Sündenherz - Julie Parsons - E-Book
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Sündenherz E-Book

Julie Parsons

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Beschreibung

Ein verschwundenes Kind und ein düsteres Geheimnis: der psychologische Thriller »Sündenherz« von Julie Parsons jetzt als eBook bei dotbooks. Zehn Jahre sind vergangen, seit Nick seinen Sohn allein spielen ließ, um mit der Nachbarin ins Bett gehen zu können. Zehn Jahre, seit der kleine Owen spurlos verschwand – und Nicks Leben in sich zusammenbrach. Vor der Schuld und der Schande ist er nach Amerika geflohen, aber auch dort konnte er nicht vergessen. Nun kehrt er nach Dublin zurück, um endlich einen Schlussstrich zu ziehen. Doch auf einmal findet Nick Spuren und Hinweise zu Owens Verschwinden, die vorher niemand gesehen hat … und taucht ein in eine Welt des Schreckens, die darauf bedacht ist, sich sorgsam hinter der Maske des Normalen und Alltäglichen zu verbergen. »Ein Abgrund der menschlichen Seele tut sich auf. Bis zur letzten Seite: atemlose Spannung.« Focus Jetzt als eBook kaufen und genießen: »Sündenherz« von Julie Parsons, der irischen Königin der Psycho-Spanung. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 623

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Über dieses Buch:

Zehn Jahre sind vergangen, seit Nick seinen Sohn allein spielen ließ, um mit der Nachbarin ins Bett gehen zu können. Zehn Jahre, seit der kleine Owen spurlos verschwand – und Nicks Leben in sich zusammenbrach. Vor der Schuld und der Schande ist er nach Amerika geflohen, aber auch dort konnte er nicht vergessen. Nun kehrt er nach Dublin zurück, um endlich einen Schlussstrich zu ziehen. Doch auf einmal findet Nick Spuren und Hinweise zu Owens Verschwinden, die vorher niemand gesehen hat … und taucht ein in eine Welt des Schreckens, die darauf bedacht ist, sich sorgsam hinter der Maske des Normalen und Alltäglichen zu verbergen.

»Ein Abgrund der menschlichen Seele tut sich auf. Bis zur letzten Seite: atemlose Spannung.« Focus

Über die Autorin:

Julie Parsons wurde 1951 als Tochter irischer Eltern in Neuseeland geboren. Sie war noch ein Kind, als ihr Vater unter ungeklärten Umständen auf hoher See verschwand – ein Trauma, das sie nie loslassen sollte: »Ich werde niemals herausfinden, was mit meinem Vater geschehen ist, und vielleicht erzähle ich auch deswegen Geschichten, in deren Mittelpunkt Geheimnisse stehen – um sie selbst aufklären zu können.« Julie Parsons studierte in Dublin und arbeitete später als Radio- und TV-Produzentin, bevor sie als Schriftstellerin erfolgreich wurde. Ihr Debüt »Mörderspiel«, auch bekannt unter dem Titel »Mary, Mary«, wurde in 17 Sprachen übersetzt und ein internationaler Bestseller. Julie Parsons lebt heute in der irischen Hafenstadt Dun Laoghaire.

Die Autorin im Internet: www.julieparsons.com

Bei dotbooks veröffentlichte Julie Parsons ihre psychologischen Thriller »Mörderspiel«, »Todeskälte«, »Giftstachel«, »Eiskönigin«, »Seelengrund« und »Sündenherz«.

***

eBook-Neuausgabe April 2019

Die englische Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel »The Guilty Heart« bei Macmillan, London.

Copyright © der Originalausgabe 2003 by Julie Parsons

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2004 by Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Bildmotivs von shutterstock/Andrei Nekrassov

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-96148-404-1

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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***

Besuchen Sie uns im Internet:

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blog.dotbooks.de/

Julie Parsons

Sündenherz

Thriller

Aus dem Englischen übersetzt von Doris Styron

dotbooks.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Danksagung

Lesetipps

Für meine Mutter, Elizabeth Dobbs, die beste Geschichtenerzählerin von allen.

»Buß und Reuknirscht das Sündenherz entzwei.«

Johann Sebastian Bach,Matthäuspassion, 6. Arie.

Die Kinder sind immer da – irgendwo dort draußen zu Hunderttausenden – zahlreich und schön wie die Sterne der Milchstraße. Von den hellen Bildschirmen sehen uns ihre kleinen Gesichter an. Wenn sie den Mund öffnen, schimmern ihre weißen Zähne. Ihre Haare sind dunkel wie der Nachthimmel oder hell und golden wie Frühlingsblumen. Sie sind mollig und rund, gut genährt und verhätschelt, mit Grübchen wie Fingerabdrücke auf Wangen und Ellbogen, oder dünn und knochig, vernachlässigt, halb verhungert und mit Schulterblättern, die sich wie Stummel kurzer Engelsflügel auf ihren schmächtigen Rücken abzeichnen. Sie stehen oder sitzen, kauern oder liegen auf dem Boden. Und zeigen keinen Widerstand und kaum Anzeichen von Schmerz. Warten in der Stille und Dunkelheit auf den Augenblick, in dem Finger auf die Tastatur tippen, sich um die Maus legen und das tröstliche Summen des Computers sie zum Leben erweckt. Sie sind immer da, jederzeit willig wartend, und sie gehören immer dir.

Kapitel 1

Hochsommer – keine gute Zeit, um sich in New Orleans aufzuhalten. Jedes Mal, wenn Nick sich vom kalten Luftstrom der Klimaanlage entfernte, rann ihm der Schweiß zwischen den Schulterblättern herab, und jeden Nachmittag hingen Gewitterwolken wie schwarze Ungetüme über der Stadt, bevor riesige, dicke Regentropfen auf den Boden klatschten.

Nach Mardi Gras hätte er wegfahren, hätte vielleicht wieder in den Westen nach Kalifornien ziehen sollen, zurück nach San Francisco zu der Frau mit dem kleinen Laden für Perlen und Ketten. Sie hatte ihm gesagt, an ihrem Tisch sei immer Platz für ihn. Dort würde es Arbeit für ihn geben, Entwürfe und Illustrationen für die Broschüren, die sie an die Kunden ihres Versandhandels verschickte. Sie war dabei, eine Homepage einzurichten, an der er arbeiten konnte, wenn er wollte. Aber sie war ihm für seinen Geschmack zu nahe gekommen. Deshalb verließ er sie und ihre dunkeläugige Tochter und zog nach Süden in die Stadt an der halbmondförmigen Biegung des Mississippi.

Nach Mardi Gras hätte er wegziehen sollen, war aber trotzdem geblieben. Mit seiner Arbeit hier war er sehr zufrieden, denn er hatte an der Kunstakademie der Tulane University einen Lehrauftrag für Aktzeichnen bekommen. Und durch einen Zettel am Schwarzen Brett hatte er auf der Esplanade in einem heruntergekommenen Haus in der Nähe des French Quarter notdürftig Unterkunft gefunden. Hier glaubte er sich einrichten zu können. Wenigstens war dies eine amerikanische Stadt, in der er sich frei und ungeniert bewegen konnte. Auf den geraden Straßen des French Quarter, wo er durch vergitterte Tore flüchtige Blicke auf das schwere, kühle Grün der Innenhöfe erhaschte. Am Fluss, wo die Schutzdämme die roten Ziegeldächer der Stadt drei Meter oder mehr überragten. Er schlenderte durch die Alleen des Garden District an den riesigen, kunstvoll verzierten Fassaden der Häuser vorbei, die zugleich einladend und bedrohlich wirkten. Oder er nahm die Straßenbahn und fuhr die St. Charles Avenue hinunter, wo plappernde Touristen, die Videokameras vor den Augen, mit entzückten Aah- und Ooh-Rufen die gewaltigen, immergrünen, sich über die Schienen neigenden Eichen bestaunten, von deren Ästen das Spanische Moos in silbergrauen Fäden hing. Er fuhr bis zur Universität gegenüber vom Audubon Park, deren elegante Bauten im romanischen Stil zwischen den grünen Rasen- und Gartenflächen lagen.

Eine Kunsthochschule der klassischen Richtung, dachte er, als er am ersten Tag seine Kunststudenten im ersten Semester begrüßte. Es ging hier nicht um den Schwachsinn, bei dem man sich ständig mit neuen »Ideen« und Performance zu befassen hatte. In dem hohen Studio hatte das Modell hinter ihm Platz genommen und ließ den Bademantel zu Boden gleiten. Den jungen Leuten stockte der Atem, als sie die Frau sahen. Nicht weil sie schön war. Das war sie nicht, aber auf alle Fälle war sie nackt. Er hatte sich umgedreht, um sie ebenfalls anzuschauen. Eine richtige Frau. Die weißen Brüste mit den großen braunen Brustwarzen hingen schwer herunter und lagen breit und flach auf dem Brustkorb. Dunkle Haare in den Achselhöhlen. Ein runder, weicher Bauch mit Schwangerschaftsstreifen, die sich wie leuchtende Schneckenspuren über ihre Haut zogen. In den Kniekehlen rankten Blutäderchen wie zarte Blüten. Die Fersen waren mit Hornhaut bedeckt und die Zehen krumm und hässlich. Er hatte sich gleich gedacht, dass sie ihre Sache gut machen würde. Sie würde diesen Grünschnäbeln zeigen, dass es nicht nur perfekte weibliche Körper gab, die ihnen, mit Airbrush zur Vollkommenheit gestylt, vorteilhaft verpackt und keimfrei zur Betrachtung dargeboten würden.

