Sühnenacht - Peter Laws - E-Book

Sühnenacht E-Book

Peter Laws

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In einer Grundschule in Süd-London wird die Leiche einer Lehrerin gefunden. Scheinbar hat ihr eigener Hund sie zerfleischt. Mit ihm hatte sie sich nachts in einem Abstellraum eingeschlossen. Da die Innenseite der Tür mit religiösen Schutz-Symbolen übersäht ist, wird Matt Hunter - Ex-Pastor und Professor für Soziologie - zu den Ermittlungen hinzugezogen. Matt muss sich fragen: Was wollte die Lehrerin nachts in der Schule? Weshalb drehte ihr Hund durch? Und vor was wollte sie sich schützen?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 575

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumWidmungZitatTEIL 1Prolog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. KapitelTEIL 223. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. KapitelTEIL 347. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. Kapitel58. Kapitel59. Kapitel60. Kapitel61. Kapitel62. KapitelDanksagung

Über dieses Buch

In einer Grundschule in Süd-London wird die Leiche einer Lehrerin gefunden. Scheinbar hat ihr eigener Hund sie zerfleischt. Mit ihm hatte sie sich nachts in einem Abstellraum eingeschlossen. Da die Innenseite der Tür mit religiösen Schutz-Symbolen übersäht ist, wird Matt Hunter – Ex-Pastor und Professor für Soziologie – zu den Ermittlungen hinzugezogen. Matt muss sich fragen: Was wollte die Lehrerin nachts in der Schule? Weshalb drehte ihr Hund durch? Und vor was wollte sie sich schützen?

Über den Autor

Peter Laws ist ein britischer Autor, Journalist und Filmkritiker. Er ist zudem ein ordinierter baptistischer Pastor mit einer Vorliebe für das Makabre. Auf YouTube betreibt er einen Kanal, der sich rund um das Thema Horror dreht. Derzeit arbeitet er an einem Sachbuch, welches sich mit der menschlichen Faszination für Übernatürliches und Morbides befasst. Sühneopfer, der erste Fall des Soziologieprofessors Matt Hunter, ist sein Debütroman.

PETER LAWS

SÜHNENACHT

Thriller

Aus dem Englischen vonArno Hoven

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2017 by Peter Laws

Titel der englischen Originalausgabe: »Unleashed«

Originalverlag: Allison & Busby Ltd, London

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Alexander Lohmann & Linda Budinger, Leichlingen

Umschlaggestaltung: Manuela Städele-Monverde

unter Verwendung von Illustrationen von

© shutterstock: KsanaGraphica | Dan Bridge

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-7809-2

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Guck mal, Mam … ich bin’s!Dieses Buch ist dir gewidmet. Mit liebevollem Dank für mein Leben und meine Arbeit – für das, was aus mir geworden ist, allein aufgrund von dir.

Wir haben ja nicht gegen Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern gegen die Mächte, gegen die Gewalten, gegen die Weltherrscher dieser Finsternis, gegen die Geister des Bösen im Reich der Himmel.

Epheser 6:12

TEIL 1

APOPHÄNIE

Prolog

Das Kaninchen kriecht wieder aus seinem Grab.

Erde und Stein bröckeln unter seinen Pfoten.

Es zuckt, schnuppert, sieht Licht.

Sieht mehr, als du jemals könntest.

Kaninchen bewegt sich vom Gras zur Straße.

Schaut hoch und hört Regen.

Schlamm und nasse Dinge auf seinem Fell.

Gleitet durch den wogenden Wald.

Leute gucken und verbergen ihr Lächeln.

Einige geben sich große Mühe, seinen Bauch zu kratzen.

Es bleibt fern, so gut es kann.

Begibt sich vom Gestein zum Sand.

Am Gras vorbei und zwischen die Baumstämme.

Kaninchen hört ihr Gekicher.

Geflüster schlängelt sich, Ohren stellen sich auf.

Kaninchen schnüffelt in der Luft nach Blut.

Durch den Baum setzt es sich nieder und starrt.

Schaukelnd, schaukelnd schaut sie umher.

Sie kann nicht den Schatten lächeln sehen.

War bestimmt fürs Kriechen … hat es gelernt zu gehen.

Auch wenn die Nacht weit weg ist,

wartet Kaninchen und mag das Geräusch.

Das sie auf dem Boden macht.

Hinterbeine werden langsamer, drehen sich um.

Hübsch.

1. Kapitel

Jo Finch saß in ihrer alten Grundschule und kaute an den Nägeln. Sie war von einundzwanzig anderen Eltern umgeben. Jeder von ihnen saß schmerzhaft zusammengedrückt in einem winzigen Schülerstuhl, die Beine waren unter unmöglich niedrigen Schreibtischen eingezwängt. Die anderen Eltern sahen schick und wichtig aus. Für die Sache hier hatten sich viele von ihrer Arbeit freigenommen, daher trugen eine Menge der Anwesenden Anzüge. Jo bemerkte, dass zahlreiche Frauen knielange Lederstiefel anhatten, die tatsächlich feine Steppnähte aufwiesen. Sie waren mit absoluter Sicherheit nicht von Primark, um es mal so auszudrücken. Jo hingegen saß in einer Fleece-Jacke da, die in dem strahlendsten Gelb leuchtete, das jemals von der Sonne herabgefallen war. Und außerdem noch mit den dazu passenden Leggings.

O Gott.

Sie fühlte sich wie ein nackter Homer Simpson. Wie eine Butterblume auf Beinen, die von unten Gesichter anleuchtete. Ihre Chefin bei der Reinigungsfirma Merry Poppins mochte ja eine ihrer besten Kameradinnen sein, aber Kassy West war nie der Typ, der Freundschaft mit Gefälligkeiten verband. Sie hatte Jo für diese Schulführung exakt neunzig Minuten von der Arbeit freigestellt. Für einen Schichtwechsel mit einer Kollegin war keine Zeit mehr gewesen.

Ihr kam in den Sinn, dass sie für diese Schule vielleicht überhaupt gar keine Führung benötigte, denn sie kannte jeden Zentimeter davon. Jede Korridorbiegung, jeden Riss im Schulhofbeton. Vor wenigen Jahrzehnten war sie das kleine Mädchen mit den kurzen Zöpfen und Haarspangen im Feuerwerksdesign gewesen, das hier herumlief – schon damals in billigen Anziehsachen. Doch während sich die Umrisse des Gebäudekomplexes nicht verändert hatten, war die Atmosphäre dieses Ortes echt anders geworden. Sogar die großen grünen Heizkörper waren verschwunden. Diese Dinger, die ausgesehen hatten, als wären sie von einem Dampfzug aus dem Zeitalter der industriellen Revolution heruntergefallen. Man hatte sie durch einige elegant aussehende weiße Kästen mit einem ständig leuchtenden roten Licht ersetzt, das bei jedem von ihnen an der Ecke blinkte. Na, viel Glück, wenn da mal zerlaufende Wachsmalstifte drauf kommen, dachte Jo. Dann erschauderte sie. Im September nächsten Jahres würde ihre Tochter Seren fast fünf sein, was bedeutete, dass die Regierung an jedem Werktag der Woche einen gesetzlichen Anspruch auf sie hatte. Seren würde an diesem vertrauten, unvertrauten Ort ganz allein sein.

Das Einzige, was so aussah, als hätte es dieselbe Farbe wie in den alten Tagen, war der Fußboden. Jo rieb mit den Spitzen ihrer Joggingschuhe darüber. Ja, der Holzboden mit dem sechseckigen Muster war noch derselbe. Das Licht erfasste die historischen Kratzer und Schrammen. Vielleicht waren sogar noch ein paar abgenutzte Stellen von ihren kleinen Schnallenschuhen dabei, mit denen sie damals im Jahr 1993 in genau diesem Bereich des Klassenzimmers gesessen hatte. Es hätte sich so anfühlen sollen, als wäre es vor einer Million Jahren gewesen. Nur tat es das nicht. Das tat es überhaupt nicht.

Etwas puckerte in ihrem Bauch; daher drückte sie die Hand gegen das Gelb.

Neben ihr saß ihr Freund Lee, der nach Motorenöl roch. Sie zwinkerte ihm zu, doch er zwinkerte nicht zurück. Er war zu sehr damit beschäftigt, sein Smartphone durchzuscrollen und zu überprüfen, ob der Restposten von Premium-Golf-Tees, in den er investiert hatte, sich verkaufte. Vor drei Monaten hatten sie sich auf Tinder kennengelernt, wo er sich selbst als »einen im Körper eines Mechanikers gefangenen Unternehmer« beschrieb. Während er die Auflistungen durchging, zeigte er sein übliches Business-Gesicht. Das panikartige Beißen der Unterlippe; die Haut so weiß, als würde er sich gleich übergeben. Das ständige Schniefen. Wie sich herausgestellt hatte, dauerte es eine Ewigkeit, zehntausend von diesen Tees loszuwerden, selbst wenn sie aus erstklassigem afrikanischem Schwarzholz aus dem Senegal hergestellt waren.

Sie blickte auf die riesigen Fenster, die von Krepppapier-Kürbissen bedeckt waren, und von schwarzen Katzen aus Karton. Sie schaute durch die spindeldürren Beine einer Hexe, die mit der Schere schlecht ausgeschnitten worden war, und starrte über das Schulgelände hinweg. Das Dach der Vorschule war über den Hecken gerade noch sichtbar. Seren war im Augenblick dort drinnen. Viereinhalb Jahre alt, und sie führte bereits ihr eigenes Leben, wenn auch nur an einem Morgen in der Woche. Machte Sachen, die Jo nicht sehen konnte – was sich großartig und schrecklich anfühlte, und das alles gleichzeitig. Allerdings hauptsächlich schrecklich. Ihre Hände waren wahrscheinlich von oranger und schwarzer Farbe bedeckt; ihre Schuhe würden sich mit Sand füllen. Möglicherweise bereitete sie ihr Prinzessinnen-Outfit für Halloween vor. Sie würde das machen, was Kids machen sollten – mit irgendwelchen Sachen spielen. Denn Seren liebte es zu spielen. Jo blickte wieder auf die Wände des Klassenzimmers. Anders als vor den Fenstern hatte man an ihnen fast gar keine Bilder aufgehängt. Stattdessen klebten Rechenaufgaben an den Wänden. Eine von ihnen lautete: »24 minus 16«.

