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Die Zeit heilt keine Wunden – aber sie kann dir neue zufügen: Der psychologische Thriller »Todeskälte« von Julie Parsons jetzt als eBook bei dotbooks. Wie lange darf man trauern – sind zehn Jahre genug? Immer noch sieht Margaret die schrecklichen Bilder vor sich: ihre geliebte Tochter, gedemütigt, misshandelt und ermordet. Keine Mutter sollte das erdulden müssen. Trotzdem hält Margaret an den schmerzhaften Erinnerungen fest, denn es fühlt sich an, als wäre ihr nichts anderes geblieben. Das ändert sich, als sie durch Zufall einem Mädchen begegnet: Vanessa hat ihre Schwester verloren. Selbstmord, so heißt es. Je mehr Margaret erfährt, umso größer werden ihre Zweifel. Was, wenn es Mord war … und was, wenn auch Vanessa in größter Gefahr schwebt? Margaret weiß, dass es vernünftig wäre, sich nicht in die Ermittlungen einzumischen. Aber sie kann nicht zulassen, dass ein weiteres Kind stirbt. Sie wird alles tun, um das zu verhindern. Wirklich alles! Beklemmend, fesselnd, faszinierend: Mit kalter Präzision leuchtet Julie Parsons die Tiefen der menschlichen Seele aus. Jetzt als eBook kaufen und genießen: In »Todeskälte« erzählt Julie Parsons, die irische Königin der Psycho-Spannung, die Geschichte weiter, die mit ihrem Weltbestseller »Mörderspiel« – auch bekannt unter dem Titel »Mary, Mary« – begann. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 583
Über dieses Buch:
Wie lange darf man trauern – sind zehn Jahre genug? Immer noch sieht Margaret die schrecklichen Bilder vor sich: ihre geliebte Tochter, gedemütigt, misshandelt und ermordet. Keine Mutter sollte das erdulden müssen. Trotzdem hält Margaret an den schmerzhaften Erinnerungen fest, denn es fühlt sich an, als wäre ihr nichts anderes geblieben. Das ändert sich, als sie durch Zufall einem Mädchen begegnet: Vanessa hat ihre Schwester verloren. Selbstmord, so heißt es. Je mehr Margaret erfährt, umso größer werden ihre Zweifel. Was, wenn es Mord war … und was, wenn auch Vanessa in größter Gefahr schwebt? Margaret weiß, dass es vernünftig wäre, sich nicht in die Ermittlungen einzumischen. Aber sie kann nicht zulassen, dass ein weiteres Kind stirbt. Sie wird alles tun, um das zu verhindern. Wirklich alles!
Beklemmend, fesselnd, faszinierend: Mit kalter Präzision leuchtet Julie Parsons die Tiefen der menschlichen Seele aus.
Über die Autorin:
Julie Parsons wurde 1951 als Tochter irischer Eltern in Neuseeland geboren. Sie war noch ein Kind, als ihr Vater unter ungeklärten Umständen auf hoher See verschwand – ein Trauma, das sie nie loslassen sollte: »Ich werde niemals herausfinden, was mit meinem Vater geschehen ist, und vielleicht erzähle ich auch deswegen Geschichten, in deren Mittelpunkt Geheimnisse stehen – um sie selbst aufklären zu können.« Julie Parsons studierte in Dublin und arbeitete später als Radio- und TV-Produzentin, bevor sie als Schriftstellerin erfolgreich wurde. Ihr Debüt »Mörderspiel«, auch bekannt unter dem Titel »Mary, Mary«, wurde in 17 Sprachen übersetzt und ein internationaler Bestseller. Julie Parsons lebt heute in der irischen Hafenstadt Dun Laoghaire.
Die Autorin im Internet: www.julieparsons.com
Bei dotbooks veröffentlichte Julie Parsons außerdem ihre psychologischen Thriller »Mörderspiel«, »Giftstachel«, »Eiskönigin«, »Seelengrund« und »Sündenherz«.
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eBook-Neuausgabe Juni 2019
Die englische Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel »I Saw You« bei Macmillan, London. Dieses Buch erschien in Deutschland erstmals 2008 unter dem Titel »Marys Schatten«.
Copyright © 2008 by Julie Parsons
Copyright © 2008 der deutschsprachigen Erstausgabe bei Droemer Verlag. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Bildmotivs von shutterstock/Madruyada Verde
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)
ISBN 978-3-96148-402-7
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Julie Parsons
Todeskälte
Thriller
Aus dem Englischen von Doris Styron
dotbooks.
Für Harriet, Sarah und Johnwie schon damals.
Zusammengesunken lag er in der Ecke des Schuppens. Seine Hände waren hinter dem Rücken zusammengebunden und an einen Ring an der Wand festgekettet. Breites graues Paketband bedeckte sein ganzes Gesicht. Nur seine rotgeränderten, blassblauen Augen waren zu sehen. Er wollte rufen, um Hilfe bitten, konnte aber keinen Laut hervorbringen. Er wollte an die Wand klopfen, um auf sich aufmerksam zu machen, konnte aber seine Arme und Beine nicht bewegen. Er wollte die schwere Holztür eintreten, um ins Freie auszubrechen. Aber seine Füße reichten nicht weit genug. Er musste etwas trinken. Aber es gab kein Wasser. Er musste etwas essen. Aber es war nichts da. Schon seit Tagen nicht. Wie viele es waren, wusste er nicht mehr.
Er hatte versucht, den Überblick zu behalten, indem er zählte, wie oft ein Sonnenstrahl durch den kleinen Spalt im Brett vor dem Fenster gefallen war. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs.
An sechs konnte er sich erinnern, aber danach hatten der Schmerz, die Verwirrung und die Angst alles andere ausgelöscht.
Und dann war er blind.
Danach glaubte er, an einem anderen Ort zu sein, wo es einen Tisch mit Essen und einen laufenden Wasserhahn gab, wo er den Kopf wenden, den Mund aufmachen und das silbern herunterrieselnde Wasser auf seine Zunge tröpfeln lassen konnte. Seine arme geschwollene Zunge.
Und dann gab es gar nichts mehr. Nur den Geruch seines verrottenden Körpers.
Und dann nicht einmal mehr das.
Ballyknockan bei Blessington, Grafschaft Wicklow. April 2000
Es war ein schöner Tag. Genau richtig, um einmal aus dem Büro herauszukommen, dachte die Immobilienmaklerin. Ein wunderbarer Frühlingstag. Mit einem wolkenlosen Himmel und so warm, dass sie das Autofenster offen lassen konnte, während sie aus der Innenstadt auf die Autobahn und nach Blessington fuhr. Nach ihren Informationen war das Haus in Ballyknockan, einem Dorf mit Steinhäusern zwischen den dunkelgrünen Kiefern an den Berghängen im westlichen Wicklow. Sie fuhr langsamer, um sich zu orientieren und den E-Mail-Ausdruck auf dem Beifahrersitz lesen zu können. Das Häuschen hatte einem deutschen Ehepaar, Hans und Renate Becker, gehört. Sie hatten es als Ferienhaus genutzt, waren aber inzwischen beide verstorben, und ihre Töchter wollten es verkaufen. Die E-Mail war von Petra Becker. Ihr Englisch war praktisch perfekt.
Ich weiß nicht, in welchem Zustand das Haus ist. Wir sind seit vielen Jahren nicht mehr dort gewesen. Mein Vater hatte früher einen Hausmeister, der sich darum kümmerte, aber wir haben schon lange keinen Kontakt mehr zu ihm. Ich werde Ihnen die Schlüssel per Post schicken. Bitte schreiben Sie das Haus so bald wie möglich aus. Wir haben gehört, dass die Nachfrage für Immobilien in Irland beträchtlich gestiegen ist. Bitte informieren Sie uns über seinen jetzigen Wert.
Fräulein Becker hatte recht. Sogar solche kleinen Häuser erzielten einen guten Kaufpreis. Dieser Tage galt ein Weg von dreißig Meilen zur Arbeit gar nichts mehr, dachte die Maklerin, während sie den holprigen Weg vom Dorf hinauffuhr und vor einem Tor mit fünf Querbalken neben einer Kieferngruppe anhielt.
Sie stieg aus und versuchte, den rostigen Riegel am Tor zu lösen. Aber er saß sehr fest und ließ sich nur schwer anheben. Sie fröstelte. Eine Brise fuhr durch die Nadelbäume, und ein Nebelstreif trieb von der Bergspitze herunter. Sie setzte sich wieder in den Wagen und fuhr langsam den schmalen Weg zum Haus hinauf. Von außen sah es gut aus, obwohl der Garten überwuchert und ungepflegt war. Aber das konnte ein Junge mit einem Rasenmäher und einem Kantenschneider an einem Nachmittag in Ordnung bringen.
