Sunrise Lake - Christine Feehan - E-Book
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Sunrise Lake E-Book

Christine Feehan

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Beschreibung

Eigentlich hatte Stella Harrison gehofft, am malerischen Sunrise Lake in den Bergen der Sierra Nevada ein neues Leben zu beginnen. Über das dunkle Geheimnis, das sie mit sich herumträgt, spricht sie mit niemandem – nicht einmal mit Sam, dem aufmerksamen und fürsorglichen Mann, in den sie sich zaghaft verliebt hat. Dann wird Stella von ihrer Vergangenheit eingeholt: düstere Vorahnungen und Albträume zeigen ihr die grausamen Bilder eines Mordes, der noch nicht geschehen ist. Doch er wird geschehen, dessen ist Stella sich sicher. So ist es bisher immer gewesen. Entschlossen, den Mörder zu fassen, bevor er seine schreckliche Tat begehen kann, kommt Stella im Laufe ihrer Ermittlungen nicht umhin, sich zu fragen, wie gut sie Sam eigentlich kennt ...

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Das Buch

Eigentlich hatte Stella Harrison gehofft, am malerischen Sunrise Lake in den Bergen der Sierra Nevada ein neues Leben zu beginnen. Über das dunkle Geheimnis, das sie mit sich herumträgt, spricht sie mit niemandem – nicht einmal mit Sam, dem aufmerksamen und fürsorglichen Mann, in den sie sich zaghaft verliebt hat. Dann wird Stella von ihrer Vergangenheit eingeholt: düstere Vorahnungen und Albträume zeigen ihr die grausamen Bilder eines Mordes, der noch nicht geschehen ist. Doch er wird geschehen, dessen ist Stella sich sicher. So ist es bisher noch jedes Mal gewesen. Entschlossen, den Mörder zu fassen, bevor er seine schreckliche Tat begehen kann, kommt Stella im Laufe ihrer Ermittlungen nicht umhin, sich zu fragen, wie gut sie Sam eigentlich kennt …

Die Autorin

Christine Feehan wurde in Kalifornien geboren, wo sie heute noch mit ihrem Mann und ihren elf Kindern lebt. Sie begann bereits als Kind zu schreiben und hat seit 1999 weit über siebzig Romane veröffentlicht, die in den USA mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet wurden und regelmäßig auf den Bestsellerlisten stehen. Auch in Deutschland ist sie mit den Drake-Schwestern, der Sea Haven-Saga, der Highway-Serie, der Schattengänger-Serie, der Leopardenmenschen-Saga und der Shadows-Serie äußerst erfolgreich. Mit Sunrise Lake legt Christine Feehan ihren ersten Mystery-Thriller vor.

CHRISTINE

FEEHAN

SUNRISE LAKE

Mystery-Thriller

Aus dem Amerikanischen übersetzt

von Ruth Sander

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe

MURDERATSUNRISELAKE

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 11/2022

Redaktion: Sabine Kranzow

Copyright © 2021 by Christine Feehan

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe

und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-29533-2V001

www.heyne.de

Für Abbie Thomason,

eine echte Inspiration für diese Geschichte.

Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!

1

Mami, Daddy tut wieder etwas Schlimmes.

Die Kinderstimme sagte ganz genau das, was sie zu ihrer Mutter gesagt hatte, als sie vier war. Und fünf. Und sieben.

Stella Harrison wusste, dass sie träumte, konnte den Traum aber dennoch nicht abschütteln. Dies war die fünfte Nacht in Folge, in der sie ihn hatte, und jedes Mal hatte die Kameralinse sich ein wenig weiter geöffnet und ihr etwas mehr von dem Schreckensszenario gezeigt, das sie nicht aufhalten konnte. Von dem Angler. Mit der Jeanslatzhose, der olivfarbenen Wathose und der blauen Kappe, die er tief in die Stirn gezogen hatte, sodass sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Er war zwischen den Felsen im dichten Schilf hindurch in den See hinausgewatet, um dem Schatten mehrerer Bäume zu entkommen.