»Stellung wechseln«, hatte er ihr alle zwei Minuten zugerufen, »wechseln« und immer wieder »wechseln«. Wie ein Zirkusdirektor oder der Ballettmeister eines russischen Tanzstudios. Und sie hatte seinen Wünschen entsprochen, hatte den Oberkörper gewendet und gedreht, die Arme gehoben und wieder gesenkt, erst das eine Bein, dann das andere nach vorn gestellt. Sie hob das Kinn, warf den Kopf zurück, duckte sich, ging in die Hocke und rollte sich schließlich zu einem Ball zusammen, legte die Hände vors Gesicht und zog die Knie an die Brust, bis er ihr Einhalt gebot und eine Pause verordnete, während er herumging und sich die Arbeiten der Studenten betrachtete.

Es machte Spaß diese Klasse zu unterrichten. Alle hatten in diesem ersten Semester jeden Tag neue Erfahrungen gesammelt. Er hatte beobachtet, wie sich ihre zaghaften Bleistift- und Kohlekritzeleien auf riesigen Bögen Zeichenpapier weiterentwickelten. Einige dieser jungen Leute konnten wirklich zeichnen. Er war von ihrer Arbeit fasziniert, davon, wie sie hinter der Oberfläche der unvollkommenen Haut des Modells die Frau als Persönlichkeit sahen und ihren Charakter und individuelles Wesen heraushoben, das nur ihr eigen war. Sie hatten ihn an die Zeichnungen erinnert, die er von Susan, seiner Frau, oder besser Ex-Frau, wie er sie wohl nennen musste, gemacht hatte. Das war vor Jahren gewesen, als sie beide noch studierten, während der Prüfungen an einem sonnigen Tag im Stephen's-Green-Park. Sie hatte einen Stoß medizinischer Lehrbücher dabei und zeigte ihm die Abbildungen von Muskeln, Bändern und Knochen und hielt die Seiten des Buches so fest, als wolle sie mit ihren Fingern auch von allem, was unter der Oberfläche lag, Besitz ergreifen. Er hatte seinen Bleistift in der Hand und warf immer wieder einen schnellen Blick auf sie, während er ihr Bild auf das Papier bannte. Das schwer herabfallende blonde Haar, die glatte helle Haut ihres Gesichts, des Nackens und der Arme. Die Rundungen ihres Körpers unter dem langen, mit blauweißen Margeriten gemusterten Kleid. Sie war barfuß und während sie sprach, krümmten und bewegten sich ihre Zehen, als seien sie separate Wesen.

Ihre Füße waren genau wie die von Owen. Nick hatte an jenem Morgen, als ihr Sohn auf die Welt gekommen war, die hohle Hand um ein Füßchen gelegt, die runzlige Sohle an seinen Mund gedrückt, dann den Zeigefinger unter die Zehen geschoben und zugesehen, wie sie sich um seinen Finger bogen und ihn festhielten. Und genauso fest umklammerten die Finger des Kindes seinen Daumen – wie die Arme eines winzigen Seesterns. Dann war er im Krankenzimmer umhergegangen, wo Susan schlaff und ausgelaugt gegen die weißen Kissen gelehnt schlief, und hatte dem Kind Versprechungen ins Ohr geflüstert und ihm seine Liebe und Hingabe gelobt.

Irgendwo in einer Pappschachtel gab es noch eine Reihe von Zeichnungen, auf denen er Owens Füße festgehalten hatte. Sie war wahrscheinlich noch im Keller ihres gemeinsamen Hauses, wo er sie zurückgelassen hatte, es sei denn, Susan hätte ihre Drohung wahr gemacht, alles, absolut alles zu zerstören, was sie an Nick und daran erinnerte, wie er sie und ihr gemeinsames Kind verraten hatte.

Jetzt, im Spätsommer, hatten die Studenten noch Semesterferien, und er unterrichtete morgens eine Klasse älterer Anfänger, die meisten Teilnehmer des sechswöchigen Kurses waren Damen mittleren Alters. Sie hatten ihre feinen Farben eingepackt, ihre teuren Pinsel gereinigt, ihre blumenbedruckten Kittel ausgezogen und waren zum Mittagessen gegangen. Ihr schleppender Südstaatenakzent klang im Flur nach, und im Studio hing noch ein schwacher Duft von Parfüm und Zigarettenrauch. Nick stand an seiner Staffelei, die Klimaanlage am Fenster surrte, die Nachmittagssonne schien schräg durch die Holzrollläden, und er fing wieder an zu zeichnen, diesmal aus dem Gedächtnis. Die Füße, die langen dünnen Beine, den schlanken Oberkörper, den Kopf mit dem kurzgeschnittenen dichten Haarschopf. Aber wo war das Gesicht? Warum waren da weder Augen noch Mund, Nase, Kinn, Wangen oder Stirn? Warum füllte nichts die Leere und ließ sein Kind wiedererstehen, um es von dort zurückzuholen, wohin es verschwunden war. Nick griff nach dem Kohlestift, hielt seine Hand erst zögernd über das Papier und drückte dann fest zu. Der Stift zerbrach, und auf der weißen Fläche zerbröselte in der Mitte ein tiefschwarzes Häufchen Kohle. Er starrte darauf und verwischte es leicht mit der Fingerspitze. Aber trotzdem war der dunkle Mittelpunkt immer noch da, wie ein Loch, eine Delle mit einem Heiligenschein, umgeben von Bruchstücken aus Haut, Gewebe und Knochen.

Er fasste den Entschluss, sich am Abend zu betrinken. Schon jetzt schmeckte sein Gaumen das Bier, während er das Blatt in vier Stücke zerriss. Das Bier, das man in dieser Gegend trank, hieß Jax und war bitter und stark, genau so wie er es mochte. Er würde den Bus die Freret Street hinunter zur Canal Street nehmen und dann durch das ganze Viertel schlendern, die Touristen beobachten und in Jede Bar einkehren, an der er vorbeikam. Er würde zur Bourbon Street gehen und so tun, als wäre er zum ersten Mal dort. Würde sich halbnackte Mädchen in den Fenstern der Striplokale ansehen, vom Blumenverkäufer an der Ecke der Iberville Street Nelken kaufen und sie der erstbesten hübschen Fremden überreichen, der er begegnete. Vielleicht würde er sich bei Pat O'Brien ein großes Glas Hurricane holen und es den Rest des Abends in der mitgelieferten schützenden Papphülle mit sich herumtragen. Oder er würde sich eine Frau suchen. Es war ihm egal, ob er sie bezahlte oder ihr im Lauf des Abends einfach nur Drinks spendierte. Und er würde sich schließlich völlig fertig in ihrem Bett wiederfinden, mit einem solchen Brummschädel, dass er tagelang an nichts anderes denken würde außer daran, wie er sich aus diesem Katzenjammer befreien könnte.

In der Nachmittagshitze steuerte er vom Bus aus in die Menschenmenge auf der Straße hinein. Von einem Straßenverkäufer holte er sich eine Flasche Root Beer, legte den Kopf in den Nacken, nahm einen großen Schluck und wischte sich mit dem Handrücken die Tropfen vom Kinn. Um ihn herum glänzte und glitzerte das Sonnenlicht in den Schaufenstern und auf den Dächern und Motorhauben der langsam auf die Stadtmitte zu kriechenden Autos. Er wich der gleißenden Helligkeit aus, blieb eine Weile unter einer Markise stehen und erholte sich von dem grellen Licht. Da sah er plötzlich einen Blitz, und Sekunden danach erfüllte grollender Donner die Straße, auf die sich wie aus Kübeln Regen ergoss. Immer wieder übertönte das Donnergrollen das Motorengeräusch der Autos, den rhythmischen Bass der Tanzmusik und die Geräuschkulisse von Menschen, Schritten und Stimmengewirr. Die Fluten überschwemmten den Gehweg bis zu den Läden, wo er sich untergestellt hatte. Das schäumende Wasser, das allerhand Müll, Papierfetzen, Zigarettenkippen, leere Coladosen, sogar halb verzehrte Hamburger in ihrer Styroporverpackung mit sich führte, schwappte strudelnd um seine Füße. Er trat zurück. Als der Wasserschwall dann nachließ, trat er vorsichtig ins Freie und bog um die Ecke in die Bourbon Street ein.

