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Thurán ist eine mittelalterliche Welt voller fremdartiger Geschöpfe und Zauberei. Sie untersteht der Obhut der Schwestern Weega und Cassiopeia, die allerdings nur auf bestimmte Art und Weise in das Schicksal ihrer Schutzbefohlenen eingreifen. Um auf Thurán überleben zu können, muss man manchmal zu ungewöhnlichen Mitteln greifen. Nach Janns Rückkehr zu Acanà ist ihnen bewusst, dass Thurán sich einer gefährlichen Bedrohung ausgesetzt sieht, die es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt. Um ein notwendiges Bündnis zu erkaufen, muss Jann jedoch zunächst das größte Opfer selber bringen. Jahre später brechen seine Kinder Nycas und Mia mit dem Ziel auf, ihn zurückzuholen, und damit wird eine neue Kette von Ereignissen in Gang gesetzt, die zu dem bisher gefährlichsten Wagnis führen. Es bedarf eines ungewöhnlichen Schrittes, um mehr über den Feind zu erfahren: Jann und Nycas wechseln die Welten… Weltenringen ist der dritte und letzte Band der abgeschlossenen Fantasytrilogie " Die Sänger von Thurán".
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Seitenzahl: 1162
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© 2020 Anderland Books
12105 Berlin
ISBN 978-3-96977-004-7
3. Auflage
Alle Rechte vorbehalten
Tag der Veröffentlichung 24.08.2020
Titelbild: Aleksandra Galert
Einführung
Prolog: Ringen in Anabellánien
1. Teil: Ringen um Legenden
2. Teil: Ringen in Bergen und Tälern
3. Teil: Ringen am Ursprung
4. Teil: Ringen zwischen den Welten
5. Teil: Ringen um Glauben
6. Teil: Ringen um Thurán
Epilog: Errungenschaften
Anhang
Danksagung
Personenverzeichnis
Begriffsverzeichnis
Länder- und Gebietsverzeichnis
Karten
Wir befinden uns auf Thurán, einer mittelalterlichen Welt, in der Menschen, Elfen, Zauberer und fremdartige Wesen mehr oder minder friedlich nebeneinander leben. Sie steht unter der Schirmherrschaft der Schwestern Weega und Cassiopeia. Die Schwestern greifen jedoch nur auf bestimmte Art und Weise in die Geschicke ihrer Schützlinge ein: Cassiopeia wählt stets ein Wesen Thuráns aus, das in ihrem Namen für die Gerechtigkeit sorgt, wohingegen Weega alle hundert Jahre einen Schüler ernennt, der für sie die Wahrheit durch Thurán tragen soll.
Für Cassiopeia reitet derzeit Aruna die Waise, und die jetzige Schülerin Weegas ist ihre Jugendfreundin Acanà, die Herrin von Anabellánien.
Es ist ungefähr vier Jahre her, dass die Zauberin Elecandra vor dem Palast in Anabellánien auf so spektakuläre Weise verschwand und damit eine Kaskade von Ereignissen in Gang setzte. Jann Deren, Acanàs junger Gefährte, hatte den Auftrag der Sumpfhexen erfüllt und ihre Anführerin aus dem Kerker befreit, in dem sie auf Oldo Rovadáns Befehl hin gefangen saß. Doch dadurch stellte sich plötzlich heraus, dass alles, was in den letzten sieben Jahren geschehen war, einem weitaus größeren Plan diente als bisher vermutet. Die Besetzung Anabellániens, Acanàs und Janns langer Kampf um dessen Befreiung sowie die Entführung der Sumpfhexe waren nur Mittel zum Zweck. Oldo Rovadán wollte von Anfang an Ladokes Schatz erobern – die Werke jenes vor tausend Jahren gestorbenen Magiers, die so gefährlich sind, dass er sie selbst für immer verbergen wollte. Oldo ist zwar mittlerweile tot, ermordet durch seinen eigenen Bruder, aber damit ist die Gefahr nicht gebannt. Es gibt eine Macht außerhalb Thuráns, welche die Schwestern selbst bedroht, und es war nicht ihr erster Versuch, Thurán zu erobern. Der Feind, in dessen Auftrag Oldo handelte und unter dessen Befehl Elecandra steht, ist noch lange nicht geschlagen.
Dank Elecandra sind Jann, Acanà und ihre Freunde nun gewarnt, und sie wollen nicht tatenlos auf den nächsten Angriff zu warten. In den letzten Jahren haben sie sich bemüht, Thurán zu wappnen, seine Bewohner vorzubereiten, und alles in ihrer Macht Stehende zu versuchen, um die Gefahr beim nächsten Mal für immer zu beenden. Aber ihre Mittel sind begrenzt, und die meisten Leute reagieren mit Unglauben auf die Nachricht, es gäbe noch andere Welten außer der ihren, und aus einer von ihnen käme zudem eine ernst zunehmende Bedrohung für die Schwestern und damit für ganz Thurán.
An einem milden, wunderbar sonnigen Frühlingstag ritten zwei Menschen durch die Straßen Brinans, der Hauptstadt Anabellániens, und hielten auf den Hellen Palast zu. Anabellánien galt als das Land der Zauber, als Kleinod Thuráns, und wenn man Interesse daran gehabt hätte, hätte man leicht staunend stehenbleiben können, die Farbenpracht der Gärten, die Schönheit der Seen und Haine oder auch nur die strahlende Einzigartigkeit Brinans selber bewundernd.
Diese zwei Menschen jedoch hatten kein Interesse daran. Sie waren gerade lebhaft damit beschäftigt, sich zu streiten.
„Eine Schnapsidee“, fauchte Bovyn, der Ältere, „reine Zeitverschwendung, wenn du mich fragst!“
„Müssen wir schon wieder damit anfangen?“, erwiderte seine Schwester Sonalah genervt, „seit Wochen kennst du kein anderes Thema. Wenn du nicht einverstanden warst, warum bist du dann überhaupt mitgekommen?“
„Hätte ich dich allein über Thurán ziehen lassen sollen?“, empörte er sich.
Sonalah warf die langen Haare nach hinten.
„Vielleicht wäre das besser gewesen“, gab sie fauchend zurück, „zumindest hätte ich dann meine Ruhe gehabt!“
„Ruhe, pah!“, schnaubte er, „auf dem Weg nach Tadschinin wärst du, jawohl! Oder glaubst du, Räuber hätten sich von einem höflichen Lächeln und einem freundlichen Knicks vertreiben lassen?“
„Es war nur eine Räuberbande, und sie haben nur einmal versucht, uns zu überfallen“, antwortete sie mit einem Augenrollen, „schließlich haben wir uns Händlern angeschlossen, wo wir nur konnten. Und ich habe nicht gesehen, dass du dich durch besondere Heldentaten hervorgetan hast!“
„Zumindest habe ich nicht heulend vor Angst in der Ecke gesessen!“
Damit hatte er Recht, doch Sonalah war nicht gewillt, nachzugeben.
„Na und?“, erwiderte sie, „gerettet hast du mich auch nicht gerade. Außerdem hätte Irionne mir bestimmt einen Schutz mitgegeben, wenn ich darum gebeten hätte.“
„Irionne!“, fuhr Bovyn auf, „der haben wir diesen Schlamassel überhaupt zu verdanken!“
„Irionne ist wohl kaum schuld an dem, was zu Hause vorgefallen ist!“, zischte sie entrüstet, „außerdem warst du auch der Meinung, wir sollten sie um Hilfe bitten!“
„Bevor ich wusste, dass sie uns gar nicht helfen will, sondern uns stattdessen durch halb Thurán schicken wird!“, schnaubte er.
„Sie hat gesagt, es ist wichtig!“, beharrte sie, „sie hat gesagt, wir müssen Acanà von Anabellánien informieren!“
„Und warum, glaubst du, sollte Acanà von Anabellánien überhaupt Interesse daran haben, uns zu helfen?“, fragte er sarkastisch.
„Von Hilfe hat Irionne nichts gesagt“, gab Sonalah zu, „nur, dass wir es berichten sollten.“
„Ich sehe es nicht ein“, murrte Bovyn, „ich wollte bloß einen Zauber, und wieder heim. Stattdessen schickt man uns hierher – um die Herrin von Anabellánien zu informieren, die sich bestimmt einen feuchten Dreck um unsere Sorgen schert!“
„Sie ist immerhin Weegas Schülerin“, widersprach seine Schwester, „es kann ihr nicht völlig egal sein.“
„Pah“, meinte er herablassend, „davon bin ich alles andere als überzeugt. Und ich verstehe dich nicht. Du hast Irionne nicht einmal nach den Gründen gefragt! Was hätte ich denn da anderes tun sollen, als dir zu folgen?“
Sonalah schwieg. Es stimmte, die Sache war merkwürdig. Irionne hatte sich ihre Sorgen angehört, und, anstatt zu helfen, die Geschwister nach Anabellánien weitergeschickt – und sie, Sonalah, hatte ohne zu zögern ja gesagt, ohne zu fragen, ohne zu argumentieren. Sie wusste selber nicht so genau, warum sie das getan hatte.
„Das ist doch jetzt unwichtig“, sagte sie schließlich, „wir führen diese Diskussion seit Wochen. Und jetzt sind wir so gut wie da. Wie wäre es, wenn wir Acanà von Anabellánien erst einmal treffen und uns danach weiter streiten?“
Bovyn runzelte die Stirn, aber dann zuckte er mit den Achseln.