24 minus 16? Scheibenkleister!

Sogar Jo musste das mithilfe ihrer Finger ausrechnen. Sie spürte erneut jenes Flattern. Seren konnte kaum zählen, wie viele Füße am Ende ihrer Beine waren, was prompt einen kleinen Gedanken in ihr aufkommen ließ, der sich wie ein Nadelstich ins Herz anfühlte. Vielleicht war das hier der Ort, wo das Leben ihrer Tochter zu scheitern beginnen würde. Ihr erster Schritt ins Lager der Verlierer, wie bei ihrer Mutter.

Jo blinzelte und schaute nach vorn, wo eine wunderschöne Frau – frisch von AmazonFresh – ihren Kopf auf der Schulter ihres Ehemannes ruhen ließ. Er trug einen mörderisch guten Anzug und eine superteuer aussehende Uhr. Genau wie James Bond. Er küsste die Frau oben auf ihr glänzendes Haar, als wären sie in der Oper oder so. Jo würde jede Wette darauf eingehen, dass diese Familie 24 minus 16 in sechs verschiedenen Sprachen ausrechnen konnte. Jede Wette, dass die beiden die ganze Zeit große Divisionsaufgaben und Geschichtsfragen auf ihre Kids abfeuerten. Und das sogar bei jedem Abendessen (schön ordentlich am Tisch), anstatt auf der Couch zu liegen, über SpongeBob Schwammkopf heftig zu lachen und Nuggets zu essen. Wie Seren und sie das an den meisten Abenden taten.

Lee bohrte in seiner Nase herum, als ob das Sitzen in der hinteren Reihe ihn in eine Unsichtbarkeitsblase befördert hätte. Jo stieß ihn hart an und steckte ihm ein Papiertaschentuch unter dem Schreibpult zu.

»Danke«, sagte er lächelnd.

Er hatte wundervolle Zähne. Das war ihr bereits in dem Augenblick durch den Kopf gegangen, als sie bei ihrem ersten Date ihr erstes Meat Feast im Pizza Hut bestellt hatten. Bei seinem Lächeln, als das Meat Feast herausgetragen und vor ihm hingeknallt worden war, hatte sie gedacht: Wow, der macht seine Zähne echt, echt gut sauber. Der achtet auf Hygiene.

Sie zuckte zusammen, als die Tür des Klassenzimmers plötzlich und mit einem Scheppern weit aufgestoßen wurde.

»Showtime.« Lee steckte sein Smartphone weg.

Die Schulleiterin stürmte herein, begleitet von einem rauschenden Luftzug, und ihre stolze Mähne aus dauergewelltem weißem Haar hüpfte auf und ab, während sie sich bewegte. Auf den Ballen ihrer knallroten Nuttenstiefel federte sie rauf und runter, als könnte sie jeden Moment abheben und in die Decke schießen. Mit weit aufgerissenen Augen klatschte sie wiederholt in die Hände. Eine Robbe auf Ecstasy.

Lee flüsterte: »Jemand sollte dieser Frau einen Fisch zuwerfen.«

Jo kicherte.

»Halloooooooo, Klasse! Ich bin Mrs Walmsley, und ich bin entzückt, Sie in der Menham Lower School willkommen zu heißen.« Auf ihren Schultern trug sie einen blauen, gestrickten Umhang mit zahlreichen roten Schmetterlingen. Und so viele Armbänder! Sie klimperten und klirrten. »Mums und Dads! Betreuer und Vormunde! Es ist ein Privileg und eine Freude, Sie alle hier an unserem Tag der offenen Tür zu sehen. Ich hoffe, Sie empfinden sich ebenso sehr als ein Teil der Menham Lower, wie es Ihre Kinder bald tun werden. Es sei denn natürlich, Sie schicken sie zur Newker School, und in diesem Fall … Viel Glück …« Sie schob ihre Hüfte zur Seite und schlug sich spielerisch auf die Hand. »Das sollte ich besser nicht sagen, oder ich werde wegen meiner Frechheit in die Ecke gestellt.«

Lees Unterkiefer klappte nach unten.

Jo allerdings schmunzelte. Weil diese Frau sie an eine Moderatorin von CBeebies erinnerte, dem Fernsehsender für Vorschulkinder; und trotz des Augenrollens und der leisen Missfallensbekundungen der anderen Eltern hielt sie das für etwas Gutes.

Walmsley nickte einem Mädchen in der Ecke zu, das einen Tisch herüberrollte, auf dem oben ein Sandkasten war. »Das ist übrigens Lauren. Eine unserer Lehrerassistentinnen. Sag Hallo, Lauren.«

Lauren sprach kein Wort. Sie zeigte den Ansatz eines Lächelns. Sie sah aus, als wäre sie ungefähr zwölf, war aber wahrscheinlich zwanzig.

In einer weit ausholenden Geste schwenkte Walmsley ihre Hand über den Sandkasten hinweg, als wäre der ein Schrank voller Gewinne bei einer Gameshow. »Hier in der Menham Lower verstehen wir die Funktion des Spaßes, die Energie des Unterrichts und die unmissverständliche Priorität des Spiels.«

Jo spürte, wie sie ihren Atem ausstieß. Vielleicht wird das hier ja ganz in Ordnung sein.

»Ihre Kinder können in einem Lehrbuch über Velociraptoren lesen. Andere Schulen tun das. Aber es ist eine ganz andere Sache, wenn sie selbst Paläontologen werden … und die Vergangenheit in ihren lieben, kleinen Händen fühlen …« Sie wandte sich ihrer Assistentin Lauren zu, die zur Deckenbeleuchtung hochstarrte, ohne etwas zu bemerken. Walmsley räusperte sich und gab erneut das Stichwort, diesmal nur etwas lauter. »Und sie in ihren lieben, kleinen Händen fühlen!«

Lauren zuckte zusammen, als wäre sie von einem Knüppel zum Viehtreiben getroffen worden. Schnell tauchte sie ihre Hand in den Sand ein und wühlte ein paar unbehagliche Sekunden lang darin herum. Dann zog sie etwas heraus. Walmsley beugte sich vor, die Augen weit aufgerissen vor wahnsinniger Erregung. Exakt der Ausdruck, den Grundschullehrer und Serienmörder haben. »Ach du meine Güte, Lauren, was hast du denn da? Ist es das, wofür ich es halte?«

Als Lauren schließlich sprach, klang ihre Stimme gekünstelt. Mechanisch und monoton. Als hätte jemand gerade an einer Schnur in ihrem Rücken gezogen, um sie zum Reden zu bringen. »Mrs Walmsley. Es ist das, wofür Sie es halten. Schauen Sie … ein faszinierender Diplodokus.«

»Ein Diplodokus! Wow!« Dann, in einem schneidenden Flüsterton, durch die zusammengebissenen Zähne hindurch: »Halt ihn höher, Lauren!«

Walmsley schob rasch den Sandkasten zur Seite und bedeutete den Erwachsenen mit ein paar Armbewegungen, dass sie aufstehen sollten. »Und damit … lassen Sie uns mit der Führung beginnen.«

Sitzplätze schrammten nach hinten, und alle standen auf. Eine aufgeregte Sekunde lang dachte Jo, ihre Hinterseite wäre in dem Stuhl gefangen. Dass sie die gesamte Führung zusammengekrümmt mitmachen müsste – mit einem roten Plastiksitz, der an ihrem knallgelben Arsch festklemmte. Doch Lee ergriff ihre Hand und half ihr, sich mit ein paar wackelnden Körperbewegungen zu befreien. Sie blickte wieder durch das Fenster, schaute ein letztes Mal auf Serens Vorschule.

»Na los, du.« Lee legte ihr einen Arm um die Schultern. »Seren wird es hier lieben.«

Sie lächelte ihn an – wegen der Art und Weise, wie er sie drückte.

Die Führung zog sich in die Länge, war aber hervorragend. Die Schule war sauber und sah aus, als würde man sich gut darum kümmern. Die Unterstützung durch die Lotterie hatte eindeutig den Kauf anständiger Farben ermöglicht. Als Jo in früheren Jahren hier Schülerin gewesen war, hatte das Gebäude eher einem Konzentrationslager geglichen, mit ein paar Rugrats-Postern für das seelische Gleichgewicht.

Das Beste von allem war jedoch, dass die Schüler glücklich aussahen. Wirklich zufrieden. Außerdem waren sie erstaunlich höflich. Alle in Uniform. Graue Röcke und Hosen. Grellrote Pullover mit weißen, hervorstehenden Hemdkragen. Jo konnte sich bildlich vorstellen, wie Seren so etwas trug. Wie sie beide an jenem ersten Morgen im nächsten September aussehen würden. Der Morgen, der auf Jo zuraste wie ein außer Kontrolle geratener U-Bahn-Zug. Sie selbst in ihrer gelben Uniform von der Reinigungsfirma, Seren in ihrer roten Schuluniform und mit der kleinen Butterbrotdose, die sie speziell für den ersten Tag ihrer Tochter kaufen würden. Welcher der erste Tag für sie beide sein würde; Jo wusste dies. Der neue Lebensabschnitt.