Kapitel 2

Es war einer dieser Fälle, die einfach nicht in Vergessenheit geraten. Ganz egal, wie viele Jahre vergangen waren, die Leute erinnerten sich immer noch daran. An den Jungen, der verschwand. Die verstörten Eltern. Die Aufrufe im Fernsehen. An die Nachrichten über die Suchaktion der Polizei, die intensivste und gründlichste, die jemals in einem Fall, der nichts mit Terrorismus zu tun hatte, durchgeführt worden war. Die Berichte, dass der Junge angeblich gesehen worden sei. Gesehen in Donegal, gesehen in Wexford, ebenso in Belfast und Cork. Gesehen in Grafton, wie er zusammen mit einem Mann und einer Frau mittleren Alters bei McDonald's einen Hamburger aß. Hier und da, angeblich überall gesehen, aber in Wirklichkeit doch niemals erkannt. Nie mehr gesehen.

Man erinnerte sich an seinen Namen. Sogar noch zehn Jahre danach. Owen Cassidy, acht Jahre alt. Dichtes, kurzes, helles Haar. Hellblaue Augen. Dünn. Bekleidet mit einem blauen Anorak, einer schwarzen Kordhose, einem handgestrickten roten Pullover und Turnschuhen. Zuletzt hatte ihn sein bester Freund Luke Reynolds gesehen, als er zwischen zwei und drei Uhr nachmittags an Halloween 1991 über den Rasen am Victoria Square in Dun Laoghaire ging.

Und was tat er an diesem Tag? Was alle anderen Kinder seines Alters an Halloween taten. Er bereitete das Lagerfeuer vor, sammelte Feuerholz, tauschte Knallkörper, gab seinem Kostüm den letzten Schliff. Dachte sich aus, wie viele Süßigkeiten, Geld und kleine Geschenke er an diesem Abend zusammenbringen würde, wenn sie von Haus zu Haus durch die Nachbarschaft zogen.

Und warum war er allein? Warum passte niemand auf ihn auf? Warum bemerkte man erst abends um halb sieben, dass er nicht da war und dass niemand wusste, wo er sein könnte? Nun ja, da wurde es interessant. Geschieht ihnen recht, sagten die Leute und nickten weise über ihren Biergläsern. Was kann man schon erwarten von Menschen, die nicht wissen, wo ihre Kinder sind? Ich finde, die Eltern sind schuld. Und sie waren doch so ein nettes Paar. Aber wissen Sie, haben Sie das schon gehört, wie kann man das nur machen, sich mit einer Nachbarin einlassen, während die Frau bei der Arbeit ist und das Kind vermisst wird. Was für ein leichtsinniger Kerl.

Sie schienen doch so ein nettes Paar zu sein. Beide selbständig. Sie, Susan, Ärztin, Spezialistin für Krebs im besten Kinderkrankenhaus des ganzen Landes. Er, Nicholas, von seinen Freunden Nick genannt, Autor und Illustrator von Kinderbüchern. »Preisträger« wurde er in allen Zeitungsartikeln genannt. Und beide so gut aussehend. Sie mit ihrem hellen Haar, das sich im Nacken hübsch nach außen wellte, mit ihrer glatten Haut und den gleichen blauen Augen wie ihr Sohn. Und er mit dem dunklen schulterlangen, modisch zerzausten Haar, von dem in der Boulevardpresse stand, er sehe so gut aus wie ein Rockstar. Mit dem gleichen schmalen Gesicht wie sein Sohn und den langen Beinen und Armen, der in Jeans und Lederjacke nur halb so alt aussah, wie er tatsächlich war.

Und dann ist da noch das Mädchen, das auf den Jungen aufpassen sollte. Wo war sie an diesem Nachmittag? Tja, das war ein trauriger Fall. Sie hieß Marianne O'Neill und war neunzehn, fast zwanzig. Zart und hübsch. Sie hatte die letzten zwei Jahre bei der Familie gelebt, sie aber schon viel länger gekannt. Sie war eine von Susan Cassidys Patientinnen gewesen, hatte als Dreizehnjährige Leukämie gehabt, wurde behandelt und geheilt. Ihre Familie hatte weiter in Kontakt mit der Ärztin gestanden, und als Marianne von Galway nach Dublin kommen wollte, war sie als Aupair zu den Cassidys gezogen. Dies passte allen Beteiligten recht gut. Die O'Neills waren froh, dass ihre Tochter in der großen Stadt sicher untergebracht war. Die Cassidys freuten sich sehr, jemanden zu haben, der sich um ihren Sohn kümmerte, denn so hatten sie genug Zeit für ihr ausgefülltes Berufsleben. Sie konnte ihrer Arbeit in der Klinik nachgehen – sechzig Stunden die Woche –, und er sich seinen Büchern, Zeichnungen und Liebeleien widmen. So war alles perfekt organisiert.

Warum also verbrachte sie den Nachmittag mit ihrem Freund Chris Goulding aus dem Nachbarhaus, mit dessen Schwester Róisín und Róisíns Freund Eddie, statt sich um das Kind zu kümmern? Dafür wurde sie ja schließlich bezahlt. Sie hingen alle im Keller der Goudings herum, kifften und betranken sich und trieben allen möglichen Unfug. Während der Junge und sein Freund mit Geld in den Taschen loszogen. »Kauf dir was Süßes, such Feuerholz, geh irgendwohin, aber komm erst später wieder, hörst du, Owen?« Und sie brachte ihn von seinen Einwänden, dem Klagen und Bitten, mitmachen zu dürfen, ab. »Hau ab, Owen«, waren ihre Worte gewesen, »ich hab's dir doch schon gesagt. Ich will nicht, dass du heute Nachmittag hier bist.«

An jenem Halloween-Nachmittag, dem 31. Oktober 1991. Als das ganze perfekte, wunderbar durchgeplante Arrangement in sich zusammenbrach. Und danach war für alle nichts mehr so wie früher. Nie wieder.

Owen Cassidy, der Name und das Gesicht. Was in aller Welt war nur mit ihm passiert? Er konnte doch nicht einfach so verschwunden sein, oder? Aber er war verschwunden. Tatsächlich.

Kapitel 3

Nick hatte den Schlüsselbund immer bei sich. Wenn er ausging, befestigte er ihn am Gürtel. Wenn er zu Hause war, lag er auf dem Tischchen neben seinem Bett. Er war das erste, wonach er morgens die Hand ausstreckte, und das letzte, was er berührte, bevor er sich schlafen legte. Der Schlüssel zur Tür des Hauses, in dem er mit Frau und Sohn gelebt hatte. Der Schlüssel zum Keller, wo er früher sein Studio hatte. Der schwere Eisenschlüssel zum Tor in der Gartenmauer. Der Schlüssel zur Garage, für sein Auto und das seiner Frau. Oft hielt er sie hoch und ließ sie am Ring hin und her baumeln. Dann legte er sie vor sich hin, betrachtete sie einzeln, benannte die Schlösser, für die sie gedient hatten, und dachte immer wieder über alles nach, was er zurückgelassen hatte.

Bis ihn die Frauen, die er kennenlernte und von denen manche ihn in den langen Jahren, seit er weggegangen war, lieben lernten, schließlich danach fragten.

»Sag mal, Nick, warum, was, wo ...?«

Manchmal erzählte er es und manchmal nicht. Es kam darauf an, wie er sich fühlte, wie sie rochen, wie sie sich ihrer Hände, ihrer Augen und ihres Lächelns bedienten. Die, denen er es gestand, nahmen ihn in die Arme, zogen seinen Kopf an ihre Brust, strichen ihm das Haar aus der Stirn, küssten ihn sanft. Sie wollten, dass er sich besser, weniger verantwortlich fühlte, und versuchten seine Schuldgefühle zu beschwichtigen. Bis er sie ärgerlich zurückstieß und rief, sie könnten ihm das Wissen, die Gewissheit und das schreckliche Gefühl der Verantwortung nicht abnehmen. Sie könnten ihm mit ihren Worten und Gesten nicht helfen. Und vor allem könnten sie ihm seinen Sohn nicht wiedergeben.

Und dann wussten sie immer, dass er zu viel gesagt, sich hilflos gemacht und preisgegeben hatte und dass nichts jemals wieder so sein würde wie früher und ihre Beziehung jetzt zu Ende war.

Und dann zog er weiter. Zur nächsten Stadt, zur nächsten Stelle und dem nächsten Zimmer. Zum nächsten Nachttisch, auf den er nachts die Schlüssel legen konnte. Zur nächsten Frau, die ihn bedauern, sich mit ihm anfreunden und sich in ihn verlieben würde. Dann die nächsten Fragen. Was ist mit den Schlüsseln los? Wozu sind sie? Sag's mir doch.