„Also gut“, gab er nach, „hören wir uns an, was diese Frau zu sagen hat. Und dann sehen wir weiter.“
Sonalah antwortete nicht mehr darauf. In Gedanken war sie noch immer auf der Burg der Sumpfhexen, mitten in den Mooren, und sie sah vor ihrem geistigen Auge das Gesicht der Ersten von Ladokes Töchtern. Irionne hatte sorgenvoll ausgesehen, und ihre Worte waren mehr als kryptisch gewesen – soweit hatte Bovyn Recht. Die gesuchte Hilfe hatten die Geschwister nicht erhalten, sondern stattdessen ein ungutes Gefühl, wie eine Vorahnung, wie eine Beklemmung. Sonalah hatte die unangenehme Vermutung, dass Irionne ihre Bitte weitaus ernster genommen hatte, als Bovyn dies eingestehen wollte. Und noch etwas war seltsam gewesen. Als sie schon im Gehen begriffen waren, hatte die Sumpfhexe sie noch einmal zurückgehalten und hastig ein paar Worte angefügt, bei denen ihr Gesicht plötzlich ganz anders gewirkt hatte als zuvor – viel sanfter, und viel verletzlicher. Sonalah war sich nicht im Klaren, wie sie diese Episode einordnen sollte, und sie grübelte noch immer darüber nach, während sie die Tore zum Palast erreichten. Dabei waren Irionnes Worte nichts Besonderes gewesen. Sie hatten schlicht und einfach gelautet – und wenn ihr dort seid, dann grüßt mir Jann Deren.
Und wer Jann Deren war, das wusste doch praktisch jeder auf Thurán.
Am Hellen Palast angekommen gestaltete sich ihre Sache nicht viel leichter. Sie mussten ihre gesamte Überzeugungskraft aufbringen, um an den Wachen vorbei zumindest auf das Gelände zu gelangen, und in der Vorhalle war ihr Weg wieder zu Ende. Ein älterer, grimmig wirkender Herr fing sie ab und fragte empört, was sie hier verloren hatten.
„Wir wollen zu Acanà von Anabellánien“, erwiderte Bovyn.
Der ältere Herr musterte sie, als ob sie ein Paar giftiger Insekten wären.
„Ihr wollt was?“, fragte er ungläubig.
„Zu Acanà von Anabellánien“, wiederholte Bovyn mit einem Hauch Schärfe in der Stimme, „und wer seid Ihr überhaupt?“
Der Herr richtete sich zu seiner vollen Körpergröße auf.
„Mein Name ist Inotaj“, sagte er steif, „ich bin der Palastmeister. Wenn ihr eine Audienz bei der Herrin wollt, dann gebt mir eure Namen und eure Unterkunft in Brinan, und ich lasse euch benachrichtigen.“
Sonalah hätte sich damit vermutlich zufrieden gegeben, aber Bovyn, der ja im Grunde überhaupt nicht hier sein wollte, verlor endgültig die Geduld.
„Wir können nicht warten!“, sagte er scharf, „und wir betteln auch nicht um eine Audienz!“
„Die Herrin“, wurden sie kalt informiert, „ist in einer Besprechung und darf nicht gestört werden. Wenn ihr mir eure Namen gebt ...“
„Habt Ihr mich nicht verstanden?“, unterbrach Bovyn rüde, „wir sind Wochen durch Thurán gereist, um hierherzukommen, und ich wollte längst wieder zu Hause sein! Ich habe nicht die Absicht, jetzt auch noch eine Ewigkeit auf eine Audienz zu warten!“
Er trat drohend vor, so dass Sonalah erschrocken nach seinem Arm griff. Aber sie reagierte zu spät. Inotaj war bereits zurückgewichen und betätigte hastig einen Klingelzug.
„Wenn ihr euch nicht gedulden könnt, dann seid ihr umsonst gekommen“, sagte er mit einem schrillen Unterton, „man kann die Herrin von Anabellánien nicht einfach so belästigen! Was fällt euch ein?“
„Wir wollen doch nur ...“, begann Sonalah rasch.
Sie wurde durch den Eintritt eines weiteren Mannes in die Halle unterbrochen. Dieser war groß, schlank, dunkelblond – und bewaffnet.
„Inotaj?“, sagte er fragend.
Der Palastmeister fand seine Gelassenheit wieder.
„Wir haben zwei Eindringlinge hier“, erklärte er würdevoll, „sie akzeptieren die Regeln nicht, sie wollen unter allen Umständen zur Herrin. Vielleicht sind es sogar Attentäter?“
Der blonde Mann schien dies nach einem Blick auf die Geschwister zu bezweifelnd, aber Sonalah wollte lieber kein Risiko eingehen.
„Wir sind keine Attentäter!“, rief sie beschwörend, „uns schickt die Erste Tochter Ladokes mit einer Nachricht an die Herrin von Anabellánien!“
Der Mann fuhr zu ihr herum.
„Irionne schickt euch?“, fragte er verblüfft.
Sonalah errötete unwillkürlich.
„Ja“, sagte sie, „es ... es schien ihr sehr wichtig zu sein.“
Einen Moment lang fixierte der Blick des Mannes sie nachdenklich, und sie schluckte krampfhaft. Auch Bovyn hatte seine Arroganz verloren und verlagerte unruhig das Gewicht von einem Fuß auf den anderen.
„Ist das so?“, fragte der Mann langsam.
Sonalah nickte heftig.
„So ist es“, antwortete sie, „verzeiht meinem Bruder, aber es ist wirklich wichtig. Wir können nicht warten. Irionne wollte uns nicht einmal ein paar Tage rasten lassen, sondern bestand darauf, dass wir uns sofort auf den Weg machten.“
Und sie, Sonalah, hatte auch dagegen erstaunlicherweise nichts einzuwenden gehabt.
Der blonde Mann und der Palastmeister tauschten einen Blick, die Miene des einen unlesbar, die des anderen mit einem sorgenvollen Stirnrunzeln.
„Ich kann sie jetzt aber wirklich nicht stören“, gab der Palastmeister zu, sichtlich besänftigter, „ich habe keine Ahnung, wie lange es noch dauert.“
„Dann ...“ Sonalah überlegte fieberhaft. Sie wollte nicht wieder unverrichteter Dinge den Palast verlassen – was, wenn man sie beim zweiten Mal gar nicht so weit vordringen ließ?
„Dann ... könnten wir dann vielleicht mit Jann Deren sprechen?“, fragte sie hastig.
Wieder sahen sich Palastmeister und blonder Mann an, bis Letzterer sich umwandte und sie streng fixierte.
„Warum wollt ihr das?“, hakte er nach, „wo eure Nachricht doch der Herrin gilt?“
Sonalahs Gesichtsfarbe vertiefte sich noch ein bisschen. Sie wusste schließlich, wer Jann Deren war, und dass man hier vermutlich auch nicht einfach so zum Schatten der Herrin vorgelassen wurde, doch sie holte tapfer Luft und antwortete: „Weil Irionne mir Grüße für ihn aufgetragen hat. Wir ... wir könnten doch schon einmal mit ihm sprechen, während wir darauf warten, dass die Herrin Zeit für uns hat, oder?“
„Grüße, so“, murmelte der Mann, „nun denn.“
Es war einen Moment lang still, dann räusperte sich Inotaj.
„Niturio?“, fragte er leise.
Der blonde Mann hob den Kopf und biss sich auf die Lippen.
„Ich weiß, was wir mit ihnen tun“, erklärte er entschlossen, „Inotaj, benachrichtigt die Herrin, sobald sie fertig ist. Ich nehme die Zwei mit in den Garten, dort können sie warten. Wenn Irionne sie mit einer wichtigen Botschaft schickt, dann sollten wir das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Man weiß ja nie, was dahinter steckt.“
Bovyn hatte seine Gelassenheit noch nicht wiedergefunden, als sie dem Mann namens Niturio folgten, und so plapperte Sonalah hastig drauf los.
„Wir wollten nicht unhöflich sein“, erklärte sie, „wir kennen Eure Gebräuche nicht, aber wir sind schon so lange von zu Hause fort, und es ist wirklich wichtig für uns.“
„Schon in Ordnung“, sagte Niturio, „jetzt seid ihr ja hier. Acanà wird kommen, sobald sie Zeit hat.“
„Danke“, erwiderte sie, „und bitte, verzeiht uns, falls wir uns ungebührlich betragen haben. Bringt Ihr uns zu Jann Deren?“
Niturio warf ihr einen forschenden Blick zu und schien sich über ihre erhitzten Wangen zu amüsieren.
„Mal sehen“, sagte er, „ich bringe euch zumindest dorthin, wo man ihn finden könnte. Ihr habt bestimmt Hunger und Durst, oder? Ein bisschen Ruhe kann nicht schaden.“
„Natürlich nicht“, gab sie bereitwillig nach.
„Wenn es nicht zu lange dauert“, brummte Bovyn.
Niturio lachte spöttisch auf.
„Wenn man wochenlang durch Thurán gereist ist, kommt es ja wohl auf ein paar Momente nicht mehr drauf an, oder?“, entgegnete er ironisch.
Sonalah hielt lieber ihren Mund dazu, und Bovyn schien es ähnlich zu sehen. Niturio führte sie durch eine zweiflügelige Glastür, und dann standen sie in den Gärten.
Für den Moment verschlug es ihnen die Sprache. Die Gärten Anabellániens waren bis an die Grenzen Thuráns bekannt. Einst hatte die Elfe Mirja, Frau des verstorbenen König Gajs, sie angelegt und gehütet, und man sah ihre Hand in jedem Zweig, in jeder Blume. Der Weg durch dieses Land allein war schon atemberaubend gewesen, doch vor dieser Pracht, vor dieser Schönheit verblasste sogar das. Sonalah fühlte sich, als ob sie plötzlich in ein Märchen geraten wäre. Anmutige, schlanke Bäume standen um eine sonnendurchflutete Lichtung, spendeten zarten Blumen und Büschen ihren Schatten, süße Vogelstimmen erklangen, Schmetterlinge flatterten durch die Luft – und zur Krönung des Ganzen saß mitten auf der Lichtung ein kleines Mädchen mit glänzenden schwarzen Locken und blitzblauen Augen und spielte selbstvergessen.
„Ohhh“, machte Sonalah, sobald sie ihre Stimme wiedergefunden hatte, und trat unwillkürlich einen Schritt auf die Kleine zu. Aber im nächsten Moment sprang aus dem Nirgendwo ein vielleicht vierjähriger Junge hervor, baute sich vor ihnen auf und beschoss sie mit einem Miniaturpfeil.
