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Thurán ist eine mittelalterliche Welt voller fremdartiger Geschöpfe und Zauberei. Sie untersteht der Obhut der Schwestern Weega und Cassiopeia, die allerdings nur auf bestimmte Art und Weise in das Schicksal ihrer Schutzbefohlenen eingreifen. Um auf Thurán überleben zu können, muss man zu ungewöhnlichen Mitteln greifen. Anabellánien ist befreit, und Acanà hat mit Janns Hilfe einen Weg gefunden, ihre Aufgaben zu vereinen. Alles könnte in Ordnung sein – doch da wird Jann entführt. Ein neuer Auftrag wartet auf ihn: Diesmal soll er die Sumpfhexe Irionne über Thurán eskortieren, um deren verschwundene Schwester Ayrelie zu retten. Jann und Acanà hatten unwissentlich die Entführung ermöglicht, als sie den Kupferstern bargen. Damit war Ayrelie ihres Schutzes beraubt – und nun könnten ihre Geheimnisse in den falschen Händen ganz Thurán gefährden… Sumpfzauber ist der zweite Band der abgeschlossenen Fantasytrilogie " Die Sänger von Thurán" und stellte den tapferen Jann Deren vor neue Herausforderungen.
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Seitenzahl: 1093
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© 2020 Anderland Books
12105 Berlin
www.anderlandbooks.com
ISBN 978-3-96977-002-3
3. Auflage
Alle Rechte vorbehalten
Tag der Veröffentlichung 24.08.2020
Titelbild: Aleksandra Galert
Inhaltsverzeichnis
Einführung
Prolog: Zauberei auf der Burg
1. Teil: Zauberei auf den Straßen
2. Teil: Zauberei und Kopfgeldjäger
3. Teil: Zauberei und Wahrsagungen
4. Teil: Zauberei in Wüste und Wald
5. Teil: Zauberei und Potentaten
6. Teil: Zauberei und die Zukunft
Anhang
Personenverzeichnis
Begriffsverzeichnis
Länder – und Gebietsverzeichnis
Karten
Für alle die, die mich bestärkten,
wie Susanne, die mir immer wieder zuhörte,
Sabine, der ich das Delphikéel verdanke,
Anke, die ihm seinen Namen gab,
und Conny, die sich auf die Fortsetzung freute.
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Wir befinden uns auf Thurán, einer mittelalterlichen Welt, in der Menschen, Elfen, Zauberer und fremdartige Wesen mehr oder minder friedlich nebeneinander leben. Sie steht unter der Schirmherrschaft der Schwestern Weega und Cassiopeia. Die Schwestern greifen jedoch nur auf bestimmte Art und Weise in die Geschicke ihrer Schützlinge ein: Cassiopeia wählt stets ein Wesen Thuráns aus, das in ihrem Namen für die Gerechtigkeit sorgt, wohingegen Weega alle hundert Jahre einen Schüler ernennt, der für sie die Wahrheit durch Thurán tragen soll.
Es ist erst wenige Monate her, dass Acanà von Anabellánien, die letzte Schülerin Weegas, ihre verlorene Heimat wieder erobert hat. Sechs lange Jahre hatte sie dazu gebraucht, das Gegenmittel für den Bann zu finden, der sie von Anabellánien fernhielt – den Kupferstern, dieses magische Schmuckstück, von einem seit tausend Jahren toten Meister namens Ladoke erschaffen und mit einzigartigen Fähigkeiten ausgestattet. Mit der Hilfe Jann Derens, ihres treuen Schattens – und seit kurzem auch Geliebten – hat sie einen Weg gefunden, ihre beiden Aufgaben als Schülerin Weegas und Herrin von Anabellánien zu vereinen.
Wenn man sich auf Thurán weit genug in die tiefen Sümpfe nordöstlich der Sanften Berge vorwagte, stieß man irgendwann auf eine Burg. Das war an und für sich ziemlich überraschend, denn wer rechnete schon damit, dass jemand auf die wahnwitzige Idee gekommen war, in einem Gebiet voller Morast, brackiger Tümpel und unergründlicher Moore eine steinerne Burg zu bauen. Aber sie war nun einmal dort, diese Burg, gut in den Sümpfen versteckt und schon so alt, dass sich niemand mehr an die unzähligen Eichenbohlen erinnerte, welche ihr Fundament bildeten, oder an die harte Arbeit, die der Bau einmal bedeutet haben musste. Sie war so alt und so versteckt, dass man außerhalb des Sumpfes ihre Existenz schon lange vergessen hatte.
Eine Burg, die sich auf einem künstlichen Fundament inmitten eines verwunschenen Moores erhob, musste naturgemäß düster und geheimnisvoll wirken, und so war es auch. Egal, wie viel Sorgfalt man in den ständigen Erhalt und die permanente Renovierung steckte, es gab immer Ecken, die bröckelten, Pflanzen, die sich bemühten, ihr verlorenes Territorium zurückzuerobern, Steine, die über Nacht der unwiderstehlichen Anziehungskraft des Sumpfes gehorchten und verschwanden, und brackige Wasser, die an den Mauern der Burg leckten. Der äußere Anschein jedoch trog. Sie war recht widerstandfähig, diese Burg, genauso zäh wie ihre Bewohner, und nur so hatte sie die Jahrhunderte überstehen können.
Ganz, wie es sich für eine anständige Burg gehörte, gab es einen Burgfried mit einem großen Turmzimmer darin. Dieses war vollgerümpelt mit allerlei bizarr anmutenden Dingen, wurde von ein paar großen Fackelhaltern erleuchtet und von einem noch größeren Kamin erwärmt. Wer in den Mooren lebte, schätzte Wärme, um die kalte Feuchtigkeit zu vertreiben. Offensichtlich schätzten die Bewohner der Burg ausreichendes Licht weitaus weniger. Die Fackeln rußten zwar ordentlich, schafften es jedoch nicht, alle Winkel des großen Zimmers zu erhellen. Es gelang ihnen lediglich, ihren Feuerschein auf die Gesichter der anwesenden Leute zu werfen und mit ihrem Spiel von Licht und Schatten für ein unheimliches Ambiente zu sorgen.
Irionne, die schweigend da stand, war dieser düsteren Stimmung gänzlich unempfindlich gegenüber. Sie lauschte den Ausführungen von Jônes und erging sich insgeheim noch immer voller Stolz über ihre vollbrachte Aufgabe. Sie hätte nie geglaubt, dass sie zu so etwas hätte fähig sein können. Im Kopf hörte sie erneut Jônes’ begeisterten Ausruf und Berrelines geflüsterte Worte, dass man vielleicht von Anfang an die falsche Schwester geholt hatte. Was das anbetraf, so musste Irionne es im Stillen verneinen. Es hatte nie einen Zweifel an Ayrelies Berufung gegeben – Ayrelie selbst hätte nie einen Zweifel zugelassen. Nur war Ayrelie jetzt leider nicht hier, wohingegen sie, Irionne, ihren Auftrag blendend erfüllt hatte. Sie warf wieder einen Blick auf den schwarzen, steinernen Tisch in der Mitte des Raumes und verspürte ein jähes Glück. Die Gestalt darauf war noch immer da. Sie hatte sich nicht einen Millimeter bewegt, hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt und erst recht keinerlei Anstalten gemacht, sich in Luft aufzulösen, seitdem Irionne für ihr Erscheinen gesorgt hatte. Es tat ihr fast leid um das Opfer. Am liebsten hätte sie ihn behalten, um sich für alle Ewigkeit vor Augen führen zu können, dass sie zu so etwas in der Lage war.
Natürlich wusste sie, dass das unmöglich war. Schließlich hatte sie nicht ohne Grund diesen anstrengenden Zauber ausgeführt. Das Opfer musste gebracht werden, ganz egal, was ihre persönlichen Gefühle dabei waren. Sie bedauerte bloß, dass Vaya noch nicht anwesend gewesen war, als sie den Fremden erscheinen ließ. Sie hätte zu gern den fassungslosen Ausdruck im arroganten Gesicht dieser verwöhnten Hexe gesehen. Halt – Vaya war keine Hexe. Sie, Irionne, war eine, wie sie sich wieder voller Stolz sagte. Vielleicht hatte man tatsächlich die falsche Schwester geholt.
Sie vermisste Ayrelie, wirklich, und sie war auch noch immer voller Zorn über das, was man ihr angetan hatte. Sie würde es wieder in Ordnung bringen, dafür sorgen, dass Ayrelie heimkam, und sie würde durchaus froh sein, in Zukunft solche kräftezehrenden Beschwörungen ihrer älteren Schwester zu überlassen. Aber ein Teil von ihr, ein winzig kleiner, aufgeregt schreiender Teil war überaus glücklich und dankbar, dass sie die Chance bekommen hatte, einmal etwas von ihren Fähigkeiten zu zeigen.
Jônes, so stellte sie fest, kam allmählich an das Ende seiner langwierigen Ausführungen, und das war wohl auch gut so, denn auf Vayas Gesicht zeigte sich wieder der altbekannte, gelangweilte Ausdruck. Irionne hätte sich etwas mehr Ehrfurcht gewünscht, und noch mehr hätte sie sich gewünscht, das Miststück wäre überhaupt nicht hier. Ihr war noch nie ein Wesen begegnet, das sich so viel auf seine Abstammung einbildete und so herablassend ihr gegenüber auftrat. Also das istAyrelies kleine Schwester, hatte sie zu Irionne bei der Begrüßung gesagt, und der Tonfall ihrer Worte hatte dabei deutlich ausgedrückt, dass sie die junge Sumpfhexe nicht im Geringsten ernst nahm, und dass Irionne ihrer Meinung nach schon gar nicht als Ersatz für ihre Freundin dienen konnte. Vielleicht würde Vaya sie jetzt ernst nehmen, wo Irionne doch für die Beschaffung des Opfers gesorgt hatte. Und vielleicht würde sie jetzt aufhören, so zu tun, als traue sie Irionne die ganze Beschwörung nicht zu – obwohl Irionne selbst so ihre Zweifel daran hatte, wenn sie ehrlich war. Der erste Schritt war geschafft, das Opfer war hier, nun galt es, Ayrelie zu finden und zu befreien. Und auch wenn Jônes und Berreline sie dabei unterstützen würden, ganz sicher war sie nicht, ob es ihr gelingen würde, Ayrelie aufzustöbern und heimzuholen.