Na ja, weißt du, vor Jahren war ich verheiratet und hatte ein schönes Haus in einer netten Straße in einer kleinen Stadt. Ich hatte einen Sohn. Er hieß Owen. Er war klein und dünn, hatte dichtes blondes Haar und hellblaue Augen. Zwischen den vorderen Schneidezähnen hatte er eine schmale Lücke und am Kinn eine kleine Narbe von einem Sturz mit seinem ersten Fahrrad, bei dem er sich auf dem Gehweg verletzt hatte. Und eines Tages ließ ich ihn allein und ging aus, um jemanden zu besuchen. Eine andere Frau, nicht meine. Und ich dachte, er wäre in Sicherheit. Er spielte mit seinen Freunden. Er war bei seinem Aupairmädchen. Und mir war das gleich. Ich wollte bei ihr sein. Ich habe nicht einmal richtig tschüss zu ihm gesagt. Ich erinnere mich nicht daran, was ich als letztes zu ihm gesagt habe. Ich weiß nur, dass es meine letzten Worte an ihn waren. Weil ich ihn nie wieder gesehen habe. Niemand hat ihn jemals wieder gesehen. Er ist verschwunden. Etwas ist passiert. Ich weiß nicht was. Aber ich weiß, dass es schlimm war. Und jetzt habe ich daran kein Andenken mehr außer den Schlüsseln zu meinem Haus. Zu unserem Haus, zu dem Haus, in dem wir wohnten, Owen und seine Mutter und ich. Aber dort konnte ich nicht mehr wohnen. Deshalb bin ich weggegangen. Ich habe nichts außer den Schlüsseln mitgenommen.

Schließ die Tür ab, Daddy, nicht vergessen.Schließ die Tür ab, Daddy, damit die bösen Kerle draußen bleiben.Schließ die Tür ab, Daddy, dann sind wir sicher, oder?

Den Schlüsselbund hatte er immer dabei. An dem Tag, als Owen verschwand, lag er da, wo er ihn abgelegt hatte, mit den losen Münzen und seiner Uhr auf der Frisierkommode in Gina Harkins Schlafzimmer. Wann hatte er von dort weg und nach Haus gehen wollen? So zwischen vier und fünf an jenem Nachmittag. Aber er war eingeschlafen, den Kopf in ihr Kissen vergraben, und als er aufwachte, wusste er überhaupt nicht, wie spät es war. War es mitten in der Nacht oder morgens? Er wollte bleiben, regungslos ihre Wärme einatmen, aber sie weckte ihn, stellte ihm eine Tasse Tee hin und sagte, es sei Zeit zu gehen. Sie gab ihm seine Schlüssel und seine Uhr und ließ die Münzen einzeln aus ihrer kleinen Hand auf seine breite Handfläche fallen. Hinter der schmutzigen Scheibe des Fensters zur Straßenseite stand sie und winkte ihm zu. Sie beobachtete, wie er sich an den Schlüsseln zu schaffen machte und nach dem passenden unter ihnen für die Haustür suchte. Und sie sah, dass die Tür, bevor er ihn ins Schloss stecken konnte, von innen geöffnet wurde. Von Susan, die früher von der Arbeit nach Haus gekommen war. Früher, als sie erwartet hatten. Sie sah, wie er eintrat und ihr dabei eine Hand mit den herunterbaumelnden Schlüsseln entgegenstreckte und sie auf und nieder schwang. Dann drehte er den Daumen nach oben und streckte den Arm aus, das war das letzte, was sie sah, bevor er im Haus verschwand. Sie lachte über seine törichte Unbesonnenheit und dachte dann nicht mehr daran, bis die Polizei früh am nächsten Morgen an ihre Tür klopfte, um sie zu befragen.

Was hatte sie gesehen, was wusste sie, was konnte sie ihnen sagen?

Worüber?

Über den achtjährigen Owen Cassidy, der seit dem frühen Nachmittag des Vortages nicht mehr gesehen worden war. Und ein paar Tage später sagten sie zu ihr bei der Vernehmung:

Erzählen Sie uns von Owen Cassidys Vater, Nick. Erzählen Sie es uns noch einmal, Mrs. Harkin, dürfen wir Gina sagen? Erzählen Sie. Wann ist er hierher gekommen? Wann ist er weggegangen? Und was – es macht Ihnen doch nichts aus, wenn wir Sie Gina nennen? – was hat er all die Stunden hier bei Ihnen gemacht, Gina? Was genau hat er gemacht? Sie sind Malerin wie er, nicht wahr? Hatte er beruflich hier zu tun oder ging es ums Vergnügen? Was war los, Gina?

Sie konnte ihnen nicht antworten. Und er auch nicht. Konnte nichts sagen, das die Sache erklären, abmildern, ihn verteidigen oder entschuldigen konnte.

Konnte gar nichts sagen.

Kapitel 4

Wie betrunken war Nick, als er das Mädchen zum ersten Mal sah? Nicht so stark, dass er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Er konnte noch stehen, sich auf einen Barhocker setzen und wieder herunterrutschen. Konnte noch zur Toilette gehen. Und den hellen gelben Urinstrahl noch genau in das fleckige Becken steuern, wobei sich sein Blick in dem verschmierten Spiegel an der graffitibekritzelten Wand mit dem des Mannes neben ihm traf. Er war noch in der Lage, den Reißverschluss hochzuziehen, sich die Hände zu waschen und in die Bar zurückzugehen, um noch etwas zu bestellen.

»Einen Krug Bier für meine Freunde, Barkeeper, bitte, wenn Sie so gut sein könnten«, rief er und wies auf die Typen, die zu beiden Seiten der Bar neben ihm saßen. Er war gerade so betrunken, dass er reden konnte, wenn er sich zusammennahm, und auch betrunken genug, dass er sich benommen und fast glücklich fühlte. So als könnte die Welt sich wieder in einen guten und schönen Ort zurückverwandeln. Wenn auch nur für ein paar kurze Augenblicke.

Und dann sah er das Mädchen. Sie stand auf der viereckigen Bühne, die sich vor der Bar entlangzog. Den ganzen Abend hatten dort Mädchen getanzt, aber er hatte kaum darauf geachtet. Das Bier interessierte ihn mehr. Es war eine viel stärkere Droge als das zur Schau gestellte, nackte Fleisch. Die meisten Mädchen waren nichts Besonderes. So hässlich oder so hübsch wie jeder beliebige Querschnitt der Bevölkerung. Einige waren klein, andere hochgewachsen, manche mollig und einige richtig dürr. Manche hatten schlaffe Brüste, andere hatten mit Silikon so sehr nachgeholfen, dass die Brüste ein Eigenleben führten. Die meisten sahen starr über die Köpfe des Publikums hinweg, wobei ihre Kiefer im Rhythmus der Musik auf dem Kaugummi herumkauten und sie, ohne recht bei der Sache zu sein, ihre Brustwarzen betasteten oder eine Hand zur Scham hinunterwandern ließen. Er war sicher, dass sie dabei an nichts anderes dachten, als was sie zum Abendessen kochen könnten oder wie lange der Babysitter blieb.

Aber es war schon spät. Die Bargäste hatten gewechselt. Die Stadtfremden mit ihren vollen Brieftaschen und ihren an den Reisebussen wartenden Ehefrauen waren gegangen. Diese hier in Grüppchen zusammensitzenden Männer, deren Hände ständig mit Schlüsseln, Zigaretten oder Geld hantierten, kamen aus einer anderen Welt. Genauso wie das Mädchen, das jetzt über ihnen auf der Bühne stand. Nick trat zurück, um sie besser sehen zu können. Ihr Körper war außergewöhnlich schön. Sie war eine erfahrene Tänzerin. Sein Blick wanderte an ihren langen Beinen entlang, über den glatten, runden Bauch zu den kleinen, zarten, hochstehenden Brüsten hinauf. Ihre Haut war weiß. Sie sah unberührt, fast kindlich aus, an der Schwelle zwischen Pubertät und Erwachsenenalter. Er hob sein Glas, nahm einen großen Schluck und betrachtete ihr Gesicht. Eine Maske, die irgendein Tier darstellte, verdeckte ihre Gesichtszüge. Kleine Ohren ragten über ihren Kopf hinaus. Dreieckige Schlitze umrahmten ihre Augen, und eine spitze Schnauze gab ihr ein gefährliches und verschlagenes Aussehen, was überhaupt nicht zur zierlichen Schönheit ihres Körpers passte. Nick fühlte sich plötzlich benommen, als er zu ihr aufblickte. Als er beobachtete, wie sie sich vor ihm auf der Bühne hin und her bewegte, rauschte das Blut in seinen Ohren. Im Raum war ein merkwürdiges Schweigen eingetreten. Alle waren verstummt und sahen dem Mädchen mit der Maske zu. Er drehte sich um, blickte auf die anderen Männer und deren nach oben gewandte Gesichter und fragte sich, was sie wohl empfanden.