Jo hatte diese naive Hoffnung, dass sie ihr Schluchzen zurückhalten könnte, bis sie Seren abgesetzt hätte. Sie wollte ihr Kind nicht zum Ausflippen bringen. Ihre Implosion würde sie sich für das Auto aufbewahren, zuvor jedoch von der Schule fort und um den Block herum fahren. Vorbei an der Rettungswache. Sie hatte die Stelle dafür schon ausgesucht.

Im Verlauf der Führung machte Jo das, was jeder andere Elternteil tat. In jedem Schulzimmer, in jedem Korridor malte sie sich im Geiste aus, wie es aussehen würde, wenn ihr Kind hier drinnen wäre. In den Toiletten sprach Walmsley über die Wichtigkeit von Hygiene, doch Jo war zu sehr damit beschäftigt, sich vorzustellen, wie Seren vor diesen Liliput-Wasserhähnen stand. Waren sie zu hoch? Es hatte den Anschein. Jo stellte sich vor, wie Seren ihre winzigen Hände wusch, nachdem der Plastikfrosch an der Wand Flüssigseife auf sie gespuckt hatte. In den Klassenzimmern sah sie Seren an einem Schreibpult sitzen und ein Bild kritzeln: von Mummy oder von Peppa Pig oder, bestimmt in den meisten Fällen, von ihrem kleinen Kaninchen Six. Jo hoffte, dass die Kids reichlich Gelegenheit hatten, um hier zu zeichnen.

Hin und wieder sah sie die anderen Eltern Blicke wechseln und gemeinsam auf eine sehr spezielle Weise die Luft ausstoßen. Die Art von Schaltgeräusch, mit dem sie sich gegenseitig signalisierten, dass die erste Phase im Leben ihres Kindes unwiederbringlich dem Ende zuging. Eine Tür schwang zu. Für immer.

Die Melancholie war zudem vielschichtig. Weil Jo keine anderen Kinder hatte. Die Ärzte sagten, sie könnte keine weiteren haben, da Serens Ankunft sie beinahe umgebracht hatte. Und so bekam Jo jedes Mal, wenn Walmsley ihren Mund öffnete und auf irgendeine Wandtafel zeigte, dieses prickelnde Gefühl von Panik, das sie manchmal in der Nacht überfiel. Wenn sie sich fragte, was zum Teufel sie mit ihrem Leben anfangen würde, sobald der Staat die Betreuung ihres Kindes übernahm. Vollzeit bei der Reinigungsfirma Merry Poppins – mit ihrem Rücken? Sie würde lieber ein brasilianisches Straßenkind adoptieren.

Könnte sie das wirklich tun?

Es war auf dem Schulhof, als Jo aufhörte, Seren zu sehen.

Stattdessen erblickte Jo ihr fünf Jahre altes Selbst, das versuchte, auf genau demselben Zement herumzuhopsen, der heute immer noch da war. Sie war umhergestolpert wie eine Idiotin, weil die Bewegungen aller Mitglieder der Finch-Familie ungefähr genauso koordiniert waren wie ein Winddrachen in einem Tornado. Sie erinnerte sich, dass andere Kinder sie ausgelacht hatten. Dass sie sie »schlaksige Bohnenstange« genannt hatten … Oh, würde man sie doch nochmals als »schlaksig« bezeichnen! Heutzutage war sie eher rund wie eine Kugel. Aber dann erschien ein deutliches Bild, das in ihrem Gedächtnis eingemeißelt war. Es schwamm an die Oberfläche ihres Bewusstseins und machte alles um vieles besser.

Das Bild von ihr und den drei Mädchen, die sie nach sechs Monaten in dieser Grundschule auf wundersame Weise kennenlernte. Mädchen, mit denen sie immer noch herumhing, selbst heute noch. Die Clique. Ihre Clique. Der beste Freundinnenkreis, den man überhaupt bekommen konnte. In diesem Augenblick stellte sie sich bildlich vor, wie sie zu viert über den Schulhof ihrer Erinnerung gingen. Ihre jetzige Chefin: Kassy West. Steph Ellis, die heute eine Aushilfslehrerin an dieser Schule war. Wie verrückt war das denn? Steph unterrichtete Musik in Klassen, in denen sie gelernt hatte, die Blockflöte zu spielen. Steph war eine coole Frau. Jo liebte sie sehr. Und dann war da noch die gute alte Rachel Wasson, die keiner jemals wiedergesehen hatte, seit sie fortgezogen war; doch an sie dachte Jo häufig.

Sie stellte sich sich selbst und jene Mädchen vor, damals hier als Kinder in Uniform. Wie sie einherstolzierten, selbst als Sechs- und Siebenjährige. Wie sie es einfach draufhatten, so wie sie es die ganze Zeit während ihrer Teenagerjahre draufhatten. Wie sie mit einem Finger in Richtung der Trottel an der Seite schnipsten und damit meinten: Ha! Wir sind ’ne echt große Sache.

Und als sie dann in ihrer Vorstellungswelt so neben den drei anderen herging, sah Jo unvermittelt die kleine Holly Wasson. Deren Gestalt flackerte im Hintergrund wie ein von einer fehlerhaften Birne projiziertes Bild.

Ihr war plötzlich kalt. Sie fühlte etwas wie kleine stumpfe Finger, die ihren Lendenwirbel berührten und sich nach oben bewegten. Jo blinzelte das Bild fort.

Lee bekam ihr Gestarre mit. »Jo?«

»Glaubst du, dass Seren Freundinnen finden wird?«

»Das wird sie müssen, oder?«

Falsche Antwort. Sie starrte ihn wütend an.

Er hustete. »Ich meine, sie wird natürlich Freundinnen finden. Du hattest auch welche, nicht wahr?«

»Die besten aller Zeiten.« Sie bemerkte, dass die Eltern Richtung Musik-Trakt gingen. »Steph arbeitet heute. Sie hat gesagt, ihre Kids werden uns ein paar Halloween-Songs auf dem Kazoo vorspielen.«

Er gab ein übersteigertes Keuchen von sich. »Weißt du, ich habe immer davon geträumt, dass ich so was in meinem Leben mal hören würde. Los, komm!«

Sie lächelte, als er seine Hände in ihre verschränkte. Dann eilten sie lachend über den Schulhof.

Sie waren die Letzten, die in den Musik-Trakt kamen.

Er hatte eine ansehnliche Größe. Wahrscheinlich war er dreimal so groß wie die anderen Schulzimmer. Yamaha-Keyboards standen in einer Reihe an einer der Wände. Eine riesige blaue Ikea-Kiste war mit Tamburinen, Schüttelsachen und diesen merkwürdigen hohlen, zylinderförmigen Dingern gefüllt, über die man mit einem Stab schrammte und die niemand jemals wiedersah, sobald man die Sekundarstufe erreichte. Der Raum war voller Holzbänke vor einer kleinen provisorischen Bühne. Dort gab es mit Glitzersternen und Pailletten geschmückte Vorhänge, die im Augenblick geschlossen waren. Dahinter war das Gemurmel aufgeregter Kinder zu hören. Ein Elternteil in einer der Bankreihen rückte auf, damit Jo und Lee sich ans Ende quetschen konnten.

»Fantastische Schule, nicht wahr?«, sagte eine Mutter. Sie roch nach sehr viel Geld.

Jo nickte, lächelte aber nicht. Denn ihr war gerade aufgefallen, dass etwas nicht stimmte.

Lauren, die Lehrerassistentin, mühte sich mit der Tür zu einem Lagerraum ab, während Mrs Walmsley in dem Schulzimmer umhereilte und dabei so aussah, als hätte sie etwas verloren – oder eher jemanden.

»Wo ist Steph?« Lee beugte sich zu Jo. »Dachte, du hättest gesagt, sie wäre für das hier die Moderatorin?«

Jo schaute sich um und klopfte mit den Fingern. »Sie ist dafür vorgesehen.«

Genau in diesem Moment bemerkte sie, dass sich Walmsleys Gesichtsausdruck änderte. Sie hatte aufgehört, nach Steph Ausschau zu halten, und blickte jetzt verwirrt auf die Wand hinter ihnen. Jo drehte sich, um zu sehen, was für ein Problem es gab. Es war eine Wand mit einem Aushang voller Kinderbilder. Lebewesen, die in klassischen Musikwerken vorkamen, wie es schien. Der Hummelflug, Peter und der Wolf und solches Zeug. Nur dass sie alle auf den Kopf gestellt waren. Jedes Einzelne von ihnen. Sogar das Spruchband über ihnen hing umgekehrt herum. Jo drehte den Kopf zur Seite, um den Text darauf zu lesen.

Musik der Tiere.

Ihre Augen flogen über die fieberhaft mit der Hand gezeichneten Striche von Füchsen, Kühen, Ziegen; und dann sah sie ein Gekrakel von einem wütenden, mit schwarzem Stift gemalten Tier.

Ein Hase.

Sie versteifte sich und schaute fort. Dachte abermals an Holly.

Entspann dich. Atme.

»Was ist los?« Lees Stimme.

»Nichts.« Sie drehte sich wieder um. »Bin nervös wegen Seren.«

Walmsley war jetzt wieder da, zog an der Tür des Lagerraums und schüttelte den Kopf. Dann flüsterte sie etwas ins Ohr von Lauren, die daraufhin nickte und aus dem Schulzimmer eilte.

»Okay, Leute. Es gibt bloß eine klitzekleine Verzögerung. Anscheinend kommen wir nicht in die Instrumentenkammer, um die Kazoos herauszunehmen.« Sie wandte sich den Vorhängen zu. »Und man kann nicht Monster Mash auf einem Kazoo spielen – ohne … ein Kazoo. Oder könnt ihr das, Kinder?«

Hinter den Vorhängen sprachen Stimmen im Chor. »Nein, Mrs Walmsley.« Es war entweder niedlich oder unheimlich, was davon abhing, in welcher Stimmung man sich befand. Letzteres, entschied Jo.