Oder besser gesagt, sie hatte erhebliche Zweifel daran.
„Wie Ihr seht, ist es uns gelungen“, beendete Jônes seinen Monolog. Vaya hatte während der letzten Minuten ihre Augen ganz unverschämt schweifen lassen. Jetzt trat sie zum Tisch und hob die rauchenden Überreste eines Glases auf.
„Ihr habt die Karaffe zerbrochen“, sagte sie vorwurfsvoll.
Nein, Irionne würde sich nicht aufregen. Natürlich konnte sie von Vaya keine Ehrfurcht oder gar ein Lob erwarten, die Ziege war vermutlich viel zu dumm, um zu begreifen, was geschehen war. Die Karaffe – pah!
„Das ist unwichtig“, erwiderte Berreline lächelnd, „wir brauchen sie nicht mehr. Irionne hat unser Opfer gerufen, und da ist es.“
Sie traten alle drei einen Schritt näher an den steinernen Tisch heran, während Vaya zurückblieb. Irionne sah in das Gesicht des Opfers und verspürte wieder einen Hauch Bedauern und einen nicht unerheblichen Anflug von Panik, wenn sie an den nächsten Schritt dachte. Das Opfer war ein Junge, ganz still und friedlich, als würde er schlafen. Sie vergewisserte sich, dass der feine goldene Faden noch immer um seine rechte Hand gewunden war. Es würde nichts nützen, wenn der Junge aus seiner Beschwörung erwachte, bevor es Zeit war. Er würde sicherlich nur Angst bekommen und zu schreien anfangen, und das würde sich katastrophal auf ihr Gemüt auswirken. Sie war sowieso schon froh und dankbar, dass Jônes den Teil mit der Opferung übernehmen wollte.
„Schade“, murmelte Berreline fast unhörbar neben ihr, und Irionne konnte es nachvollziehen. Einmal ganz abgesehen von ihren eigenen, egoistischen Träumen war es wirklich ein Jammer. Wenn es nicht um Ayrelie und um ihre Zukunft gegangen wäre, hätte sie sich nie darauf eingelassen.
Jônes kannte solche Anwandlungen nicht.
„Er ist perfekt“, sagte er und legte Irionne noch einmal die Hand auf die Schulter, „gut gemacht. Wirklich gut gemacht! Wir sollten uns ein wenig ausruhen und stärken. Kommt mit mir ans Feuer.“
Berreline lächelte Irionne wieder zu und wandte sich dann ab, um Jônes’ Aufforderung Folge zu leisten, und Irionne tat es ihr nach.
„Ihr habt es also tatsächlich geschafft, einen Menschen hierher zu zaubern?“, ließ sich Vaya spöttisch vernehmen.
Irionne warf den Kopf zurück.
„Das siehst du doch“, gab sie genauso arrogant zurück, „und wenn du mir nicht glaubst, dann schau ihn dir ruhig an. Er ist aus Fleisch und Blut, nicht aus Wachs und Farben. Das perfekte Opfer!“
„Ist das so“, meinte Vaya trocken und trat näher.
Irionne folgte Jônes und Berreline, konnte sich aber doch nicht zügeln, sich noch einmal nach Vaya umzudrehen, die mittlerweile den Tisch mit dem Opfer erreicht hatte. Das Miststück hielt den Kopf gesenkt, so dass sie ihr Gesicht nicht sehen konnte, aber Irionne bemerkte trotzdem schadenfroh, dass sie beim Anblick des Jungen zusammengezuckt war. Sie schnaubte verächtlich und setzte ihren Weg fort.
Vaya hingegen, Enkelin einer Moris und nicht so leicht zu erschrecken, blieb neben dem steinernen Tisch stehen und starrte auf die friedliche Gestalt vor ihr. Dann hob sie zögernd eine Hand, fuhr sacht die Kontur des Gesichtes nach, verharrte einen Moment am Hals und zog plötzlich mit flinken Fingern ein Lederband aus dem Hemdausschnitt hervor. Daran hing ein simpel verziertes, kupfrig glänzendes Dreieck.
Eine halbe Ewigkeit, so schien es, stand sie regungslos neben dem Opfertisch, bevor sie das Schmuckstück fallen ließ, sich umdrehte und zu den anderen am Feuer gesellte. Im Gehen streifte ihre Hand wie unbeabsichtigt die des Jungen, in einer sanften, fast zärtlichen Berührung.
Jônes hatte für reichlich heißen Wein und Essen gesorgt, und Irionne sprach den Marmeladentörtchen mit Begeisterung zu, schließlich hatte sie sich das verdient. Vaya hingegen akzeptierte nur einen Becher Wein, lehnte das Essen ab und nahm im Sessel Platz. Sie schien mit sich zu ringen. Vielleicht, so dachte Irionne, würde sich das Biest ja doch noch zu einem Lob herab lassen. Angebracht wäre es zumindest.
Als Vaya dann jedoch sprach, sagte sie etwas völlig anderes.
„Wir haben den ersten Teil geschafft“, wiederholte Jônes, „bevor wir fort fahren, sollten wir wieder zu Kräften kommen.“
„Also wollt Ihr dieses Ritual noch immer durchführen?“, fragte Vaya nachdenklich.
Berreline nickte.
„Uns bleibt keine Wahl“, sagte sie energisch, „natürlich, seit Urzeiten ist so etwas nicht mehr getan worden. Aber Ayrelie muss zurückkommen. Ihr wisst selbst, was davon abhängt. Dies ist eben das Opfer, was wir bringen müssen.“
„Mir scheint, das Opfer wird er bringen müssen“, murmelte Vaya, und Irionne warf ihr einen scharfen Blick zu.
Jônes lächelte.
„Keiner von uns ist froh über diese Aufgabe“, sagte er, „dennoch muss sie getan werden. Wenn Ayrelie in die falschen Hände gerät, wird nichts mehr auf Thurán so bleiben, wie es war. Das würde sich auch auf den Jungen auswirken. Berreline und ich haben die alten Bücher nächtelang studiert. Um Ayrelie zurückzuholen, gibt es nur diese Beschwörung, und sie verlangt ein Opfer.“
Ein Menschenopfer. Ganz klar und deutlich hingen diese Worte im Raum, und alle schwiegen einen Moment lang unbehaglich. Jônes räusperte sich.
„Wir müssen es tun“, bekräftigte er, „wir haben keine Wahl.“
Die Blicke der vier gingen wie automatisch zu dem steinernen Tisch mit der regungslosen Gestalt darauf. Irionne schluckte trocken. Vaya zog das Gesicht in Falten und biss sich wieder auf die Lippen. Berreline fasste sich als Erste, wandte sich um und lächelte sie strahlend an.
„Irionne hat es geschafft“, meinte sie voller Stolz, „ich gebe zu, ich hatte mir ein wenig Sorgen gemacht, aber nun, sie hat die Aufgabe glänzend gemeistert. Was sagt Ihr zu unserem Opfer, Vaya? Ist es nicht großartig, dass es uns gelungen ist? Ist er nicht perfekt?“
Vaya schien endlich zu einem Entschluss zu kommen und öffnete den Mund.
„Nun ja“, sagte sie in diesem gedehnten Tonfall, den Irionne so hasste, „es ist erstaunlich, das gestehe ich ein. Ich zumindest hätte es nicht für möglich gehalten. Ihr habt tatsächlich einen Menschen beschworen! Nur, und das muss ich Euch leider sagen, ist er alles andere als perfekt. Er ist sozusagen überhaupt nicht geeignet.“
„Was?“, keuchte Irionne empört. Diese impertinente, ekelhafte Ziege!
„Ich verstehe nicht“, erwiderte Berreline verwirrt, „was stört Euch an ihm? Es ist zwar nur ein simpler Junge, aber ...“
„Aber genau das ist es“, unterbrach Vaya, „oder, besser gesagt, genau das ist er nicht. Das ist kein gewöhnlicher Junge, den ihr da herbeigezaubert habt.“
„Erklärt Euch genauer“, verlangte Jônes streng zu wissen.
Vaya lächelte spöttisch, lehnte sich zurück und drehte ihren Becher in der Hand.
„Er ist nicht geeignet“, sagte sie, „wir können ihm nichts tun.“
„Es ist nur ein Junge!“, fuhr Irionne empört auf und setzte gleich darauf herausfordernd hinzu: „Na und?“
Vayas Grinsen wurde noch breiter.
„Das“, wiederholte sie, „ist kein gewöhnlicher Junge. Ihr könnt ihn nicht opfern.“
„Und wieso?“, fauchte Irionne.
„Weil das“, sagte Vaya und schien jedes Wort zu genießen, „weil das niemand anderes ist als Jann Deren.“
Einen Moment lang war es still. Jônes starrte Vaya an, als habe er einen Schock erlitten, und Berreline stand der Mund offen. Irionne hingegen begriff überhaupt nicht, was diese bedeutungsvollen Worte zu sagen hatten, und blickte verwirrt von einem zum anderen. Vaya schien mit dem Resultat ihrer Eröffnung sehr zufrieden zu sein.
„Unsinn“, fing Jônes sich schließlich als Erster, „das ist niemals Jann Deren. Ihr irrt Euch.“
„Ich irre mich nicht“, erwiderte Vaya katzenfreundlich.