Und dann fragte er sich nichts mehr. Die Maske des Mädchens hing bedrohlich nah über ihm. Sie war ihm vertraut und doch so fremd. Er bemerkte, dass sie jetzt in der einen Hand eine Peitsche hielt. Eine Reitpeitsche aus steifem, geöltem Leder. Sie schwang sie über der Menge, kam damit knallend immer näher heran und schlug sich mit einer plötzlichen Bewegung, die ihn vor Überraschung zurückzucken ließ, hart auf den rechten Oberschenkel. Dann wieder auf das linke Bein, und sie drehte sich um und schlug sich auf das Gesäß. Er wäre gern zu ihr hinaufgesprungen, um ihr die Peitsche zu entreißen. Aber alle Männer um ihn herum hatten angefangen zu klatschen und zu johlen. Immer wieder ließ sie die Peitsche knallen, manchmal so scharf, dass er sich duckte und zurückzuckte, dann wieder zog sie sie ganz sanft über ihre Haut, ohne eine Spur zu hinterlassen. Die Männer feuerten sie an, konnten ihre Erregung kaum noch im Zaum halten, und Nick war jetzt einer von ihnen und rief nach mehr. Sie beugte sich zu ihm herunter und ließ die ausgestreckte Peitsche über seinen Kopf weg sausen. Er spürte den Hieb auf seinem Haar und wich zurück.

Und dann hörte die Musik ohne Vorwarnung schlagartig auf, und sie trat vor, beugte ein Knie, machte einen artigen Knicks und riss sich mit einer ausholenden Bewegung die Maske vom Gesicht, ließ sie am Band herunterbaumeln und sich drehen und hielt sie schließlich wie ein Henker einen abgeschlagenen Kopf zum Entzücken der Menge hoch. Er starrte die Maske an und sah, was es war. Ein Fuchs mit halb offener Schnauze und kleinen spitzen, zu einem Grinsen entblößten Zähnen. Er hob den Blick von der Maske zu dem Mädchen. Ihre Haare waren weißblond gefärbt und klebten schweißnass am Kopf. Sie schnappte nach Luft, aber auf ihren zarten Zügen lag ein Ausdruck rauschhaften, triumphierenden Glücks. Mit geradem Rücken parallel zur Bühne stehend knickste sie noch einmal und stellte dabei einen Fuß vor. Eher wie eine Ballett-Tänzerin, nicht wie eine Stripperin, dachte er, als sie den Kopf fast bis zum Boden neigte und die Fuchsmaske nur ein paar Zentimeter über seinem Gesicht baumeln ließ. Als sie dann den Oberkörper zur vollen Größe aufrichtete, sich auf die Zehenspitzen stellte, sich umdrehte und von der Bühne durch das Gedränge am Ende der Bar auf eine Tür zuging, sah er sie genauer.

»Mann.« Der Typ neben Nick hob sein Glas. »Was hältst du davon? Echt 'ne scharfe Schnitte.« Er trank aus und streckte Nick fragend sein Glas entgegen. »Wie wär's, Kumpel? Dasselbe noch mal?«

Aber Nick antwortete nicht. Er spürte den sauren, stechenden Geschmack von Bier und Galle im Rachen, sein Magen hob sich vor Übelkeit, und klebriger Schweiß stieg ihm aus Ekel vor sich selbst übelriechend in die Nase. Plötzlich sah er das Gesicht des Mädchens im Halbdunkel der überfüllten, rauchgeschwängerten Bar ganz klar vor sich. Es war Róisín Goulding, das Mädchen von nebenan. Die Schwester von Chris, Brians und Hilarys Tochter. Sie und ihr Bruder waren viel älter als Owen gewesen. Er war einundzwanzig, sie neunzehn. Sie waren mit Marianne O'Neill, Owens Kindermädchen, befreundet. Sie gingen bei den Cassidys ein und aus. Und Owen war auch oft bei ihnen. Lief ständig hinter ihnen her. Hörte mit ihnen Musik. Kam nach Hause und hatte allerhand Geschichten zu erzählen. Was sie getan hatten, wohin sie gegangen waren, wen sie getroffen hatten. Er bettelte, noch spät mit ihnen unterwegs sein zu dürfen, wenn es schon Nacht war und sie sich im Gartenhäuschen der Gouldings versteckten, um den Fuchs zu beobachten, die Füchsin, die mit ihren Jungen in den Garten kam. Sie schlich im Mondlicht auf den Rasen. »Los, Owen, du bist der Kleinste, da wird sie sich trauen. Geh, Owen, schau mal, ob sie dir aus der Hand frisst, gib ihr einen Keks, ein Stück Brot.« Als Nick im oberen Stockwerk am Fenster stand, fiel das Licht silbrigblau auf Dächer und Bäume und unten auf das helle Haar seines Einzigen, seines Sohnes.

Der weißblonde Schopf des Mädchens huschte jetzt durch die Menge an ihm vorbei. Er begann, sich hinter ihr durchzudrängen, schob die Leute weg, trat auf Zehen und kümmerte sich nicht um Proteste und überschwappende Gläser. Aber die Tür, hinter der er sie hatte verschwinden sehen, war verschlossen. Und als er am Griff riss, ihn zu drehen versuchte und dann die Schulter gegen den Holzrahmen stemmte, packte ihn ein Sicherheitsmann, dessen T-Shirt sich straff über seinem breiten Brustkorb und seinen muskulösen Armen spannte, und zog ihn energisch mit derbem Griff zurück.

»Kommt nicht in Frage, Mann, da kommst du nicht rein. Außer wenn du vorne dafür bezahlt hast und die kleine Lady das in Ordnung findet. Und heute abend hat sie nichts in der Richtung gesagt. Also, reiß dich zusammen, geh zu deinen Freunden zurück, trink noch 'n Bier, sonst ...« Er stieß Nick vor die Brust und grinste, als dieser zurücktaumelte und versuchte, das Gleichgewicht zu halten.

»Verpiss dich, lass mich in Frieden, nimm deine verdammten Pfoten weg«, sagte Nick, zog sich wieder hoch und merkte plötzlich, dass er nuschelte. »Ich weiß doch, dass sie es ist, es geht in Ordnung. Sie will mich bestimmt sehen. Ich weiß es. Ich sag Ihnen doch, lassen Sie mich rein. Hey«, er trat wieder vor und straffte die Schultern, »hörst du mir überhaupt zu, du Arschloch?« Als der Rausschmeißer warnend einen Finger an die Lippen hielt und dann einen schweren schwarzen Schlagstock von der einen in die andere Hand wandern ließ, wich er schnell wieder zurück. »Na, na, so was wollen wir doch in einem netten Lokal wie diesem hier nicht hören. Sie will Sie nicht sehen, sie will überhaupt niemand sehen, der nicht bezahlt hat. Ich hab dir's erst mal auf die nette Tour gesagt, mein Freund. Wenn ich dir's noch mal sagen muss, wird es beim zweiten Mal nicht mehr so freundlich. Also verschwinde einfach, hol dir an der Bar noch was zu trinken und geh dann nach Haus. Oder anders ausgedrückt: Das Charity Hospital ist gleich zwei Straßen weiter auf der Tulane Avenue. Dort kümmert man sich sehr gut um die Leute. Sogar um solche Arschlöcher wie dich.«

Iberville, Bienville, Conti, St. Louis, Toulouse, St. Arm, Dumaine, St. Philip. Er zählte die Namen der Seitenstraßen ab, während er dem Mädchen von der Hintertür der Bar aus folgte. Sie bewegte sich schnell und furchtlos durch die wogende Menge der Nachtschwärmer, die auf den Straßen aus Flaschen in braunen Papiertüten tranken, sich gegenseitig und jeder Frau etwas zuriefen, die gerade vorbeikam. Aber sie sah ohne ihre Maske in Jeans und einem unauffälligen T-Shirt nicht mehr außergewöhnlich aus, als sie da schnell vor ihm herging. An der Ecke von Ursulines und Bourbon Street bog sie links in die Royal Street ein. Er folgte ihr und hörte jetzt in der plötzlichen Stille das Klicken ihrer Sandalen auf dem Kopfsteinpflaster. Sie bog wieder ab, und nachdem sie vor einer Tür neben einem Schaufenster mit Kräutermedizin und Naturkost stehengeblieben war, suchte sie etwas in ihrer Tasche. Als sie die Hand hob und das Licht einer Neonreklame auf einen Schlüsselbund fiel, rief er ihren Namen.

»Hey, Róisín, du bist es doch, oder? Róisín Goulding, aus Dublin.«

Sie wandte ihm langsam ihr plötzlich ängstliches Gesicht zu.

»Róisín.« Er kam näher. »Hi, wie geht's dir? Erinnerst du dich an mich?«

Sie sah kaum älter aus als vor zehn Jahren, als er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Ihr kleines Gesicht war noch genauso, wie er es in Erinnerung hatte. Die Tochter der Nachbarn. Die kaum ein Wort sagte, wenn er sie in ihrer Schuluniform zufällig traf oder wenn sie Marianne besuchen kam, in ihrer Küche saß und Kaffee trank oder sich auf Mariannes Bett fläzte und Zeitschriften las. Sie und ihr älterer Bruder hatten sich vor Mariannes Zeit als Babysitter um Owen gekümmert. Chris und Róisín, sie hätten Zwillinge sein können, wäre der Altersunterschied nicht zwei Jahre gewesen. Derselbe schmächtige Körperbau und das hellbraune Haar. Wenn sie sprachen, hatten sie die gleiche Art, dabei auf den Boden zu starren, um die Neugier der anderen von sich abzulenken, sich Außenstehende vom Hals zu halten. Wenn er sich recht erinnerte, hatte Róisín tatsächlich nie gesprochen, wenn sie es vermeiden konnte. Chris sprach immer für sie. Beantwortete Fragen, die an sie gerichtet waren, und sah die voraus, die ihr vielleicht gestellt würden. Er zog wirklich die Schau des großen Bruders ab, ohne den nichts lief.