Sie wühlte in ihrer Tasche nach den Schlüsseln. Drinnen war es dunkel. Sie drehte am Lichtschalter, aber der Strom musste wohl abgestellt sein. Sie ging zügig die Wohnfläche im Erdgeschoss ab, das nach einem einfachen Plan angelegt war. Eine große Landhausküche links von einem kleinen Flur und ein Wohnzimmer mit einem großen Kamin auf der rechten Seite. Oben gab es ein großes und zwei kleine Schlafzimmer und ein Badezimmer mit einer freistehenden Badewanne. Soweit sie es beurteilen konnte, war das Dach dicht, und das Haus kam ihr trocken vor. Sie würde den Strom anstellen lassen und noch einmal mit einem Fotografen herkommen müssen. Dann würde sich das Objekt zur Hochsaison Mitte des Sommers sehr gut auf dem Häusermarkt verkaufen lassen.
Sie schloss die Haustür ab und ging um das Haus herum zur Rückseite. In der E-Mail war die Rede von einem Schuppen oder einer Garage. Oft war so etwas bei diesen alten Häusern ein entscheidender Pluspunkt, denn dadurch bot sich die Möglichkeit, zu renovieren oder sogar anzubauen. Hinter dem Haus lag ein Hof mit Kopfsteinpflaster, in dessen Ritzen Gras gewachsen war. Und eine ganze Reihe von Schuppen. Sie probierte die Türen. Nichts Besonderes. Der letzte war abgeschlossen und der Riegel mit einem schweren Vorhängeschloss gesichert. Sie ging ihre Schlüssel durch, aber keiner passte. Das Fenster war mit einem Brett vernagelt. Sie zerrte daran, und es begann, sich zu lockern. Sie hob einen Stock vom Boden auf und brach damit das Brett weg, schwenkte es zur Seite, und eine zerbrochene Fensterscheibe kam zum Vorschein. Sie ging näher heran und hielt sich die Hände über die Augen. Ein Lichtstrahl fiel von hinten über ihren Kopf auf den Fußboden. Sie sah etwas, das einem Kohlensack oder vielleicht einer Tüte mit Abfall glich, die man beim Aufräumen würde wegwerfen müssen.
Noch einmal zog sie an dem Brett, und diesmal löste es sich ganz. Licht fiel in den dunklen Raum. Und jetzt sah sie es genau. Das Ding hatte eine ihr durchaus vertraute Form. Rund, glatt und elfenbeinfarben. Zwei dunkle Löcher starrten sie an. Der Rest war von etwas wie starkem Paketband verdeckt. Sie streckte den Kopf vor, um noch besser sehen zu können. Eine Jacke mit einem weißen Hemd darunter, eine Hose und Schuhe, die aussahen, als wären sie dorthin geworfen worden. Und gerade noch erkennbar die Knochen einer Hand, der Finger und der helle Glanz einer Kette.
Juli 2005
Welch ein herrlicher Sommer, dachte Michael McLoughlin, als er auf der Terrasse vor seiner Küche saß. Er lehnte sich an die Holzlatten seiner alten Gartenbank zurück und wandte das Gesicht der Spätnachmittagssonne zu. Am Mittag war es hier draußen fast zu heiß gewesen, aber jetzt war es genau richtig. Er schaute über die weitläufigen Vororte von Dublin bis zur Bucht und auf Howth Head dahinter. Das Meer war so schön, mit Streifen von Achat und gegen den Horizont zu dunkelblau. Näher an der Küste schimmerte es hellgrün, fast türkis. Ab und zu ließ eine Brise zarte weiße Tupfer auf der glitzernden Oberfläche erscheinen. Er nahm sein Fernglas heraus und richtete es auf die Schiffe. Zwei Kreuzfahrtschiffe mit französischer und drei mit britischer Flagge. Es gab sogar ein amerikanisches Schiff da draußen, schätzungsweise siebzehn Meter oder noch länger, mit diesem massiven, reservierten Aussehen, das solchen Superyachten immer eigen ist. Und die kleinen Segelboote waren wie eine Handvoll Spielzeug in der Bucht verstreut, nördlich vom Club in Clontarf und mehr in der Nähe der Clubs von Dun Laoghaire. Die Gegend, in die er heute Abend fahren würde, um seine Pensionierung zu feiern.
Ruhestand – jetzt schon? Er konnte es kaum glauben. Nach siebenundzwanzig Jahren bei der Polizei hatte man ihm mitgeteilt, es sei Zeit zu gehen. Aber er war noch zehn Jahre geblieben, bis es offensichtlich wurde, dass es für ihn vorbei war. Ob ihn das bekümmerte? Nur insofern als er nicht recht wusste, wie er den Rest seines Lebens gestalten sollte. Immer vorausgesetzt, dass es einen solchen Rest geben würde. Deshalb war er so vernünftig gewesen, alle Kurse zu besuchen, die zur Vorbereitung auf den Ruhestand angeboten wurden. Und er hatte sich bemüht, bei der Sache zu sein und sich nicht wie die Zyniker in der letzten Reihe über alles lustig zu machen. Und vielleicht hatte er ja etwas dabei gelernt, denn er hatte sich schon eine Art Job für den Rest des Sommers verschafft. Er würde Boote nach Frankreich und Spanien schaffen, die in der Ferienzeit nach Irland gesegelt waren, einige für einen Schiffsverleih in der Bretagne und andere für Kunden, denen die Zeit fehlte, ihre Boote selbst ins Mittelmeer zu verfrachten, wo sie zwei Wochen segeln wollten. Die Firma gehörte einem Typ, in dessen Crew er im Lauf der Jahre einmal mitgesegelt war. Es brachte nicht viel ein. Nur was man so zum Leben brauchte, ein paar Pfund, um etwas trinken zu gehen und zwei Wochen in einer der Wohnungen oder Villen, die der Firma gehörten, zu wohnen. Wer weiß, wohin das führen mochte. Es gab jetzt kaum etwas, das ihn in Dublin hielt. Seine Mutter war in einem Altenheim gut untergebracht. Er würde ihr fehlen, aber sie würde Verständnis dafür haben. Denn sie wusste, dass er einsam war und es in seinem Leben wenig Liebe gab. Sie würde ihm das Beste wünschen.
Er stand auf und ging ins Haus. Hier war es dunkel im Vergleich zu all dem Licht im Freien. Er tastete sich zum Badezimmer vor, zog sich aus und ging unter die Dusche. Er würde ein paar Pfund abnehmen müssen. Auf diesen Booten war unter Deck nicht viel Platz. Und plötzlich stellte er sich seinen alternden, schlaffen Körper in Shorts vor. Kein schöner Anblick. Er ging in die Hocke und ließ das Wasser über Hals und Schultern strömen. Seine Oberschenkelmuskeln zitterten, und er fürchtete einen Moment, das Gleichgewicht zu verlieren und nach vorn zu kippen, presste dann aber die Hände gegen die gefliesten Wände und richtete sich wieder auf. Sein Atem kam stoßweise. Herrgott noch mal, es war ihm nicht klar gewesen, wie wenig fit er war. Die letzten zwei Jahre hatte er hauptsächlich am Schreibtisch gesessen, draußen am Flughafen, wo er für die Einwanderungsbehörde tätig gewesen war. Zu viel Papierkram, zu wenig Action. Na ja, das war ja jetzt vorbei. Es waren noch drei Wochen bis zu seiner ersten Bootsfahrt. Wenn er jeden Tag trainierte und weniger Alkohol und Fett zu sich nahm, dann würde er – so hoffte er zumindest – wieder besser in Form sein.
Er stellte das Wasser ab, nahm ein Handtuch, ging ins Schlafzimmer und suchte im Kleiderschrank nach seinem Leinenjackett. Er hatte es seit Jahren nicht mehr getragen und war sicher, dass heute Abend eher ein konventioneller Anzug erwartet wurde. Aber was machte das schon? Schließlich war es eine Feier zu seinen Ehren, also konnte er tragen, was er wollte. Irgendwie war er immer ein Außenseiter gewesen. Golf spielte er nicht, hatte kein Interesse an Fußball, konnte besser kochen als die meisten Frauen der Polizisten, die er kannte. Und er war ein Einzelgänger. Keine Frau, jetzt jedenfalls nicht mehr. Keine Kinder, kaum eine Familie. Deshalb hatte er für seine Party den Yachtclub gewählt. Wenigstens war er dort bekannt. Zumindest würde jemand ihn wie einen Freund begrüßen und ihm das Gefühl geben, dass ihm in der Welt ein Platz zukam.
Schnell zog er sich an. Das Jackett passte noch und sah nicht schlecht aus, obwohl der Farbton eher elfenbein- als cremefarben war. Wenn er die sonnigen Regionen erreichte, würde er sich vielleicht einen schönen Leinenanzug kaufen, eine Hose mit einer dazu passenden Weste. Er wandte sich vom Spiegel ab und klopfte auf seine Taschen. Brieftasche, Handy, Schlüssel, Lesebrille, alle wichtigen Gegenstände, die ein Mann mittleren Alters brauchte. Und als besonderen Genuss für heute Abend: Zigarren. Kubanische Cohibas, die besten, die er für besondere Gelegenheiten in einem Holzkästchen aufhob. Es stammte von seinem Vater, der auch ein Zigarrenliebhaber gewesen war, obwohl er sie sich nicht sehr oft hatte leisten können. Der Behälter war deshalb anders genutzt worden. Seine Mutter hatte ihre Lieblingsrezepte und Schätze darin aufbewahrt. Ein silbernes Medaillon, eine Perlenkette und ein paar Schwarzweißbilder von Michael und seiner Schwester Clare, die mit der Box Brownie seines Vaters aufgenommen worden waren. Als sie ins Pflegeheim zog, war der Zigarrenbehälter in McLoughlins Besitz übergegangen. Er hatte ihn gereinigt und mit so vielen Zigarren bestückt, wie er sich leisten konnte. Und im unteren Fach unter dem herausnehmbaren Einsatz aus Rosenholz bewahrte er seine eigenen Schätze auf.