„Zurück!“, verlangte er empört, „verschwindet! Hände weg!“
Sonalah blieb verblüfft stehen, Bovyn runzelte die Stirn, und Niturio gab ein spöttisches Schnauben von sich, während weiter hinten aus dem Garten eine mahnende Stimme erklang.
„Nycas! Benimm dich!“
Zwischen den Blumen und Sträuchern erschien ein älterer dunkelhaariger Junge, auf seiner Hüfte ein weiteres kleines Mädchen mit langen, glatten Haaren, und schüttelte tadelnd den Kopf.
„Entschuldigt“, sagte er, „wir haben gespielt.“
„Na klar“, erwiderte Niturio grinsend.
Der Dunkelhaarige lächelte und verlagerte das Gewicht der Kleinen in seinen Armen.
„Ein Sack Flöhe ist leichter zu hüten“, gab er zu, „zumindest ist Maja lieb. Mia war schon wieder am Teich. Wie kann ein so kleines Ding bloß so schnell laufen?“
„Ich kann schneller laufen!“, krähte der Junge namens Nycas.
„Und ob ich das nicht wüsste“, seufzte der Ältere, „so, Nycas, jetzt ist es genug. Leg deinen Bogen weg, das Spiel ist vorbei. Niturio, ich sehe, du bist in Begleitung?“
„Ja“, sagte Niturio, „diese Zwei hier wollten unbedingt zu Acanà, aber sie ist noch beschäftigt. Also habe ich sie stattdessen hierher gebracht.“
„Mein Name ist Sonalah“, sagte Sonalah, sich von ihrer Überraschung erholend und an ihre Manieren erinnernd, „mein Bruder Bovyn und ich kommen direkt aus den Tiefen Sümpfen. Aber ursprünglich stammen wir vom Ufer des Kán.“
„Irionne schickt sie“, fügte Niturio hinzu.
Der Dunkelhaarige hob die Brauen.
„Ist das so?“, meinte er nachdenklich.
Sonalah räusperte sich.
„Ja“, erklärte sie, „wir wollten eigentlich nur die Hilfe der Sumpfhexen. Aber Irionne meinte, wir sollten lieber hierherkommen – und das haben wir auch getan. Leider ist die Herrin verhindert.“
„Das ist sie in der Tat“, stimmte der Dunkelhaarige ihr zu, „und es kann wohl noch ein bisschen dauern. Wollt Ihr nicht Platz nehmen?“
„Mit Verlaub“, meldete sich Bovyn, der ganz und gar nicht beschwichtigt war, „wir haben wenig Zeit.“
Sonalah musste ihm Recht geben.
„Das stimmt“, sagte sie bedauernd, denn sie wäre zu gerne weiter hiergeblieben, in diesem bezaubernden Garten mit den entzückenden Kindern.
„Unsere Zeit ist knapp“, setzte sie hinzu, „eigentlich hatten wir gehofft, zumindest Jann Deren zu treffen. Kannst du uns vielleicht sagen, wo wir ihn finden?“
Einen Augenblick lang war es still. Niturio lachte spöttisch auf, und der Junge sah sie resigniert an. Dann seufzte er.
„Ja, das kann ich“, erwiderte er, „ich bin Jann Deren.“
„Ich ... ich ... Verzeihung ...“, stammelte Sonalah bestürzt. Bovyn gab einen ungläubigen Laut von sich, und Niturio lachte wieder.
„Beruhigt euch“, sagte er spottend, „Jann ist das gewohnt. Ist es nicht so, mein Freund?“
„Hm“, erwiderte dieser unbestimmt. Das kleine Mädchen auf seinen Armen begann zu zappeln, und er setzte sie vorsichtig ins Gras.
„Es ... es tut mir wirklich leid“, beteuerte Sonalah, deren Wangen mittlerweile förmlich glühten, „ich hatte nur nicht ... ich meine, ich dachte ... Ihr seid immerhin ... und Ihr ...“
„Schon in Ordnung“, unterbrach sie Jann, der allmählich Mitleid mit ihr bekam, „Niturio hat Recht, es passiert mir nicht zum ersten Mal. Obwohl ich die Hoffnung nicht aufgegeben habe, solche Missverständnisse würden mit der Zeit seltener werden. Immerhin ist es schon länger nicht geschehen.“
„Anabellánien kennt dich“, sagte Niturio sofort, „und wenn du durch Thurán reist, ist stets Acanà dabei. Finde dich damit ab, Jann. Du bist einfach zu hübsch und zu harmlos für deinen Ruf.“
„Danke“, sagte Jann, „aber auch ich werde älter. Eines Tages wird man es sehen.“
„Zu dumm, dass den Bauern von Raja kein Bart wächst“, hänselte Niturio, und Jann musste unwillkürlich lachen.
„Zu dumm“, gab er zu, „und jetzt ist es genug. Sonalah, Bovyn, willkommen in Brinan. Wollen wir uns nicht setzen? Wir haben lange nichts von Irionne gehört und sind begierig auf Neuigkeiten.“
Er ließ sich an einem Tisch in der Nähe nieder und machte eine auffordernde Handbewegung. Bovyn setzte sich als Erstes in Bewegung, und Sonalah folgte zögernd, das Gesicht noch immer knallrot.
Bovyn hingegen sah es entspannter.
„Ihr seid wirklich Jann Deren?“, hakte er nach, sobald er Platz genommen hatte, „ich meine – der Jann Deren?“
„Wie er leibt und lebt“, spottete Niturio, und Jann verdrehte die Augen.
„Ja“, sagte er, „der bin ich, und dies sind meine Kinder, bevor ihr weiter fragt. Nycas, Maja und – Mia! Komm weg vom Wasser!“
Das kleine Mädchen mit den langen dunklen Haaren hatte sich gefährlich nah über einen kleinen Tümpel gebeugt. Es warf nur kurz einen Blick über die Schulter und starrte dann weiter in die Tiefe. Niturio stand auf, ging hinüber und hob die Kleine auf, um sie neben ihre brave Schwester zu setzen.
„Sei lieb!“, meinte er warnend.
Mia blinzelte zu ihm hoch, und es schien, als ob das Kind ihn genauso wenig für voll nahm wie den eigenen Vater. Zumindest blieb sie für den Moment, wo sie war. Ihr älterer Bruder hingegen schenkte ihr keine Aufmerksamkeit, ganz so, als sei er an ihre Eskapaden gewöhnt. Er zerrte stattdessen an Janns Hose und wurde belohnt, als sein Vater ihn geistesabwesend hoch nahm und auf seinen Schoß setzte.
„Ihr kommt von Irionne“, sagte Jann, „wie geht es ihr? Was will sie?“
„Dich grüßen lassen“, sagte Niturio mit einem Hauch Giftigkeit.
Jann sah erstaunt zu ihm auf, und er seufzte und räusperte sich.
„Schon gut“, meinte er, „Jann, ich muss los. Wirst du nachher noch kommen? Du hast es ihnen versprochen.“
„Ich komme“, erwiderte Jann, „willst du nicht bleiben und hören, was sie zu berichten haben?“
„Ich würde gerne“, erklärte Niturio, „aber ich kann nicht. Wenn du kommst, kannst du mir erzählen, wie es Irionne geht.“
„In Ordnung“, sagte Jann, „Tajla und Quinna holen gleich die Kinder, dann mache ich mich auf den Weg. Ich habe es nicht vergessen.“
„Sie warten schon auf dich“, erinnerte ihn Niturio noch einmal, bevor er wieder durch die Tür verschwand.
So blieben Sonalah und Bovyn, zwei junge Leute aus einem bis dato unbedeutenden kleinen Dorf am Kán, mit Jann Deren und dessen Kindern in den Gärten der Herrin Mirja mitten im Land der Zauber zurück.
„Ähm“, räusperte sich Bovyn, als Sonalah weiterhin verlegen schwieg, „entschuldigt unseren Fehler vorhin. Aber, mit Verlaub, Ihr seht wirklich nicht alt genug aus, um Vater dieser Kinder zu sein.“
„Ich“, erwiderte Jann gelassen, „habe schon immer jünger ausgesehen, als ich wirklich bin. Und Niturio hatte Recht, es passiert mir nicht zum ersten Mal. Also, kein Grund zur Beunruhigung. Was führt euch nach Anabellánien? Seid ihr Reisende? Sänger? Der Kán ist ziemlich weit weg.“
„Wir sind keine Sänger“, erklärte Bovyn, „unsere Eltern sind Bauern am Kán.“
„Ah, Bauernkinder“, meinte Jann verständnissinnig, „das kenne ich.“
Und auf ihren erstaunten Blick hin setzte er hinzu: „Ich bin selber eines. Meine Familie lebte in Raja.“
Sonalah erinnerte sich daran, jetzt, wo er es sagte. Jann Deren, der Schatten der Herrin von Anabellánien, war einst ein simpler Bauernsohn aus Raja gewesen. Sie fühlte sich spontan ein bisschen wohler.
„Bei uns zu Hause ist etwas vorgefallen“, sagte sie leise, „nichts besonders Schlimmes, aber – ungewöhnlich. Und ärgerlich. Wir wollten die Sumpfhexen um Hilfe bitten.“
„Unsere Mutter hatte von Ladokes Töchtern gehört“, fügte Bovyn an, „bis vor ein paar Jahren wusste ja praktisch niemand von ihnen, aber seitdem Irionne die Erste ist, hat sich das geändert.“
„Ich weiß“, meinte Jann grinsend, „die gute Irionne. Hat ihre Burg ganz schön auf den Kopf gestellt.“
Sonalah fand, dass das eine ziemlich respektlose Art und Weise war, von den Sumpfhexen zu sprechen, doch sie hütete sich, ihn zu tadeln.