Sie versuchte, ihn zu warnen. Ihm etwas zuzurufen. Zu schreien. Nein, werfen Sie die Angel nicht aus. Doch jeden Abend sah sie, wie die Schnur an genau der gleichen Stelle eintauchte. In dem etwas dunkleren kleinen Kreis, wo das Wasser sich so verlockend kräuselte. Wie ein programmierter Roboter machte der Angler immer dasselbe. Er trat vor, warf die Schnur aus und ließ den Köder mitten in dem tintenschwarzen Loch in der Tiefe verschwinden.

Dann veränderte sich der Blickwinkel, und die Kamera zeigte ihr Aufnahmen unter Wasser. Dort hätte es ruhig und friedlich sein müssen. Mit Fischen, die umherschwammen. Nicht mit einem Mann im Taucheranzug, der auf diesen Haken wartete, um den Angler in ein furchtbares Spiel zu verwickeln. Den Kampf um den Fisch zu einem echten Kampf auf Leben und Tod zu machen, bei dem der Angler immer weiter vom sicheren Ufer fort in das dichte Röhricht gelockt wurde – näher an die Bedrohung, die unter Wasser lauerte.

Der angebliche Fisch leistete Widerstand. Er schien groß zu sein und das erschöpfende Ringen wert. Während er den Fisch einholte und glaubte, einen preiswürdigen Fang an Land zu ziehen, achtete der Angler immer weniger auf seine Umgebung.

Plötzlich richtete sich der Mann unter Wasser vor dem arglosen Petrijünger auf und stieß ihm so fest vor die Brust, dass er hintenüberfiel, mit dem Kopf auf einem Stein aufschlug und unterging. Sofort zog der Taucher ihn weiter unter Wasser und hielt ihn dort fest, obwohl der benommene Angler sich heftig wehrte.

Stella konnte nur entsetzt zusehen, wie der Mörder die Tat ruhig beendete, indem er die Leiche einen Moment an die Wasseroberfläche kommen ließ, um sie mit dem unteren Teil der Wathose über einen Felsen zu zerren. Dann tauchte er die Leiche des Anglers wieder unter Wasser und verwickelte sie mit dessen eigener Angelschnur direkt unter der Wasserlinie im Schilf und den ufernahen Pflanzen. Schließlich schwamm der Mörder in aller Ruhe davon, als wäre nichts gewesen.

Danach schnappte die Kameralinse wieder zu, und alles wurde schwarz.

Als Stella in zerwühlten Bettdecken erwachte, schwitzte sie so stark, dass ihr Haar feucht war. Abrupt setzte sie sich auf, drückte die Handballen gegen die Augen und rieb sich immer wieder übers Gesicht, um den Albtraum loszuwerden. Nicht schon wieder. Das war Jahre her. Jahre. Sie hatte ein neues Leben. Neue Freunde. Ein neues Zuhause. Eine Heimat.

Und nun fingen diese Albträume wieder an. Das war das fünfte Mal gewesen. Fünf Mal hintereinander. Und es war nicht mehr so, als lebte sie in einer großen Stadt. In einer kleinen Gemeinde wie dieser würde normalerweise jeder von einem Mord erfahren. Aber der Killer war brillant. Absolut genial, deshalb käme er wohl damit davon – es sei denn, sie würde die Polizei auf seine Verbrechen aufmerksam machen. Doch selbst dann war nicht sicher, dass er gefasst werden würde.

Sie hatte nicht gemerkt, wie sie sich vor und zurück wiegte, um sich zu beruhigen, und zwang sich, damit aufzuhören. Auch das hatte sie seit Jahren nicht mehr getan. All diese schrecklichen Sachen, die sie sich als Kind angewöhnt hatte, die ihr als Teenager wieder zu schaffen gemacht hatten und die sie überwunden zu haben glaubte, schlichen sich wieder bei ihr ein.