Jetzt holte er ein Dutzend Zigarren heraus. Genug für alle Kollegen und ein paar für sich selbst. Damit füllte er sein ledernes Zigarrenetui, steckte es in die Tasche und wollte schon den Deckel schließen, hielt dann aber inne. Es war ein außergewöhnlich schöner Sommer, wie jener schöne Sommer vor zehn Jahren, dem Jahr, in dem Mary Mitchell zu Tode kam. Als er ihre Mutter Margaret kennenlernte und sich in sie verliebte. Als er meinte, vor Sehnsucht vergehen zu müssen. Er hob den Einsatz hoch, in dem die übrigen Zigarren waren. Darunter lag ein brauner Umschlag in einem Plastiktütchen. Er nahm es und wog es in der Hand, fuhr mit den Fingern sanft über die glänzende Oberfläche. Er brauchte nicht hineinzusehen. Auch so hatte er die Bilder jener Nacht im Schuppen hinter dem Häuschen in Ballyknockan noch genauso deutlich vor Augen wie damals. Mary Mitchell in den Tagen, bevor sie starb, die schwarzen Locken kurz geschoren, ihr Körper voll blauer Flecken, misshandelt, gedemütigt und erniedrigt. Der Augenblick ihres Todes, die Augen halb geschlossen, die Pupillen starr und groß, ein maskenhaftes Lächeln auf den breiten vollen Lippen. Die Fotos waren neben Jimmy Fitzsimons auf dem Boden verstreut. Er lag hilflos an einen Ring in der Wand gefesselt da, sein Gesicht mit Paketband verklebt. Da, wo Margaret ihn zum Sterben zurückgelassen hatte. Und er hatte geglaubt, dass McLoughlin ihn retten, dass der Polizeibeamte sich korrekt verhalten würde. Aber Michael hatte nur ihre Fingerabdrücke vom Klebeband, von den Handschellen und der Kette abgewischt. Die Fotos hatte er aufgehoben und in die Tasche gesteckt. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, dass Mary durch Jimmys Tod beschmutzt würde, und hatte die Bilder mit nach Hause genommen und in das Kästchen seiner Mutter gelegt, sie aufbewahrt und gehütet. Und er hatte das Andenken an Mary so gut geschützt, wie er konnte, und nie aufgehört, ihre Mutter zu lieben.
Er seufzte tief, legte die Plastiktüte in das Kästchen zurück und fügte den dünnen Holzeinsatz wieder sorgfältig ein. Dann legte er die Zigarren darauf, machte den Deckel zu, schloss mit dem kleinen Messingschlüssel ab und drehte sich weg. Es war Zeit zu gehen. Heute Abend konnte er nun wirklich nicht zu spät kommen. Er öffnete die Haustür, es war ein so wunderschöner Abend. Er setzte sich in den Wagen und ließ den Motor an. Die Sonne blendete ihn, so dass er schützend die Hand hob. Und glaubte, Mary vor sich zu sehen, wie sie gewesen sein musste, als sie noch lebte und durchs abendliche Sonnenlicht tanzte.
»Gute Nacht, Mary. Gute Nacht«, flüsterte er.
Dann legte er den Gang ein und fuhr langsam den Hügel hinunter auf das Meer zu.
Es war so schön, wieder in Monkstown zu sein. An einem kühlen klaren Morgen auf der Schwelle zu stehen und die schmale Straße entlang auf die Hafenmauer und das Meer dahinter zu schauen. Margaret roch das Salz, das Seegras und den schlammigen Geruch des schwarzen Tangs. Es war ein Geruch von Frische, jeden Tag zweimal durch das Wasser reingewaschen, das in die Dubliner Bucht hinein- und wieder herausflutete. Als sie zum Himmel hochsah, fiel ihr auf, dass sie vergessen hatte, wie sich das Licht hier von einem Augenblick zum anderen verändern konnte. Wie Wolken entstanden, sich auflösten, eine neue Form annahmen und die Sonnenstrahlen filterten und dem Licht dabei immer wieder neue Tönungen gaben.
Es war ganz anders als das harte, immer gleiche Licht am Himmel über Queensland, wo sie gewohnt hatte, seit sie aus Dublin weggegangen war. Damals, nachdem sie in Jimmy Fitzsimons’ Wagen von dem Häuschen in Ballyknockan zum Parkplatz in Dun Laoghaire gefahren war und gewartet hatte, bis es Zeit war, die Fähre nach Holyhead, den Zug nach London, die U-Bahn nach Heathrow und ein Flugzeug nach Brisbane zu nehmen. Sie hatte nicht nach Neuseeland zurückkehren wollen, wo Mary aufgewachsen war, und hatte alle Bindungen nach dort abgebrochen, das Haus verkauft, ihre Arztpraxis geschlossen und auf alle Anfragen gesagt, dass sie nach Irland zurückkehren werde. Aber sonst hatte sie nichts erzählt.
Sie hatte am Flughafen in Brisbane einen Wagen gemietet und war nach Norden gefahren, zuerst nach Sunshine Beach, dann nach Noosa, wo sie sich in einem kleinen Hotel am Strand einquartierte. Nur so lange, bis sie sich gefasst hatte. Dann kaufte sie ein Haus in der Nähe der kleinen Stadt Eumundi. Ein niedriges Holzhaus mit einer breiten Veranda an drei Seiten und zwei Hektar Land ringsum, so dass man es von der Straße aus gar nicht sah. Und da war sie geblieben und hatte die Tage gezählt, bis sie sicher sein konnte, dass Jimmy tot war.
Jetzt ging sie wieder hinein. Dieses Haus, in dem sie aufgewachsen war, hatte schon seit etwa einem Jahr leergestanden. Es hatten wohl Mieter hier gewohnt, sie waren aber weggezogen, und Margaret hatte keine neuen gesucht. Als sie dann beschloss zurückzukommen, war es ganz einfach gewesen, am Flughafen ein Taxi zu nehmen und direkt nach Monkstown zur Brighton Vale Street zu kommen, das Tor aufzumachen, den Weg und die sechs Stufen zur Haustür hochzugehen, den Schlüssel ins Schloss zu stecken und umzudrehen.
Viel hatte sich nicht verändert. Ihre Mieter waren froh gewesen, ein so schönes Haus an einem wunderbaren Ort für eine bescheidene Miete zu finden. Es hatte ihnen nichts ausgemacht, dass es etwas heruntergekommen und dürftig eingerichtet war. Manchmal sprachen sie über ihre Vermieterin.
»Die Arme … Kannst du dir vorstellen, dein einziges Kind auf diese Weise zu verlieren?«
»Ich weiß. Ich könnte es nicht ertragen. War ja schon schlimm genug, dass sie sterben musste, aber ermordet zu werden! Man darf gar nicht daran denken.«
»Und dann diese Farce von einem Prozess. Die Polizei hatte da einiges zu verantworten. Wie konnte der Kerl nur davonkommen?«
»Es hatte irgendwas damit zu tun, dass sie ihn zu lange zum Verhör dabehielten. Ich wusste nicht, dass die Vorschriften so streng sind. Irgendwie kommt einem das nicht richtig vor.«
»Es hat etwas mit den Bürgerrechten zu tun. Ich denke schon, dass es Absicherungen geben muss. Man ist so lange unschuldig, bis die Schuld erwiesen ist.«
»Ja, schon, vielleicht, aber es klang doch so, als hätte er es getan, oder?«
Und einige Jahre danach hatten sie es in den Nachrichten gehört.
»Mann, das ist ja unglaublich. Sind sie sicher, dass er es wirklich ist?«
»Anscheinend ja, sieht aus, als wäre seine Leiche jahrelang in diesem Schuppen eingeschlossen gewesen.«
»Wie ist er denn gestorben? Ist er ermordet worden?«
»Verhungert, vermutet der Pathologe.«
»Aber wer … wer würde denn so was tun? Und wie?«
Warum, wie und wer? Die auf der Hand liegenden Fragen.
Als Margaret Mary zum letzten Mal lebend gesehen hatte, war es in diesem Haus gewesen. In jenem heißen Sommer vor zehn Jahren. Es war ein Samstag. Am langen Augustwochenende. Sie hatte im Garten gesessen und die Zeitung gelesen, wollte gerade reingehen und ihrer Mutter etwas zu essen machen. Sie hatte Mary gebeten, dazubleiben und ihr zu helfen.
»Das ist doch nicht zu viel verlangt, Herrgott noch mal. Du weißt doch, wie schwer es ist, sie hochzuheben.« Margaret war ärgerlich und gereizt gewesen.