„Leider konnte uns die Erste nicht helfen“, sagte sie stattdessen, „sie hat uns hierher geschickt, damit wir Acanà von Anabellánien berichten, was bei uns geschehen ist.“
„Oh“, jetzt sah Jann plötzlich sehr interessiert aus, „und was genau ist bei euch geschehen?“
Bovyn und Sonalah tauschten einen Blick. Eigentlich hatten sie die strenge Auflage bekommen, nur mit Acanà selbst zu sprechen – aber ob dieses Verbot auch deren Gefährten mit einbezog, war nicht ganz klar. Sie zögerten beide. Der kleine Junge auf Janns Armen gähnte und kuschelte sich an seinen Vater, und das Mädchen mit den glatten Haaren kam stolpernd wieder auf die Beinchen.
Jann sah sie abwartend an, und als keiner von ihnen sprach, nickte er bedächtig.
„Es ist also etwas Ernstes“, folgerte er, „etwas, was Irionne nicht überall bekannt haben will. Das ist kein gutes Zeichen.“
„Sie ... sie meinte, wir sollten uns an Acanà wenden“, stotterte Sonalah verlegen, „ich weiß nicht, ob sie ... wie soll ich es erklären ...“
„Schon gut“, beschwichtigte Jann, „Acanà wird nicht ewig beschäftigt sein. Was auch immer es ist, es wird wohl noch so lange warten können. Mia! Weg vom Tümpel! Bei den Schwestern, was dieses Kind nur immer mit den Teichen hat!“
Die Kleine, bereits auf halbem Weg zum Wasser, hielt diesmal aufgrund des scharfen Tonfalls inne, überlegte einen Moment und setzte sich dann wieder. Jann schüttelte den Kopf.
„Wenn das so weitergeht, wird sie eines Tages ertrinken“, murmelte er, „wir müssen ihr unbedingt schwimmen beibringen.“
„Sind es Zwillinge?“, fragte Sonalah, froh, vom Thema ablenken zu können.
Er lächelte sie an.
„Die Mädchen? Ja“, antwortete er, „aber so verschieden wie Tag und Nacht. Ich schwöre, Mia ist das eigenwilligste Kind der Welt, wohingegen Maja beinahe alles mit sich machen lässt. Sie sind erst zwei Jahre alt – ich darf mir gar nicht ausmalen, was geschehen wird, wenn sie älter werden.“
„Ich bin fast vier“, informierte sie Nycas.
„Du bist mein Großer“, sagte Jann liebevoll, „und jetzt ist es an der Zeit, hineinzugehen. Sieh mal, da kommen Quinna und Tajla. Willst du ihnen entgegen laufen?“
Nycas wollte. Jann setzte ihn auf den Boden und erhob sich. Am anderen Ende der Lichtung waren zwei Frauen aus dem Palast getreten, zu denen der Junge rannte. Bovyn und Sonalah standen ebenfalls hastig auf, während Jann zu seinen Töchtern ging, Mia auf den Arm nahm und Majas Hand ergriff.
„Genug vom Kinderhüten, Jann?“, fragte die erste der beiden Frauen freundlich.
„Fürs erste ja“, erwiderte dieser, „fragt mich morgen wieder, Tajla.“
Die andere Frau übernahm die Hand der braven Maja, während Mia erst noch einen kleinen Kampf ausfocht, bevor Tajla sie aus Janns Armen nehmen durfte. Sie heulte.
„Wir gehen morgen wieder hinaus“, versprach Jann und küsste sie auf die Wange, „komm schon, mein Schatz. Jetzt ist es Zeit für euer Abendessen. Bevor ihr schlaft, schauen eure Mutter und ich noch einmal vorbei.“
„Versprochen?“, fragte Nycas, dessen kleines Gesicht äußerst zweifelnd wirkte.
Jann biss sich kurz auf die Lippen.
„Wenn ich zu spät sein sollte, weck ich dich“, sagte er schließlich, „versprochen.“
Nycas ließ sich überzeugen und folgte Quinna und Maja aus dem Garten hinaus. Tajla hingegen, in deren Armen Mia weiterhin schmollte, warf ihm einen tadelnden Blick zu.
„Wenn du den Kleinen aus dem Schlaf reißt, Jann Deren, dann bekommst du mit mir Ärger“, sagte sie warnend.
Er grinste sie entschuldigend an, und sie seufzte nur, bevor sie sich ebenfalls abwandte.
„Ein Sack Flöhe hüten ist leichter“, hörte man sie murmeln.
Jann drehte sich wieder Sonalah und Bovyn zu, noch immer das Grinsen auf dem Gesicht.
„Damit meint sie im Übrigen auch mich“, sagte er, „was ist mit euch? Wollt ihr hierbleiben? Acanà ist noch nicht zurück, und ich muss zur Schule hinunter. Ihr könnt mitkommen, wenn ihr wollt.“
Es war auf der einen Seite verlockend, in diesem Garten zu sitzen und sich zu erholen, aber auf der anderen Seite waren sie nicht deshalb hergekommen. Die Wahrscheinlichkeit, auf Acanà von Anabellánien zu treffen, war in der Nähe ihres Schattens größer. Zumindest sah Bovyn das so, während Sonalah weiterhin schrecklich verlegen war.
„Wir kommen mit“, beschloss er, bevor sie etwas sagen konnte.
Jann Deren führte sie nicht wieder in den Palast hinein, sondern wählte einen Weg durch die Gärten, bis zu einer kleinen Mauer und durch eine Pforte auf den Platz dahinter. Niedrige Gebäude neueren Datums umstanden ihn, einige Bezirke waren abgezäunt, und während von Ferne das Geräusch von im Chor aufgesagten Rezitationen erklang, befanden sich auf dem Platz mehrere Gruppen junger Menschen, die sich in allerlei Sportarten ertüchtigten. Ein schlaksiger Mann demonstrierte einigen von ihnen einen Bogen, ein anderer, weitaus größer und kräftiger, überwachte eine Truppe Nahkämpfer, und Niturio, der ihnen ja schon bekannt war, hatte ein scharfes Auge auf die dritte Gruppe, welche im Moment vollkommen damit beschäftigt war, hundert Liegestütze zu machen, ohne dabei mit dem Gesicht im Dreck zu landen. Der Hüne sah auf, als sie näher kamen, grinste und bellte einen scharfen Befehl, worauf die Kämpfe unterbrochen wurden. Der Mann mit dem Bogen hob den Kopf und schickte seine Schützlinge mit einer knappen Handbewegung zu den anderen, bevor er auf sie zutrat.
„He Jann“, sagte er freundlich, „du hast dein Wort gehalten, hm? Sie haben schon gewartet.“
„Ich bin doch da, oder?“, erwiderte Jann, „Pelo. Was ist das für ein Lärm?“
„Gareno gibt seine Stunde“, meinte der Mann namens Pelo achselzuckend, „es sind noch immer vier oder fünf darunter, die nicht schreiben können, und Gareno hat keine Lust darauf zu warten, bis sie endlich das Alphabet beherrschen. Er steht auf dem Standpunkt, um ein guter Heiler zu sein, muss man die Dinge eh im Kopf haben, und nicht auf dem Papier.“
Jann lachte kurz auf.
„Nun denn“, meinte er amüsiert.
Pelo grinste zurück.
„Bajul wartet schon auf dich“, setzte er hinzu.
„Und Niturio?“
„Niturio? Ach, du meinst die armen Kerle. Sie hatten heute Morgen Stalldienst, und er fand, dass sie ihre Arbeit nicht ordentlich genug gemacht hatten. Du kennst ihn ja. Wen hast du denn dabei?“
„Botschafter von Irionne“, erwiderte Jann, „Sonalah und ... Bovyn, richtig? Sie kommen vom Kán.“
„Nachrichten von Irionne?“, meinte Pelo erfreut, „oh, wie schön! Wie geht es denn der Kleinen?“
Sonalah fand, sie konnte sich einfach nicht daran gewöhnen, wie respektlos hier von der Ersten Tochter Ladokes gesprochen wurde, und sie schwieg. Bovyn räusperte sich.
„Es geht ihr gut, denke ich“, meinte er unbehaglich.
„Irionne sendet Acanà eine Botschaft“, erklärte Jann, „wir werden es noch erfahren. He, Niturio. Fertig mit der Strafaktion?“
Niturio hatte mittlerweile seine Opfer erlöst und zu der Truppe um Bajul herum geschickt. Er trat zu ihnen.
„Du hast es also geschafft“, meinte er ohne Wertung.
Jann zuckte mit den Achseln.
„Diesmal ist eben nichts dazwischen gekommen“, erklärte er, „das heißt, es ist ja schon etwas dazwischen gekommen, aber ich dachte, ich bringe sie mit.“
Niturio nickte den beiden einmal zu und sagte ohne weitere Umschweife: „Geh jetzt besser. Bajul wartet.“
„In Ordnung“, erwiderte Jann fröhlich.
Er zog sich mit einem Ruck sein Hemd über den Kopf, drückte es Pelo in die Hand und marschierte zu der wartenden Gruppe.
„Das sind Sonalah und Bovyn“, sagte Pelo, „sie kommen von ...“
„Ich kenne sie“, unterbrach ihn Niturio, der Jann mit kritischem Auge nachsah, „ich habe sie vorhin schon getroffen. Mann, bin ich froh, dass er es diesmal geschafft hat.“
Pelo folgte seinem Blick und zuckte mit den Achseln.
„Du darfst es ihm nicht übelnehmen“, erwiderte er, „Jann hat eine Familie, und die braucht ihn auch – einmal ganz abgesehen von seinen Ausflügen mit Acanà.“
„Ich weiß“, brummte Niturio.
Pelo schaute ihn an.