»Lauren ist gerade weggegangen, um unsere Musiklehrerin, Mrs Ellis, zu suchen. Also machen Sie es sich bitte bequem. Und in nur wenigen Augenblicken werden wir wundervolle Musik von wundervollen Kindern hören.«

»Deine Freundin sitzt dermaßen in der Scheiße«, flüsterte Lee.

»Schsch.« Jo schaute zum Korridor hinüber und hoffte zu sehen, wie Steph auf die Tür zutrabte. Doch Lauren kam bereits zurück – und zwar allein. Sie schob sich schnaufend durch die Türen und hielt einen Schlüssel hoch.

Walmsley strahlte. »Nur noch einen Moment! Die Kazoos kommen gleich.«

Die nicht sichtbaren Kinder hinter den Vorhängen jubelten.

Wo zum Teufel steckt sie? Jo überprüfte ihr Handy, ob eine Nachricht gekommen war. Nichts.

»Vielleicht ist sie ja krank«, mutmaßte Lee. »Oder möglicherweise ist ihr Kind krank.«

Jo sagte nichts. Sie war zu sehr damit beschäftigt, Lauren zu beobachten, die zur Tür des Lagerraums ging. Noch bevor der Schlüssel ganz im Schloss steckte, stand Jo auf, weil etwas ihre Haut kribbeln ließ und ihr mitteilte, dass sie sich in Bewegung setzen sollte.

»Äh … was machst du da?«, flüsterte Lee.

Sie ging einen Schritt nach vorn. Ein paar der Eltern schauten stirnrunzelnd zu ihr hoch. Wohin will die knallgelbe Fette abhauen? Spielt sie den Hanswurst bei dieser Aufführung? Ist das der Grund, weshalb sie wie ein Depp gekleidet ist?

»Jo?« Lee packte den Zipfel ihrer Fleece-Jacke. War in Verlegenheit. »Setz dich hin.«

»Da stimmt was nicht.«

Ein weiterer Schritt.

Dann noch einer. Jo schob sich durch die verwirrten Eltern. Sie bewegte sich auf die zwei Lehrerinnen zu, die jetzt der Menge den Rücken zugekehrt hatten. Sie streckten die Hände nach dem Türgriff des Lagerraums aus. Jo war sich nicht genau sicher, weshalb sie sich vorwärtsbewegte, nur dass sie es tat und dass sie es tun sollte. Auch wusste sie, dass sie nicht auf die Wand hinter sich schauen sollte, wo all diese umgedrehten Tieraugen sie beobachteten.

Konnte Jo sie hören? Wie sie schnupperten, knurrten, schnüffelten?

Insbesondere der Hase.

Eine Erinnerung flackerte plötzlich auf. Sie und wieder die Mädchen. Teenager jetzt, und so eng beieinander, wie eine Clique nur sein konnte. Sie lachten am Kelsey-Teich im Park. Stuften die Jungs in ihrer Klasse auf einer Skala von eins bis zehn ein und warfen Kieselsteine ins Wasser. Zählten die kleinen Wellen, während Holly hinter einem großen Baum stand und durch die Zweige auf sie schaute. Wollte spielen. Immer wollte sie das.

Dann verschwand die Erinnerung, weil ein Tier laut knurrte. Und diesmal war es real.

Es geschah genau in dem Moment, als die Tür aufschwang. Die Eltern hinter Jo hatten wahrscheinlich vermutet, das Geräusch käme bloß von einer knarrenden Türangel. Aber sie wusste auf Anhieb, dass es ein lebendiges, atmendes Geschöpf war.

Dann gab es einen anderen Lärm, der das Knurren übertönte.

Mrs Walmsley kreischte.

Jos erster Gedanke war: Wow, das ist wirklich schrill. Was sich verrückt anhörte in Anbetracht der Tatsache, wo sie waren. Man ging in eine Grundschule und erwartete irgendwie, hin und wieder Kinder kreischen zu hören. Aber nicht die Lehrer. Niemals die Lehrer. Walmsley klang wie eine wahnsinnige Frau in einem Turm, die zum Meer hinaus heulte. Doch dann spielte es keine Rolle mehr, denn eine Menge Leute schrien laut und kletterten übereinander in einem Knäuel von strampelnden Gliedmaßen. Bänke schrammten über den Boden und kippten um. Einige der Eltern flüchteten auf den Ausgang zu. Egoistische Scheißtypen.

Unterdessen sprangen die heldenhafteren Leute auf die Bühne zu, um sich die Kinder hinter den Vorhängen zu schnappen. Die Kids kreischten und weinten jetzt selbst; sie strömten aus den Spalten zwischen den Vorhängen, um nachzusehen, was das Gebrüll der Erwachsenen bedeutete.

In dem Tumult schien es, als wäre Jo die Einzige in dem Raum, die auf die sich öffnende Tür des Lagerraums zustürzte. Die Einzige, welche die arme Lauren genau anschaute, die nun in einem verrückten, wilden Tanz rücklings von der Tür wegtaumelte. Ihre Arme und Finger griffen in die Luft, als sie wegen des knurrenden Wesens nach hinten fiel.

Jo sah es, genau in diesem Moment.

Sah genau, wie die schmale Wade von Laurens Bein gegen die vorderste Bank knallte. Sah genau, wie Lauren umknickte und mit einem Keuchen auf den Boden zustürzte. Als sich ihr Kopf wie ein Tonnengewicht rasch nach unten senkte und an seiner statt eine riesige schwarze Gestalt da war, die aus der Instrumentenkammer heraustaumelte. Sie schnellte hoch und sprang auf Laurens Brust, und die Bühne explodierte förmlich vor kreischenden Kids. So viel Lärm.

Und da war dieses Wesen, das Lauren gegen die Bank presste.

Ein riesengroßes schwarzes Tier, von dem Jo glaubte, dass es möglicherweise überhaupt kein Tier war, sondern irgendeine Art von Mensch: ein Wesen, das sich jeden Augenblick blitzschnell auf die Hinterbeine stellen könnte. Doch nein, es war ein Tier. Tatsächlich war es ein Hund. Ein Hund, den sie kannte. Es war Steph Ellis’ Labrador Samson. Er knurrte zuerst und blinzelte dann ständig, als hätte er gerade jetzt erst das Licht entdeckt. Einmal schaute er zur Decke hoch, und die fluoreszierenden Neonröhren erfassten seine Schnauze, die blutbedeckt war. Blut, das getrocknet aussah. In einem pulsierenden Rhythmus zog sich seine Bauchseite ein und dehnte sich wieder aus, während er hektisch hechelte. Dann wurde er durch einen Schrei aufgeschreckt, und sein Kopf ruckte nach unten, um die Quelle aufzufinden. Er beschnupperte Laurens Hals und bohrte seine Zähne hinein, damit er das Geräusch abstellen konnte. Jo sah frisches, dünn aussehendes Blut über den Boden spritzen.

Oh, mein Gott. Das Mädchen.

Sie taumelte vorwärts, um zu helfen, doch eine schwere Hand packte ihre Schulter und riss sie zurück. Es war Lee, und bei ihm waren ein paar der anderen Eltern. Der Typ im Anzug und seine Wunderfrau im Rechnen. In ihren Händen hielten sie kleine Metallstühle, waren vornübergebeugt wie Gorillas. Mit einer gedämpften Unterwasserstimme brüllte Lauren um Hilfe, und innerhalb von Sekunden hörte das Knurren auf. Stattdessen war das Schulzimmer angefüllt von schrecklichen dumpfen Schlägen und feuchten, schmatzenden Geräuschen, als Lee und die übrigen Eltern den wild gewordenen Hund mit vernichtenden Hieben ins Nirwana schlugen. Lauren kauerte unter ihnen und schluchzte stumm. Ihre kleine Gestalt zuckte mit den Schlägen, als der Hund schließlich von ihr fortglitt. Eltern versuchten verzweifelt, die Vorhänge zu schließen. Andere bemühten sich, die Augen der Kids zuzuhalten, aber sie hatten nicht so viele Hände. Eine Menge Kinder sahen zu. Zahlreiche zukünftige Therapien wurden hier geboren.

Jo wollte helfen. Sie wollte es wirklich.

In ihrem Kopf sah sie es anschaulich vor sich – wie sie sich auf den Boden fallen ließ und Laurens Hand ergriff, die jetzt bebte, als stünde sie unter Strom. Und mit ihrer freien Hand würde Jo ihr Samsung hervorholen, wählen und Hilfe anfordern und sich große Mühe geben, nicht in Laurens Blut hineinzurutschen. Doch sie konnte nichts von diesen edlen Sachen tun, da sie sich nicht zu bewegen vermochte. Weil da etwas in Samsons sterbenden Augen war, das Jos Blutkreislauf mit Zement flutete. Die Art und Weise, wie er sie anschaute, selbst als er neben Laurens glänzender schwarzer Hemdbluse zusammensackte. Als er sein ersterbendes Keuchen ausstieß, während der Typ im Anzug auf seinen Kopf einprügelte. Sie glaubte zu sehen, dass Lee vor dem Mann eine Hand hochhielt. »Das reicht, Kumpel. Das Scheißvieh ist mausetot.« Nur dass es wirklich langsam aus seinem Mund herauskam: in einem lang gezogenen Gebrumm.

Maaaaaaausssssseeeetooooooootttt.