„Aber ... ich bitte Euch!“, fuhr Jônes auf, „das dort ist ein Kind, meinetwegen ein halbes Kind! Ein Junge, maximal siebzehn Jahre alt! Und Ihr wollt mir weismachen, es wäre Jann Deren?“
„Ich habe keine Ahnung, wie alt er ist“, gab Vaya zu, „aber er ist es. Ich bin ihm schon früher begegnet.“
„Ihr seid Jann Deren begegnet!“, rief er.
„Vor einigen Jahren“, antwortete sie gleichmütig, „bevor man auf Thurán seinen Namen kannte. Ich erinnere mich noch gut.“
Jônes holte tief Luft und wechselte die Taktik.
„Wenn Ihr ihn wirklich kennengelernt habt und das einige Jahre her ist, dann täuscht Ihr Euch vermutlich“, meinte er behutsam.
Vaya schnaubte verächtlich.
„Nein. Ich täusche mich nicht. Eure kleine Hilfszauberin hat Jann Deren auf die Burg gebracht.“
„Das kann doch nicht wahr sein“, flüsterte Berreline fassungslos.
„Es ist auch nicht wahr!“, fauchte Jônes, „es ist absolut lächerlich!“
„Bitte“, mischte sich Irionne entnervt ein, „wer ist denn Jann Deren, und warum ist er ungeeignet?“
Alle drei warfen ihr einen Blick zu.
„Oh“, sagte Vaya süffisant, „ich vergaß – die Kleine hat den Sumpf ja nie verlassen. Bis Ayrelie verschwand, hat sie nichts von der Welt mitbekommen. Ich sagte Euch doch gleich, dass sie es nicht schaffen würde.“
„Das tut jetzt nichts zur Sache!“, zischte Jônes, „Irionne! Wen hast du beschworen?“
Irionne zuckte unwillkürlich zusammen.
„Nur einen Jungen“, verteidigte sie sich, „ihr habt gesagt, ich solle jemand Simples nehmen, nicht zu weit weg, nicht zu schwer. Wer ist Jann Deren?“
„Jann Deren“, explodierte Jônes, „ist ein berüchtigter Krieger, der den Anführer der Rattenkrieger besiegt hat, den gefährlichsten Kopfgeldjäger Thuráns! Jann Deren hat an der Seite der Herrin von Anabellánien gekämpft, um ihr Land zu befreien, und sie auf ihren Reisen beschützt! Er ist der Liebhaber Acanà von Anabellániens und deshalb ganz gewiss nicht dieser Knirps hier!“
„Du brauchst nicht so zu schreien“, murmelte Irionne erschrocken.
„Ich fürchte, er ist es doch“, schaltete sich wieder Vaya ein, „ich habe sie vor knapp drei Jahren getroffen. Sie kamen, um meiner Mutter eine Frage zu stellen. Ich erinnere mich gut an Jann. Und selbst wenn ich es nicht täte – er trägt einen Teil des Kupfersterns um den Hals. Ich erkenne Julitt, wenn ich ihn sehe, und ich habe keine Zweifel. Das ist Jann Deren.“
Es lag etwas Endgültiges in ihren Worten, so dass sowohl Jônes als auch Berreline ihre Proteste einstellten. Jônes ließ sich schwer auf seinen Stuhl fallen, um das Gesicht in den Händen zu vergraben, und Berreline trat an den kleinen Tisch und nahm die verrußte, zerbrochene Karaffe hoch.
„Alles umsonst“, flüsterte sie, „es war alles umsonst.“
Irionne konnte es nicht länger ertragen.
„Weshalb?“, fuhr sie auf, nicht gewillt, eine unverstandene Niederlage zu akzeptieren, „weshalb ist alles umsonst gewesen?“
„Die Karaffe“, erwiderte Berreline unglücklich, „sie ist zerbrochen. Wir können keinen Ersatz beschaffen, und wir haben kein Opfer mehr. Damit ist das Ritual hinfällig und Ayrelie verloren.“
„Ich begreife das nicht!“, fauchte Irionne zornig, „meinetwegen, dann ist er eben ein bekannter Kämpfer. Wieso ist er deshalb ungeeignet? Vielleicht ist es ja umso besser! Er ist gebunden! Er wird erst dann erlöst werden, wenn es Zeit ist, und dann kann er nichts mehr ausrichten. Vielleicht ist so jemand viel besser geeignet, um die Geister zu beschwören und Ayrelie zu finden. Ein würdiges Opfer!“
„Irionne!“, sagte Jônes scharf, „rede keinen Unsinn!“
„Warum Unsinn?“, beharrte Irionne, „verdient er etwa mehr zu leben als ein simpler Bauernjunge? Wieso können wir ihn nicht nutzen?“
„Ach, du dummes Ding“, erwiderte Vaya bissig, „du hast wirklich überhaupt keine Ahnung. Darum geht es nicht! Jann Deren ist ungeeignet, weil sich keiner hier mit Acanà von Anabellánien und ihrer Verwandtschaft anlegen will!“
„Aber ...“
„Irionne“, mischte sich Berreline etwas sanfter ein, „woher solltest du es wissen. Eine Beschwörung wie die, die wir planten, würde keinem magischen Wesen auf Thurán verborgen bleiben. Es ist ein mächtiger Zauber. Sol Sinaîs würde davon erfahren, und Sinaîs ist die Tante der Herrin von Anabellánien.“
„Es ist davon auszugehen, dass die Herrin ihren Liebsten wiederhaben will“, brummte Jônes mürrisch.
„Sie könnten das Ritual vielleicht nicht stören“, meinte Berreline erklärend, „aber sie würden wissen, was geschehen ist.“
„Was bedeutet, wir hätten wir die ganze Horde am Leib“, fuhr Jônes grimmig fort, „und nach allem, was man sich erzählt, könnten uns die tiefsten Sümpfe und die besten Nizonen nicht mehr schützen!“
„Außerdem heißt es, dass Acanà die Schülerin Weegas ist“, setzte Berreline hinzu, „es hat keinen Sinn, Irionne. Jann Deren wird uns nichts nützen.“
Irionne war noch immer nicht überzeugt, aber sie schwieg vorerst mürrisch.
Seit Jahrhunderten existierte die Burg in den Sümpfen, hatte so vielem getrotzt, und jetzt gerieten Jônes und Berreline in Panik, weil irgendeine fremde Herrin ihren Bettgespielen rächen würde? Ging es nicht um weitaus mehr? Drohte nicht viel Schlimmeren, wenn Ayrelie nicht heimkam?
„Wir sind wieder am Anfang“, flüsterte Berreline geknickt. Sie setzte die Karaffe ab und trat zu dem steinernen Tisch, um kummervoll in das regungslose Gesicht des Jungen zu starren.
„Das würde ich nicht sagen“, erhob Vaya wieder ihre Stimme, „vielleicht kann Jann uns doch noch nützen. Vielleicht habt Ihr es von Anfang an falsch gesehen.“
„Ich verstehe nicht“, erwiderte Berreline und drehte sich Vaya zu.
Jônes hob den Kopf.
„Woran denkt Ihr?“, fragte er mit gerunzelter Stirn.
Vaya zuckte mit den Schultern.
„Nur so eine Idee“, sagte sie lässig, „wir wissen nicht viel über Ayrelies Verschwinden, nur dass es bei Nacht geschah und niemand dabei war. Ein Zauber also, ohne Zweifel. Wenn jemand mächtig genug war, Ayrelie von hier zu entführen, dann ist er vielleicht ohnehin mächtig genug, um Euch an Eurem Ritual zu hindern. Vielleicht könnt Ihr sie gar nicht mit Zauberei zurückholen.“
„Und wie sonst?“, verlangte Jônes zu wissen, „sollen wir die Nizonen los schicken und damit der Welt preisgeben, was geschehen ist? Es würde die Katastrophe auslösen!“
„Nein, so habe ich es nicht gemeint“, erwiderte Vaya.
Irionne fuhr wütend auf.
„Ich finde immer noch, wir sollten das Ritual durchführen“, sagte sie heftig, „wenn Ayrelie nicht heimkommt, ist der Zorn einer Acanà von Anabellánien unsere kleinste Sorge!“
Und dann ging alles ganz schnell.
Die Gestalt auf dem Tisch wurde mit einem Ruck lebendig, schnellte in die Höhe und packte Berreline, welche nur noch ein erschrockenes Quietschen ausstoßen konnte. Das Opfer war nicht mehr regungslos, sondern hatte sich urplötzlich in einen zornigen, verdammt lebendigen jungen Mann mit sprühenden Augen verwandelt, der Berreline fest gepackt hielt und mit ihr nach hinten wich.
Jônes und Irionne waren beide mit einem Satz auf den Füßen. Sie griff nach ihrem Stab – immerhin war sie eine Nizone! – und sprang zu allem entschlossen vorwärts.
„Einen Schritt näher, und ich breche ihr das Genick!“, fauchte der junge Mann.
Jônes’ Hand hielt Irionne auf. Vaya erhob sich langsam.
„Bitte“, sagte Jônes, „lasst sie los. Wir wollen Euch nichts tun.“
„Tatsächlich?“, erwiderte das Opfer – das ehemalige Opfer – schneidend, „eben hörte sich das noch ganz anders an!“
Wieso ist er frei? dachte Irionne erbost, und dann sah sie die Antwort, als Vayas Hand sich langsam öffnete und einen dünnen goldenen Faden offenbarte. Sie starrte die Moris-Enkelin ungläubig an.
„Ihr habt uns falsch verstanden“, versuchte Jônes es mit Beschwichtigung.
„Ist das so?“, zischte der andere, „ich habe ziemlich deutlich die Worte Ritual und Opfer gehört, und meine Fantasie reicht für den Rest aus!“
„Wir hatten bereits entschieden, Euch nichts zu tun“, beteuerte Jônes, „bitte, beruhigt Euch. Lasst sie los.“
„Und was dann? Wo bin ich hier überhaupt? Wie habt Ihr mich gefangen?“
Berreline röchelte, als die Hand fester zugriff.