»Sie will ja nicht, dass ich ihr helfe, Mum, das weißt du doch. Sie mag es nicht, wenn ich sie im Bett sehe. Sie will nicht mal, dass du sie so siehst. Ich glaube, es ist an der Zeit, eine Schwester rund um die Uhr einzustellen, oder noch besser zu sehen, ob du sie nicht im Krankenhaus unterbringen kannst. Oder vielleicht in einem Hospiz? Es gibt doch hier welche, oder?« Mary war schon mit ihrer Tasche beschäftigt, sah nach, ob sie Schlüssel, Geldbörse und ihr Make-up hatte. Sie war schon wieder auf dem Weg ins Haus zurück.
»Das will ich nicht. Das weißt du doch. Deshalb sind wir ja zurückgekommen. Weil sie meine Mutter ist, bald sterben wird und weil es meine Verantwortung ist, mich um sie zu kümmern.« Sie hatte die Stimme erhoben.
»Ja, ja, das hast du ja schon oft gesagt.« Mary blieb an der Tür stehen und wandte sich ihr zu. »Warum bist du nicht ehrlich? Du magst sie doch gar nicht, und sie scheint dich auch nicht besonders zu mögen. Lass es doch einfach auf sich beruhen. Lass sie ins Krankenhaus einliefern, und dann können wir nach Hause gehen. Oder besser noch nach Paris, Rom oder sogar Berlin fahren. Dublin langweilt mich. Ich brauche etwas Aufregenderes in meinem Leben. Jedenfalls«, sie verschwand im dunklen Inneren des Hauses, »ich gehe jetzt. Warte nicht auf mich.«
»Mary!« Margaret war aufgestanden und ihr gefolgt. »Geh nicht so weg. Warte doch. Ruf mich an, wenn du nicht nach Haus kommst. Hörst du? Ruf an.« Aber während sie noch sprach, vernahm sie schon, wie die Haustür zuschlug.
Auch jetzt hörte sie sie zuschlagen, als sie die Hintertür zum Garten öffnete und Durchzug durchs Haus fegte. Sie hatte gemeint, sie hätte sie geschlossen, aber das Schloss war nicht in Ordnung, und die Tür ging manchmal von selbst auf. Noch etwas, das sie erledigen musste, dachte sie, als sie in die Sonne hinaustrat. Rasen mähen, die Beete jäten, die Hecken schneiden. Alles war unordentlich und vernachlässigt. Ihr Vater wäre entsetzt, wenn er es hätte sehen können. Sie würde sich morgen darum kümmern. Um alles würde sie sich morgen kümmern. Heute war sie zu müde. Ein alter Liegestuhl mit Segeltuchbezug stand auf den Steinplatten der Terrasse. Sie setzte sich darauf und lehnte sich zurück, griff unter den Stuhl und tastete nach einem Glas Wein. Sie hob es an den Mund, trank aus und stellte es vorsichtig wieder auf die Steinplatten. Dann schloss sie die Augen. Ihr Kopf sank zur Seite, und sie atmete langsamer, bis fast nichts mehr zu hören war. Morgen würde sie genug Zeit haben, alles zu tun, was getan werden musste. Oder vielleicht übermorgen oder an irgendeinem anderen Tag. Es war ja erst Anfang Juli. Fast noch ein Monat bis zu Marys Todestag. So vieles, worüber es nachzudenken galt. So viele Erinnerungen. Aber jetzt konnte nur der Schlaf ihr Trost spenden.
McLoughlin schreckte hoch. Er setzte sich auf, sein Herz hämmerte, und Speichel sammelte sich im Mund. O Gott, fühlte er sich schlecht. Langsam stand er auf und schwankte, als er sein Gewicht vom Bett nach vorn verlagerte. Er streckte die Hand nach der Kommode aus und erblickte sein Gesicht in dem darauf stehenden Schwenkspiegel. Kein schöner Anblick. Er stieg über seine auf dem Schlafzimmerboden verstreuten Kleider und nahm seinen Morgenmantel vom Haken an der Tür. Das Licht im Korridor ließ seine Augen schmerzen und seinen Kopf dröhnen. Er stolperte in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Jetzt brauchte er Orangensaft mit Eiswürfeln, danach Schmerztabletten und einen halben Liter Wasser. Er schob die Glastüren auf und trat auf die Terrasse hinaus, ließ sich auf die Bank fallen und nahm einen großen Schluck. Wieder ein schöner Tag. Allerdings war ihm das ziemlich egal. Er würde sowieso nur ins Bett zurückgehen. Das war ja das Schöne am Ruhestand. Man musste sich vor niemandem rechtfertigen.
Er schloss die Augen. Es war ein angenehmer Abend gewesen. Er hatte natürlich viel zu viel getrunken, aber alle anderen auch. Allzu viele Indiskretionen waren ihm wohl nicht unterlaufen, vermutete er. Nur dem Assistenten des Polizeichefs, der gekommen war, um ihm die Ehre zu erweisen, hätte er fast gesagt, was für ein Arschloch er eigentlich sei. Aber er hatte sich auf die Lippen gebissen, gelächelt und geschwiegen, hatte den Scheck, die Karaffe aus Waterford-Kristall und das halbe Dutzend Gläser entgegengenommen und allen gedankt, dass sie gekommen waren. Dann hatte er ein paar Geschichten von früher erzählt und dabei auch die Kollegen besonders erwähnt, mit denen er seit Templemore immer noch befreundet war. Er spürte eine gewisse Spannung in der Luft. Was würde er wohl über Finney sagen? Finney, der die Inhaftierung von Jimmy Fitzsimons vermasselt hatte und der Schuld daran trug, dass er freigekommen war. Der gleiche Finney, der es unglaublicherweise durch Beziehungen, Arschkriecherei und raffiniertes Speichellecken irgendwie geschafft hatte, die Karriereleiter zu erklimmen, direkt an McLoughlin, seinem früheren Chef, vorbei, und der jetzt der Beförderung zum Hauptkommissar innerhalb eines Jahres entgegensah.
McLoughlin hatte sich gefragt, ob er sich wohl sehen lassen würde. Das hätte dem Kerl ähnlich gesehen. Er war nicht der Einzige, der ihn erwartet hatte. Das hatte er dem Ausdruck auf manchem Gesicht und den leise gemurmelten Bemerkungen entnommen. Es wäre etwas gewesen, über das man noch nach Jahren sprechen würde. Finney und McLoughlin, der junge Herausforderer und der alte Knochen, die sich zum letzten Mal gegenüberstanden. Aber schließlich war Finney doch nicht gekommen. Das war auch gut so. McLoughlin fehlte nicht nur die Energie für den Streit, sondern da war ja auch noch die Tatsache, dass vor ein paar Jahren in dem Schuppen von Ballyknockan die Leiche gefunden worden war. Der Fall war Finney zugeteilt worden, aber er war nicht sehr weit gekommen. Eine Obduktion hatte ergeben, dass es sich um einen jungen Mann von der Größe von ungefähr einem Meter dreiundachtzig handelte. Todesursache war Dehydrierung und Verhungern. Die Suche in der Liste vermisster Personen hatte keine Übereinstimmung mit den vorliegenden zahnärztlichen Unterlagen gebracht. Man nahm eine Probe von den Überresten für eine DNA-Untersuchung. Aber es ging alles so langsam, dass Finney ungeduldig wurde. Er fand eine Archäologin und Gerichtsmedizinerin, die aus den Schädel- und Gesichtsknochen zunächst ein Modell und dann ein Computerbild anfertigte. McLoughlin erinnerte sich an die Bestürzung, die diese E-Mail im Büro auslöste.
»Mensch, guck dir das mal an. Ich glaub’s nicht. He, wo ist McLoughlin? Der muss das sehen.«
McLoughlin hatte so etwas schon seit damals erwartet, als er das Hängeschloss zuschnappen ließ und sich in der kalten dunklen Nacht von der Tür des Schuppens entfernte. Früher oder später würde diese Tür wieder aufgemacht und Jimmy gefunden werden.
Jetzt saß er neben Finney und starrte auf den Bildschirm. »Was soll ich machen? Mit seiner Mutter reden?« Er versuchte, hilfsbereit zu klingen.
Finney stand auf. »Nichts. Gar nichts. Meine Leute werden der Sache nachgehen. Ich wollte nur, dass Sie meine Identifikation bestätigen, dass es sich bei der Leiche um Jimmy Fitzsimons handelt.«
»Okay.« McLoughlin klang sachlich. »Ja, aus dem, was ich hier sehe, aus der Rekonstruktion durch Professor Williams schließe ich, dass es die Leiche von Jimmy Fitzsimons ist. Soll ich es Ihnen schriftlich geben?«
McLoughlin trank sein Glas Orangensaft aus, stand auf und ging zurück in die Küche. Eine große Flasche San Pellegrino war im Schrank. Er drehte an dem Metallverschluss, und Blasen stiegen nach oben in die Freiheit. Er goss sich ein und gab noch eine Handvoll Eis mit einem Spritzer Zitrone dazu, dann stellte er die Flasche in den Kühlschrank zurück. Er ging hinaus und setzte sich wieder. Das Meer war heute so schön. Wenn sich sein Kater gebessert hatte, würde er den Hügel zum Club hinuntergehen und herausfinden, ob er einen Segelauftrag bekommen konnte. Jetzt war Saison für Bootsrennen, und es gab bestimmt irgendwo noch eine Koje für ihn.