Jo konnte sich immer noch nicht bewegen. Denn sie starrte weiterhin in Samsons Augen, insbesondere darauf, wie sie sich nach hinten in seinen Kopf hinein verdrehten – auf den Lagerraum hinter ihm zu –, als ob er in seinen letzten Sekunden ihr etwas zeigen wollte.

Sie fragte sich just in diesem Moment, ob diese ganzen sechzig Sekunden des Wahnsinns einfach dazu dienten, ihr das zu zeigen, was er getan hatte. So wie es bekanntlich Katzen machten, nachdem sie ein Taubenjunges getötet hatten. Wie sie es einem vor die Füße fallen ließen und damit sagten: Dies ist für dich.

Ihr ging ständig derselbe Gedanke durch den Kopf, immer und immer wieder. Du musst Kassy anrufen. Und Rachel. Ja, sogar Rachel. Du musst Rachel Wasson anrufen und dafür sorgen, dass sie nach Hause zurückkehrt. Du musst sie dazu bringen, zurückzukommen. Du musst die Mädchen zusammenführen. Und sie fragte sich, ob das ebenfalls eine Botschaft von dem Hund war.

Sie zusammenführen.

Sie folgte dem irrsinnigen, sterbenden Blick des Hundes und schaute auf die Tür des Lagerraums, die nun offen war. Die Kazoos, die in einem Korb aufbewahrt worden waren, lagen verstreut auf dem Boden und schwammen in Blut. Das Licht in der Kammer war nicht eingeschaltet, doch selbst von ihrer Position aus konnte Jo die undeutlich erkennbare Gestalt ihrer Freundin Steph Ellis im Schatten sehen. Die Kräuselung ihrer blonden, natürlichen Locken war augenfällig. Ihr Kopf war zur Seite geneigt und sah feucht aus. Sie wirkte wie eine lebensgroße Puppe, deren Fäden durchgeschnitten waren. Ihre Beine und Arme waren in sonderbaren, schwungvollen Winkeln geknickt. Und wie eine Puppe starrte sie mit weit aufgerissenen Augen, deren Pupillen sich anscheinend in lackiertes Holz verwandelt hatten. Ihr Hals sah vollkommen schwarz aus; und Jo dachte: Wieso ist das so?

Was glaubst du wohl, warum, du Idiotin? Was glaubst du wohl, warum?

Dann hörte Jo einen weiteren gellenden Aufschrei, der mit den übrigen verschmolz. Es war ihr eigener.

2. Kapitel

Professor Matt Hunter stand in dem langen, knochenbleichen Korridor des Traktes für Kultur- und Geisteswissenschaften und trommelte mit den Fingern auf das Hardcover-Buch in seiner Hand. Er war völlig allein, sofern man nicht die Reihe lebensgroßer Statuen hinzuzählte, die den Gang säumten. Ein Student, der seinen Magisterabschluss machte, hatte sie alle in Chrom gestaltet und stellte diesen Monat die gesamte Sippschaft aus. Die meisten von ihnen waren Darstellungen von Diktatoren und Größenwahnsinnigen, gelegentlich mit dem Jurymitglied einer Castingshow dazwischen. Der Student sollte wohl gute Noten für seine Arbeitstechnik bekommen, doch schlechte Noten für seinen Feinsinn.

Matt strich bereits seit fünf Minuten hier herum, und in dieser Zeit hatte er entdeckt, dass Stalin das größte Gesicht hatte. Das war praktisch. Er neigte sich dem Gesicht zu und betrachtete sein Spiegelbild in der Rundung von Stalins Wange. Dabei musste er sich bücken, denn Matt war ungefähr einen Meter fünfundachtzig groß, Stalin hingegen musste höchstens einen Meter fünfundsechzig gewesen sein. Matt strich seine Stirnfransen an ihren Platz zurück. Seine blaue Seidenkrawatte sah so gerade aus, wie sie nur sein konnte, doch er zupfte trotzdem daran. Wirkte es zu förmlich, dass der oberste Knopf geschlossen war? Zu »Stalin-artig«? Er öffnete den Knopf und sah in der Chrom-Wange, dass ihn von dort ein Barsänger aus Las Vegas anstarrte.

Er entschied sich für irgendwas dazwischen. Er straffte die Krawatte und ließ den Knopf geöffnet. Das dürfte reichen.

Die Doppeltüren des Charles-Fox-Vorlesungssaals waren direkt vor ihm. Dahinter hörte er das Gemurmel der Leute im Inneren. Doch die polternden Stimmen ebbten bereits ab, und das Geräusch veränderte sich zu einem einzelnen gedämpften Summen. Es war die Stimme seines Verlags – die von Beth. Sie gab irgendeine weitschweifige Einführung. Eine Liste seiner Werke und Erfolge, soweit man das sagen konnte. Eine Aufzählung seiner Qualifikationen, ein paar hingestreute Auszeichnungen und Preise. Ihm fiel auf, dass man seinen besten Moment bis heute ausgelassen hatte: den Bau eines originalen Arcade-Pac-Man-Spielautomaten von Grund auf, den er im letzten Herbst in seiner Garage vollbracht hatte. Monate hatte er gebraucht, oh ja, doch Beth überging dies.

Sich hier draußen aufhalten zu müssen fühlte sich unbehaglich an. So unbehaglich, dass man unwillkürlich mit den Füßen zuckte und die Lippen schürzte.

Er hatte ausdrücklich um die Erlaubnis gebeten, in der vordersten Reihe mitsamt allen anderen zu sitzen, sodass er einfach hochhüpfen könnte, wenn seine Zeit zum Reden gekommen war. An dieser Uni hatte er Vorlesungen gehalten. Für wie lange – drei Jahre? Nicht ein einziges Mal hatte er diese »Lauern vor der Tür«- und »Trommelwirbel«-Nummer aufgeführt. Aber Beth arbeitete für die Marketing-Abteilung des Verlags, und sie hatte beharrlich darauf hingewiesen, dass die Sache heute Abend Keine. Vorlesung! war. Es war ein hundertprozentiges »Sieh mich an«-Event, für das man Bühnenscheinwerfer und eine Kulisse angeheuert hatte. Canapés waren bestellt worden; Beth hatte dies ausdrücklich hervorgehoben. Er musste sich in Szene setzen. Ein paar Zeitungen waren aufgekreuzt, einschließlich einiger Boulevardblätter. Ein starker Auftritt war erforderlich. Denk an TED-Talks, pflegte Beth zu sagen. Immer und immer wieder. Denk an TED-Talks.

Also starrte er die Türen an und wartete auf die Aufforderung zum Eintreten. Er war auf gefährliche Weise versucht, den »Sieh mich an«-Knopf bis zum Gehtnichtmehr zu drücken – und mit hoch erhobenen Armen in den Saal zu laufen und wie ein Kandidat von Der Preis ist heiß zu kreischen. Vielleicht sollte er zum Rednerpult hoch ein Rad schlagen und direkt hineinkrachen. Herumwirbeln und dann in seinem Las-Vegas-Anzug mit der Fingerpistole auf jeden zeigen und Was geht, Leute! rufen. Das würde eine Wirkung erzielen. Das würde einprägsam sein.

Ein Chrom-Hitler, der ein paar Diktatoren weiter weg stand, zeigte mit unbeweglich ausgestrecktem Finger auf Matt und teilte ihm mit, dass er sich beruhigen sollte. Sagte ihm, dass er Luft holen sollte.

Matt schaute hinab auf das, was in seinen Händen war. Der Anlass für den heutigen Abend unterschied sich von allen anderen.

Das Buch.

Das Bild auf der Titelseite zeigte eine Kinderhand, die einen Pinsel hielt und ein lächelndes Gesicht auf einen Felsen malte. Der Titel, der darüber stand, lautete: Nach unserem Ebenbilde: Die Götter, die wir erfinden – von Matt Hunter.

Es war vor einem Monat gewesen, als er dieses unartige Kerlchen das erste Mal in den Händen gehalten hatte. Er hatte in aller Frühe an einem Mittwochmorgen in seinem Morgenmantel an der Tür gestanden – mit einem Bauch voller Pop-Tarts – und die Schachtel angeglotzt, die der Postbote überreichte. Damals war er in Socken über die Küchenfliesen gerutscht und hatte dann dieses Paket auseinandergerissen. Schändete dieses verdammte Ding. Schleuderte Styropor-Schnee in schwindelerregenden Fontänen rund um die Küchentheke, als hinter ihm Wren und die Kinder hereinstürzten. Er hatte als Antwort vier Wörter gesagt. Während er jetzt auf das Buch schaute, kam mitsamt dem Atem genau der gleiche kurze Satz aus seinem Mund.

»Ach, du heilige Scheiße«, entfuhr es ihm. Sein allererstes Buch. Und nicht bloß ein wissenschaftlicher Band, bestimmt für die Umhängetaschen von Studenten und jährlichen eBay-Zyklen. Nein, das hier wurde als »populärwissenschaftliche Soziologie« angepriesen. Das hier zielte auf die Massen. Es würde in Waterstones-Buchhandlungen neben Fußballspielerbiografien und erotischem Mumpitz liegen.

Er war im Begriff zu lachen, doch das Geräusch erstarb in seiner Kehle. Beths gedämpfte Stimme hatte ihren Tonfall verändert. Sie schwoll zu diesem Showmaster-Crescendo an und wurde höher und höher, war ungefähr im Einklang mit seinem Herzschlag. Eine Boxkampf-Ansagerin, die auf den Beginn der ersten Runde einstimmte. Matt zuckte buchstäblich zusammen, als sich die Doppeltüren einen Spaltbreit öffneten; der pelzartige Türenrand teilte sich wie die Lippen eines Mundes. Einer seiner Studenten steckte den Kopf durch die Lücke, und eine schwarze Stirnfranse fiel über sein Auge. »Professor?«

»Flynn. Hi.«

»Sie sind dran.« Dann ein Lächeln. »Hier drinnen sind eine ganze Menge Leute.« Sein Gesicht wurde wieder in die Tür hineingesogen.