Vaya schien den Zeitpunkt gekommen zu sehen, um einzugreifen.
„Beruhige dich, Jann“, sagte sie und schob sich vor Irionne, „es war ein Irrtum. Berreline ist harmlos. Lass sie gehen.“
Der fremde junge Mann musterte sie und löste immerhin die Finger soweit, als dass Berrelines Gesicht nicht mehr blau anlief. Einen Moment lang erwiderten seine Augen schweigend den Blick.
„Vaya“, sagte er, „ich erinnere mich. Was hat das alles hier zu bedeuten?“
„Wir werden es dir erklären, wenn du sie gehen lässt“, antwortete Vaya, „Himmel, Jann, sie stirbt fast vor Angst!“
„Dazu hat sie auch allen Grund“, erwiderte er grimmig, „wo sind wir? Wie bin ich hierhergekommen? Was wollt ihr?“
„Du wirst deine Antworten bekommen, ich verspreche es dir“, sagte Vaya, „lass sie los, bitte. Hör dir an, was wir zu sagen haben, und dann kannst du frei entscheiden.“
Verzeihung? Irionne glaubte sich verhört zu haben. Noch nie hatte sie bei Vaya so einen Tonfall vernommen, und überhaupt, wann war entschieden worden, dass dieser Kerl einfach so gehen konnte?
„Frei entscheiden? Wenn das so ist, warum habt ihr mich entführt?“ Der junge Mann war genauso argwöhnisch.
„Weil es ein Missverständnis war. Hast du es nicht selber gehört? Du hast doch zugehört, oder? Ich habe dich befreit“, argumentierte Vaya.
„Ist das so? Trotzdem bist du hier, bei diesen Leuten.“
„Jann, ich bitte dich“, seufzte Vaya, „verursache nicht noch mehr Aufregung. Wir haben dir einen Vorschlag zu machen, und ich denke, du solltest ihn dir anhören. Schließlich ist diese ganze Situation zum Teil auch deine Schuld.“
„Meine Schuld?!“, fauchte er empört.
„Ja, genau“, bekräftigte sie, „ich gebe dir mein Wort, dass du frei gehen darfst, wenn du es willst. Jônes?“
Jônes löste sich aus seiner Erstarrung und nickte.
„Wir haben nicht vor, Euch aufzuhalten“, sagte er, „wir wollten Euch sowieso nicht.“
Der Griff um Berrelines Kehle ließ weiter nach.
„Wer auch immer Ihr seid“, erwiderte der junge Mann unfreundlich, „aber nun gut. Was ist mit Eurer Amazone dort?“
„Sie ist keine Amazone, sondern eine Nizone“, entgegnete Jônes hastig, „und sie wird Euch auch nichts tun.“
Was bitte ist eine Amazone? dachte Irionne, während sie den jungen Mann mit grimmigem Blick musterte – oh, ihr schönes, hart erkämpftes Opfer!
Vaya versetzte ihr einen Stoß.
„Los“, zischte sie, „oder willst du Berreline mit gebrochenem Genick sehen?“
Das gab den Ausschlag. Irionne nickte knapp und senkte ihren Stab. Der junge Mann hingegen zögerte noch einen Augenblick, bevor er nachgab und Berreline mit einem Ruck losließ. Sie taumelte und rieb sich ihren Hals.
„Nun denn“, sagte Jann Deren bissig, „ich hoffe, Ihr habt eine gute Erklärung!“
Eine halbe Stunde später hatten sich ihre Positionen kaum verändert. Jann stand weiterhin mit dem Rücken zum Fenster, ihm gegenüber Vaya und Jônes. Lediglich Berreline hatte Schutz in einem Sessel gesucht, und Irionne war an ihre Seite getreten. Immer, wenn sie einen Blick auf die dunkel werdenden Male am Hals der Älteren warf, kochte die Wut in ihr wieder hoch. Wie konnte er es nur wagen, Hand an eine Sumpfhexe zu legen?
Jann hingegen verschwendete keinen Gedanken mehr an Berreline. Er brauchte seine ganze Kraft, um das unbeherrschte Zittern zu kontrollieren und stattdessen, wie er hoffte, gelassen und überlegen zu wirken, als habe er die Situation völlig im Griff.
Dabei konnte nichts ferner liegen.
Es gehörte schon einiges dazu, Haltung zu bewahren, wenn man langsam und mühselig auf einem steinernen Altar wach wurde und dabei einem Streitgespräch über Rituale und Menschenopfer lauschte. Er hatte ein bisschen gebraucht, um zu begreifen, dass er als das Opfer vorgesehen war, und damit war er alles andere als einverstanden gewesen. Abgesehen davon begriff er jedoch nichts. Soweit er sich erinnern konnte, war er mit Acanà in Maraken gewesen und hatte die Nacht dort neben ihr im Bett verbracht. Jetzt war er nicht mehr in Maraken – mochte der Teufel wissen, wo er war! – und Acanà war offensichtlich auch nicht hier. Zumindest hatten diese Leute keine Ahnung von seiner Identität gehabt, und wenn ihre Angst vor Acanàs Macht ausreichte, ihn nicht töten zu wollen, dann war wohl nicht davon auszugehen, dass sie hier irgendwo in den Verließen schmachtete. Er stellte die Sorge um seine Gefährtin also erst einmal zurück und bemühte sich, die Situation zu begreifen, in die er da geraten war.
Vaya und dieser lächerliche Mann namens Jônes taten ihr Bestes, um ihn aufzuklären, während die ältere, zierliche Frau zitternd in ihrem Sessel hockte und die junge daneben ihm mörderische Blicke zu warf. Er gab sie funkelnd zurück. Es stand nicht zur Debatte, Mitleid mit der Älteren zu haben oder sich gar zu entschuldigen. Wenn sie von ihm in Ruhe gelassen werden wollten, hätten sie ihn nicht entführen dürfen!
Was Jônes und Vaya erzählten, ergab zunächst nur bedingt einen Sinn. Er begriff, dass sie ihn mit Hilfe eines Zaubers aus Maraken hierher geholt und auch mit Hilfe eines Zaubers schlafend gehalten hatten – welchen Vaya, aus was für einem Grund auch immer, aufgehoben hatte, indem sie diesen Faden von seinen Fingern streifte. So weit, so gut. Verwirrend wurde es, als sie versuchten, ihm den Grund für ihre Tat begreiflich zu machen. Anscheinend war die Oberhexe des gesamten Clans spurlos verschwunden, und das hatte wohl schlimmere Auswirkungen, als man denken sollte. Auf Janns flapsige Bemerkung, dass Ayrelie vielleicht nur von der feuchten, zugigen Burg die Nase voll gehabt hatte, reagierte Jônes mit Entrüstung, Berreline mit einem empörten Aufkeuchen, und diese Amazone da schien ihn auf der Stelle erschlagen zu wollen. Gut, er musste zugeben, dass seine Äußerung nicht gerade angebracht gewesen war, aber sie entsprang der drohenden Hysterie, die er so verzweifelt bekämpfte. Vaya hingegen machte sich die Mühe, ihm adäquat zu antworten.
„Ich kenne Ayrelie schon sehr lange“, sagte sie, „sie wäre nie einfach so verschwunden. Von dem Moment an, in dem sie die Erste unter Ladokes Töchtern wurde, nahm sie ihre Aufgabe sehr ernst. Es war ihre Berufung, verstehst du?“
Ja, Jann verstand mehr von Berufungen, als ihm manchmal lieb war.
„Also gut“, sagte er, „dann ist sie entführt worden. Wie ihr mich entführt habt?“
Auch das führte zu einem Ausbruch der Entrüstung. Anscheinend, so lernte Jann, war es ein Leichtes, einen unbedarften, magisch nicht belasteten Menschen wie ihn fortzuzaubern. Bei einer mächtigen Sumpfhexe wie Ayrelie hätte dies jedoch nie passieren dürfen. Er nickte und gab sich Mühe, nicht zu beleidigt zu sein.
„Ich verstehe“, meinte er schließlich, „Eure Anführerin ist spurlos verschwunden, und Ihr wollt sie zurück. Alles klar. Wer hat sie denn entführt?“
Das war der Knackpunkt, wie er sofort bemerkte. Niemand wusste, wo Ayrelie war und wer stark genug gewesen war, die Sumpfhexe gegen ihren Willen zu verschleppen. Eines Morgens war ihr Zimmer einfach leer gewesen, und keiner wusste, was geschehen war.
„Ich mag magisch unbeleckt sein“, bemerkte Jann bissig, „aber wäre es nicht klug gewesen, zunächst einmal herauszufinden, wer Euer Feind ist, bevor Ihr Euch noch weiter mit ihm anlegt?“
„Wir haben keine Feinde“, sagte Irionne von oben herab, „niemand wagt es, uns zu bedrohen!“
„Niemand weiß, dass es Euch gibt“, erwiderte er, „ich zumindest habe nie zuvor von einer Burg voller Sumpfzauberer gehört. Und ich bin schon ein bisschen herumgekommen.“
„Was uns zu dem Punkt bringt, warum Ayrelie entführt wurde“, mischte sich Vaya ein, „genaues wissen wir nicht, aber wir haben so unsere Theorien. Damit kommst du ins Spiel, Jann.“
„Die Sache mit dem Opfer?“
„Schau mich nicht so böse an. Die Opferung wird nicht stattfinden, ich habe es dir doch schon gesagt. Hast du nicht mitbekommen, wie sich die Sumpfhexen nennen?“
Als er sie nur verständnislos anstarrte, setzte sie ungeduldig hinzu: „Ladokes Töchter, Jann. Das wird dir wohl etwas sagen, oder?“
„Ich weiß, wer Ladoke war“, antwortete er, „ich dachte, es wäre bloß ein Name, schließlich ist Ladoke seit tausend Jahren tot. Sie sind wohl kaum sein Fleisch und Blut.“
„Wir stammen in direkter Linie von ihm ab!“, zischte Irionne empört.
