder später senkte sich eine trügerische Ruhe über die Townships, wenn auch nicht für lange. Die Toten hatten die Welt endlich gezwungen, die Verhältnisse in Südafrika zur Kenntnis zu nehmen. Der Wirtschaftsboykott wurde forciert, genau wie der Sport- und der Kulturboykott, was schon bald negative Auswirkungen auf das Land hatte. Für die Apartheid und die Nationalpartei, die auf der falschen Seite der Geschichte standen, war es der Anfang vom Ende.
1983 befand sich Südafrika mitten in den Wirren einer inneren Revolte. Praktisch alle Townships waren zu Brutstätten des Aufstands geworden, vor allem die um Johannesburg und das Ostkap. In diesen unruhigen Zeiten erhielt Craig seine Einberufungspapiere und die Aufforderung, sich bei den südafrikanischen Streitkräften zu melden. Wegen der permanenten inneren Unruhen, die das Alltagsleben Südafrikas prägten, sowie der Ausbreitung des Grenzkrieges nach Angola war der Wehrdienst auf zwei Jahre verlängert worden. Hinzu kamen die sogenannten »Camps«, zusammengenommen weitere zwei Jahre Dienst als Reserveübungen über zehn Jahre verteilt.
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