Und dann erinnerte er sich. Da war doch etwas gewesen, was er jemandem zu tun versprochen hatte. Was war es nur? Ach Mist, jetzt kam so einiges hoch. Warum ließ er sich immer breitschlagen, jemandem einen Gefallen zu tun? Bestimmt lag es am Alkohol. Dieses wunderbare Gefühl überschwenglich guter Laune, die ihn nach dem dritten Glas Bier ergriff. »Natürlich, alles was du willst, mach ich. Klar mach ich das, keine Sorge. Ich kümmere mich darum.« Und im Augenblick war es ihm auch immer ernst damit. Aber im Nachhinein wurde ihm klar, in welchen Schlamassel er sich hineinmanövriert hatte. Er versuchte sich zu erinnern. In welcher Klemme saß er diesmal? Er stand auf und reckte sich. Er würde wieder ins Bett gehen, bevor er anfing, sich deswegen aufzuregen.
Aber als er sich hinlegte und sein schmerzender Kopf auf das Kissen sank, meldete sich sein Mobiltelefon. Zweimal. Er nahm es und betrachtete seine ungelesenen Nachrichten. Es waren zwei, beide von Tony Heffernan. Natürlich, jetzt wusste er es wieder.
»Du würdest ihr einen großen Gefallen tun.« Heffernan hatte ihn in die Enge getrieben. »Sie ist am Boden zerstört. Es geht ihr wirklich nicht gut. Jetzt, da du offiziell im Ruhestand bist, könntest du das für sie tun. Nur ein paar grundlegende Fragen. Nichts allzu Anstrengendes. Du weißt, wer sie ist, oder?« Heffernan kam näher heran und flüsterte ihm leise ins Ohr.
»Nein, ich habe keine Ahnung, wer sie ist. Wie, sagtest du, war ihr Name?« Der Lärm in der Bar wurde wegen des Andrangs nach dem Abendessen lauter. Alle waren jetzt entspannt. Jede Menge Wein zum Essen, ein Brandy oder zwei und dann noch ein paar Gläser Bier, bevor ihre Ehefrauen sie nach Hause ins Bett schleppten.
»Sally Spencer, sie war mit James de Paor verheiratet. Du erinnerst dich bestimmt an ihn. Der Anwalt.«
»De Paor, der Verteidiger? Natürlich erinnere ich mich an ihn. Ich hatte einige Male mit ihm zu tun. Er war rücksichtslos. Woher kennst du sie?« McLoughlins Interesse war jetzt geweckt.
»Durch Janet, meine Frau – meine zweite Frau.« Heffernan grinste vor Freude, als er ihren Namen sagte und sie als seine zweite Frau bezeichnete. »Sie ist mit ihr zur Schule gegangen. In eines dieser protestantischen Internate – jede Menge Uniformen mit Trägerröcken und Hockey. Jedenfalls hatte Sally es nicht leicht. Ihr erster Mann ist sehr jung an Krebs gestorben und ließ sie mit zwei kleinen Kindern und ohne Geld zurück. Sie machte einen kleinen Laden mit Nippes, dekorativem Schnickschnack und so was auf. Damit kam sie gerade so über die Runden. Dann lernte sie de Paor kennen. Er hatte sich gerade von seiner Frau scheiden lassen. Keine richtige Scheidung natürlich, so eine englische halblegale Sache. Jedenfalls kamen sie bald glänzend miteinander aus, und kaum dass man sichs versah, war sie mit dem Typ nach London gefahren, und sie waren verheiratet. Alle – ihre alten Freunde und ihre Familie – waren sehr überrascht.«
»Das erstaunt mich. Sie ist Protestantin, sagtest du? Und sie heiratet de Paor, den Freund und Beschützer jedes flüchtigen IRA-Mitglieds?«
»Ja, es war durchaus ein Schock. Jedenfalls, der langen Rede kurzer Sinn, du weißt doch, dass de Paor vor etwa zwanzig Jahren starb? Er ertrank in dem See, dort wo er dieses schöne Haus hatte. In Wicklow.«
McLoughlin nickte. »Ach, so war das? Ich erinnere mich dunkel.«
»Ja, es war irgendein Bootsunfall. Jedenfalls ist Marina, die Tochter der armen Sally, gerade vor einem Monat ebenfalls dort ertrunken. Soweit ich weiß, machte Johnny Harris die Obduktion und nahm Selbstmord an. Und sie hat einen Brief hinterlassen. Aber Sally ist sicher, dass es kein Selbstmord war … Da dachte ich …« Heffernan verstummte.
»Du dachtest?«
»Geh doch einfach mal hin und statte ihr einen Besuch ab, Michael. Sie ist eine sehr nette Frau. Du wirst sie mögen. Sie ist niedergeschmettert, Janet war neulich mit ihr zum Lunch. Sie sagt, Sally kann nicht glauben, dass es Selbstmord war. Sie meint, ihre Tochter sei nicht der Typ dafür gewesen.«
»Ach, Tony, komm. Das denken sie doch alle.« McLoughlin wippte auf seine Hacken zurück. »Niemand glaubt doch, dass sein Sohn oder seine Tochter zum Selbstmord neigt.«
»Du weißt das, und ich weiß es auch. Aber Sally nicht. Bitte, tu’s doch für mich. Ich kann mich nicht einmischen. Jedenfalls nicht offiziell. Besuch sie, rede mit ihr. Zeig ein bisschen Interesse. Vielleicht braucht sie gar nicht mehr. Nur jemanden, der nett zu ihr ist.«
Nett, oje. McLoughlin trank aus und machte dem Mann an der Bar ein Zeichen für ein weiteres Bier. So weit war es also schon. Er war jetzt nett. Jemand, bei dem man sich ausheulen konnte, ein freundliches Gesicht, jemand, der Mitgefühl empfand. Nicht mehr und nicht weniger. Gerade als er sich in seinen tiefen, alkoholumnebelten Trübsinn fallen lassen wollte, erhob sich sein alter Freund Johnny Harris. Statt seines Pathologenkittels trug er einen Anzug in Prinz-von-Wales-Karo, der bestimmt seinem Vater gehört hatte, und gab eine schwungvolle Interpretation von »What shall we do with the drunken sailor« mit improvisierten zusätzlichen Strophen zum Besten, die einiges Missfallen erregten, McLoughlin aber aufheiterten. An alles andere erinnerte er sich nur noch undeutlich.
Aber jetzt war hier diese SMS und bestätigte seinen Status als netter Kerl, der alles für einen tut und ein rundum guter Mensch ist.
Danke für den großartigen Abend. Sally ruft dich heute noch an. Bis bald.
Er stellte den Ton am Telefon ab, ließ es auf den Boden fallen und rollte sich auf die Seite. Er würde eine Ausrede finden, wenn die Frau anrief. Noch eine trauernde Mutter war so ziemlich das Letzte, was er brauchen konnte. Sie brachten nichts als Probleme. Das stand jedenfalls fest.
Margaret konnte nicht einschlafen, vielleicht weil die Nächte so hell waren. Der Himmel schien sich nie ganz zu verdunkeln. Er verlor nach und nach die Farbe, das strahlende Blau wurde bis kurz vor der Morgendämmerung blass und fahl und nahm dann einen sanften, taubengrauen Farbton an. Aber vielleicht lag es gar nicht an der Helligkeit des Himmels. Vielleicht wollte sie die Zeit in diesem an Erinnerungen so reichen Haus nicht verschwenden.
Sie hatte ihr Bett in dem kleinen Zimmer gemacht, das auf den Garten hinausging, in dem sie als Kind und Mary in jenen sechs Wochen vor ihrem Tod geschlafen hatten. Im Schrank unter der Treppe fand sie Plastikbeutel mit Laken und Kopfkissenbezügen, Federbetten und Decken. Sie waren sauber, rochen allerdings nach Mottenkugeln. Es war hochwertiges Leinen, das ein ganzes Leben lang halten sollte, wie ihre Mutter oft betont hatte, wenn sie über die Polyester- und synthetischen Stoffe die Nase rümpfte, all diese »pflegeleichten« und »bügelfreien« Materialien, die es jetzt in den Läden gab.
Natürlich hatte sie recht. Margaret hatte ihre Vorliebe für Naturfasern übernommen. Mary hatte sie ausgelacht. Aber nachdem sie bei Freundinnen übernachtet hatte, gab sie zu, dass sich die Bettwäsche dort nicht so gut angefühlt hatte.