Jann warf ihr einen spöttischen Blick zu und sagte nichts.
„Sie sind die Bewahrerinnen von Ladokes Erbe“, meinte Vaya, inzwischen sichtlich genervt, „seine Geheimnisse, seine Schätze, seine Weisheiten. Das alles hat seinen Ursprung hier, in dieser Burg.“
„Ach?“, erwiderte er lang gezogen, „und du wusstest das, Vaya? Wusstest du es auch damals, als wir bei euch waren?“
Sie zuckte mit den Schultern.
„Du hast nie etwas über Ladoke gesagt, oder? Woher sollte ich wissen, dass euer Kupferstern mit ihm zu tun hat?“
Es war ein Argument, musste er zugeben.
„Hätte Ayrelie denn gewusst, wo er war?“, hakte er nach, „der Kupferstern war schließlich nicht hier, in Eurem Sumpf, sondern in den Sanften Bergen. Soviel zum Bewahren von Ladokes Erbe.“
„Sie hätte es vielleicht gewusst“, erwiderte Vaya scharf, „sie hätte es zumindest herausfinden können – wenn sie gewollt hätte.“
„Acanà hätte sie schon dazu gebracht.“
„Sei nicht so arrogant, Jann“, entgegnete sie, „du kennst Ayrelie nicht. Aber das ist unwichtig. Ihr wart nie in den Sümpfen, ihr habt den Kupferstern trotzdem bekommen. Und damit habt ihr das hier ausgelöst.“
„Bitte? Jetzt ist es unsere Schuld?“, rief er empört.
„In gewisser Weise, ja“, antwortete sie, „Jônes?“
Jônes, der sich herausgehalten hatte, räusperte sich.
„Ayrelie hat sofort gewusst, was damals in den Sanften Bergen geschehen ist, und es hat sie sehr beunruhigt“, erklärte er, „Ladoke ... Ladoke war mehr als nur ein Künstler. Er hat Dinge von ungeheurer Macht geschaffen, und er fürchtete, dass seine Erben mit dieser Macht nicht umgehen könnten. Also versteckte er sie und belegte sie mit einem Bann. Dieser Bann hielt tausend Jahre.“
„Bis Acanà kam und den Kupferstern fand?“, erwiderte Jann zweifelnd.
„Genau“, Jônes nickte, „die Befreiung des Kupfersterns ließ den Bann verlöschen. Ayrelie ist die Bewahrerin dieser Geheimnisse, sie allein weiß, wo Ladokes Schätze verborgen sind. Das Problem ist aber, dass man jetzt an diese Schätze heran kommt. Der Schutz ist verschwunden, versteht Ihr? Und das bringt Ayrelie in eine gefährliche Lage.“
„Dann hat sie jemand entführt, der in Wahrheit Ladokes Erbe haben will und sie dazu benutzen möchte, um es zu finden?“, folgerte Jann.
„So vermuten wir, ja“, stimmte Vaya zu, „Jann, Ladokes Erbe ist gefährlich. Es darf nicht in falsche Hände geraten. Wenn jemand sich die Schätze aneignen würde, bekäme er ungeheure Macht. Es ... es ist nicht auszudenken.“
„Ungeheure Macht“, wiederholte Berreline flüsternd, „Macht, die Erde zu öffnen, die Flüsse zu lenken. Die Geister zu rufen. Fremde Welten ...“ Sie schauderte, und Irionne legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter.
„Wer Ladokes Erbe missbraucht, könnte ganz Thurán beherrschen“, fügte Jônes hinzu.
Seine Stimme klang sehr ernst, und obwohl Jann auf der einen Seite fand, dass sich dies alles doch ein wenig arg dramatisch anhörte, erinnerte er sich wieder an das seltsame Gefühl, als er zum ersten Mal den Kupferstern in der Hand gehalten hatte. Er musste sich bemühen, sich nicht genauso wie Berreline zu schütteln.
„Keiner außer Ayrelie weiß genau, wozu Ladokes Erbe fähig ist“, sagte Vaya eindrücklich, „aber eines ist sicher. Gerät es in falsche Hände, würden wir alle Thurán nicht wieder erkennen. Verstehst du jetzt, warum es so wichtig ist, sie zu finden?“
Er schluckte.
„Ist es wirklich so gefährlich?“, hakte er sicherheitshalber nach.
„Du trägst einen Teil des Kupfersterns“, gab sie zurück, „begreifst du seine Kräfte?“
Das traf. Er räusperte sich.
„Ich verstehe“, meinte er langsam, während sich die Gedanken in seinem Kopf überschlugen, „wir hatten ja keine Ahnung ... ich meine, wer ahnte schon, was der Kupferstern auslösen könnte?“
„Ihr konntet es nicht wissen“, meinte Jônes beschwichtigend.
Vaya hingegen schnaufte verächtlich.
„Wenn ich geahnt hätte, dass der Kupferstern zu Ladokes Erbe gehört, dann hätte ich Euch daran gehindert“, sagte sie, „ich gebe mir auch einen Teil der Schuld an dieser Situation.“
Jann antwortete nicht. Er gab seine angespannte Stellung am Fenster auf und trat nachdenklich näher in den Raum. Mit einem Finger fuhr er über den blank polierten Opfertisch und sah plötzlich auf.
„Erwartet Ihr jetzt von mir, dass ich mich aus lauter schlechtem Gewissen doch bereit erkläre, geopfert zu werden?“, fragte er mit einem schiefen Grinsen.
„Nein“, sagte Vaya, „ich sagte bereits, dass ich sowieso meine Zweifel an diesem Ritual hatte. Aber Ayrelie muss gefunden werden, und du, Jann, hast so deine Erfahrungen damit, Verschwundenes zu finden.“
Er hob abrupt den Kopf und starrte sie an.
Irionne holte keuchend Luft.
„Wollt ihr es etwa diesem ... diesem Kerl überlassen, Ayrelie heimzuholen?“, rief sie empört, „das kann ja wohl nicht euer Ernst sein!“
„Ich begreife es auch nicht ganz, Vaya“, mischte sich Jônes zweifelnd ein.
„Ayrelie ist verschwunden“, wiederholte Vaya, „und sie muss gefunden werden. Wir wissen weder, wer es war, noch wo sie ist, und die Gefahr ist groß. Das Ritual ist hinfällig. Die Nizonen auszuschicken ist zu gefährlich, denn im Gegensatz zu dem, was unser Freund hier glaubt, gibt es durchaus noch Leute auf Thurán, die von den Sumpfhexen wissen. Als Keito Acanà von Anabellánien finden wollte, heuerte er Rawenzan an, den besten Kopfgeldjäger der Länder. Ich sage, wir heuern den an, der Rawenzan besiegte, damit er Ayrelie zurückholt.“
Jann gab ein würgendes Geräusch von sich. Vaya funkelte ihn an.
„Du kannst nicht ablehnen!“, sagte sie herrisch, „schließlich bist auch du daran schuld!“
„Niemals!“, fauchte Irionne, hochrot vor Wut, „das kommt nicht in Frage! Ich überlasse Ayrelies Rettung nicht diesem Kerl! Was fällt dir ein, Vaya!“
„Was fällt dir ein, in diesem Ton mit mir zu sprechen?“, gab die Moris-Enkelin zornig zurück, „du bist nichts anderes als eine halbgare kleine Sumpfhexe, kaum in der Lage, eine kompliziertere Beschwörung durchzuführen! Du hast keine Ahnung von der Welt außerhalb der Moore!“
„Ayrelie ist meine Schwester!“, zischte Irionne, „sie ist von meinem Blut! Und ich werde sie retten!“
„Unsinn!“, widersprach Vaya vehement, „es hätte niemals funktioniert, selbst wenn du ein geeignetes Opfer gefunden hättest! Glaubst du, ein Zauberer, der Ayrelie überwältigen konnte, würde sich von jemandem wie dir aufhalten lassen?“
Irionne fehlten vor blinder Wut die Worte, und sie trat drohend vor. Vaya lachte spöttisch.
„Natürlich! Nimm deinen Stab, Kind, dazu wurdest du ausgebildet! Du bist nur eine Nizone, Irionne, dazu da, um Ladokes Töchter zu schützen. Nicht einmal mittelmäßig begabt! Wenn du nicht zufällig Ayrelies Schwester gewesen wärst, hätten sie dich niemals hier rauf geholt!“
„Das ist nicht wahr!“, stieß Irionne mühsam hervor.
Berreline mischte sich ein.
„Irionne hat unser Vertrauen nicht enttäuscht, Vaya“, sagte sie, „sie hat die Beschwörung erfolgreich durchgeführt.“
„Erfolgreich!“, fauchte Vaya, „und wo ist das geeignete Opfer für Euren Budenzauber?“
„Du ... du Miststück! Wenn du nicht mit Ayrelie befreundet wärst, hätte man dich niemals um Hilfe gebeten!“, brüllte Irionne.
„Budenzauber?“, wiederholte Berreline schockiert.
Jônes hob die Hand. Bislang hatte er sich aus der Diskussion herausgehalten.
„Ruhe jetzt“, kommandierte er mit Nachdruck, „Geschrei und Vorwürfe bringen uns nicht weiter. Das Ritual ist hinfällig. Vaya, erklärt genauer, was Ihr Euch ausgedacht habt.“
Vaya wandte sich mit einem Ruck von Irionne ab.
„Ich will, dass Ayrelie heimkommt“, sagte sie energisch, „nicht nur, weil wir Freundinnen sind, sondern auch, weil ich die Gefahr erkenne. Die Mittel dazu sind mir gleich. Ich denke lediglich, dass jemand, der Ayrelie fortzaubern konnte, nicht so leicht mit Hexerei überwältigt und getäuscht werden kann. Wir müssen auf andere Wege zurückgreifen.“
„Und was genau stellt Ihr Euch vor?“, hakte Jônes nach.