Sie würde keine Ruhe mehr finden, obwohl es draußen noch dunkel war. Dabei hatte sie sich vorgenommen, länger zu schlafen. Sie hatte nur wenig Freizeit, doch die Saison ging langsam zu Ende. Das Sunrise Lake Resort gehörte ihr nun schon seit mehreren Jahren, und sie hatte es von einer tristen, schlecht laufenden Ferienanlage in ein Touristikziel verwandelt, das nicht nur großen Gewinn abwarf, sondern auch die örtlichen Unternehmen auf Erfolgskurs gebracht hatte. Sie liebte dieses Resort, alles daran, sogar die harte Arbeit. Die ganz besonders. Sie blühte auf, wenn sie Probleme lösen musste, und hier gab es jede Stunde ein neues, sodass sie ständig reagieren musste. Sie brauchte das, und als Managerin und später Besitzerin von Sunrise Lake bekam sie es.

Als der vorherige Besitzer vor vier Jahren beschlossen hatte, es sei an der Zeit, sich zurückzuziehen, hatte er ihr die Anlage verkauft. Sie hatten die Übernahme unter der Hand gehalten, und er hatte das erste Jahr so weitergemacht, als würde noch alles ihm gehören. Doch im Laufe der Zeit waren seine Besuche immer seltener geworden. Stella hatte das Haupthaus renoviert, aber für ihn für diese Fälle eine besondere Hütte bereitgehalten.

Das Anwesen war wunderschön, hoch in den Bergen und um einen recht großen Uferabschnitt des Sunrise Lake gelegen. Knightly, die nächste Stadt, erreichte man in einer Stunde über eine ziemlich kurvige Straße talabwärts. Der Ort war klein, und die Gemeinschaft daher umso enger verbunden.

Stella hatte dort gute Freunde gefunden. Es gefiel ihr, in der Provinz zu leben. Da fühlte sie sich geerdet, verbunden, lebendig. Und es gab sehr viele Freizeitmöglichkeiten, von Skilaufen über Wandern bis hin zum Klettern. Sie passte in diese Gegend. Und sie würde das alles nicht wegen ein paar Albträumen wegwerfen. Das wäre zu dumm. Das Problem war nur, dass die Träume so lebhaft waren und immer detaillierter wiederkehrten.

Es war ja auch nicht so, als gäbe es einen Toten – bislang jedenfalls nicht. Ihr schauderte. Aber es würde einen geben. Sie wusste es. Mit absoluter Sicherheit. Irgendwo würde in den nächsten zwei Tagen ein Angler ermordet werden. Doch man würde keinen Beweis für einen Mord finden. Sie musste aufhören, darüber nachzudenken, sonst wurde sie verrückt.

Sie stieg aus dem Bett und ging unter die Dusche. Sie hatte bei der Renovierung besondere Aufmerksamkeit auf das Bad und die Küche gelegt. Sie kochte sehr gern, aber vor allem wollte sie nach einem langen Arbeitstag genug heißes Wasser zum Duschen und Baden haben. Entsprechend war ihr großes Bad eine wahre Wucht.

Die frei stehende Badewanne war tief und die Dusche viel geräumiger als üblich. Es gefiel ihr, so viel Platz zu haben und Düsen auf allen Seiten, weil sie oftmals von der Arbeit oder ihren Freizeitaktivitäten Muskelkater hatte. Oder weil sie die ganze Nacht mit ihren Freundinnen durchgetanzt hatte. Deshalb passte ihre Dusche perfekt für sie.

Sie hatte das Haus für zwei Personen eingerichtet, obwohl sie nicht glaubte, dass sie jemals eine bessere Hälfte haben würde. Sie war zu distanziert. Sie erzählte niemandem von ihrer Vergangenheit, nicht einmal ihren engsten Freunden. Und sie verabredete sich nicht. Sobald ihr jemand zu nahe kam, zog sie sich zurück.

Das heiße Wasser rann über ihr dichtes blondes Haar. Darauf war sie ein wenig stolz, auch wenn sie es nur selten offen trug. Dank der finnischen Großeltern auf der mütterlichen Seite war es fast silbern, und sie hatte dieses sehr helle Haar zusammen mit den leuchtend blauen Augen wohl von ihnen geerbt. Die Dicke ihres Haars und die dunkleren Wimpern waren eine Gabe von der anderen Seite. Ihr Vater stammte aus einer wohlhabenden Familie in Argentinien und hatte ihre Mutter auf dem College in San Diego kennengelernt. Bei der Verteilung der Gene hatte Stella Glück gehabt.