„Du hast von vorneherein gewusst, dass das Gewicht der Schule auf deinen Schultern landen würde“, erinnerte er ihn, „was willst du eigentlich? Es läuft doch gut. Hättest du gedacht, dass wir nicht einmal vier Jahre nach der Eröffnung schon so einen Zulauf haben würden?“
„Nein“, gab Niturio zu, „und ich weiß auch, dass jeder hier sein Bestes gibt – Jann eingeschlossen. Ich bin heute einfach schlecht gelaunt, mehr nicht.“
„Entschuldigt“, meldete sich Bovyn zaghaft, „aber was tut er da eigentlich?“
In der Gruppe vor ihnen hatten inzwischen der riesige Bajul und der deutlich kleinere Jann gegenüber Aufstellung genommen und sprangen jetzt sich an. Sie stürzten zu Boden, einen Moment lang war nur ein Knäuel von Körperteilen auszumachen, dann gab es einen Ruck und Jann glitt glatt wie ein Aal aus Bajuls muskulösen Armen und drückte ihn hinunter.
„Das war Derjams Griff“, erklärte Pelo, „Jann hat seit Wochen versprochen, ihnen den zu zeigen, und keiner beherrscht die Drehung so gut wie er.“
„Bajul hat es zugelassen“, meinte Niturio kritisch, „er hätte ihn am Ellenbogen packen und daran hindern können.“
„Bajul wird wohl kaum die Demonstration zerstören, wenn es Jann endlich einmal gelingt, seine Termine einzuhalten“, spottete Pelo.
Auf Bovyns und Sonalahs verständnislosen Blick setzte er hinzu: „Dies ist eine Schule, die Schule der Schwestern, um genau zu sein. Niturio ist ihr Leiter, und wir anderen sind alle Lehrer. Erst vor ein paar Wochen waren Caro und Aruna hier, und vor drei Tagen ist eine Gruppe Schüler aus K’Landen zurückgekehrt. Ihr habt doch wohl davon gehört, oder? Wenn ihr von Irionne kommt, müsst ihr Schüler auf der Burg gesehen haben.“
Sonalah erinnerte sich tatsächlich an eine Gruppe junger Leute in den Mooren, die keine Sumpfhexen gewesen waren, aber sie hatte ihnen damals wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Bovyn hingegen war besser informiert.
„Die Schule der Schwestern“, sagte er, „ich habe am Kán davon reden hören. Es gibt sie noch nicht lange, nicht wahr?“
„Seit knapp vier Jahren, um genau zu sein“, antwortete Niturio, und Pelo fügte an: „Sie steht unter der Schirmherrschaft von Acanà und Aruna. Hier ist der Hauptsitz der Ausbildung.“
In der Gruppe vor ihnen hatten sich mittlerweile Pärchen gebildet, die sich jetzt bemühten, die eben gezeigte Drehung selbst durchzuführen. Jann und Bajul gingen von einem zum anderen, korrigierten hier, griffen dort ein und demonstrierten gelegentlich noch einmal selber die Bewegungsabfolge des Griffes.
„Was unterrichtet ihr so?“, hakte Bovyn neugierig nach.
Pelo grinste.
„Alles, was man auf Thuráns Straßen brauchen kann“, erwiderte er, „Reiten, Kämpfen mit Waffen und ohne, Heilkräuter, Länderkunde – eben alles, was uns eingefallen ist.“
„Und wozu soll das gut sein?“, konnte Sonalah sich nicht verkneifen.
Pelo und Niturio sahen sich einen Moment lang schweigend an, dann holte Niturio tief Luft.
„Weshalb schickt euch Irionne?“, fragte er.
„Ähm ...“, machte Bovyn verlegen, und Sonalah sagte hastig: „Wir haben versprochen, erst mit der Herrin zu sprechen, bevor wir jemand anderem davon erzählen.“
„So“, machte Niturio.
Pelo zog die Stirn kraus.
„Das hört sich nicht gut an“, meinte er dunkel, „vielleicht geht es schon los.“
„Was schlecht wäre“, erwiderte Niturio, „wir sind noch nicht gerüstet. Und die wenigsten glauben uns.“
„Glauben euch was?“, hakte Sonalah erstaunt nach.
Niturio musterte sie.
„Es ist vier Jahre her“, sagte er, „auch am Kán muss man mittlerweile von Elecandra gehört haben. Thurán ist schon zwei Mal von außerhalb bedroht worden. Wir wappnen uns für das nächste Mal.“
Eine Weile war es still. Sonalah schluckte erschrocken, und Bovyn räusperte sich schließlich.
„Ihr meint diesen Kram von anderen Welten?“, fragte er vorsichtig.
„Genau“, antwortete Niturio spöttisch, „diesen Kram. Wir alle hier haben Elecandra dabei beobachtet, wie sie gegen einen unbekannten Feind gekämpft und verloren hat. Sie war eine mächtige Zauberin, und trotzdem hat sie jemand besiegt. Und sie stammte nicht von Thurán.“
„Woher wollt ihr das wissen?“, platzte Sonalah heraus.
„Acanà hat es gesehen, und Thonash“, erwiderte Pelo, „sie sind beide Schüler Weegas. Wir hatten vier Jahre lang Ruhe. Zwischen dem ersten und dem zweiten Angriff ist ein ganzes Jahrhundert vergangen. Ich finde, diesmal ist er ziemlich schnell.“
„Wir wissen es doch noch gar nicht“, berichtigte Niturio, „lass uns abwarten, was Irionne zu sagen hat. Vielleicht geht es um etwas ganz anderes.“
„Das hoffe ich“, murmelte Pelo, „ich habe kein gutes Gefühl dabei, diese Kinder jetzt schon in einen Kampf zu schicken.“
Das konnte Sonalah gut nachempfinden, und sie warf einen besorgten Blick zu der übenden Gruppe. Die Mehrzahl von ihnen war vermutlich noch nicht einmal zwanzig. Natürlich, auch sie hatte die Gerüchte über die seltsame Zauberin gehört, die Warnung, die von Anabellánien aus ihren Weg über ganz Thurán gefunden hatte. Sie hatte sie wie fast alle anderen nicht für voll genommen. Das war doch nun wirklich abstrus – andere Welten, und dann auch noch eine Bedrohung für ganz Thurán! Was für ein Unsinn! Seit Beginn der Zeit sorgten die Schwestern für die Irdischen, wie sollte sich daran etwas ändern?
Aber hier in Anabellánien glaubte man ganz offensichtlich daran. Sie dachte im Stillen, dass, wenn es so eine Bedrohung wirklich gab, es sie nicht unbedingt beruhigte, was sie dort als Schutz sah. Außerdem begriff sie, dass man zu denken schien, ihre Botschaft von Irionne habe genau damit zu tun. Sie schluckte. Eigentlich konnte sie sich nicht vorstellen, die Ereignisse am Kán wären Vorboten einer solchen Katastrophe gewesen.
Und trotzdem hatte Irionne sie hierher geschickt.
Sie beobachteten alle mehr oder minder schweigend die Übungen der Auszubildenden. Pelo und Niturio diskutierten halblaut die Erfolge oder Misserfolge, Bovyn sah fasziniert zu, und irgendwann wandte er sich an seine Schwester und meinte leise: „Jetzt glaube ich es schon eher.“
„Was?“, fragte sie, aus ihren Gedanken gerissen.
„Na, dass er wirklich Jann Deren ist!“, meinte Bovyn, als ob es auf der Hand läge.
Sie kam nicht mehr dazu, ihm zu antworten, denn zwei weitere Neuankömmlinge erschienen auf dem Platz – eine zierliche junge Frau mit pechschwarzen Haaren, in helles, cremefarbenes Weiß gekleidet, gefolgt von einem großen rothaarigen Mann mit gerunzelter Stirn.
„Hier seid ihr also“, sagte sie in die Runde hinein.
„Eure Besprechung ist zu Ende?“, erwiderte Niturio höflich.
Der rothaarige Mann hob die Schultern, und die zierliche Frau lächelte.
„Es hat lange gedauert, ich weiß“, sagte sie, „aber immerhin sind wir gerade erst zurückgekommen. Ich war auf der Suche nach Jann.“
„Er ist dort“, sagte Pelo und wies auf die Gruppe, wo Jann gerade einem Mädchen noch einmal Derjams Griff erklärte. Das Mädchen hatte knallrote Wangen, bemühte sich sichtlich, die Erläuterungen in die Tat umzusetzen, stolperte, stürzte und riss ihren Gegner mit zu Boden.
„Interessanter Trick“, kommentierte Niturio.
Pelo grinste.
„Doriane ist mit dem Bogen geschickter“, meinte er, „obwohl es hätte funktionieren können. Sie ist einfach schüchtern.“
„Wenn Jann sich hier öfter blicken lassen würde, wäre sie auch nicht so schüchtern“, murrte Niturio und warf dann einen hastigen Blick zu der Frau, „ähm ... Entschuldigung.“
„Niturio ist heute mies drauf“, erklärte Pelo trocken.
Die Frau lächelte wieder.
„Er hat aber auch Recht“, sagte sie sanft.
Jann hatte sie mittlerweile entdeckt, rappelte sich vom Boden auf, zog die sich vor Scham fast windende Doriane hoch und kam auf sie zu. Die junge Frau ging ihm entgegen.
„Hallo“, sagte er, als sie sich trafen, und beugte sich zu ihr herunter, um sie zu küssen.
Sie erwiderte den Kuss liebevoll.
„Ist eure Besprechung zu Ende?“, fragte er, und sie nickte.
„Ja, wir sind gerade fertig geworden. Tajla hat mir erzählt, du warst mit den Kindern im Garten?“
„Stimmt. Wir müssen Mia schwimmen beibringen, Acanà. Sie ist einfach nicht zu bändigen.“
„Ich weiß“, sagte sie seufzend, „manchmal wollte ich, Maja wäre ein wenig lebhafter und Mia zumindest ein bisschen ruhiger. Aber was soll’s.“
„Was soll’s“, stimmte er ihr zu, „ich habe dir übrigens Besuch mitgebracht.“
„Auch das hat mir Tajla erzählt“, sagte sie.
Er lächelte, nahm ihre Hand, und sie kehrten gemeinsam zu den anderen zurück.