»Sie ist unangenehm auf der Haut, Mum. Und sie riecht auch nicht so gut wie unsere Laken.«
Sie hatte Mary in ein Laken ihrer Mutter einhüllen wollen, bevor sie in den Sarg gelegt wurde. Sie hatte sie so fest einwickeln wollen, wie sie es bei Krankenschwestern gesehen hatte, die Tote umhüllten. Es war ihr immer menschenwürdig und respektvoll erschienen, frische weiße Baumwolle um den Körper zu legen, damit er intakt und unversehrt blieb. Aber der Bestattungsunternehmer hatte sich durchgesetzt und Mary mit ihrem rosa Lieblingskleid bekleidet. Als ob es darauf ankäme. Nichts konnte den Schaden verbergen, der ihr vor dem Tod zugefügt worden war. Das geschorene Haar, Prellungen um Augen und Mund. Die Flecken an ihrem Hals. Und die Brandwunden unter dem Kleid, die Schnitte an Brüsten und Bauch von der scharfen Klinge eines Stanley-Messers. Und die inneren Verletzungen, die er ihr beigebracht hatte.
Sie hatte gemeint, diese Bilder würden mit der Zeit verblassen. Aber das hatten sie nicht getan. Manchmal nachts, wenn sie die Augen schloss, waren sie wieder da, so frisch und intensiv wie beim ersten Anblick. Und jetzt noch mehr, da sie in dem schmalen Bett mit dem Kopf auf ihrem alten Kissen lag. Mary war auch in diesem Bett gezeugt worden. An jenem Wochenende vor vielen Jahren, als Margarets Eltern weggefahren waren und Patrick Holland den Abend mit ihr verbracht hatte. Sie hatte für ihn gekocht, und nach dem Essen hatten sie vor dem Feuer gesessen wie ein altes Ehepaar, sie hatten getrunken und geredet, und als die Flammen dann ausgingen, waren sie in ihr Zimmer hinaufgegangen, lagen unter dem Federbett und redeten immer weiter, bis es Zeit für ihn war, zu seiner Frau nach Hause zu gehen.
Sie hatte ihn nicht gebeten zu bleiben. Er war aufgestanden und fing an sich anzuziehen. Dann hatte er innegehalten, sah auf sie hinunter, zog eilig die Decke zurück und legte sich neben sie, seine Hände griffen nach ihr, als würde er sie nie mehr berühren können.
Danach hatte sie so tief geschlafen, dass sie erst am Mittag aufgewacht war.
Jetzt stand sie auf. Es brachte nichts, dazuliegen und die Decke anzustarren, während all diese Erinnerungen auf sie einstürmten. Sie ging hinunter in die Küche, füllte den Wasserkocher, setzte sich an den Tisch. Ihr Laptop war aufgeklappt, der Bildschirm dunkel. Sie berührte die Tastatur und wartete auf das vertraute Summen. Ihre Hände nahmen die gewohnte Position an, als sie online ging, ihr Passwort eingab und auf ihre E-Mails wartete. Gute Nachrichten aus Australien. Der Immobilienmakler, Damien Baxter, hatte ein Angebot für das Haus bekommen. Und ein weiterer Käufer zeigte ernsthaftes Interesse. Er würde ihr mitteilen, wenn das bestmögliche Angebot abgegeben worden wäre, aber im Moment wollte er sich noch nicht festlegen. Sie hatte das Haus von seinem Vater, Don, gekauft, als sie vor neun Jahren in Noosa eingetroffen war. Er war ein netter Mann, höflich und rücksichtsvoll, und sein Sohn hatte die stille, bescheidene Art seines Vaters geerbt. Sie hatte nicht viel Geld gehabt. Es war der schlechteste Zeitpunkt gewesen, um ihre Immobilie in Neuseeland zu verkaufen, aber sie hatte noch ihre Ersparnisse. Mit dem von ihrem Vater geerbten Sinn für Sparsamkeit hatte sie einen Notgroschen auf die hohe Kante gelegt. Und Don hatte für sie ein Haus zu einem guten Preis gefunden. Es war heruntergekommen und vernachlässigt, aber er hatte ihr seinen Cousin Jeff empfohlen, der Bauhandwerker war, und sie hatten es zusammen umgestaltet. Weiße Wände und Holzfußböden aus heimischen Hölzern. Eine große offene Küche mit angeschlossenem Esszimmer. Ihr eigenes kleines Schlafzimmer mit Bad. Und vier Zimmer zum Vermieten. Bed and Breakfast für Rucksacktouristen und Naturfreunde, die den Regenwald von Queensland besuchen wollten. Das Haus war immer voll. Mundpropaganda. Ihr Name und ihre Adresse wurden beim Wandern vom einen an den anderen weitergegeben.
»Ein herrliches Haus. Sehr sauber. Einfach, aber gut. Das Essen ist großartig. So viel man zum Frühstück essen kann. Die Rühreier sind köstlich. Guter Kaffee und Tee. Und sie bäckt selbst Brot, Muffins und auch Scones. Sie gibt einem ein Lunchpaket mit auf den Weg, das für zwei Tage reichen würde.«
Und eine Zeitlang war es gut gelaufen. Sie war zufrieden. Aber manchmal rief ein Gesicht in ihr Erinnerungen wach und machte sie neugierig. Dann fing sie an, die irischen Zeitungen online zu lesen. Eigentlich wollte sie das nicht, sondern versuchte, so weit weg zu sein wie möglich. Weit, weit weg von allem, was mit zu Hause zu tun hatte. Aber sie fühlte sich doch zu jenem Land hingezogen. Es ging so leicht im Internet. So schnell. Und da war es eines Tages passiert. Vor fünf Jahren. Ein Foto vom Schuppen in Ballyknockan. Eine Leiche war gefunden worden. Ohne Hinweis auf ihre Identität. Und dann gab es allmählich nach und nach immer mehr Informationen. Name und Alter. Und dann den Rest. Die Ermordung des Mädchens. Der Verdächtige. Dann der Prozess. Der Schock über das plötzliche Ende. Ein unscharfes Foto aus Marys Studentenausweis. Ihr eigenes Gesicht auf einem bei der Beerdigung aufgenommenen Foto, auf dem ihr Kummer so übermächtig sichtbar war, dass sie sich selbst kaum wiedererkannte. Die Polizei leitete die Untersuchung in die Wege. Detective Inspector Finney hatte die Verantwortung. Ausgerechnet Finney, durch dessen Unfähigkeit sie bekommen hatte, was sie wollte: die Möglichkeit, sich selbst an dem Mann zu rächen, der ihr Leben zerstört hatte.
Sie sah jeden Tag auf den Webseiten nach, aber die Ermittlungen zum Tod von Jimmy Fitzsimons verschwanden bald wieder aus den Medien. Sechs Monate nach dem Fund der Leiche wurde in zwei Absätzen berichtet, »Polizeiquellen« hätten zugegeben, man habe keine Fortschritte gemacht, aufzuklären, was mit ihm geschehen sei. Der Fall würde natürlich weiter als offen betrachtet und eventuelle weitere Informationen berücksichtigt.
Dann, ein paar Monate später, hieß es:
Der Tod hat den bekannten Anwalt und Verteidiger Patrick Holland ereilt. Mr. Holland starb, während er in Marbella Urlaub machte. Er brach gestern gegen 14 Uhr beim Schwimmen zusammen. Er wurde ins Krankenhaus gebracht, aber bei der Ankunft konnte nur sein Tod festgestellt werden. Eine Obduktion soll die Todesursache klären, aber er scheint an einem Herzanfall gestorben zu sein. Er hinterlässt seine Frau Crea und seine drei Kinder Daniel, Alice und Patrick.
Wieso hatte sie nicht gewusst, dass Patrick tot war? Wieso hatte ihr Herz weitergeschlagen, nachdem seines zum Stillstand gekommen war? Sie sah noch einmal nach dem Datum, wann es geschehen war, und überlegte, was sie da gerade getan hatte. Sie rechnete den Zeitunterschied mit ein. Patrick war am 14. Juni um zwei Uhr nachmittags im Pool seiner Villa in der Nähe von Marbella gestorben. Bei acht Stunden Zeitunterschied war es in Eumundi also zehn Uhr abends. In Spanien war Sommer, in Australien Winter. Kühl, aber noch sonnig. Sie sah in ihrem Terminkalender unter dem betreffenden Tag nach. Alle Zimmer waren belegt gewesen. Ein englisches Ehepaar war am Abend angekommen. Sie hatte ihnen ein Abendessen gekocht und dazu zwei Flaschen Wein verkauft. Die anderen Gäste, ein Junge aus Sydney, zwei Mädchen aus Deutschland und ein amerikanischer Zoologe, waren zum Essen nach Noosa gefahren. Gegen Mitternacht waren sie zurückgekommen. Sie war aufgeblieben und hatte mit ihnen Wein getrunken. Der Amerikaner war neugierig gewesen, aber sie hatte seine Fragen abgewehrt. Er sah gut aus, eben wie ein amerikanischer Akademiker. Es wäre ein Leichtes gewesen. Er wollte am nächsten Tag weiterfahren. Keine Bedingungen, nur der Trost eines warmen Körpers, der ihr eine Nacht beistehen würde.