„Eine Entführung im klassischen Sinn“, erklärte sie, „sie finden und befreien – mit Zauberei, falls nötig, aber nicht nur. Jann hat es geschafft, den Kupferstern zu finden und zu bergen, obwohl er nicht hexen kann. Er könnte Ayrelie finden. Und wenn wir wissen, wo sie ist, dann wissen wir auch, wie wir sie retten können.“
„Er hat den Kupferstern aber nicht allein gefunden“, meinte Jônes bedächtig, „Acanà von Anabellánien war dabei. Sie ist eine Tisenit.“
„Trotzdem“, beharrte Vaya, „er weiß, wie es geht, und Ihr habt selbst gesagt, was er getan hat. Wir alle kennen die Geschichte von Rawenzan. Das war Jann, und nicht die Herrin von Anabellánien!“
„Niemals!“, schrie Irionne wieder empört, doch bevor sie weiter reden konnte, wurde sie von Jann höchstpersönlich unterbrochen.
„Vaya“, stieß er aus, „du bist vollkommen verrückt!“
Sein Tonfall war erschütternd. Er stand noch immer neben dem Opfertisch, kalkweiß und ungläubig.
„Du kannst dich nicht weigern!“, sagte Vaya drohend.
Er machte eine zornige Handbewegung.
„Darum geht es nicht!“, fauchte er, „ich begreife einfach nicht, wie du dir das vorstellst! Ihr habt alle keine Ahnung, wer Ayrelie verschleppt hat, und ihr sagt, die Gefahr ist groß. Und jetzt glaubst du, ich mache mich einfach auf den Weg und finde sie? Es hat sechs Jahre gedauert, den Kupferstern aufzuspüren!“
„Du musst eben diesmal schneller sein“, erwiderte sie kalt.
„Schneller!“, fuhr er auf, „ich weiß ja nicht einmal, wo ich anfangen sollte! Und wie ich das tun sollte! Acanà hat den Kupferstern gesucht, nicht ich! Sie hat Mittel und Wege gefunden, um an die nötigen Informationen zu kommen, nicht ich!“
„Ach ja“, meinte Vaya süffisant, „wie hat man dich genannt? Acanàs kleinen Schatten? Und das bist du wohl noch immer.“
Jann war bleich vor Zorn.
„Ich bin mehr als ihr Schatten“, stieß er hervor.
„Ist das so?“, spottete sie, „ich denke, du siehst dich immer noch als ihr schmückendes Beiwerk.“
„Und wenn?“, begehrte er auf, „wohl nicht unbedingt ein Grund, mich auf dieses Himmelfahrtskommando zu schicken!“
„Ich sagte, du siehst dich so!“, widersprach sie mit Nachdruck, „ich sehe es anders. Ich sehe, dass Ayrelie in Gefahr ist, und dass wir jemanden zu ihrer Rettung aussenden müssen, der vertrauenswürdig ist und kämpfen kann. Ich bin auch ein bisschen herumgekommen, Jann! Ich habe Steppenreiter kennengelernt, und ich habe mich mit der alten Dame von Galaminds Horst unterhalten!“
„Das ist Wahnsinn, Vaya!“, brüllte er, „nichts davon ist hiermit zu vergleichen!“
„Ich weiß zwar nicht, wovon ihr sprecht“, mischte sich Irionne ein, „aber ich finde auch, dass es Wahnsinn ist. Er soll Ayrelie retten? Das ist ein Witz! Er ist ja man gerade eine halbe Portion! Ich kann vermutlich besser kämpfen als er!“
„Er“, fauchte Vaya, „er hat Rawenzan getötet, du dummes kleines Ding!“
„Das ist richtig“, meinte Jônes nachdenklich, und Berreline nickte.
„Er hat einen harten Griff“, sagte sie leise.
„Verdammt, Vaya!“, Das war wieder Jann, und er zitterte vor Zorn.
„Sieh mich doch an!“, zischte er, „sieh mich doch an, verflucht! Ich war siebzehn! Siebzehn, Vaya! Glaubst du im Ernst, ich hätte Rawenzan im Zweikampf besiegen können? Er war über einen Kopf größer als ich, mehr als doppelt so alt und vermutlich dreimal so erfahren! Ich hatte Glück! Das war alles, ich hatte Glück! Und ich könnte schreien, weil auch du mit diesem leidigen Thema anfängst!“ Am Ende hatte er so laut gebrüllt, dass sogar Vaya etwas zusammengezuckt war.
Sie fing sich rasch.
„Aber er ist tot und du lebst“, stellte sie sachlich fest, „du kennst Thurán. Du hast gekämpft und gewonnen. Am Ende hast du dein Ziel erreicht!“
„Nach sechs Jahren! Sechs Jahre!“ Er wandte sich ab und fuhr dann wieder abrupt herum.
„Ich kann es nicht glauben!“, schnauzte er, „ihr ... ihr entführt mich, erzählt mir eine herzerweichende Geschichte, für die es keinerlei Beweise gibt, und verlangt von mir, dass ich alles aufgebe, was ich erreicht habe, um mich auf eine aussichtslose Suche zu begeben!“
„Wir verlangen gar nichts“, stellte Irionne mit Nachdruck fest, „Vaya hatte diese verrückte Idee!“
„Moment, Irionne“, mischte sich Jônes ein, „Vaya hat nicht Unrecht. Ein Zauberer, der Ayrelie entführen konnte, mag mit Hexerei tatsächlich nicht zu überwältigen sein. Es könnte wirklich sinnvoll sein, auf konventionelle Art und Weise herauszufinden, wo Ayrelie ist und sie zu befreien.“
„Aber ... dazu würden wir wirklich Jahre brauchen!“, stotterte sie verblüfft.
„Ich habe ja nicht gesagt, dass es ganz ohne Magie vonstattengehen muss“, meinte Jônes beschwichtigend, „du kannst doch ihren Spuren folgen, oder?“
„Fein“, erwiderte Irionne, „wenn es so sein muss, dann gehe eben ich. Dann schicken wir halt doch die Nizonen los.“
„Nichts für ungut“, wandte Berreline ein, „aber auch da hat Vaya nicht Unrecht. Du und die anderen Nizonen, ihr habt die Sümpfe nie verlassen. Ihr kennt die Welt außerhalb der Burg nicht. Ihr würdet auffallen. Jann Deren hingegen kennt Thurán.“
„Jann Deren will aber nicht!“, widersprach dieser vehement.
Vaya hob die Augenbrauen und wechselte die Taktik.
„Nun gut“, sagte sie, „hast du eben Angst. Dann, so schätze ich, fragen wir halt die Herrin von Anabellánien.“
„Acanà?!“, keuchte Jann.
„Natürlich“, entgegnete Vaya spöttisch, „immerhin hat sie den Kupferstern gesucht und gefunden, nicht wahr? Du hast es doch selbst so deutlich gemacht. Damit ist auch sie für diese Situation verantwortlich, und nach allem, was ich von ihr gehört habe, wird unser Bitte bei ihr nicht auf taube Ohren stoßen.“
Jann schloss für einen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete, war sein Blick eiskalt.
„Du bist ein Miststück, Vaya“, brachte er zwischen den Zähnen hervor.
Sie lachte trocken auf.
„Ist das so?“, stichelte sie, „dann hätte ich dich vielleicht doch nicht vor Jônes’ Opfermesser retten sollen, hm?“
Er holte tief Luft.
„Wie stellt ihr euch das überhaupt vor?“, fragte er.
Vaya wechselte einen Blick mit Jônes.
„Nun ja“, meinte dieser, „über Details wird noch zu reden sein. Aber ich glaube, es wäre keine dumme Idee, wenn einer von uns Euch begleiten würde. Jede Nizone kann der Spur ihrer Ersten folgen, wenn sie nur nahe genug dran bleibt. So müsste Ayrelie zu finden sein.“
„Gut“, sagte Jann grimmig, „dann muss man wenigstens nicht jeden Stein umdrehen.“
„Und ich denke, es ist auch klar, welche Nizone es sein wird, oder?“, meinte Berreline leise.
Irionne richtete sich auf.
„Wenn jemand geht, dann ich“, sagte sie von oben herab, „aber ich brauche ihn nicht. Ich kann das allein!“
Jann hob den Kopf und warf ihr einen Blick zu, den sie kalt erwiderte.
„Großartig“, murmelte er.
„Irionne beherrscht den Flammenzauber“, setzte Jônes hinzu, „sie kann in Kontakt zu uns treten. Wenn Ihr Ayrelie gefunden habt, können wir gemeinsam entscheiden, was getan werden muss. Ihr wäret nicht nur auf Euch gestellt.“
„Siehst du, Jann?“, meinte Vaya trocken, „es fügt sich doch alles ganz hervorragend.“
„Wirklich hervorragend“, erwiderte er sarkastisch, „wenn ich nein sage, darf ich dann trotzdem gehen?“
„Natürlich“, erklärte Vaya süßlich, „dann frage ich eben deine Acanà.“
Er hob nur einmal kurz die Augenbrauen und wandte sich ab, um ans Fenster zu treten. Vaya, die sehr zufrieden mit der Entwicklung des Abends zu sein schien, nahm im Sessel Platz und griff nach den Marmeladentörtchen. Irionne hingegen war sämtlicher Appetit vergangen.