„Sonalah, Bovyn“, sagte er, „dies ist Acanà. Die beiden stammen vom Kán, und Irionne schickt sie mit einer Nachricht zu dir.“
„Irionne?“, sie wandte sich ihm mit hochgezogenen Augenbrauen zu.
Er nickte.
„Ja“, antwortete er, „wir dachten an dasselbe. Aber sie wollen zuerst mit dir sprechen, bevor sie uns etwas davon erzählen.“
Einen Moment lang hielt ihr Blick den seinen, und kein Wort fiel. Dann drehte sich Acanà von Anabellánien wieder um und musterte die beiden.
„Willkommen in Brinan“, sagte sie leise, „ich denke, wir sollten uns unterhalten.“
Jann kam mit zurück, desgleichen Niturio und der rothaarige Mann, der ihnen als Akayu, die rechte Hand der Herrin, vorgestellt wurde. Während die Geschwister ihnen folgten, beugte Bovyn sich zu Sonalah und flüsterte: „Mann, das entwickelt sich alles ganz anders, als ich gedacht hatte!“
„Was?“, gab sie halblaut zurück, „dass man uns anhören will? Dass sie doch Interesse haben?“
„Nicht unbedingt“, behauptete er, „ich hätte bloß nicht gedacht, dass sie so schön ist. Himmel.“
Sonalah verdrehte die Augen.
„Du hast doch behauptet, sie wird uns nicht helfen“, zischte sie.
Bovyn grinste dümmlich.
„Sie kann uns bestimmt helfen“, erklärte er, und seine Schwester seufzte. Typisch Mann. Ein hübsches Gesicht, und alle Bedenken waren vergessen.
Aber zumindest hatte sie nun ihre Unterredung mit der Herrin von Anabellánien, und deshalb waren sie ja überhaupt gekommen.
„Also“, sagte Acanà, sobald sie ein kleines Zimmer erreicht und Platz genommen hatten, „was führt euch zu uns?“,
Akayu saß in einem Sessel ein Stück entfernt, Niturio lehnte in einer Ecke, und Jann stand hinter seiner Gefährtin, doch weder Sonalah noch Bovyn äußerten irgendwelche Einwände bezüglich ihrer Gegenwart. Bovyn räusperte sich.
„Ehrlich gesagt“, begann er, „ich weiß nicht, ob es wirklich so wichtig ist. Wir wollten die Sumpfhexen eigentlich nur um einen Zauber bitten. Bis vor ein paar Jahren wusste zwar kaum jemand, dass es sie gab, aber mittlerweile hat es sich herumgesprochen. Ich meine, das mit Ladokes Töchtern, und so.“
„Schon klar“, sagte Acanà, „weiter.“
„Wir hatten nicht damit gerechnet, dass sie uns hierher schicken würde“, fuhr er entschuldigend fort, „eigentlich wollten wir wieder nach Hause. Aber Sonalah ... nun ja, jetzt sind wir eben hier. Vielleicht könnt Ihr uns helfen.“
„Falls es sich um einen Zauber handelt, wären Ladokes Töchter sicher die besseren Ansprechpartner“, erwiderte Acanà, „doch wir kennen Irionne. Sie wird ihre Gründe gehabt haben. Was ist am Kán geschehen?“
Bovyn warf einen Blick zu seiner Schwester, und sie holte tief Luft.
„Es war nichts Besonderes, am Anfang“, sagte sie, „wir kommen aus einem Bauerndorf, und es gibt eine sehr saftige Weide, direkt am Flussufer. Alle nutzen sie hin und wieder für ihre Kühe. Aber eines Tages ... eines Tages weigerten die Tiere sich, auch nur in die Nähe der Weide zu kommen. Und auch die Frösche ... es hat dort immer Laubfrösche gegeben, und plötzlich waren sie fort.“
„Aha?“, machte Acanà mit gerunzelter Stirn.
Bovyn sprang wieder ein.
„Wir brauchen diese Wiese“, meinte er, „und sie nützt uns nichts, wenn die Tiere verrücktspielen. Also sind wir hin und haben uns einmal angesehen, was dort nicht stimmt.“
„Und was habt ihr gesehen?“, hakte Acanà nach, als er abbrach.
Die Geschwister wechselten wieder einen Blick.
„Zuerst – nichts“, erklärte Bovyn, „nichts, was ins Auge fiel. Aber als wir genauer suchten, fiel uns eine Ecke auf der Weide auf, die irgendwie anders war. Wie verschwommen, so als ob das Gras dort seine Konturen verlieren würde, so als ob ... ich kann es nicht gut beschreiben.“
„Als ob die Wiese sich dort auflösen würde“, setzte Sonalah hinzu, „ich weiß, das klingt verrückt, aber so war es. Und es wurde schlimmer. Dieser Fleck breitete sich aus. Erst war er nicht viel größer als zwei oder drei Fußbreit, doch nach einigen Tagen waren es schon ein paar Schritte. Das wurde uns unheimlich.“
„Man kann hineintreten“, sagte Bovyn, „einer der Bauern hat es versucht. Er sagte, es sei ganz merkwürdig, als ob man keinen rechten Halt hätte, und es hätte fürchterlich gekribbelt. Wir haben uns natürlich alle Sorgen gemacht – und dann hörte es auf.“
„Es hörte auf?“, fragte Acanà.
„Es hörte auf zu wachsen“, antwortete Sonalah, „der Fleck war vielleicht drei mal vier Schritte lang, und es wurde nicht mehr größer. Es wurde ... unschärfer. Und wir fanden dies hier.“
Sie griff in ihre Tasche und holte etwas heraus, was sie Acanà hinhielt. Die Herrin von Anabellánien starrte einen Moment lang auf den Gegenstand, bevor sie den Kopf hob.
„Hat einer von euch so etwas schon einmal gesehen?“, fragte sie.
Nacheinander traten Akayu, Niturio und Jann herbei und schüttelten alle drei die Köpfe.
„Es sieht aus wie ein Symbol“, mutmaßte Jann, „ein Talisman vielleicht? Auch Irionnes Talisman schaute seltsam aus.“
„Ein Talisman wofür?“, fragte Niturio, „ich denke eher, das Ding gehört zu einem Zauber.“
„Für mich sieht es aus wie eine simple Kugel“, äußerte sich Akayu, „kann man es öffnen?“
„Nein“, erwiderte Sonalah, „wir haben uns ebenfalls Gedanken darüber gemacht. Es ist aus einem Stück, und wir ...“
Sie schaute Bovyn Hilfe suchend an.
„Lacht nicht“, sagte dieser rasch, „aber wir fanden, es sähe aus wie ein Apfel.“
Einen Moment lang war es still, und alle Anwesenden betrachteten das Ding in Sonalahs Hand.
„Ein Apfel, stimmt“, murmelte Acanà schließlich.
„Er hat sogar einen Stiel“, gab Niturio zu.
„Dann ist es vielleicht nur ein Schmuckstück?“, meinte Jann.
„Obst als Schmuck?“, Akayu wirkte äußerst zweifelnd, „dafür ist es nicht hübsch genug.“
„Ob nun Schmuck oder nicht“, sagte Sonalah, „es gehörte keinem von uns, und niemand hatte so etwas vorher schon einmal gesehen. Der Fleck auf der Weide verschwand nicht. Also haben wir uns auf den Weg zu den Sumpfhexen gemacht, um sie um Rat zu fragen. Wir dachten, jemand hat die Wiese vielleicht verzaubert, und Irionne könnte uns einen Gegenzauber geben.“
„Hat sie aber nicht“, schloss Jann aus ihrem Gesichtsausdruck.
Sonalah schüttelte den Kopf.
„Nein“, erklärte sie, „das hat sie nicht. Stattdessen schien sie sich Sorgen zu machen. Sie meinte sogar ... sie meinte, wie wir diesen Fleck beschreiben würden, das klänge fast wie ein Riss.“
„Ein Riss?“, echote Niturio.
„Ja“, sagte sie, „wie ein Riss in unserer Welt.“
Eine ganze Zeit lang rührte sich keiner. Dann holte Niturio tief Luft.
„Verdammt“, murmelte er.
Acanà räusperte sich.
„Jetzt verstehe ich“, sagte sie nachdenklich, „Irionne hat in Ladokes Schriften geforscht. Sie trägt das Wissen der Ersten. Wir sollten unbedingt mit ihr sprechen.“
„Das hat sie auch gemeint“, erwiderte Sonalah schüchtern, „und sie sagte, wir sollten Euch dies hier geben.“
Sie streckte Acanà einen kleinen Beutel hin, diese nahm ihn, öffnete ihn und reichte ihn dann an Jann weiter.
„Kannst du damit etwas anfangen?“, fragte sie.
Jann schüttelte den Beutel, roch an seinem Inhalt und grinste plötzlich.
„Ich denke schon“, antwortete er, „Sumpfzauber, hm? Keiner von uns beherrscht das, aber sie wird mittlerweile wohl gut genug sein, die Verbindung allein herzustellen. Ich denke, wir brauchen ein Feuer.“
Ein Feuer in einem Palast wie diesem zu bekommen, war kein Problem. Akayu streckte bloß einmal den Kopf zur Tür hinaus, und nur Minuten später flackerten lustige Flammen in dem bis dato kalten Kamin.
„So“, sagte Acanà, „ein Feuer. Und jetzt, Jann?“
„Bin ich eine Sumpfhexe?“, gab er zurück, „ausprobieren!“
Ehe jemand hätte protestieren können, nahm er den Beutel und leerte den Inhalt über dem Feuer aus. Ein Haufen getrockneter Kräuter fiel in die Flammen. Schlagartig machte sich stechender Geruch breit, und Niturio, der seinen Kopf zu dicht vorgestreckt hatte, musste husten
„Tolle Idee“, brummte er.
Aber dann verfärbten sich die Flammen plötzlich zu einem leuchtenden Orangerot, so dass Sonalah und Bovyn unwillkürlich zurückwichen. Niturio hingegen rückte wieder näher heran, und Jann beugte sich ein Stückchen vor.