Das heiße Wasser wusch die letzten Erinnerungen an den Albtraum fort und half gegen die Übelkeit in der Magengegend. Leider wollte dennoch jenes ungute Gefühl nicht weggehen. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie hatte solche Albträume erst zweimal gehabt, und beide Male war die Realität noch schlimmer gewesen als die Träume. Seufzend drückte sie sich das Wasser aus dem Haar, schlang ein Handtuch darum und trocknete sich mit einem warmen Duschtuch ab.

Dann zog sie ihre Lieblingsjeans und ein bequemes T-Shirt an, streifte ein Sweatshirt über und stieg in ihre Stiefel, ehe sie sich das Haar flocht. Normalerweise föhnte sie es nicht, und da sie meist auch kein Make-up trug oder sich schick machte, wenn sie einen Tag freihatte, war sie schnell fertig.

»Bailey, ich kann nicht glauben, dass du immer noch schläfst. Steh auf, du fauler Hund.« Sie stemmte die Hände in die Hüften und versuchte, ihren Airedale, der nach wie vor in seinem Körbchen neben ihrem Bett lag, streng zu mustern.

Der Hund öffnete die Augen, schaute sie an und sah sich dann im dunklen Zimmer um, als wollte er sie fragen, ob sie verrückt sei, so früh aufzustehen. Dann erhob er sich mit einem schweren Stöhnen und folgte ihr durch das große Haus zur Tür. Draußen auf der Veranda zögerte Stella. Vor einer Weile hatte sie aufgehört, die Haustür abzuschließen und die Alarmanlage anzustellen, doch in letzter Zeit kroch ihr wieder öfter ein unangenehmer Schauer über den Rücken, und auch das Rumoren in der Magengegend war zurück. Geduldig wartete Bailey darauf, dass sie sich entschied.

Stella wusste, dass es lächerlich war, wie ein Schaf vor ihrer Tür zu stehen. Sie traf doch andauernd Entscheidungen. Es war nur so, dass es ihr wie ein Rückschritt vorkam, ihren Ängsten nachzugeben, und sie hatte sich selber versprochen, das nicht mehr zu tun. Noch eine volle Minute stand sie unschlüssig da und blickte auf die dicke, geschnitzte Tür, ehe sie etwas unternahm.

Wütend auf sich selber, dass sie sich den Albträumen und dem gnadenlosen Terror beugte, der sie im Schlaf quälte, stellte sie die Alarmanlage an und verschloss die Tür. Manchmal überkamen ihre Ängste sie unversehens und übernahmen langsam, aber sicher ihr Denken, bis sie sich wieder mit Dingen beschäftigte, die sie besser ruhen lassen sollte. Wenn sie wirklich behaupten wollte, dass in ihrer geliebten Sierra ein Mord geschehen würde, würde ihr diesmal bei ihren Nachforschungen niemand helfen. Der Killer hatte vor, den Mord wie einen Unfall aussehen zu lassen. Und da sie so etwas nur träumte, wenn es sich um einen Serienkiller handelte, hieß das, dass er weiter töten würde. Schließlich kam es in den Bergen ständig zu Unfällen.

Es würde keine Gerüchte, keine hinter vorgehaltener Hand geäußerten Verdächtigungen geben. Früher hatte sie es gehasst, wenn überall, wo sie hinging, Mord zum Gesprächsthema geworden war. Jetzt musste sie wohl selber damit anfangen, Fragen zu stellen, wenn sie den Killer aufhalten wollte. Einige ihrer Freunde waren bei der Bergrettung, und sie kannte immerhin die Gerichtsmedizinerin. Vielleicht konnte sie unter irgendeinem Vorwand die richtigen Fragen stellen, um Zweifel an einem Unfall aufkommen zu lassen.

Im Dunkeln ging sie am Bootshafen vorbei zur privaten Anlegestelle, die der frühere Besitzer nie für sein Boot genutzt hatte. Der Steg war eher dazu da, die Sonne beim Auf- und Untergehen zu bewundern, so wie sie es jetzt vorhatte. Der Platz war perfekt geeignet, um die Schönheit der Berge zu genießen, die sich im See spiegelten. Von diesem Anblick konnte sie niemals genug haben.