»Róisín, hey, erinnerst du dich an mich? Nick Cassidy. Aus Dublin. Weißt du noch?«

Aber sie hatte schon den Schlüssel ins Schloss gesteckt, ihn umgedreht, die Tür geöffnet und sie wieder zugeschlagen, bevor er es verhindern konnte. Sie hatte ihn draußen auf der Straße stehen lassen, wo er das Gesicht an das in die schwere Holztür eingelassene Gitterfenster presste. Er rief der Gestalt, die schnell den dunklen Gang entlang auf ein helles Licht an seinem Ende zuging und verschwand, etwas hinterher, während er mit der flachen Hand gegen die Tür schlug und dann aufs Geratewohl auf alle Klingelreihen über den Briefkästen drückte. Er wartete auf ein Summen des Haustürschlosses. Aber nichts regte sich.

Er trat vom Gehweg auf die Mitte der Straße zurück. Es war jetzt still hier, überhaupt kein Verkehr. Licht drang durch die Läden und Vorhänge auf die Straße. Er sah zu den hohen Fenstern und dem schmiedeeisernen Balkon hinauf, der auf den Gehweg hinausragte, und erblickte dort eine Gestalt, die sich gegen den sattgelben Lichtstrahl abzeichnete und auf ihn herabblickte. Als schwere Vorhänge vorgezogen wurden, sah er nichts mehr, alles war wieder dunkel.

Kapitel 5

Draußen hing der Mond am schwarzen Himmel. Hin und wieder verdunkelten dichte Wolken sein Licht. Drinnen lag Nick mit offenen Augen auf dem Rücken und betrachtete die Muster, die der Widerschein von der Straße an die Decke malte. Als er aufgewacht war, wusste er zuerst nicht, wo er war. Er hatte von zu Hause geträumt, aber sein Traum war vage und zusammenhanglos gewesen. Er konnte sich an nichts erinnern, was geschehen oder nicht geschehen war. Aber er war da gewesen, in jenem Haus, das einst ihm gehört hatte, und als sein Blick jetzt in diesem dunklen Zimmer umherirrte, erschien es ihm unbekannt und fremd. Die Fenster waren nicht am gewohnten Platz, die Decke war zu niedrig. Gegenüber dem Bett fehlte der große Wandspiegel. Und wo war Susan? In seinem Traum war er sicher gewesen, dass sie neben ihm lag. Er konnte noch spüren, wie sich ihre Schenkel an ihn drückten, ihre Brüste und ihr Bauch sich weich an sein Rückgrat schmiegten und ihre Hand die seine hielt.

Er blieb regungslos liegen und horchte auf die Laute, die von der Welt draußen hereindrangen. Was würde er hören? Das Morgenlied einer Drossel oder einer Blaumeise? Das erste zögernde Glockenläuten des Tages und das dumpfe Zuschlagen von Mrs. Morrisseys Haustür, die sich zwei Häuser weiter auf den Weg zur Frühmesse machte?

Irgendwo auf dem Fluss ertönte die tiefe, melancholische Sirene eines Schleppers. Er lag still da, wartete auf eine Antwort und vernahm tatsächlich von einem zweiten Schiff ein Tuten in etwas höherer Tonlage. Er horchte auf die Stimmen der beiden Schiffe über dem leicht bewegten schwarzen Wasser des Flusses. Und da fiel ihm das Nebelhorn ein, das jeden Winter in der Dublin Bay zu hören gewesen war. Ein aufdringliches, hässliches Geräusch, fast wie ein Brüllen. Novemberwetter – abends und morgens neblig. Regungslose Stille, in der Nacht undurchdringliche Dunkelheit und selbst mittags kaum Sonne. Die Halloweenfeuer brannten, um die Dunkelheit zu erhellen. Der Tag, an dem Owen verschwand. Am Nachmittag war es neblig und ein kalter Nordwind blies. Und in dieser Nacht und in allen anderen Nächten dieses langen Monats November lag Susan schlaflos flach auf dem Rücken neben ihm, beide taten kein Auge zu, sahen auf die Uhr, horchten auf das Telefon, und hörten doch nur das Nebelhorn, das mit zuverlässiger Regelmäßigkeit alle zwanzig Sekunden seinen hässlichen Brüllton ausstieß. Sie fühlten die Kälte auf ihren Gesichtern und grübelten: Wo war er? War er hungrig, durstig, hatte er Angst, war er verwundet? Rief er nach ihnen? Wartete er darauf, dass sie ihn fanden? Er griff nach Susans Hand und bemerkte, dass sie schließlich auf ihrem tränennassen Kissen doch eingeschlafen war. Und wusste, dass er mit dem Einschlafen an der Reihe war, sobald sie aufwachte. So vermieden sie wieder einmal die Sätze, die gesagt werden mussten.

Wie konntest du nur?Wie konntest du ihn einfach so allein lassen?Warum hast du nicht nachgesehen, wo er war?Warum hast du dich nicht vergewissert, ob Marianne bei ihm war?Was hast du überhaupt den ganzen Nachmittag gemacht?Warum sagst du mir nicht die Wahrheit?

Denn sie wussten, dass die Wahrheit für sie beide das Ende bedeuten würde.

Liebst du mich?Wenn du mich liebst, wie du behauptest, wie konntest du es dann tun?Magst Du mich nicht mehr?Nein, oder?

Als sie, ohne sich zu berühren, nebeneinander lagen, horchte jeder auf den Atem des anderen und auf das klagende Nebelhorn. Die Stunden vergingen, und jeder weinte für sich allein.

Schließlich setzte er sich auf und schaltete das Licht an, er konnte die Bilder nicht mehr ertragen, die ihm vor Augen standen. Das Zimmer nahm Form an. Es war klein und quadratisch. Schmucklose weiße Wände und ein dunkler Holzboden. Ein Bett, ein Stuhl, ein Kleiderschrank. Ein Ventilator, der sich langsam surrend an der Decke drehte. Er stand auf und öffnete die Tasche, die halb gepackt in der Ecke lag. Er wühlte darin herum und zog eine große Plastikmappe heraus, griff hinein und hielt einen Stoß Fotos in der Hand. Owens Gesicht sah ihn an, der Neugeborene mit der vollkommenen, unberührten Haut lag in den Armen seiner Mutter. Der Reihe nach betrachtete er die Bilder, sah Owen wachsen und das Leben Gestalt annehmen. Owen krabbelte, stand auf, machte seine ersten unsicheren Schritte. Er rannte, spielte mit einem Fußball, saß auf seinem Fahrrad, spielte mit seinem Freund Luke, der auf der anderen Seite des Platzes wohnte. Sein erster Schultag. In den Ferien lernte er in ihrem Lieblingsdorf auf Kreta schwimmen, trug einen Schnorchel und eine Maske, stand am Rand des Schwimmbads zum Tauchen bereit, und im Hintergrund sah Susan, auf deren dunkler Brille das Sonnenlicht blitzte, von ihrem Buch auf. Immer lächelte er, so dass man die Lücke zwischen den Zähnen sah, und sein dichtes helles Haar stand ungebärdig hoch. Ein Wintertag im Garten. Schnee lag wie eine Decke auf dem Rasen, und Owen war da mit Marianne und den anderen. Chris und Róisín und ein Freund von ihnen, Ed, so hieß er doch? Ein stiller, schüchterner Junge, der leicht stotterte. Owen zeigte vor der Kamera freudestrahlend auf eine Fährte im Schnee, eine gleichmäßige Spur kleiner Pfoten.

»Sieh mal, Daddy. Sieh doch, wer heute nacht hier gewesen ist. Ich habe ihn vom Fenster aus gesehen. Ich habe recht gehabt, du hast mir nicht geglaubt, stimmt's? Du hast gedacht, ich hab's erfunden, oder? Aber er war wirklich hier. Der Fuchs war in unserem Garten. Und das ist der Beweis.«

Der Beweis, der Beweis, dass es Owen gegeben hat. Diese acht Jahre lang war er mein Sohn, mein geliebtes Kind. Nick zog eine andere Mappe aus der Tasche und breitete den Inhalt auf seinem Bett aus. So viele Bilder mit so vielen anderen Kindern. Jungen, die etwa in Owens Alter waren und die Owen hätten sein können. Mit derselben Haarfarbe, derselben Farbe der Augen, dem gleichen Körperbau und Aussehen. Fotos, die er Monate, Jahre danach in tausend Meilen Entfernung von dem Ort aufgenommen hatte, an dem Owen zuletzt gesehen wurde. Auf Nicks Reisen, zuerst nach London, dann nach New York, Toronto, Boston, Washington, Chicago und Los Angeles. Dann zu den kleinen Städten, die wie eine Handvoll Kieselsteine über ganz Amerika verstreut waren. Hierhin und dorthin, zurück und wieder weiter. Überallhin, wie es ihm gerade in den Sinn kam. Schließlich nach New Orleans. Mitten im Sommer, als es zu heiß in der Stadt war. Nach Mardi Gras hätte er weggehen sollen. Hätte an jedem anderen Ort eher bleiben sollen als hier. Aber hier hatte er das Mädchen mit der Fuchsmaske gesehen und seit Jahren zum ersten Mal eine Verbindung zu all dem gefunden, was er hinter sich gelassen hatte.