„Hallo?“, rief er, „Irionne?“
Mitten im Feuer erschien auf einmal der Kopf der Sumpfhexe. Bovyn keuchte erschrocken auf, sogar Akayu machte einen Satz, doch Jann, Niturio und Acanà schienen völlig ungerührt. Acanà schob sich neben Jann.
„Irionne“, sagte sie, „wir haben deine Botschaft erhalten.“
„Gut“, erwiderte Irionne, „ich wusste, dass wir uns auf die beiden verlassen können. Sonalah und Bovyn sind gut angekommen?“
„Sie sind hier“, bestätigte Acanà, „und sie haben uns ihre Geschichte erzählt. Irionne. Bist du dir sicher? Ein Riss in unserer Welt?“
„Ich bin mir nicht sicher“, gab die Sumpfhexe zu, „aber ich habe nachgeforscht. Und ich hatte Nachricht von Gwenvar.“
„Gwenvar!“, stieß Jann verblüfft aus, „wir haben seit Jahren nichts mehr von ihm gehört!“
„Ich weiß“, sagte Irionne, „er wird seine Gründe haben, warum er sich an mich wandte und nicht an euch.“
Niemand ging weiter darauf ein.
„Hat er Elecandra gefunden?“, hakte Acanà stattdessen nach.
Irionnes Kopf machte eine verneinende Bewegung.
„Hat er nicht“, sagte sie, „aber er war im Westen, da, woher Oldo die Zwillinge nach Rovadán holte. Er unterhielt sich mit den dort lebenden Leuten. Sie hatten die Zwillinge nicht vergessen, und sie berichteten von einem ähnlichen Phänomen wie dem am Kán, bevor die beiden Mädchen auftauchten. Eine Unschärfe in der Welt, von allen Tieren gemieden, unerklärt und eines Tages auch wieder verschwunden – und stattdessen waren die Zwillinge da, und Oldo, der sie mitnahm.“
„Wir wissen, dass Elecandra nicht von Thurán stammt“, meldete sich Akayu zu Wort, „das wird wohl genauso für Lummesa gegolten haben.“
„Genau“, sagte Irionne, „und deshalb befürchte ich, dass das, was am Kán geschehen ist, eine ähnliche Ursache hat.“
„Du meinst, unser Feind schickt wieder jemanden wie die Zwillinge?“, fragte Jann.
Irionnes Kopf wandte sich ihm zu.
„Oder er kommt selbst“, sagte sie.
Daraufhin herrschte einen Moment Schweigen, bis Acanà sich räusperte.
„Nicht gut“, meinte sie, „gar nicht gut. Wir wissen noch immer nicht, mit wem wir es eigentlich zu tun haben, woher er kommt, und wozu er fähig ist. Elecandra ist wie vom Erdboden verschluckt, Oldo ist tot, und in Ladokes Schriften ...“
„Habe ich bislang nichts gefunden, was uns wirklich weiterhelfen würde“, setzte Irionne hinzu, „ja, ich sehe es ähnlich. Die Lage ist ernst, und wir haben überhaupt keine Ahnung, was uns erwartet.“
„Das bedeutet, wir müssen diesen Riss schließen!“, fuhr Akayu auf, „bevor noch sonst was hindurch treten kann! Ist es vielleicht sogar zu spät?“
„Auch das kann ich nicht genau sagen“, erwiderte Irionne, „ich habe mich zwar bemüht, ein Auge auf das Dorf zu haben, aber ich kann nicht ständig ... Es geht einfach nicht.“
„Das ist doch klar“, sagte Jann rasch, bevor einer der anderen etwas einwenden konnte, „und du bist ja auch nicht allein verantwortlich, Irionne. Wir werden alles tun, was wir können. Aber du musst uns sagen, ob es eine Möglichkeit gibt, diesen Riss zu schließen.“
„Das sehe ich genauso“, stimmte ihm Acanà zu, „es ist zu früh, wir können uns noch nicht auf einen Kampf einlassen. Wir müssen ihn abwehren. Gibt es diese Möglichkeit?“
„Die gibt es“, sagte Irionne zögerlich, „ich habe lange darüber nachgedacht. Ich weiß nicht, ob wir einen echten Riss schließen könnten oder nicht, aber wir können verhindern, dass etwas hindurch kommt. Wir können einen Bann darum legen.“
„Einen Bann?“, sagte Akayu zweifelnd, „es hieß damals, Elecandra sei die mächtigste Zauberin, die je einer von uns gesehen hätte. Könnte sie einen Bann nicht einfach hinwegfegen?“
„Einen simplen Zauberbann, ja“, sagte Irionne, „das denke ich auch. Es muss etwas Mächtigeres als das sein, etwas so Starkes, dass Elecandra oder wer auch immer keine Chance hat, dagegen anzugehen.“
„Und so etwas gibt es?“, fragte Acanà.
Irionne nickte.
„Das gibt es“, bestätigte sie, „natürlich ist es kein kleiner Zauberspruch, den man mal eben so am Feuer dahinsagt.“
„Aber du könntest es“, setzte Jann mit einem fragenden Unterton hinzu.
Sie seufzte.
„Nicht allein“, erwiderte sie, „es wäre sinnlos, wenn ich es allein versuchen würde. Der Bann, der mir vorschwebt, kann nur von allen Wesen Thuráns zusammen gesprochen werden. Es ist der Schutzbann von Thurán.“
Wieder war es eine Weile still. Dann räusperte sich Niturio, welcher bis dahin geschwiegen hatte.
„Alle Wesen Thuráns?“, sagte er zweifelnd, „nichts für ungut, Irionne, aber das schaffen wir nie. Man glaubt uns ja nicht einmal.“
„Du hast mich falsch verstanden“, sagte sie, „es muss nicht jedes einzelne Wesen Thuráns sein. Es reicht aus, wenn ein Abgesandter jeder zauberkräftigen Spezies dabei ist. Und das bedeutet Menschen, Zwerge, Elfen ...“
„Und Moris“, murmelte Acanà.
Irionne nickte wieder.
„Genau“, sagte sie, „zu viert müssten wir es schaffen. Ich habe bereits einen Boten in die Schroffen Berge geschickt, und ich habe mit Vaya gesprochen. Für die Menschen würde ich gehen. Was die Elfen anbetrifft ...“
„Acanà kann bestimmt mit Sinaîs reden“, sagte Jann, „so ist es doch, oder? Sie wird sich nicht verweigern.“
„Niemand, dem an Thurán gelegen ist, wird sich verweigern“, sagte Akayu mit Nachdruck.
Acanà holte tief Luft.
„Du bist dir sicher, was du tust?“, fragte sie die Sumpfhexe.
„Ja“, sagte Irionne, „ich weiß, was ich tue. Ich hatte viel Zeit, darüber nachzudenken, und ich bin sicher, es muss auch getan werden.“
„Also gut“, sagte Acanà, „ich gehe morgen in die Mittleren Berge.“
„Ich komme mit“, sagte Jann sofort.
„Vaya ist bereits bei den Moris“, erklärte Irionne, „ich erwarte ihre Antwort in den nächsten Tagen. Ich schlage vor, wir sprechen uns in einer Woche wieder? Bis dahin müssten wir wissen, ob alle zustimmen.“
„Einverstanden“, sagte Acanà und erhob sich. Jann tat es ihr nach, aber Niturio beugte sich plötzlich so hastig vor, dass ihm die Flammen fast die Haare versengten.
„Irionne“, sagte er drängend, „geht es dir gut?“
Sie wandte ihm den Kopf zu, ein bisschen erstaunt zunächst, dann verstehend lächelnd.
„Ja“, sagte sie leise, „es geht mir gut.“
Und die Flammen erloschen.
Niturio war danach noch schlechter gelaunt als vorher, was sich für Sonalah und Bovyn als ungünstig herausstellte, denn er erhielt den Auftrag, sie zu Tajla zu führen, damit man sich um ihre Unterbringung kümmern konnte. Von einem Quartier in der Stadt war keine Rede mehr. Jann und Acanà kamen noch ein Stück des Weges mit ihnen, denn sie wollten zu ihren Kindern.
Niturios offensichtliche Missstimmung blieb niemandem verborgen. Seine Brauen waren finster zusammengezogen, die Mundwinkel hingen mürrisch herab, und während Acanà ihm nur einen Blick zuwarf und leise seufzte, räusperte sich Jann.
„Niturio“, begann er langsam.
„Was?“, fuhr der so heftig auf, dass Jann zusammenzuckte.
„Ähm ... ich meine ja nur ... wegen Irionne ...“ sagte er.
Niturio unterbrach ihn rüde.
„Kein Wort!“, schnauzte er, „ich will kein Wort darüber hören, und schon gar nicht von dir!“
Jetzt war auch Janns Geduld zu Ende.
„Wieso?“, fragte er beleidigt, „es ist ja wohl kaum meine Schuld, oder?“,
Niturios Gesicht lief dunkelrot an.
„Nicht deine ...“, begann er zu brüllen – aber Acanà legte ihm hastig eine Hand auf den Arm und brachte ihn zum Schweigen.
„Nein“, sagte sie streng, „die Kinder sind hinter diesen Türen. Jann, mein Lieber, geh du doch schon einmal vor. Ich komme gleich nach.“
Niturio schluckte seine Wut angesichts der Tatsache hinunter, dass drei kleine Kinder in Hörweite waren. und dass man auch nach vier Jahren als Leiter der Schule der Schwestern eine Anweisung der Herrin von Anabellánien nicht einfach so ignorierte. Jann warf ihm noch einen verletzten Blick zu, bevor er das Kinderzimmer betrat, und Acanà wartete, bis sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, ehe sie die Hand wieder von Niturios Arm nahm. Er wirkte plötzlich verlegen und wich ihrem Blick aus.
„Es ist nichts“, wehrte er ab, „sieh mich nicht so an, bitte. Ich lasse ihn ja in Ruhe. Es ärgert mich nur, dass er es noch immer nicht begriffen hat.“
„Würdest du denn wollen, dass er es begreift?“, fragte sie.