Sie hatte ihr Glas leergetrunken und war aufgestanden. Er machte sich bereit, ihr zu folgen, aber sie hatte schnell den Kopf geschüttelt, allen lächelnd eine gute Nacht gewünscht und das Zimmer verlassen. Es wäre ein Fehler gewesen. Und was war mit Patrick geschehen, als sie in ihr Zimmer gegangen war? Er war zu der Zeit im Krankenwagen, von Sanitätern betreut, sein Herz versagte, der Herzmuskel drohte bereits aufzugeben, alle Organe verweigerten den Dienst, und seine Gehirnzellen gingen aus Sauerstoffmangel zugrunde. Sie konnte sich nicht genau erinnern. Wahrscheinlich war sie ins Bad gegangen, hatte sich die Zähne geputzt, das Gesicht gewaschen und ihren Schlafanzug angezogen. Hatte ein Buch genommen, um zu lesen, es dann weggelegt und die Nachttischlampe ausgeschaltet. Zuerst hatte sie auf der einen, dann auf der anderen Seite gelegen und sich hin und her gewälzt. Irgendwann zwischen halb drei und drei war sie eingedämmert und hatte geschlafen, bis die Vögel sie um sechs weckten: das urtümliche Lachen des Kookaburras, dazu die Männchen und Weibchen der Schwarzkopf-Wippflöter, die ihre Rufe austauschten. Zeit aufzustehen und das Brot zu backen, für das sie berühmt war. Das Frühstück zu richten. Der Amerikaner hatte an diesem Morgen den Flug nach Brisbane nehmen müssen. Sie hatte schon für acht Uhr ein Taxi bestellt. Bestimmt hatte sie das noch einmal bestätigt, dann die Reservierungen für diesen Tag überprüft und eine Liste für ihren wöchentlichen Einkauf im Supermarkt zusammengestellt. Und Patrick lag die ganze Zeit in Malaga im Leichenschauraum der Klinik. Schon totenstarr und der Verwesung preisgegeben.
Sie hatte die Todesanzeige aus der Online-Zeitung ausgedruckt. Hinterlässt drei Kinder, stand da. Na ja, das stimmte. Er hatte einmal vier gehabt. Jetzt waren es drei. Er hatte damals gewollt, dass sie abtrieb, hatte ihr das Geld gegeben. Sie war nach England gefahren. Als Mary dann ein Jahr alt war nach Neuseeland. So weit weg wie möglich. Sie war ihm ferngeblieben. Aber später, als sie ihn wirklich brauchte, hatte er ihr geholfen. Er war mit ihr nach Ballyknockan gefahren, hatte Jimmy Fitzsimons mit einem Hieb auf den Kopf bewusstlos geschlagen, hatte ihr geholfen, ihn in den Schuppen zu schleppen und anzuketten. Dann war er mit ihr weggegangen und war sich bewusst gewesen, was nun geschehen würde. All dies hatte er für sie und Mary getan.
Eines Tages, hatte sie gedacht, eines Tages wird er nach mir suchen, und wir werden zusammen sein. So wie es hätte sein sollen.
Aber jetzt würde dieser Tag nie mehr kommen. Und da er tot war, brauchte sie ihn auch nicht mehr zu schützen. Sie schloss den Laptop, goss kochendes Wasser in die Teekanne, öffnete die Hintertür und trat in den Garten hinaus. Der Himmel war blassblau. Sie fröstelte und war plötzlich vollkommen erschöpft. Dann kehrte sie in die Küche zurück, goss sich einen Becher Tee mit Milch ein und ging nach oben. Jetzt würde sie schlafen, denn es war Morgen und die Zeit der Geister vorbei. Sie würde schlafen, bis die Sonne hoch am Himmel stand. Dann konnte sie sich ihrer Vergangenheit wieder stellen.
Das Haus am See in den Bergen von Wicklow war nur etwa zehn Meilen von der Stadt entfernt, aber eine ganz andere Welt. Von der hochgelegenen Straße oben am Sally Gap konnte man gerade noch das Dach sehen. Unten lag der Lough Dubh, wo Marina Spencer umgekommen war. Im Sommer glich er einem silbrigen Splitter zwischen den mit Heidekraut bedeckten Hügeln, im Winter einer glänzenden Scheibe glattpolierter Pechkohle. McLoughlin betrachtete die Serie von Fotos, die an der Wand hing. Sally Spencer stand neben ihm.
»Es ist ein so wunderbarer Ort, Sie können es sich nicht vorstellen. Einfach sehr schön.« Sie streckte die Hand aus und berührte mit der Fingerspitze das nächste Bild, trat dann zurück und setzte sich aufs Sofa. Sie bot McLoughlin den Sessel neben dem Kamin an.
»Das Anwesen ist seit vielen Jahren im Besitz von James’ Familie. Er war so stolz darauf. Damals, als ich ihn kennenlernte, konnte er es kaum abwarten, mit mir dorthin zu fahren. Jedes Wochenende kamen wir dorthin. Schon bevor wir verheiratet waren. Im Winter und im Sommer. Selbst wenn der Sally Gap zugeschneit war, fuhren wir im Landrover mit Spezialreifen und luden Proviant ein, als wollten wir an den Nordpol. Ich nahm Marina und Tom mit und er Dominic, seinen Sohn. Und wir hatten viel Spaß.« Sally traten Tränen in die Augen. »Ich erinnere mich, einmal hatte es an Neujahr wirklich viel geschneit, und wir kamen selbst mit den Spezialreifen nicht heraus. Wir schliefen alle in einem Raum und ließen das Feuer die ganze Nacht nicht ausgehen. Es machte so viel Spaß.«
McLoughlin schwieg. Er trank von seinem Tee, den sie neben ihn auf den Tisch gestellt hatte.
»Aber dann, nach unserer Heirat, wurde es anders. Dominic mochte mich nicht. Und auch meine Kinder nicht. Bis dahin waren sie, abgesehen von den üblichen Teenager-Streitereien, gut miteinander ausgekommen, aber nach der Heirat änderte sich das. Besonders mit Marina. Er hackte immer auf ihr herum. Ärgerte sie und machte sich über sie lustig. Sie kennen so was doch auch?«
McLoughlin nickte. Er kannte das.
»Ich habe mich gefragt, ob er sich vielleicht zu ihr hingezogen fühlte. Aber ich glaube, das war es nicht. Ich glaube, dass er eifersüchtig und zornig war. Ich glaube, er hat immer vermutet, dass ich für die Trennung seiner Eltern verantwortlich sei. Aber das war Unsinn. Das war alles passiert, bevor ich James kennenlernte. Sie hatten sich auseinandergelebt. Und waren nicht mehr …«, sie unterbrach sich und wandte den Blick ab, »… intim miteinander. James wollte die Scheidung. Seine Frau, Dominics Mutter, willigte ein. Und sie schienen alles recht gut geregelt zu haben. Sie teilten sich das Sorgerecht für Dominic, und ich wusste, dass er beiden Eltern nahestand. Damals dachte ich, zwischen ihm und mir würde mit der Zeit alles in Ordnung kommen, aber … ich weiß nicht. Irgendetwas ist schrecklich schiefgelaufen und wurde nie geklärt.« Tränen rannen ihr aus den Augen.
»Wie alt war er?« McLoughlin rutschte auf seinem Sessel herum. Diese Sache machte keinen Spaß.
»Siebzehn. Älter als meine beiden. Sehr erwachsen. Er konnte sich gut ausdrücken, sah gut aus und war kultiviert. Rückblickend glaube ich, dass ich nicht wahrnahm, wie nah er und seine Mutter sich standen. Wie viel Einfluss sie auf ihn hatte. Und in Bezug auf das Haus am See und das Gut war er sehr besitzergreifend. Ich glaube, er meinte, ich sei nur hinter James’ Geld her.« Sie lächelte und zog ein Taschentuch aus der Tasche. »Wenn er nur wüsste, dass mir das ganz egal war. Jetzt, im Nachhinein tut es mir leid, dass wir, James und ich, uns auf die Ehe eingelassen haben. Sie brachte nur Probleme. Aber, na ja, wir können nicht mehr umkehren und es ändern.«
Es war sehr still in Sallys kleinem Haus. Es hatte einst zu den Stallungen hinter der Trafalgar Terrace gehört, war inzwischen umgebaut und lag versteckt an der Trafalgar Lane, in einer Reihe dreistöckiger viktorianischer Häuser, deren Gärten nach Norden zur Dubliner Bucht hin lagen. Es war ein hübsches, sonniges, helles Haus, obwohl es Anzeichen von Vernachlässigung aufwies. Das Sonnenlicht auf den Fenstern verriet, wie lange es her war, dass sie zum letzten Mal geputzt worden waren, und die Möbel sahen unter ihrer Staubschicht matt und glanzlos aus. Auch Sally sah müde und vernachlässigt aus. Sie war klein und sehr dünn. Ihr Gesicht wirkte grau vor Erschöpfung, und ihre Augen waren rot und verquollen. Ihr helles Haar war zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zurückgebunden. Sie bückte sich und streichelte das rauhe Fell des kleinen Hundes, der zu ihren Füßen schlief.