Matt versteifte sich und schaute auf seine Uhr, war allein für die letzten paar Sekunden. Ein Häkchen in seinem Gedächtnis veranlasste ihn, zu überprüfen, ob der unterste Knopf seines Jacketts auf war. Wren hatte ihm gesagt, genau so sähe es schick und elegant aus. Er bückte sich, erhaschte einen letzten Blick vom silbrigen Stalin und hatte unvermittelt ein lebendiges Bild im Kopf. Von genau diesem Kunststudenten, wie er im nächsten Jahr einen Iglu errichtete aus all den unverkauften Exemplaren der eiskalten Matt-Hunter-Bücher, die sich am Ende keiner anschaffen wollte.

Konzentrier dich.

Er schob sich durch die Türen und verriegelte die Seitenklappen seines Gehirns.

Er konnte hören, wie Wrens Stimme in seinem Kopf sagte: Genieß es einfach, okay?

Das Licht der Scheinwerfer prallte auf ihn und ließ ihn blinzeln. Zumindest war er professionell genug, um nicht seine Augen zu bedecken und sich zu ducken wie ein verängstigtes Reh. Beth wartete in der ersten Reihe. Sie zeigte ihm eine energische und feste, jedoch bemerkenswerterweise nicht von einem Lächeln begleitete Daumen-hoch-Geste.

Denk an TED-Talks. Denk an TED-Talks.

Es war nicht der größte Vorlesungssaal in der Welt, doch Matt konnte erkennen, dass alle Sitzplätze mehr oder weniger belegt waren.

Er hoffte, dass sie sich an sein Wasser erinnert hatten. Er brauchte Wasser. Am besten einen kräftigen Schluck aus einem Eimer, und zwar jetzt sofort.

Er trabte die Stufen hoch, und der Raum füllte sich mit Applaus. Nicht das von seinen Kursen gewohnte, gedämpfte Geklatsche wie beim Golfspiel. Das hier klang mehr wie ein Wasserrauschen. Er entschied sich, kein Rad zu schlagen, und es gab auch kein Rudern mit den Armen; doch er war sich sicher, dass sich seine Füße federnder anfühlten als normalerweise. Als er dann schließlich das Podium berührte, machten seine Nerven das, was sie für gewöhnlich taten. Sie glitten pflichtgemäß in den Schatten zurück und schlichen hinter den Kulissen davon. Er spürte, dass an ihrer Stelle ein willkommener Adrenalinstoß eintrat. Ein schwindelerregender Sinn für Spaß.

Auf dem riesigen Bildschirm hinter ihm klappte plötzlich ein Bild von seinem Buch auf. Nach unserem Ebenbilde: Die Götter, die wir erfinden – von Professor Matt Hunter. Er hörte sich selbst erneut jenen Satz sagen: »Ach, du heilige Scheiße.« Zu siebenundneunzig Prozent war er sich sicher, dass er dies nur in seinem Kopf und nicht laut ausgesprochen hatte; aber jedermann lachte, und daher kehrte er diese Wahrscheinlichkeitsquote um. Dann klappte er das Buch auf, und das Klatschen sank herab – vom Beifall zum vertrauten Seehundflossenschlagen, bis schließlich Stille eintrat. Er erblickte Wren und seine sieben Jahre alte Tochter Amelia, die strahlend zu ihm hochschaute. Selbst Lucy, seine Älteste, wirkte einigermaßen interessiert. Eine ziemliche Leistung.

Vergiss dies nicht, Matt, sagte sein Gehirn. Zeichne diesen Moment in deinem Gedächtnis auf.

Dann lächelte er alle an und sagte: »Hi. Schön, hier zu sein.« Er dachte daran, dass er unglaublich vornehm klang. Ein wenig zu akademisch. Doch er ignorierte es.

Er blickte hinab, drückte behutsam den Buchrücken flach und begann zu lesen.

»Lassen Sie sich nicht von meiner Visitenkarte in die Irre führen«, las Matt vor. »Ich bin kein Doktor. Ja, ich habe einen Doktortitel. Ja, die Buchstaben ›D‹ und ›r‹ sind auf einer Plastiktafel an meiner Bürotür maschinell eingeprägt worden. Aber wissen Sie was? Ich werde deswegen irgendwie verlegen. Daher benutze ich niemals diesen Begriff. Der Grund, wieso ich wegen dieses speziellen Titels nervös werde, ist der, dass ich – auch wenn ich ein Doktor sein mag – offensichtlich kein Arzt-Doktor bin. Ich studiere den menschlichen Glauben, nicht die menschliche Biologie. (Obgleich Sie überrascht sein werden, wie oft auf den folgenden Seiten diese zwei Wissenschaftsfächer ineinander übergehen.) Aber mal im Ernst … Wenn Sie sich im betrunkenen Zustand bei einem Rasenmäherunfall den Knöchel Ihres kleinen Fingers direkt durchschneiden, dann kann ich mehr oder weniger garantieren, dass Sie nicht den guten Dr. Hunter anrufen werden, damit er das in Ordnung bringt.«

Es gab ein wenig Gekicher im Publikum.

»Wenn Sie nun andererseits sehen, wie das Blut aus Ihrer Hand spritzt, und Sie über seine tiefere Bedeutung nachdenken wollen, dann bin ich Ihr Mann. Wenn Sie aus irgendeinem Grund wollen, dass ich beispielsweise die Besessenheit des Christentums von der Symbolik des Blutes dokumentiere oder erkläre, warum Nasenbluten bei Männern in Japan oder Korea ein sicheres Anzeichen dafür ist, dass der Betreffende eine Erektion bekommt, dann rufen Sie mich auf alle Fälle an.«

Seine Tochter Lucy lachte laut darüber – mit ihrem kleinen Jack-Russell-Terrier-Aufschrei. Er griente.

»Also nein … Ich bin kein richtiger Doktor. Und dennoch ist die Reise, die Sie und ich gleich unternehmen werden, in vielerlei Hinsicht eine Doktor-Reise. Sehen Sie, ich bin hier, um eine Diagnose für Millionen von Leuten zu stellen. Und das, werter Leser, schließt Sie ein. Diese Finger, die gerade jetzt die Seiten hier umdrehen und berühren? Sie gehören zu einem Körper, der unter einem echten Gebrechen leidet. Einer Krankheit, die unglaublich schwer abzuschütteln ist, wie Sie feststellen werden. Sie werden sich abquälen, eine Medizin dafür zu finden. Es gibt keine schnelle Heilung. Und … leider sind die Ergebnisse Ihrer Untersuchung zurück, und ich werde sie Ihnen geradewegs mitteilen müssen. Sie leiden unter einer Erkrankung, die als – Trommelwirbel bitte – Apophänie bekannt ist.

Okay, es ist nicht das allerbekannteste Leiden. Sie haben wahrscheinlich noch nie einen ›Krankheit der Woche‹-Fernsehfilm darüber gesehen. Dennoch sind Millionen überall auf der Welt unheilbar daran erkrankt. Falls Sie den Namen nicht kennen, werden Sie gewiss mit den Symptomen vertraut sein; denn ›Apophänie‹ bezeichnet das unaufhörliche Beharren der Menschheit, in zufällige Tatsachen Muster und Bedeutungen hineinzulesen. Wir tun das die ganze Zeit, an jedem einzelnen Tag; aber dabei geht es um mehr als nur darum, in einem nach oben gerichteten Kabelstecker ein Gesicht zu erkennen. Oder jedes Mal Pac-Man zu sehen, wenn Sie das dreieckige Pizzastück herausziehen, das Ihrer rechten Hand am nächsten ist. Das ist übrigens Pareidolie. Wenn wir simple Erscheinungsformen von Mustern sehen. Das ist kein so großes Problem. Ich habe meinen Frieden mit der Pareidolie gemacht. Doch für Millionen entwickelt sich die Pareidolie rasch zu einer ausgemachten Apophänie – wenn man beginnt, eine tiefere kosmische Bedeutung in solche Muster hineinzulesen.

Stellen Sie sich bitte einmal das folgende Szenario vor:

Es ist Donnerstagabend. Gespannt brechen Sie auf zu einem Date mit einer neuen Bekannten, doch auf dem Weg zum Restaurant hat das Auto eine Panne. Es ist nur ein Fall von ›So was kommt eben vor‹, sagen Sie sich, und Sie rufen die Dame an, um sich zu entschuldigen. Zudem arrangieren Sie für den nächsten Abend ein neues Treffen. Der Freitag kommt, Sie fahren zu dem Restaurant, doch ein Unwetter überflutet die Straße. Sie sind verlegen, Sie rechtfertigen sich, Sie versuchen es erneut. Am Samstagabend endet Ihre Fahrt abrupt, als ein betrunkener Eiswagenfahrer in Ihr Heck schleudert und Ihr Auto dadurch zum Totalschaden wird. Noch während der Wagen herumwirbelt, können Sie hören, dass die Stereoanlage von dem Kerl einen Song wiedergibt. Elvis singt: ›Du siehst aus wie ein Engel … Aber ich wurde schlau. Du bist der Teufel in Verkleidung …‹

Sie rufen das Mädchen an, Sie sprechen darüber, aber inzwischen hat sie entschieden, die Beziehung abzuschreiben. Denn obwohl diese Geschehnisse vollkommen zufällige Missgeschicke sind, denkt sie, dass Sie der unzuverlässigste Kerl auf der ganzen Welt sind. Selbst wenn es nicht Ihr Fehler war – doch offensichtlich ziehen Sie das Pech an. Derweil stimmen Sie ihr freudig zu und wollen auch nicht länger eine Beziehung zu ihr aufbauen. Denn Sie fragen sich, ob das Universum versucht, Ihnen etwas mitzuteilen – nämlich von diesem Satansweib bloß wegzubleiben. Sie ist verflucht.