Niturio schloss für einen Moment die Augen.
„Irionne will es nicht“, sagte er, „also ... und ja, du hast Recht. Ich will es auch nicht. Heute ... heute, das war einfach unerwartet. Ich war nicht darauf vorbereitet. Mach dir keine Sorgen. Ich habe mich im Griff.“
„Das weiß ich“, sagte sie begütigend, „und glaub mir, ich will ebenfalls nicht, dass du noch mehr verletzt wirst. Wir brauchen dich, Niturio, das weißt du doch. Heute mehr denn je.“
Es blieb einen Moment lang still, bevor er nachgab und sie ansah.
„Ich weiß“, sagte er leise, „geh nur. Geh hinein, ich kümmere mich um die beiden.“
Am nächsten Morgen brachen Jann und Acanà bei Morgengrauen auf, um sich auf den Weg zu den Elfen zu machen. Sonalah und Bovyn, die ihren Auftrag erfüllt hatten, hätten jetzt eigentlich den Rückweg antreten können, aber verständlicherweise sprach keiner von ihnen davon. Die neuen Gerüchte von fremden Welten und Bedrohungen hatten hier, in Anabellánien, plötzlich beängstigend realistische Züge angenommen. Sie konnten nicht einfach wieder so zur Tagesordnung übergehen, und so liefen sie, anstatt ihre Sachen zu packen, nach dem Frühstück hinunter zur Schule der Schwestern, um den Auszubildenden zuzusehen.
„Glaubst du daran?“, brach Bovyn schließlich das Schweigen, „glaubst du an ihre Befürchtungen?“
„Ich weiß es nicht“, gab Sonalah ehrlich zu, „andere Welten – das klingt doch viel zu sehr nach einem Ammenmärchen. Aber auf der anderen Seite denke ich, Irionne glaubt so fest daran. Ladokes Tochter hat sicher deutlich mehr Verständnis von Thurán als wir.“
„Das wird Weegas Schülerin wohl ebenfalls haben“, stimmte ihr Bovyn bei, „ich weiß nicht genau, was ich von der Sache halten soll. Ein Riss in der Welt? Ich fand es schon merkwürdig, als Irionne uns das sagte. Ich dachte, es sei vielleicht ein Begriff für etwas anderes. Nie hätte ich geglaubt, dass sie das wirklich wörtlich meinte.“
„Ich auch nicht“, sagte Sonalah ernst, „aber sie waren hier, Bovyn. Sie haben diese Elecandra gesehen, wir nicht. Und wenn es stimmt ... Himmel. Ich fürchte, dann stehen uns unruhige Zeiten bevor.“
„Dabei hatten wir eigentlich gehofft, die unruhigen Zeiten würden noch ein bisschen auf sich warten lassen“, erklang Pelos Stimme hinter ihnen.
Im Schlepptau hatte er einen weiteren jungen Mann mit offenem, freundlichem Gesicht.
„Hallo“, sagte er, „ich habe euch hier herumstehen sehen. Gareno wollte euch kennenlernen. Er ist unser Heilkundiger.“
„Niturio hat uns erzählt, was passiert ist“, sagte der junge Mann namens Gareno, „aber ich finde, es ist zu früh, um zu verzweifeln. Vielleicht ist am Kán etwas ganz anderes die Ursache, und selbst wenn es doch so ist, wie wir vermuten, ich habe vollstes Vertrauen in Irionne und ihre Kräfte. Sie hat mal einen Schlammsturm gezaubert, um uns zu retten.“
„Einen Schlammsturm?“, fragte Bovyn verwirrt nach.
Pelo grinste.
„Lange Geschichte“, sagte er nachlässig, „und Gareno hat Recht. Irionne kann so einen Bann bestimmt legen – vorausgesetzt, sie bekommt die Hilfe, die sie braucht.“
„Sind Jann und Acanà zu den Elfen aufgebrochen?“, fragte Gareno.
„Sind sie“, erklang eine tiefe Stimme. Bajul, der Hüne, hatte sie entdeckt, und war zu ihnen gekommen.
„Ich habe noch einmal kurz mit Jann gesprochen, und jetzt sind sie weg“, setzte er hinzu, „freuten sich nicht gerade darauf, in den Grünen Garten zu gehen.“
„Wieso?“, fragte Sonalah erstaunt, „ich dachte, Sinaîs sei Acanàs Tante. Ist sie nicht die Mächtigste der Elfen?“
„Doch, ist sie“, stimmte ihr Bajul zu.
„Und warum sollten sie sich dann Sorgen machen?“, hakte Sonalah verdutzt nach.
Bajul grinste.
„Weil Sinaîs mit Vorliebe ihr eigenes Spiel spielt, und weil man bei ihr nie weiß, was als nächstes kommt“, erklärte er, „ich weiß es, ich war ja schließlich auch mal bei ihr.“
„Wie – du warst bei den Elfen?“, stotterte Bovyn ungläubig.
Sonalah stand vor Schreck der Mund offen, und Bajul musterte die beiden belustigt, offensichtlich sehr zufrieden mit ihrer Reaktion.
„Ja“, sagte er, „ich war im Grünen Garten, vor Jahren. Ich habe Enyca dahin begleitet. Jann ist damals vor Wut richtig ausgeflippt.“
„Und nicht ganz zu Unrecht“, sagte Pelo streng, „man verlässt den Grünen Garten nicht einfach so. Selbst am Kán weiß man das offensichtlich.“
„Allerdings“, stammelte Bovyn.
„Pah“, sagte Bajul wegwerfend, „Sinaîs hatte kein Interesse an mir. Kaum, dass Acanà kam, war ich frei. Manchmal denke ich, dass das überhaupt nur der Sinn dahinter war – dass Acanà in die Mittleren Berge ging, um mit ihrer Tante zu sprechen. Sobald sie das getan hatte, haben die Elfen Enyca und mich gehen lassen.“
„Warum sollte Acanà denn zu Sinaîs kommen?“, fragte Sonalah.
Bajul zuckte mit den Schultern.
„Das hat irgendwas mit Prophezeiungen und Versprechungen zu tun gehabt“, erwiderte er, „glaubt ja nicht, dass sie mich eingeweiht hat. Ich war schon verblüfft genug, als sie plötzlich vor uns stand.“
Erklärend setzte er hinzu: „Sie war hochschwanger, und der gute Jann war weit entfernt im Süden, ohne was zu ahnen. Es hat ihn ziemlich umgehauen, als er nach Hause kam und Nycas plötzlich vorfand.“
„Das waren wirklich aufregende Tage“, stimmte ihm Gareno zu, „Mann, ich träume manchmal heute noch von Fahlos Kerkerzelle.“
„Genug jetzt“, mischte sich Pelo streng ein, „wir haben zu tun, und wir sollten nicht hier herumstehen und von alten Zeiten schwafeln. Sonalah, Bovyn, werdet ihr uns entschuldigen?“
Die Zwei nickten nur, und Pelo zog seine Freunde mit sich fort. Im Gehen zischte er ihnen zu: „Ihr seid beide Plaudertaschen, wisst ihr das eigentlich? Fehlt nur noch, dass ihr erzählt hättet, warum Enyca in den Grünen Garten ging, und wie man uns aus Fahlos Kerker geholt hat!“
„Was regst du dich so auf?“, fragte Gareno, „die beiden sind Irionnes Botschafter. Sie sind auf unserer Seite.“
„Trotzdem“, erwiderte Pelo mit Nachdruck, „man sollte nie alle seine Geheimnisse ausplaudern. Vielleicht ist es auch eine Falle!“
„Eine Falle?“, sagte Bajul verständnislos und schüttelte den Kopf, „du träumst, Pelo. Acanà hat sie angesehen. Sie belügen uns nicht.“
„Man kann nie vorsichtig genug sein“, meinte Pelo dunkel.
Die nächsten vier Tage geschah zunächst gar nichts, außer, dass ein junger blonder Mann in Brinan eintraf und von allen begeistert begrüßt wurde. Akayu zog ihn rasch beiseite und setzte ihn offensichtlich über Irionnes Nachricht in Kenntnis. Der junge Mann, der auf den Namen Thonash hörte, kam daraufhin zu den Geschwistern und fragte sie lange aus, wobei er immer wieder für Momente seinen Blick nachdenklich auf ihren Gesichtern ruhen ließ. Das an und für sich fand Sonalah schon verwirrend genug, und es erklärte die Sache auch nicht wirklich, als sie kurz darauf überhörte, wie Gareno seinem Freund Pelo zuflüsterte: „Jetzt zufrieden? Thonash traut ihnen ebenfalls!“
Es machte sich aber auch niemand die Mühe, sie darüber aufzuklären.
Jann und Acanà kehrten am fünften Tag zurück, ein bisschen müde zwar, doch mit der Zusage der Elfen, sich an dem Bann zu beteiligen. Jann wirkte grübelnd. Acanà hatte eine steile Zornesfalte auf der Stirn, sobald sie von Sinaîs sprach, aber keiner der beiden äußerte sich weiter über ihren Besuch im Grünen Garten.
Und dann, am sechsten Tag, kam Vaya.
Sie erschien ziemlich unvermittelt, am späten Nachmittag, als Sonalah und Bovyn wieder einmal Jann und seinen Kindern im Garten Gesellschaft leisteten. Mit Bajul und Thonash saßen sie recht nett beisammen, als plötzlich diese fremde Frau mit dem herben Gesicht erschien.
Sonalah zuckte unwillkürlich zusammen, denn die Frau war so abrupt aufgetaucht, dass man hätte glauben können, sie habe sich aus der Luft materialisiert. Sie trug einen kleinen Jungen auf den Armen, der sich verschlafen an sie kuschelte und die Versammelten anblinzelte. Wie Sonalah hatten sich auch Bajul und Bovyn erschrocken, aber Jann erhob sich ganz gelassen und sagte freundlich. „Vaya. Wir hatten nicht mit dir gerechnet.“