Sonst hatte er nur die Sammlung von Fotos. Seine Bilder von Owen und von Jungen, denen Owen heute hätte ähneln können. Er zog aus seiner Sammlung den letzten Stoß Fotos heraus, den er aufgenommen hatte. Bilder von einem Studenten, der in seinen Unterricht gekommen war. Seine Haut war leicht gebräunt, und Nick konnte, wenn er sich vorbeugte, die Wirbel sehen, die sich durch das T-Shirt abzeichneten und am oberen Rand hervorschauten. Sein kurzes Haar lag eng am Kopf an und verlief im Nacken wie eine Pfeilspitze. Nick wusste, wie er ohne Kleider aussehen würde. Mit hellem Flaum auf Armen und Beinen und am Ende des Rückgrats. Nick hatte ihn beobachtet und sich gewünscht, ihm näher kommen zu können. Die Ohren des Jungen waren klein und wohlgeformt, und zwischen den beiden Vorderzähnen war eine Lücke. Wenn er dasaß und zeichnete, wippte er die ganze Zeit mit dem Fuß. Und hin und wieder legte er den Bleistift weg und zupfte an den Haarbüscheln, die am Scheitel hochstanden.

»Lass das, Owen. Du machst es nur schlimmer. Lass das doch, dann wird es sich von selbst legen. Und hör doch auf dauernd mit dem Fuß herumzuzappeln, du machst mich ganz verrückt. Gib Ruhe, um Himmels willen, ja?«

Der Junge hieß Ryan und war achtzehn. Er wohnte am anderen Flussufer drüben in Algiers. Seine Mutter hatte ein Geschäft, in dem sie Kaffee und allerhand Raritäten verkaufte. Sein Vater war Zahnarzt. Als er zehn war, hatten sich seine Eltern scheiden lassen. Seine Mutter hatte wieder geheiratet, sich aber dann auch von diesem Mann getrennt. Es gab noch zwei jüngere Kinder, Mädchen. Nick hatte sich über seine Staffelei gebeugt und seine Zeichnung betrachtet. Er roch das Aftershave des Jungen, es war aromatisch und würzig. Als hätte er es überhaupt nötig sich zu rasieren, hatte Nick gedacht, während er die glatten Wangen des Jungen betrachtete. Er sah sich die Zeichnung an. Der Junge war begabt, seine Bewegungen sicher und gewandt. Früher als alle anderen in der Klasse hatte er seine Studie des Modells fertig. Und den Rand seines Blattes hatte er mit einer komplizierten, verschlungenen Girlande aus Vögeln, anderen Tieren und Fischen verziert.

»Das gefällt mir«, sagte Nick. »Es ist so ähnlich wie die Motive auf den alten keltischen Manuskripten.«

»Wie das Book of Kells«, sagte der Junge.

»Stimmt. Kennst du das denn?«

Der Junge nickte, spitzte seinen Bleistift mit einem kleinen Messer an und blies die Späne vom Blatt.

»Meine Mutter verkauft solche Sachen in ihrem Laden. Postkarten, Tischdecken, Poster, die sind alle mit den Bildern von dem Buch verziert. Ihre Familie kommt aus Irland. Wir sind dort gewesen, als ich klein war, und wir sind in die Universität gegangen und haben es uns angeschaut. Es war toll. Ich wollte jeden Tag wieder hingehen und die nächste Seite ansehen.« Er wandte sich Nick zu. »Wissen Sie, ich habe ihr gesagt, dass Sie aus Dublin sind, und sie sagte, wenn Sie in der Nähe sind, sollen Sie unbedingt mal reinschauen und hallo sagen.«

Der Junge spielte mit dem Bleistift und einem weichen, gelben Radiergummi. Ständig war er am Zeichnen und Radieren und wischte die kleinen Stückchen Gummi und Graphit weg. Seine Fingerspitzen waren schon ganz schwarz.

»Kannst du dich noch an Dublin erinnern? Hat es dir dort gefallen?«

Aber der Unterricht war zu Ende, und Ryan war aufgestanden, packte seinen Block und seine Stifte zusammen und ging mit den anderen Studenten weg, die an der Tür auf ihn warteten. Plötzlich hatte ihn die unerwartete Unterhaltung mit dem Lehrer in Verlegenheit gebracht. Dieser komische Kauz aus Irland, hatte Nick sie einmal im Vorbeigehen sagen hören. Er war hinter Ryan hergegangen, als dieser den Korridor entlangschlenderte, mit den weiten, über seine Turnschuhe herabhängenden Jeans und der umgekehrt aufgesetzten Baseballmütze. Er hatte ihn beobachtet, wie er mit seinen Freunden auf den Parkplatz zuging und zwischen den Bäumen verschwand. Er wäre ihnen gerne gefolgt, um zu sehen, wohin sie gingen und was sie taten, hätte gerne zugehört, worüber sie sich unterhielten, und versucht, ihre Sprache zu lernen, die Sprache, die auch Owen jetzt gesprochen hätte. Aber er hatte gesehen, wie sie sich entfernten, wenn er ihnen zu nahe kam. Sie hatten sein Verlangen nach Nähe gespürt. Er wusste Bescheid.

Die Fotos um sich herum ausgebreitet, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, lag er auf dem Bett. Es hatte eine Zeit gegeben, wo man ihn als Täter verdächtigt hatte. Es war seine eigene Schuld gewesen, er wusste das. Er hatte der Polizei nicht sagen wollen, wo er an jenem Nachmittag gewesen war. Er hatte Ausflüchte gemacht, hatte sich gedrückt und war ihnen ausgewichen. Dann hatte er gelogen und behauptet, er sei den ganzen Nachmittag in der Stadt gewesen und hätte mit einem Verleger ein neues Projekt besprochen. Schob alles Mögliche vor, um nicht die Wahrheit sagen zu müssen. Er bemerkte den festen Blick, mit dem der Leiter der Ermittlungen, ein gewisser Superintendent Matt O'Dwyer, ihn betrachtet hatte, und hörte ihn sagen, man wolle ihn zu einer offiziellen Vernehmung zum Revier mitnehmen und verhaften. Selbst nach dieser langen Zeit spürte er noch immer die Angst, die ihn ergriff, ihm den Magen umdrehte und wie bittere Abscheu vor sich selbst in ihm aufstieg.

»Also gut, okay. Ich sage Ihnen, wo ich war. Ich habe ein Alibi für den ganzen Nachmittag. Sie können nachfragen, wenn Sie möchten.«»So, wie wir auch die anderen überprüft haben, meinen Sie wohl, Mr. Cassidy?«»Nein, nein, diesmal wird sie die Aussage bestätigen.«»Sie?«»Ja, ihr Schweine. Sie. Seid ihr jetzt zufrieden?«

Er hatte sie genau kennengelernt, diese Polizisten, die sich ihres gemeinsamen Lebens bemächtigt hatten. Eine aus der Ermittlergruppe, eine junge Frau, die noch nicht lange dabei war, wie sie Susan erzählt hatte, war zu ihnen gezogen. Sie hieß Min Sweeney und war zweiundzwanzig. Sie kümmerte sich um die Anrufe, hielt den ständigen Ansturm der Neugierigen, Gefühllosen und Rachedurstigen von ihnen fern. Die Leute, die spät in der Nacht anriefen, sie mit Obszönitäten überschütteten und Andeutungen machten, wo Owen sein könnte und was er wohl gerade tat.

»Sie beide machen zurzeit eine lehrreiche Phase durch«, sagte sie zu ihnen.

Und sie hatte recht. Während sie darauf warteten, dass etwas geschah, erfuhren sie sehr viel in diesen langen Monaten. Zum Beispiel, wie gütig und rücksichtsvoll Menschen sein und mit welcher Grausamkeit sie Unglückliche bestrafen konnten.