Aber Tatsache ist, dass bei diesem Szenario keine kosmische Macht am Werk ist. Wenn wir voraussetzen, dass Sie gewissenhaft gefahren sind, dann haben Sie weder Glück noch Pech gehabt. Sie haben einfach die Zufälligkeit des Universums erlebt.

Nur unser Gehirn kann mit dieser Interpretation nicht umgehen, weil es sich mit Chaos nicht wohlfühlt. Wir haben uns vielmehr zu Muster bildenden Maschinen entwickelt. In jeden Krimskrams lesen wir eine tiefe Bedeutung hinein.«

Matt legte eine Pause ein und trank einen Schluck Wasser; dabei entstand ein kleines, jedoch peinliches Glucksen, das über das Mikrofon deutlich zu hören war. Genau in diesem Moment fiel sein Blick auf eine ganz bestimmte Frau; sie saß ein paar Reihen weiter hinten und trug ein schwarzes Jackett. Ihr großer Kragen ragte empor wie bei Graf Duckula. Vor ihr war ein winziger aufgeklappter Laptop, klein genug für einen Ewok. Sie tippte darauf mit schmalen Fingern. Im Schein des Bildschirms konnte Matt ihre Augen sehen, die sich nach oben drehten, um in seine zu blicken. Sie starrte ihn wütend an.

Er räusperte sich. Sie starrte etwas wütender. Er fuhr fort.

»Manchmal ist dieses Bilden von Mustern gut für uns«, sagte er. »Wir hören nachts ein Knurren im Wald, und unser Gehirn sagt, dass es wahrscheinlich Zeit ist, von hier fortzugehen. Vielleicht gibt es nun nichts, vor dem man sich tatsächlich irgendwie fürchten müsste. (Möglicherweise ist es der Bauch Ihrer Frau, der knurrt.) Aber diese kleine Gruselgeschichte in unserem Kopf hat vermutlich unsere Vorfahren vor einer Menge hungriger Panther gerettet. Doch die Sache bei der Apophänie ist, dass wir sie anscheinend nicht ausschalten können. Wir sind von der Idee besessen, dass eigentlich zufällige Ereignisse irgendeine Art von gewaltiger kosmischer Bedeutung haben. Wir sehen das Gesicht des Teufels im aufsteigenden Staub vom 11. September und schaudern. Wir finden die perfekte Parklücke vor dem Supermarkt und danken Gott für den Segen.

Der Verschwörungstheoretiker, der von Außerirdischen Entführte, der religiöse Fundamentalist, der Castingshow-Kandidat. Sie alle schwimmen regelmäßig im Pfuhl der Apophänie. Und lasst uns ehrlich sein … Meine Atheistenkollegen tun es auch. Wir argumentieren, dass Gott nicht existieren kann, weil die Kreuzritter ›böse‹ waren, oder dass systematischer Kindesmissbrauch ›falsch‹ ist, als ob solche Moralvorstellungen ein festes Bezugssystem außerhalb von uns widerspiegelten. Doch sogar unser Sinn für Richtig und Falsch entspringt aus wenig mehr als dem gegenwärtigen Konsensus der Gattung Mensch. Selbst solche Moralvorstellungen können sich ändern, wenn eine Gesellschaft es unbedingt wollen würde.«

Sein Blick glitt über das Publikum und versuchte, die Aufmerksamkeit eines jeden zu erregen. Das war etwas, das ein befreundeter Dozent ihn stets gelehrt hatte; doch Matt ertappte sich dabei, wie er erneut zu jener Frau schaute. Sie presste die Lippen zusammen und schüttelte angewidert den Kopf. Sie sah auf ihren kleinen Laptop hinab und tippte etwas.

»Zu wissen, dass es keine Bezugssysteme oder Entwürfe jenseits von uns selbst gibt, kann einigen ein Gefühl von Befreiung vermitteln, bei anderen Verzweiflung oder bei den Restlichen ein achselzuckendes Desinteresse auslösen. Aber wenn das Leben als solches bedeutungslos ist, bedeutet dies dann, dass unsere Erfindungen von Bedeutungen keine Rolle spielen? Bei Weitem nicht. Lasst uns dahinschmelzen, wenn wir zuschauen, wie unsere Kinder schlafen – wieso nicht? Lasst uns staunen über den schieren Raum im Innern eines Atoms. Großartig. Und lasst uns Gesetze machen, die unsere vereinbarte Moralität widerspiegeln. Ausgezeichnet.

Aber lassen Sie uns akzeptieren, dass Sie und ich kaum mehr als Instinkt-Maschinen sind, die essen, schlafen und sich vermehren müssen, und dass unser Beharren auf Meta-Geschichten, seien sie nun religiöser oder säkularer Natur, buchstäblich genau das ist. Es sind große alte Erzählungen, die uns helfen, nachts zu schlafen. Und was für wunderbare Geschichten können es trotzdem sein!«

Die Frau gab ein missbilligendes Geräusch von sich. Ein schnelles Schnalzen mit der Zunge vom Gaumen aus, wodurch ein Ton entstand, der laut genug war, dass Leute ihn bemerkten. Dz-dz-dz-dz. Matt zuckte mit den Schultern, lächelte sie an und fuhr fort.

»Ich mag kein Arzt-Doktor sein, doch ich habe eine sehr reale Prognose. Die menschliche Rasse leidet unter einem schweren Fall von Apophänie. Wir denken, wir seien Teil eines Plans, doch das sind wir nicht. Wir können dies ignorieren. Wir können zulassen, dass es uns wahnsinnig macht. Wir können sogar zulassen, dass es uns in einen Mahlstrom aus Einsamkeit und Verzweiflung schleudert. Aber ich habe einen anderen Vorschlag. Warum lassen wir uns nicht von diesem Wissen anspornen, etwas wahrhaft Tapferes und wundervoll Menschliches zu tun?

Lasst uns lernen, die innewohnende Schönheit eines wesensmäßig unzusammenhängenden Universums zu entdecken. Es wird Training kosten. Ihrem Gehirn wird es nicht gefallen. Doch Ihr Leben wird Sie dafür lieben.

Vielleicht werden wir dann nicht annehmen, dass die schlechten Neuigkeiten beim Arzt zeigen, dass eine Gottheit unzufrieden mit uns ist. Wir werden möglicherweise nicht auf unseren Arbeitskollegen herumtrampeln, weil wir denken, die Welt ›schulde‹ uns eine Beförderung. Wir könnten dahin kommen, zu akzeptieren, dass das Leben nur eine Sache ist, die passiert. Womöglich haben es Ray Bradburys Marsbewohner am besten ausgedrückt, als sie uns Menschen dazu angehalten haben, damit aufzuhören, sich unnötig aufzuregen, und einfach ›Freude aus dem Geschenk des puren Seins zu ziehen‹.«

Die Frau tippte noch etwas, kaute auf ihrem Mundinneren herum und kicherte vor sich hin. Den Kopf schüttelte sie ständig von links nach rechts.

»Auf den nun folgenden Seiten schlage ich nicht vor, dass wir die Götter zerstören oder das sogenannte überirdische Reich liquidieren sollten. Wie können wir das, wenn Statistiken uns sagen, dass der transzendente Glaube weiterhin auf dem ganzen Erdball zunimmt? Mein Vorschlag ist von eher einfacherer Natur als das. Lassen Sie uns die Gläubigen mit Enthusiasmus studieren, lassen Sie uns über sie nachdenken, lassen Sie uns sogar von ihnen lernen; und ja, lassen Sie uns den tatsächlich Verrückten unter ihnen Einhalt gebieten. Aber lassen Sie uns akzeptieren, dass wir – wie sie – ebenfalls Gläubige sind und an Bezugssysteme glauben, die vielleicht nicht wirklich da sind. Und lassen Sie uns anerkennen, dass die Götter, die Geister, das Schicksal, die Engel, das Richtige, das Falsche, die sogenannte Ordnung des Universums kaum mehr sind als Symptome unseres chronischen Krankheitsfalls: der Apophänie. Die Götter sind alles, was wir nicht sind, was uns alles darüber verrät, was wir sind. Sie sind nicht unsere Schöpfer, sie sind unsere Spiegelbilder. Sie sind wir. Sie sind psychologische und soziale Helfer, sind liebevoll und umfassend geschaffen … nach unserem Ebenbilde.«

Matt schluckte. Er blickte auf und klappte das Buch leise zusammen; dann beugte er sich vom Mikrofon weg. »Äh … das war’s«, sagte er. »Der Prolog.«

Im Vorlesungssaal brandete stürmischer Applaus auf, und die Hauptscheinwerfer wurden etwas heller. Er hob den Blick und ließ ihn über das Publikum gleiten. Der Charles-Fox-Vorlesungssaal hatte steil ansteigende, gestufte Sitze, sodass Matt alle übereinander geordneten Reihen von Gesichtern sehen konnte, die ihn anstarrten, während die Leute ihre Hände zusammenschlugen. Seine Studenten belegten eine ansehnliche Menge der heruntergeklappten Stühle. Sie saßen alle beieinander wie die Angehörigen eines Stammes. Matt erblickte viele übereinstimmende Hipster-Bärte und Männerdutts. Er hatte in diesem Semester einen guten Schnitt gehabt: ein paar richtig scharfsinnige Denker sowie eine überraschend niedrige Quote von religiösen Fundamentalisten, die ihm Ärger bereiteten.