„Warum er?“, fragte sie zornig, „warum muss er dabei sein?“
„Weil du, Liebes, wirklich keine Ahnung von der Welt außerhalb der Moore hast“, antwortete Berreline sanft, „und du brauchst einen Schutz, wenn du Ayrelie finden willst. Hier, auf der Burg, hätten Jônes und ich dir geholfen, aber dort draußen benötigst du jemand anderen, jemanden wie ihn. Und ihn haben wir zur Verfügung.“
Irionne schwieg mürrisch. Sie begann bereits, sich mit dem Gedanken zu arrangieren, Ayrelies Spuren zu folgen, auch wenn das sehr viel langwieriger und mühsamer werden würde als das ursprünglich geplante Ritual. Sich jedoch damit abzufinden, die Zeit der Suche in Gesellschaft ihres einstigen Opfers zu verbringen, der es gewagt hatte, Hand an Berreline zu legen, und behauptet hatte, niemand würde etwas von Ladokes Töchtern wissen, das war etwas völlig anderes.
Und außerdem, hätte sich nicht jeder vor Ehrfurcht überschlagen müssen, wenn man ihn mit der Rettung Ayrelies beauftragt hätte, anstatt rum zu schreien und zu zetern wie dieser Kerl? Jann Deren aber stand am Fenster, im Mondlicht, seinen lächerlichen Anhänger in der Hand und tat, als ginge ihn dies alles gar nichts mehr an.
Sich hier zu konzentrieren, wenn man die Blicke der anderen im Rücken spürte, fiel Jann nicht gerade leicht. Aber es war nötig. Er holte tief Luft, sandte seinen Ruf aus und war unglaublich erleichtert, als seine Gefährtin sofort antwortete.
‚Acanà?’
‚Jann! Wo bist du? Was ist passiert? Geht es dir gut?’
‚Es geht mir gut. Mach dir keine Sorgen. Wie geht es dir?’
‚Ich bin verrückt vor Angst, weil du verschwunden bist. Was ist los?’
‚Ich denke, man hat mich entführt.’
‚Entführt? Wer? Wohin?’
‚Acanà, hast du schon mal von Ladokes Töchtern gehört?’
‚Ladokes Töchter? Ich bin mir nicht sicher. Von Ladoke habe ich gehört.’
‚Das weiß ich. Ich bin in einer seltsamen Burg, bei Ladokes Töchtern. Mitten im Sumpf.’
‚Was wollen sie von dir?!’
‚Beruhige dich, bitte. Sie wollen, dass ich ihre Erste finde. Sie heißt Ayrelie.’
‚Den Namen kenne ich. Eine Sumpfhexe, nicht wahr?’
‚Was weißt du von ihr?’
‚Nicht viel mehr als das.’
‚Schade. Sie sagen, Ayrelie ist entführt worden, weil jemand an Ladokes Schätze herankommen möchte, und sie bewahrt das Wissen darüber.’
‚Sie bewahrt das Wissen über Ladokes Schätze? Ist das wahr?’
‚Ich schätze, ja.’
‚Dann kennt sie auch den Kupferstern?’
‚Davon ist auszugehen, ja. Aber sie hätte uns nichts davon erzählt. Ihre Aufgabe ist es, Ladokes Schätze zu bewahren, nicht sie zu verraten. Und nun wurde sie entführt.’
‚Weil jemand diese Schätze will.’
‚So scheint es. Ich soll sie finden und zurückbringen.’
‚Warum du?’
‚Weil ich das Pech hatte, erreichbar zu sein.’
‚Das ist Unsinn. Was hast du mit diesen Sumpfhexen zu schaffen? Sie sollen dich sofort zurückschicken! – Hörst du? Jann?’
‚Hm. Acanà, ich denke, ich werde es tun.’
‚Bitte? Warum?!’
‚Weil ... weil sie überzeugende Argumente haben.’
‚Sie zwingen dich?’
‚Nicht unbedingt. So kann man es nicht sagen.’
‚Was dann?’
‚Es ist etwas, was getan werden muss. Und ich denke, dass ich es kann.’
‚Jann, Liebster. Sei vernünftig.’
‚Würdest du ohne mich zurechtkommen? Für eine Weile?’
‚Ich ... nun ja. Ich könnte Thonash fragen.’
‚Das ist eine gute Idee.’
‚Aber warum willst du das machen?’
‚Ich sagte doch schon, es muss getan werden. Acanà, bitte. Ich hoffe, es wird nicht lange dauern.’
‚Mir gefällt das nicht. Ich würde mir die Leute gerne ansehen. Vielleicht belügen sie dich.’
‚Das glaube ich nicht. Vaya ist hier, und sie hat mich noch nie belogen.’
‚Vaya! Dareélles Tochter?!’
‚Ja.’
‚So.’
‚Acanà, es hat überhaupt nichts damit zu tun.’
‚Wenn du es sagst.’
‚Bist du eifersüchtig?’
‚Nein. Bestimmt nicht.’
‚Na klar.’
‚Warum sollte dich das freuen?’
‚Es ist süß.’
‚Himmel, Jann!’
‚Du hast keinen Grund dazu.’
‚Gut zu wissen.’
‚Aber es gefällt mir.’
‚Nutz es nicht aus!’
‚Bestimmt nicht, Liebes.’
‚Hmpf. Wissen sie, dass du mit mir sprichst?’
‚Nein. Sie reagieren so seltsam auf Ladokes Schätze, dass ich ihnen über die Kräfte des Kupfersterns lieber nichts sagen werde.’
‚Gut.’
‚Also wirst du ohne mich zurechtkommen?’
‚Ungern. Wohin soll dich deine Reise führen, Jann?’
‚Ich weiß es noch nicht. Sie schicken eine dieser Hexen mit mir, die soll die Spur aufnehmen. Ich bin für die Verteidigung zuständig.’
‚Es gefällt mir nicht.’
‚Sorge dich nicht so, ja? Es wird schon gut gehen.’
‚Hoffentlich. Versuch zumindest, dich zu melden, wann immer es geht.’
‚Das mache ich. Du musst es mir nicht extra sagen.’
‚Jann?’
‚Ja?’
‚Ich liebe dich so.’
‚Oh, Acanà, ich dich doch auch. Ich komme zurück, sobald ich kann.’
‚Versprochen?’
‚Versprochen. Ich werde immer zu dir zurückkommen.’
Er wandte sich vom Fenster ab, durch welches das Mondlicht über ihn hinweg in das düstere Turmzimmer fiel. Vier Augenpaare am Feuer sahen ihn an, eines spöttisch, zwei fragend und eines mörderisch.
Wenn er es nicht tat, würden sie Acanà fragen. Sie würden Acanà alles erzählen und ihr das kleine bisschen Frieden rauben, was sie sich erkämpft hatte. Vaya hatte Recht, Acanà würde nicht nein sagen.
Er seufzte ergeben.
„Also gut“, sagte er, „ich bin dabei.“
Seine Ankündigung kam nicht unerwartet. Er ignorierte Vayas triumphierendes Lächeln und wandte sich stattdessen Berreline zu, die ihre Scheu vor ihm verloren hatte und jetzt energisch bestimmte, man solle ihrem Gast erst einmal eine Erfrischung und ein Bad zu kommen lassen. Diese Aufgabe wurde einer zähneknirschenden Irionne übertragen. Vaya schien ihren Teil der Arbeit bereits als erledigt zu betrachten, und Jônes und Berreline wollten sich Gedanken über die Ausrüstung und die Feinheiten des Planes machen. Jann, der weder gegen ein Bad noch gegen einen Imbiss etwas einzuwenden hatte, folgte Irionne ohne Widerworte. Nun, nachdem die Entscheidung gefallen war, betrachtete er seine Umgebung mit anderen Augen und registrierte neugierig die seltsame Einrichtung der Burg und die für eine Festung dieser Art noch seltsamere Umgebung draußen. Er hütete sich jedoch, Irionne, die ihn abgrundtief zu verabscheuen schien, irgendwelche Fragen zu stellen, bevor er nicht in den Genuss von heißem Wasser und einer warmen Mahlzeit gekommen war. Erst als sie ihn nach einiger Zeit aus der kleinen Kammer wieder abholte, wandte er sich an sie.
„So“, sagte er auf dem Rückweg ins Turmzimmer, „du bist also eine Amazone, hm?“
„Ich bin eine Nizone“, gab sie kalt zurück, „mit deinen albernen Amazonen hat das nichts zu tun.“
„Was genau ist eine Nizone?“
„Ha! Und du willst Thurán kennen?“, schnaubte sie.
„Nicht jede Ecke, das habe ich nie behauptet“, sagte er friedfertig, „wenn ich von euch gehört hätte, hätte ich mich schön ferngehalten.“
„Und besser wäre es gewesen.“
„Das sagst ausgerechnet du?“, fragte er, „du hast mich doch hierher geholt!“
Er verstand ihre Antwort nicht genau, aber es klang ganz nach – der größte Fehler meines Lebens!
Er beschloss, darauf nicht weiter einzugehen.
„Und was ist jetzt eine Nizone?“, fragte er stattdessen.
„Eine Nizone“, antwortete sie von oben herab, „ist eine magisch begabte Kämpferin. Die Nizonen stellen die Leibwache der Ersten.“
„Der ersten von Ladokes Töchtern?“
„Wir sind alle Ladokes Töchter.“
„Schon klar. Jônes auch? Oder ist er Ladokes Sohn?“
„Ladoke hatte keine Söhne.“
„Oh, wirklich?“
„Was geht dich das an. Jônes ist auf der Burg geboren, so wie ich.“
„Also gibt es hin und wieder doch Söhne?“
„Natürlich gibt es die, aber sie heißen nicht so. Jônes ist für die Ausbildung zuständig, und er ist der oberste Ratgeber der Ersten.“
„Und die Erste ist deine Schwester.“
„Ayrelie. Ja.“
„Warum bist du es nicht geworden?“
Das war ein empfindlicher Punkt, vor allem nach den Geschehnissen der letzten Stunden. Sie wandte sich mit hochroten Wangen zu ihm um und musterte ihn kalt.