»Es tut mir leid. Ich muss dieser Tage dauernd weinen. Ich versuche immer wieder, mich zusammenzunehmen, aber …« Sie zuckte mit den Schultern und machte einen schwachen Versuch zu lächeln. »Ich kann nicht glauben, dass das passiert ist. Nachdem James gestorben war, meinte ich, mir könne nie wieder etwas so Schlimmes zustoßen. Mit meiner lächerlichen Logik fand ich, ich hätte schon mehr als meinen Anteil an Tod und Unglück abbekommen und sei für alle Zeit dagegen gefeit. Und jetzt das.«
Sie stand auf, ging zum Kaminsims hinüber und nahm ein silbergerahmtes Foto, drehte sich um und zeigte es McLoughlin. »Das ist sie, meine Marina. Sie war so entzückend. Schon immer, vom Augenblick an, als sie auf die Welt kam. Sie war ein wunderbares kleines Mädchen und eine großartige Frau. Und es ist besonders traurig, weil ich meinte, sie hätte zum ersten Mal ihr Leben wirklich im Griff. Hier.« Sie küsste die kalte Glasscheibe des Fotos und gab es dann McLoughlin.
Sally hatte recht. Marina war reizend. Die dunklen Haare waren aus dem Gesicht nach hinten frisiert und passten zu den dunkelbraunen Augen, dazu ein strahlendes Lächeln, hohe Wangenknochen. Eine Frau, die einem auffallen würde.
»Wie alt war sie?« McLoughlin gab ihr das Bild zurück.
Sally verschränkte schützend die Arme darüber und setzte sich wieder.
»Als es aufgenommen wurde oder als …«
»Wann ist sie gestorben?«
»Sie war fünfunddreißig. Aber man sah es ihr nicht an. Die Leute dachten immer, sie sei viel jünger.«
»Sie aber auch. Sie sehen nicht so aus, als hätten Sie ein Kind in diesem Alter.«
Sie lächelte, und einen Moment waren seine Worte mehr als nur eine Nettigkeit. »Ich war sehr jung, als sie auf die Welt kam. Kaum achtzehn. Mein Mann und ich, wir waren schon als Teenager zusammen. Wir heirateten, als ich im sechsten Monat schwanger war, obwohl uns das nicht wichtig war. Wir waren wahnsinnig verliebt. Ich hatte gerade meinen Schulabschluss gemacht, und Robbie war auf dem College. Aber er hatte nebenher einen Teilzeitjob, und wir kamen irgendwie zurecht.«
»Und Sie haben noch ein Kind?«
»Mein Sohn Tom wurde zwei Jahre später geboren. Und als James und ich dann heirateten, bekamen wir Vanessa. Sie war noch ein Baby, als James starb.« Die Tränen kamen wieder. »Ich hatte zwei Kinder ohne Vater großgezogen. Das Letzte, was ich wollte, war, es noch einmal tun zu müssen.« Sie fing an zu schluchzen.
McLoughlin schaute weg. Was in aller Welt machte er hier? Die ganzen Jahre über hatte er Menschen schlechte Nachrichten überbringen müssen, und er hatte genug davon. Er starrte aus dem Fenster. Über den hohen Häusern sah er auf beiden Seiten einen Himmel von makellosem, blassem Blau. Ein Windstoß bewegte die Blätter der alten Platanen. Windstärke vier bis fünf, schätzte er. Perfektes Segelwetter. Er sah sich im Zimmer um und betrachtete die Reiseuhr auf dem Bücherregal. Es war halb drei. Wenn er das hier bald zu Ende bringen konnte, würde er seinen Freund Paul noch rechtzeitig treffen und mehr Einzelheiten über den nächsten Törn nach Frankreich bekommen können.
»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen hierbei helfen kann, Sally. Ich bin sicher, dass die Polizei getan hat, was ihr möglich war, um die Ursache für den Tod Ihrer Tochter zu finden. Wenn sie es für Selbstmord hält, nun, ich weiß, dass es schwer ist, das zu akzeptieren, aber vielleicht hat sie recht.« Zum Teufel mit Tony Heffernan dafür, dass der ihn in diese Sache hier hineingezogen hatte. »Und wie Tony mir sagte, war da doch noch ein Brief, oder?«
Sally sah ihn an. Er bemerkte ihre Augen, die grüngesprenkelt wie Wasser in einem Teich waren.
»Es war eigentlich kein Brief, nur ein Zettel, den ich in ihrer Handtasche gefunden habe. Darauf stand irgendetwas über Vergebung. Das ist alles.« Sie hielt inne und sah auf ihre Hände hinunter. »Hören Sie, ich kann Sie bezahlen, wenn das die Frage ist.«
Er schüttelte den Kopf. »Ach bitte, um Geld geht es nicht. Es ist nur so, dass ich wirklich nicht weiß, was ich für Sie tun kann.« Er spürte, dass er rot wurde.
Sie stand auf, um auf einen großen, schönen Schreibtisch zuzugehen. Als sie sich bewegte, streckte sich der kleine Hund und gähnte, rollte sich dann auf die andere Seite und schlief wieder ein. Sally zog die obere Schublade auf und wandte sich McLoughlin mit einem Fotoalbum in den Händen zu. »Bitte, sehen Sie sich das an. Ich habe alles gesammelt, was mit dem Tod meines Mannes zu tun hatte. Es war ein Unfall, das weiß ich. Und in den sechs Wochen, seit Marina gestorben ist, habe ich alles gesammelt, was über sie und das, was passiert ist, geschrieben wurde. Ich habe viele Briefe von Leuten bekommen, die sie kannten. Lesen Sie sie, damit Sie sehen, was ihre Freunde dachten. Entscheiden Sie jetzt nichts. Ich werde Ihren Entschluss auf jeden Fall respektieren.« Sie hielt ihm das Album hin wie ein kostbares Geschenk. »Marina hat nicht Selbstmord begangen. Vielleicht ist sie durch einen Unfall umgekommen. Vielleicht war sie betrunken und ist in den See gefallen. Aber das glaube ich nicht. Seit dem Tag, als James ertrank, hatte Marina große Angst vor dem Wasser. Sie wissen ja, sie war mit ihm im Boot, als es geschah. Ich glaube, seitdem hat sie nie wieder ein Boot betreten. Etwas ist in jener Nacht beim Haus passiert. Etwas, das nicht aufgeklärt wurde. Bitte nehmen Sie das. Bitte.«
Das Album lag auf dem Beifahrersitz neben ihm, als er die schmale Gasse zur Hauptstraße hinunterfuhr. Von dem glänzenden Umschlag schien eine eigene Kraft auszugehen. Er griff danach, strich darüber und schlug das Album auf.
An der Kreuzung hielt er an. Vor ihm lag blau und wunderschön die Dubliner Bucht. Er schaute nach rechts und links, fuhr vorsichtig über die Kreuzung und dann die schmale Zubringerstraße entlang über die Eisenbahnbrücke auf den Martello-Turm am Seapoint zu. Dann bog er wieder links in die kleine Sackgasse ab, die aufs Meer zulief. Schon immer hatte er diese Häuser sehr gemocht. Man hatte sie im frühen neunzehnten Jahrhundert für Marineoffiziere gebaut. Sie waren bescheiden, aber sehr schön geschnitten, hatten sechs Stufen zur Haustür hinauf und auf beiden Seiten Erkerfenster. Es war schon eine Weile her, seit er diese Gasse zum letzten Mal aufgesucht hatte. In den Monaten nach Margarets Abreise hatte er hier manchmal im Wagen gesessen, aufs Meer hinausgeschaut und an sie gedacht. Jetzt parkte er ein Stückchen weiter vorn. Er nahm das Album in die Hand, es war schwer. Er legte es auf dem Steuerrad ab und fand, es fühlte sich an wie die Büchse der Pandora. Er wusste nicht, was es enthielt. Aber wie bei Pandoras Büchse wusste er, dass es mit Sicherheit nichts Gutes war. Sally Spencers ganze tragische Geschichte und ihre Verzweiflung waren auf diesen Seiten versammelt. Und jetzt würde er sie freisetzen.
Er legte das Album auf den Beifahrersitz zurück, stieg aus, stand vor dem Haus und beugte sich hinunter, um das Tor aufzumachen. Es quietschte und scharrte laut auf dem unebenen Steinweg. Er ging vorsichtig über die Kalksteinplatten, denn sie waren rissig und zerbrochen, und überall hatten sich Löwenzahn und Butterblumen angesiedelt. Von der Straße war Müll herangeweht. Plastikbeutel, Chipstüten und die Verpackungen von Schokoriegeln hingen in den Büschen an der Mauer. Er blieb an der untersten Stufe stehen. Das schmiedeeiserne Geländer hatte Rost angesetzt, und die Farbe an der Tür war verblasst und fing an abzublättern.
Er ging langsam die Stufen hinauf. Die Läden vor den Fenstern der Zimmer im Erdgeschoss waren geschlossen. Eines davon war ein Schlafzimmer, erinnerte er sich. Margarets Mutter hatte in den letzten Monaten ihres Lebens dort gelegen und auf die Straße hinausgeschaut, wenn sie hin und wieder aus ihrem medikamentenschweren Schlaf zu sich kam. Das Zimmer auf der anderen Seite war ein konventioneller Salon mit Marmorkamin und Stuckverzierungen. Er hatte bei seinen häufigen Besuchen einmal einen Blick hineingeworfen, war aber von Margaret nie hineingeführt worden. Sie hatten immer unten in der Küche oder draußen im Garten gesessen.