Es gab andere Dozenten von der Uni, die verstreut hinten in der Mitte saßen. Ein paar applaudierten lebhafter als die übrigen. Mehr als nur einige wenige blickten auf ihre Uhren, um nachzuschauen, wann die kostenlosen alkoholischen Getränke reingeschoben wurden.

Aber diejenigen, die Matt wirklich sehen wollte, saßen auf den vordersten Sitzplätzen. Nebeneinander aufgereiht wie die sprichwörtlichen Streber. Seine siebenjährige Amelia stach immer wieder mit einem Finger auf ihre hellrosafarbene Kinderkamera ein. Sie hatte versprochen, den Abend für ihn zu filmen, obwohl der Verlag extra einen professionellen Kameramann hinzugeholt hatte. Sie erregte Matts Aufmerksamkeit und reckte einen Daumen hoch. »Alles klar!«, formte sie lautlos mit ihren Lippen. Sie wirkte stolz und voll und ganz dabei.

Lucy, seine Älteste, klatschte nicht; doch sie schaute sich im Saal um und blickte auf jeden, der Beifall spendete. Sie schien wirklich ziemlich verwundert zu sein über diese Begeisterung. Und Wren … seine Frau. Sie hielt ein Glas Champagner hoch, das sie sich irgendwo geschnappt hatte. Sie hob es in seine Richtung hoch und zwinkerte ihm zu, während sie eine Locke ihres roten Haars hinters Ohr steckte.

»Ich bin stolz auf dich«, formte sie langsam mit ihren Lippen. Dann nahm sie einen Schluck.

Beth vom Verlag sprang plötzlich auf die Bühne und griff nach dem Rednerpult. Der Applaus erstarb.

»Herzlichen Dank dafür, dass Sie heute Abend dieser Lesung beigewohnt haben! Nach unserem Ebenbilde: Die Götter, die wir erfinden gibt es morgen in Geschäften und online, doch selbstverständlich können Sie heute Abend hier das Buch kaufen. Und vergessen Sie nicht, Professor Hunter hier morgen um zwölf Uhr beim Haddon-Charity-Mittagessen abzupassen. Er wird etwas mehr über sein Buch mitteilen und wieder Bücher signieren. Doch einstweilen … möchten wir gerne dem Publikum das Wort geben. Also, gibt es irgendwelche Fragen?«

Es war nicht schwierig, zu erkennen, wo die Presse saß. Ein kleiner Pulk von Händen schoss in die Höhe, alle in denselben beiden Sitzreihen. Und die am höchsten emporgestreckte Hand gehörte der verärgerten Frau mit dem großen Kragen und dem winzigen Laptop.

Jetzt, wo die Beleuchtung voll aufgedreht war, sah Matt, dass das Jackett, das sie trug, aus schwarzem Leder war; und sie hatte sich einen Leopardenfell-Schal wahnsinnig fest um den Hals gebunden.

»Chloe, legen Sie los.«

»Danke … Chloe Reynolds, Daily Mail.« Sie sprang auf und hielt irgendein Ding hoch, das mehr wie ein Taser als wie ein Aufnahmegerät aussah. Das rote Licht daran blinkte. »Professor. Wie man hört, richtete sich Ihr Buch ursprünglich an akademische Kreise, oder?«

Matt lächelte. »Mein übliches Publikum, ja.«

»Doch Ihr Verlag drängte Sie zu einer Erweiterung der Zielgruppe. Tatsächlich beschleunigte er die Veröffentlichung Ihres Werks und stockte im Verlauf der letzten paar Monate das Marketing-Budget in großem Maße auf. Warum diese fieberhafte Eile, um dieses Buch herauszubringen?«

»Nun ja, es ist eindeutig eine fantastische Arbeit …«

Ein wenig Gekicher aus dem Publikum. Ein prustendes Lachen von Amelia. Doch ein steinerner Blick von Chloe.

»Jetzt im Ernst«, sagte Matt. »Jeden Tag entmystifiziert die Wissenschaft das Universum; und somit würde man erwarten, dass der Glaube an Götter und an das Übernatürliche abnimmt. Aber das ist nicht der Fall. Weltweit gesehen, nimmt er sogar zu. Und die Spaltungen innerhalb von Glaubensgruppen breiten sich ebenfalls aus. Wir sehen, dass sich gefährliche Abgründe auftun. Offen gesagt, es ist eine äußerst wichtige und schwankungsanfällige Zeit in unserer religiösen, kulturellen Geschichte, die ich …«

»Aber nicht deswegen hat man Ihr Buch so nach vorn geschoben, nicht wahr? Das Thema des Buches ist in Wirklichkeit ein Nebengrund.«

Er runzelte die Stirn. »Tatsächlich ist das Thema des Buches gewissermaßen der Sinn des Gan…«

»Nein. Sie drucken eine höhere Auflage von Ihrem Buch nur wegen Ihnen.«

Er wartete ab. »Es tut mir leid; ich kann Ihnen nicht folgen.«

»Ihr persönlicher Steckbrief. Ihre Popularität. Sie ist seit dem Sommer gestiegen. Der Hobbs-Hill-Serienmörder, meine ich.« Sie streckte die Hand vor, in der sie ihr Aufnahmegerät hielt. Er bemerkte, dass sich viele Gesichter im Saal in die gleiche Richtung bewegten. Köpfe zoomten für eine Nahaufnahme heran. »Ihre Tochter wäre fast sein letztes Opfer geworden, doch Ihnen gelang es, ihm dies auszureden. Sie waren maßgeblich daran beteiligt, den Killer ausfindig zu machen. Setzen Sie sich in Ihrem Buch mit diesem Fall auseinander?«

Er warf seiner Familie einen raschen Blick zu. Wren streckte den Arm nach Lucy aus und ergriff deren Hand. Lucy zuckte die Achseln und zeigte ein »Es geht mir gut, wirklich«-Lächeln. Selbst von seiner Position aus konnte er sehen, wie gezwungen es wirkte. Ihr Mund war zu einer krummen Linie geformt. Er beugte sich zum Mikro vor. »Ich glaube nicht, dass dies rele…«

»Der Name Ihrer Stieftochter ist Lucy, nicht wahr? Und ihr wirklicher Vater sitzt gegenwärtig im Gefängnis wegen häuslicher …«

»Hoppla, hoppla! Bitte erlauben Sie mir, Sie an dieser Stelle anzuhalten, Chloe.« Er hob seine Hand und sah sie streng an. »Wenn Ihre Leser ein Buch über wahre Verbrechen erwarten, dann werden sie enttäuscht sein. Ich erwähne kurz den Fall von Hobbs Hill, aber das hier ist eine soziologische Studie über die Natur …«

»Also glauben Sie nicht, dass er etwas Falsches tat?«

»Wie bitte?«

Noch mehr Leute beugten sich nach vorn.

»Dass er mehrere Frauen ertränkt hat, und beinahe auch die Tochter Ihrer Gattin. Nach dem, was Sie uns gerade erzählt haben, würden Sie doch sagen, dass dies moralisch neutrale Handlungen waren? Richtig?«

Er schaute hinüber zu Beth. Er nahm an, dass sie wegen dieser Ablenkung vom eigentlichen Themenkreis verärgert wäre. Aber ihre Miene drückte das genaue Gegenteil aus. Sie lächelte und tippte sich mit einem gekrümmten Finger ans Kinn. Wäre ihr ein Schnauzbart gewachsen, hätte sie vielleicht daran herumgedreht. Sie nickte ihm zu, damit er eine Antwort gab, und daher tat er es.

»Nun hören Sie mal zu. Was in Hobbs Hill geschah, war vollkommen falsch. In der Tat niederträchtig.« Er ergriff das Rednerpult, was sich viel zu präsidial anfühlte. Daher ließ er es wieder los und faltete stattdessen die Hände auf dem vor ihm liegenden Buch. »Doch wenn ich sage, etwas ist falsch, dann spreche ich offensichtlich von einer vereinbarten Norm, die nach Millionen Jahren der Evolution in meiner DNS erzeugt worden ist. Moral ist die Luft, die ich einatme, aber …«

»Aber? Wenn es um Mord geht, gibt es ein Aber?«

»Wenn Gott nicht existiert, kann Moral nur aus einem gesellschaftlichen Konsens entspringen. Theoretisch könnte es einen Planeten mit Leuten geben, wo die Mehrheit von ihnen sich an Mord erfreut. ›Böse‹ wäre für sie ›gut‹. Mein Gehirn nun könnte mit diesem System nicht klarkommen, und auf diesem Planeten wäre ich der Psychopath. Aber ohne Gott kann ich lediglich sagen, es ist falsch nach meinen Normen. Ich kann mich nicht auf irgendein feststehendes Bezugssystem außerhalb der Menschheit berufen. Die Apophänie sagt uns, dass es ein solches System gibt, doch das ist nicht der Fall.«

»Also ist die Moral relativ?« Chloe neigte den Kopf zur Seite. »Das ist eine gefährliche Einstellung, denken Sie nicht?«

»Überhaupt nicht. Ich befürworte Mord nicht, und ich sage sicherlich auch nicht, dass wir Gott brauchen, um moralisch zu sein. Ich sage bloß, dass wir unsere Moralvorstellungen wählen … Dieses Argument ist einfach grundlegend: Realschulabschluss-Philosophie, Chloe.«

Er meinte dies wirklich nicht als eine billige Herabsetzung; er brachte lediglich ein Argument an. Doch einige seiner Studenten kicherten darüber, und er beobachtete, dass sie zornig wurde.

»Und der Ex-Mann Ihrer Frau? Lucys echter Dad. War seine häusliche Gewalt nur ein …?«

»Das reicht.« Er hob abwehrend eine Hand.