Schließlich hinterfragten sie alles, was sie einst als selbstverständlich betrachtet hatten. Die Ermittler hatten eine Liste von Verdächtigen aufgestellt, auf der alle Nachbarn und all diejenigen aufgeführt waren, mit denen Owen Kontakt gehabt hatte. Seine Lehrer, seine Schulkameraden, seine Freunde und seine Eltern. Deren Freunde. Ihre weitere Familie. Allen stattete man Besuche ab, alle wurden befragt. Alle Alibis wurden genau überprüft. Sie sahen die Stöße von Fragebögen, die von denjenigen ausgefüllt worden waren, die im Umkreis von einer Meile um ihr Haus wohnten. Jede Menge Informationen, Zeitangaben, Orte, Fahrten, Besuche, Gäste. Jeder in der Umgegend musste sich an- und abmelden. Bei so vielen Recherchen meinten sie, dass es doch möglich sein müsste, Owen zu finden.

Alle Häuser in der näheren Umgebung wurden durchsucht. Außerdem die Gärten, Dachböden, Keller und Schuppen; in den frisch angelegten Blumenrabatten und Gemüsebeeten wurde bis tief hinunter gegraben. Wärmeempfindliche Sensoren wurden zur Untersuchung des Bodens herangezogen.

»Was ist dir lieber«, hatte ein paar Wochen später Susan eines Abends zu ihm gesagt, als sie ihre zweite Flasche Wein geleert und den Whiskey angebrochen hatten. »Was ist dir lieber, Nicky? Ein totes Kind oder überhaupt keines?«

»Was willst du?« Er stand mit der Flasche in der Hand vor ihr.

»Na.« Sie hielt ihm ihr Glas hin. »Na, tote Kinder machen mir keine Angst und sind auch kein Geheimnis für mich. Ich sehe jeden Tag welche. Ich habe an ihrem Bett gesessen, als sie ihren letzten Atemzug taten. Ich habe ihre verwüsteten Körper gewaschen und sie eingewickelt. Ich habe sie aufgeschnitten, weil ich herausfinden wollte, woran sie gestorben waren. Ich habe sie ihren Müttern übergeben. Ich war dabei, wenn sie begraben wurden, und ich habe um sie getrauert. Ich habe die Verzweiflung nach ihrem Tod gesehen und auch die Erleichterung, mit der er begrüßt wurde.«

»Das ist also deine Antwort?« Er setzte sich neben sie und nahm ihre Hand.

»Nein, du Mistkerl. Meine Antwort ist, dass ich meinen Sohn wiederhaben will. Ich will ihn lebendig und unversehrt und schön und vollkommen wiederhaben, genau so wie er an dem Morgen war, als ich zur Arbeit wegging und ihn in deiner Obhut zurückließ. Denk daran, Nicky. Denk daran, dass du mir versprochen hast, du würdest auf ihn aufpassen. Dass ich weiterarbeiten könnte und du zu Hause bleiben und die Verantwortung für ihn übernehmen würdest. Nicht Marianne oder sonst irgendjemand. Sondern du. Und was hast du getan? Du hast Marianne dazu gedrängt, nach ihm zu sehen, stimmt's? Sie hat mir gesagt, dass sie den Nachmittag freihaben wollte. Ich sagte, das ginge in Ordnung. Aber das war dir nicht recht. An dem Tag wolltest du keine Verantwortung für Owen haben. Du hattest etwas anderes vor. Also hast du Marianne gesagt, sie müsste sich um ihn kümmern, denn dafür bekam sie schließlich ihr Geld. Aber sie hatte eigene Pläne. Genau wie du. Sie folgte deinem Beispiel. Sie wusste, was du vorhattest. Also, sag es mir jetzt. Erzähl mir alle Einzelheiten. Hat es Spaß gemacht, was du mit der Frau an dem Nachmittag getrieben hast? Hast du einen Orgasmus gehabt, während meinem Sohn das Leben genommen wurde? Hattest du einen oder mehrere? Sag's mir, sag es. Na los, sag's mir.«

Er sammelte die Bilder ein und steckte sie sorgfältig wieder in die Plastikmäppchen. Dämmerlicht drang langsam durch den Rollladen. Er beobachtete, wie es an der Decke erschien. Es war auch schon warm. Bald würde die Hitze unerträglich sein. Er stand auf, nahm ein Handtuch und ging ins Badezimmer Im Haus war alles still. Er trat in die Dusche und drehte das kalte Wasser auf, biss die Zähne zusammen und ließ es über Kopf und Körper rinnen. Hatte das Mädchen Róisín die Maske selbst gemacht? Alle hatten sich an jenem Halloweentag Masken gebastelt. Marianne und Chris, Róisín und Eddie hatten sehr schöne Tier- und Vogelmasken aus Federn und Pappmaché hergestellt, angemalt und mit Perlen und Stickerei verziert. Sie hatten ihn um Hilfe gebeten, und er hatte ihnen die Umrisse gezeichnet, ihnen gezeigt, wie man Pappmaché macht, und ihnen Farben und Wachsstifte gegeben. Marianne war eine Katze, Chris eine Elster, Róisín ein Eichhörnchen, Eddie ein Dachs. Und Owen? Er war der Fuchs. Sie hatten ihm sogar einen großen buschigen Schwanz gemacht, der hinten an seinen Mantel angenäht werden musste. Sie hatten Blechpfeifen, auf denen sie spielten, und Owen hatte eine irische Bodhran, auf der er herumtrommeln konnte.

»Und wenn es dunkel wird«, hatte Marianne ihm gesagt, »gehen wir aus dem Haus zum offenen Feuer. Hör mal, was für eine Melodie wir uns ausgedacht haben. Gefällt sie dir?«

Er hatte den ganzen Nachmittag mit Gina Harkin im Bett gelegen, im vertrauten Geruch von Ölfarben und dem süßlichen, staubigen Duft von Pastellfarben und Kreiden. Von Zeit zu Zeit glaubte er Musik und Trommelschläge zu hören. Und dann wieder einen plötzlichen Knall, wenn eines der Kinder seine Feuerwerkskörper ausprobierte. Er hatte sein Gesicht an ihre weiche Brust geschmiegt und langsam und tief geatmet, bis er einschlief. Warm, zufrieden und friedlich.

Jetzt stieg er aus der Dusche und trocknete sich ab. Silberfäden glänzten in dem dichten Haar auf seiner Brust, und als er sich im Spiegel betrachtete, blickten ihn die Züge eines alten Mannes an. Mit Falten auf der Stirn und zwischen den Augenbrauen, feineren Linien um die Augen herum und tiefen Furchen zwischen Nase und Mund. Als er Owen verlor, war er fünfunddreißig gewesen. Jetzt war er bereits fünfundvierzig. Das jüngste von fünf Kindern. Sein Vater war schon seit vielen Jahren tot, und auch seine Mutter lebte seit drei Jahren nicht mehr. Es war ganz plötzlich passiert. Zwei Monate, bevor sie starb, hatte er einen Brief von ihr bekommen. Wie immer stand am Anfang und am Ende des Briefes die Frage, wann er nach Hause käme.

Du fehlst mir, Nicky, hatte sie mit ihrer immer noch deutlichen Handschrift geschrieben. Wir alle vermissen dich. Wir sprechen immer von dir und fragen uns, wie es dir geht. Du solltest zurückkommen, das weißt du doch. Dein Platz ist hier bei deiner Familie.

Er wusste, was sie in Wirklichkeit meinte.

Du hättest nie weggehen dürfen. Du bist geflohen. Du hättest hier bleiben sollen und dir ein neues Leben aufbauen, wo es wichtig ist.

An dem Tag, als er sie besuchte, um ihr zu erklären, dass er weggehen würde, hatte sie ihm das gesagt. Es war ein kalter Nachmittag, und er kniete neben ihr, um das Feuer anzuzünden. Er hatte das Feuerholz klein gebrochen und beharrlich mit Kohlenstückchen zum Glühen gebracht, hatte die dünne Flamme angefacht, bis sie allein weiterbrannte. Dann sah er zu, wie Zugluft die Flamme in den dunklen Kamin hinaufsog und das Gas vor dem dunklen Orange der glühenden Kohlen plötzlich blau, grün und gelb aufflammte, bis die Hitze so intensiv wurde, dass er bis zu ihrem Stuhl zurückgewichen war und den Kopf an ihr Knie gelehnt hatte.

»Du machst einen Fehler«, sagte sie. »Es hat keinen Sinn, von hier wegzugehen, du kannst nicht vor deinen Gefühlen davonlaufen. Sie werden dir folgen. Das weißt du doch, oder?«

Er gab keine Antwort.

»Und was ist mit Susan? Was soll aus ihr werden?«

»Sie wird nicht weggehen, sie wird weiter im Haus wohnen. Sie sagt, sie muss dableiben, für den Fall ... Für welchen Fall, habe ich sie gefragt. Aber sie hört nicht auf mich.«

»Für welchen Fall?«, hatte er sie angeschrien. »Was machst du dir vor? Er wird nicht zurückkommen.«

»Wirklich?« Sie hatte still dagesessen und zu ihm aufgesehen. »Ich weiß es nicht. Ich warte auf mein Kind. Ich werde ewig warten, wenn ich muss. Und wenn du ihn liebtest, wie du behauptest, dann würdest du auch warten, zusammen mit mir.«