Sie war mit dem Grundstück so vertraut, dass sie die Taschenlampe für den schmalen Weg vorbei an dem kleinen Lebensmittelgeschäft, dem Angelladen, den Hütten und den Spielplätzen für Kinder und Erwachsene kaum brauchte.

Er brachte sie hinter den Campingplätzen entlang zu einem noch schmaleren Pfad, der durch eine Reihe von Felsen in ein sehr baumreiches Gebiet führte. Doch wenn man einmal durch den Wald hindurch war, gelangte man wieder ans Ufer. Dort war eigentlich nicht der richtige Platz, um einen Steg zu bauen, aber sie liebte den Frieden, den er verströmte, wenn sie ihn dringend brauchte – so wie jetzt. Die Touristen wussten nichts von diesem Steg, und das bedeutete wertvolle Ruhe, wenn sie einmal ein paar Stunden oder einen Tag freihatte.

Der Herbst war gekommen und mit ihm die großartigen Farben, mit denen nur die Sierra aufwarten konnte. Sie liebte jede Jahreszeit in den Bergen, aber der Herbst war definitiv ihr Favorit. Nach der Sommerhitze war das kühlere Wetter stets hochwillkommen. Man konnte noch fischen, und es kamen nach wie vor Touristen, doch es wurde immer ruhiger, sodass sie Atem schöpfen konnte. Auch Klettern war noch möglich, und das machte sie sehr gern.

Dann ergötzte sie sich einfach an der reinen Schönheit der leuchtenden Farben. Den Rottönen der Blätter, die von Blutrot bis hin zu einem fahleren, fast purpurnen Rot reichten. Bei den Orangetönen war es genauso. Bis sie in die Sierra Nevada gekommen war, hatte sie nicht gewusst, dass es so viele Schattierungen gab, zartes bis strahlendes Orange, Gold und Gelb, die sich zwischen dem letzten Grün an den Bäumen gegenseitig an Strahlkraft überboten.

Hinter dem See erhoben sich die Berge mit Bäumen, die so eng beieinanderstanden, dass man sie aus der Entfernung für undurchdringlich halten konnte. Meilenweit erstreckte sich diese Landschaft aus Schluchten und Flüssen, wunderschönen Wäldern und zerklüfteten, auffallenden Felsformationen, die es nirgendwo sonst gab. Es war eine sagenhafte Landschaft mit ständig wechselndem Gesicht, und sie hatte sie lieben gelernt.

Reglos saß Stella auf den dicken Planken und blickte über den eisigen See. Der von Gebirgsbächen aus Schmelzwasser gespeiste Sunrise Lake war ein riesiges Becken mit tiefem, saphirblauem Wasser. Eine leichte Brise kräuselte die Oberfläche, doch der größte Teil glänzte wie Glas. Manchmal stockte ihr der Atem angesichts dieser einzigartigen Schönheit. Der See und die umgebenden Berge wirkten zu jeder Jahreszeit sehr elegant und majestätisch.

Wie immer, wenn sie so auf dem Steg saß, schmiegte ihr Hund sich eng an sie. Dann schlief er direkt wieder ein, weil er nie wusste, wie lange sie dort bleiben und auf die Sonne warten wollte. Schade, dass er nicht sprechen konnte, dann hätte sie wenigstens mit ihm über so wichtige Dinge wie zum Beispiel Mord reden können, doch als sie es versucht hatte, hatte er sie nur angesehen, als hätte sie den Verstand verloren und dann den Kopf auf ihren Schoß gelegt, damit sie ihn kraulte. Schamlos die Situation ausgenutzt. So war er, ihr geliebter Bailey.

Plötzlich fasste eine Hand nach ihrer Schulter, und sie wäre vor Schreck fast in den See gefallen. Bailey blickte nicht einmal auf und gab keinerlei Laut von sich. Die Hand hielt sie fest, ehe sie ins Wasser stürzen konnte. Stella wandte den Kopf und schaute zu dem Mann auf, der hinter ihr stand. Sam Rossi konnte sich völlig geräuschlos bewegen, was sie manchmal, so wie jetzt, wahnsinnig machte. Sein Gesicht war zu grob, um schön zu sein, aber maskulin kantig. Und er hatte immer einen dunklen Dreitagebart, der sich nie zu einem richtigen Bart auswuchs, aber auch nie abrasiert wurde. Außerdem lächelte er praktisch nie, und wenn, erreichte dieses Lächeln ganz sicher nicht seine eiskalten Augen.