„Die Erste wird erwählt“, schnappte sie, „sie ist die Beste – und das war Ayrelie. Was fragst du überhaupt so viel?“
„Nichts für ungut, beruhige dich“, entgegnete er, „ich dachte nur, wenn wir zusammen auf die Suche nach deiner Schwester gehen sollen, sollten wir uns ein bisschen kennenlernen.“
„Falsch gedacht“, gab sie zornig zurück, „wir haben überhaupt nichts miteinander zu tun. Und ich denke, wir sollten den Kontakt untereinander auf ein Minimum beschränken.“
„Sehr ermutigend“, meinte er spöttisch, „wie stellst du dir das vor?“
„Sprich mich nicht an, wenn es nicht unbedingt notwendig sein sollte“, erwiderte sie kühl.
Sie hatten mittlerweile die Tür zum Turmzimmer erreicht, und Irionne zog sie auf. Drinnen saßen Vaya, Jônes und Berreline noch immer am Feuer und diskutierten.
„Ich hoffe nur, dass es funktioniert“, sagte Berreline besorgt, „und ich weiß auch nicht, ob wir eine so gute Wahl getroffen haben.“
„Wen meinst du?“, fragte Jônes, „Jann Deren oder Irionne?“
„Die beiden zusammen“, erwiderte Berreline, „Irionne hasst ihn, und er hat keine Ahnung von unseren Gepflogenheiten. Ob das gut geht?“
„Oh“, erklang Vayas trockene Stimme, „da macht Euch man keine Sorgen. Ehe sie Ayrelie gefunden haben, hat Irionne ihr Herz für ihn entdeckt. Jann besitzt ein Talent dafür.“
Irionne erstarrte auf der Treppe, der Atem stockte ihr vor Zorn und Scham. Vaya war wirklich ein Miststück!
Und es machte die Sache auch um nichts besser, als sie Janns leise Stimme hinter sich hörte.
„Ich weiß ja nicht“, murmelte er mit einem verhaltenen Lachen, „aber was das anbetrifft, bin ich alles andere als optimistisch.“
Zumindest nahm er genügend Rücksicht, um sie nicht mehr anzusprechen, bis sie den Sumpf hinter sich gelassen hatten. Die letzte Nacht auf der Burg konnte Irionne kaum schlafen. Die Sorge um Ayrelie, die unbestimmte Furcht vor der Abreise und der mehr oder minder unausgesprochenen Groll Jann und Vaya gegenüber hielten sie wach. Sie wusste deshalb, dass Vaya in dieser Nacht noch zu ihm gekommen war, aber nach den Worten der Moris-Enkelin hätte sie alles andere lieber getan als zu lauschen. Stattdessen zog sie sich die Kissen über den Kopf und versuchte verzweifelt, genügend zur Ruhe zu kommen, um wenigstens ein paar Stunden Schlaf zu ergattern. Jann Deren sah im Vergleich zu ihr beneidenswert frisch am Morgen aus, und das machte ihn ihr noch unsympathischer.
Die Boote brachten sie aus der Mitte der Moore hinaus, bis sie festen Boden unter den Füßen hatten und Pferde besteigen konnten. Irionne, die noch nie zuvor geritten war – wie auch, wenn man in einer Burg mitten im Sumpf groß wurde – gab sich große Mühe, ihr Unbehagen auf dem Rücken des Pferdes zu verbergen. Zumindest hatte sie ein großes Bündel mit ihren notwendigsten Habseligkeiten im Rücken, so dass sie nicht fürchten musste, hintenüber vom Ross zu kippen. Ein Teil des Gepäckes war auf Janns Pferd geladen worden. Er selber hatte außer seinem eigenen Messer nur noch einen scharfen Dolch sowie Pfeile und Bogen bei sich. Irionne trug ihre Waffen am Körper und warf ihm einen verächtlichen Blick zu. Jann Deren wirkte wie ein Junge, der zum Zelten aufbrach, und sie hatte erhebliche Zweifel daran, dass er sie würde schützen können, wenn es notwendig sein sollte.
Berreline und Jônes hatten sich nicht lumpen lassen und eine Menge an Ausrüstung bereitgestellt, woraus Jann mit gerunzelter Stirn seine Auswahl getroffen hatte. Irionne hatte sich ihre Sachen selber ausgesucht. Auf dem Rücken ihres Pferdes war deshalb im Gegensatz zu seinem ein kleines Zelt befestigt – und wenn er glaubte, sie würde dies mit ihm teilen, dann würde er noch sein blaues Wunder erleben. Ihr war immer banger zumute geworden, je weiter sie sich von der Burg entfernten. Um den Hals trug sie ihren Talisman, mit dessen Hilfe sie Ayrelies Spuren aufnehmen sollte, und es kam ihr so vor, als sei dieser kleine Beutel das einzige Vertrauenserweckende in einer feindlichen Welt. Ihr lag viel daran, Ayrelie so schnell wie möglich zu finden und heimzukehren.
Jann, der fast die gesamte Fahrt über geschwiegen hatte, sagte auch nicht mehr, als sie die Boote verließen und auf die Pferde wechselten. Er führte sein Tier ein gutes Stück aus dem morastigen Gebiet heraus, und Irionne folgte schweigsam. Sie war noch nie so weit von der Burg entfernt gewesen, und sie hasste bereits jetzt jede Minute ihrer Reise. Ein Stück außerhalb der Moore dann hielt er sein Pferd an.
„Was ist?“, schnauzte sie unfreundlich, um ihre Angst zu verbergen.
Er rollte die Augen gen Himmel.
„Du bist doch die Führerin“, erinnerte er sie, „also, wohin?“
Sie starrte ihn einen Moment lang an, obwohl sie wusste, dass er Recht hatte. Dann holte sie tief Luft und bemühte sich, alle Angst und alle Sorgen aus ihrem Kopf zu verbannen. Sie schloss die Augen und vergegenwärtigte sich Ayrelie. Man musste Jann zugutehalten, dass er sich nicht rührte und auch nicht sprach, bis sie die Augen wieder öffnete. In der feuchten Luft, zwischen Wasser und Schlamm hatte sie ganz fein die Spur ihrer Schwester wahrgenommen. Sie schluckte.
„Nach Süden“, kommandierte sie kühl.
„Nach Süden“, wiederholte er ergeben, wendete sein Pferd und folgte ihr.
So zogen sie aus, um eine entführte Zauberin und Bewahrerin einer gefährlichen Macht zu retten, und das, ohne zu wissen, wohin genau ihr Weg sie führen würde. Den Rest des Tages ritten sie schweigend, wobei Irionne über kurz oder lang die Erfahrung machte, dass ein ungeübter und ungewohnter Reiter den Preis für diese Strapazen zu zahlen hatte. Sie hielt eisern bis zum Abend durch, und es gelang ihr auch, nicht einmal während dieser Zeit das Wort an Jann zu richten. Erst, als die Sonne im Sinken begriffen war und der Mond sich am Horizont zeigte, zügelte sie ihr Pferd – ein braves, ruhiges Tier, von Jônes mit Bedacht ausgesucht – und hielt inne, unsicher, was sie jetzt tun sollte. Jann war ihr die ganze Zeit schweigend gefolgt. Jetzt stoppte er neben ihr.
„Sollen wir hier rasten?“, fragte er freundlich.
„Wenn du meinst“, gab sie schroff zurück und machte sich an die Qual des Absteigens. Himmel, jeder Muskel in ihrem Leib schmerzte. Sie war sich gar nicht mehr sicher, ob sie überhaupt noch Haut an ihrem Allerwertesten hatte. Mühselig landete sie auf dem Boden und griff nach dem auf dem Rücken des Tieres festgezurrten Bündel.
Jann beobachtete sie einen Moment ohne ein Wort, dann schwang auch er sich herunter und trat zu ihr.
„Lass mich das doch machen“, sagte er sanft.
Sie riss ihm die Schnüre aus der Hand.
„Danke“, erwiderte sie kalt, „ich komme zurecht!“
Sie zerrte das Bündel vom Pferd und schleifte es über dem Boden, bevor sie es ächzend fallen ließ. Oh je, die Aussicht, jetzt ein Zelt errichten und Feuer machen zu müssen, war alles andere als verlockend. Entmutigt starrte sie auf das Bündel und bemerkte nicht einmal, wie er die Pferde absattelte und zum Trinken an einen kleinen Bach führte. Sie ging steif in die Hocke und begann, ihr Bündel aufzubinden. Als Jann neben ihr niederkniete, schrak sie zusammen.
„Du bist dies nicht gewohnt“, meinte er leise, „ruh dich ein bisschen aus.“
„Unsinn!“, zischte sie. Sie wagte es nicht aufzusehen, weil er die verräterischen Tränen der Erschöpfung gesehen hätte, die so verdammt lose saßen.
„Irionne ...“
„Nein!“
„Hör mal“, er ließ von dem Bündel ab und setzte sich auf die Fersen, „Irionne. Wir werden notgedrungen die nächsten Wochen miteinander auskommen müssen. Glaubst du, du könntest es vielleicht über dich bringen, mich nicht wie einen Aussätzigen zu behandeln?“
Sie schluckte die Tränen hinunter und hob stolz den Kopf.
„Ich weiß nicht, was du meinst“, sagte sie von oben herab.
„Nicht? Was habe ich dir eigentlich getan? Jedes Mal, wenn ich dir nahe komme, verziehst du das Gesicht, als würde ich schlecht riechen.“
„Vielleicht tust du das ja“, entgegnete sie unwirsch.
Jann gab ein resigniertes Lachen von sich.
„Also gut, ich werde mich waschen. Aber lass mich wenigstens das Zelt für dich aufbauen, in Ordnung?“
„Ich kann es selber.“
„Meinetwegen“, sagte er, „dann musst es ja auch nicht mehr unter Beweis stellen. Ich hingegen habe es auf die langsame und blutige Art gelernt und bin immer noch nicht sicher.“