Doch körperlich war er gut in Form. Breite Schultern. Muskulöse Brust. Überhaupt viele Muskeln. Insgesamt sehr stark. Das wusste sie, weil sie ihn als »Mädchen für alles« eingestellt hatte und er alle möglichen Arbeiten erledigen musste, zu denen man unglaublich viel Kraft brauchte. Zudem musste er sich mit Booten, Schreinerei, Fischen, Klettern und den meisten Freiluftaktivitäten auskennen, und bislang hatte er sie nicht einziges Mal enttäuscht.

Außerdem hatte er Narben. Viele davon. Er zog sein Hemd aus, wenn es zu heiß war und er draußen arbeiten musste. Meist nur, wenn außer ihr niemand da war oder die anderen weit genug entfernt, aber sie hatte die Narben gesehen, und sie waren nicht schön. Es waren auch nicht solche, wie man sie sich bei einem Autounfall zuzog. Es sah eher so aus, als wäre er ausgepeitscht worden. Zudem war er wohl mehr als einmal angeschossen worden, und ein paar Narben von Stichwunden hatte er ganz sicher auch. Sie hatte nicht näher hingeschaut. Absichtlich nicht, obwohl sie es gern getan hätte. Sie hatte ihn auch nie danach gefragt, und er hatte von sich aus nie eine Erklärung angeboten.

»Hör auf, dich an mich anzuschleichen«, blaffte sie gereizt und griff nach dem Becher mit Kaffee, den er offensichtlich für sie mitgebracht hatte.

Doch er zog ihn ihr weg, setzte sich auf Baileys andere Seite und ignorierte ihre ausgestreckte Hand.

»Sam.« Sie knurrte es praktisch. Er konnte doch nicht mit ihrem duftenden Lieblingsgetränk ankommen und es ihr dann verwehren.

Er lüpfte eine Augenbraue. Offensichtlich war er anderer Ansicht. Er stellte den Becher auf der von ihr abgewandten Seite ab, sodass sie nicht über den Hund hinweg an ihn herankommen konnte. Dann trank er stumm von seinem Kaffee und blickte über den See. Bailey hätte ihn wenigstens mal anknurren können, aber auch der kam ihr nicht zu Hilfe.

»Bist du nur hier rausgekommen, um mich zu ärgern?«, fragte Stella.

Sam antwortete nicht. Sie wusste, dass er dieses Schweigen ewig durchhalten konnte. Es war genauso ärgerlich wie dieser dämliche Spitzname für sie. Er nannte sie manchmal mit affektierter Stimme Satine – nach der Hauptdarstellerin im Film Moulin Rouge! Also, nicht dass er eine affektierte Stimme gehabt hätte, eher eine sehr leise, fast hypnotische, die sie verdammt sexy fand. Glücklicherweise benutzte er diesen Namen nicht vor anderen. Er sprach ohnehin nicht viel, deshalb stellte sich das Problem nicht, wenn ihre Freundinnen da waren.

Ihr war nichts so schnell peinlich, nicht einmal, wenn sie in einer lächerlichen Situation erwischt wurde, doch da sie ein ganz klein wenig in Sam verliebt war, schämte sie sich für Sachen, über die sie sonst wohl lachen würde.

Sie liebte Moulin Rouge! Das war ihr Film. Den sie immer schaute, wenn sie bedrückt war und Mitleid mit sich hatte. Das kam nicht oft vor, aber in diesen seltenen Fällen guckte sie diesen Film und weinte sich die Augen aus. Wenn sie etwas brauchte, das sie wieder in Schwung brachte, ließ sie Moulin Rouge! laufen, aß Popcorn und heulte und lachte.

Sie wusste gar nicht mehr, wie es passiert war, dass Sam bei einer solchen Aufmunterungsparty hereingekommen war, aber so war es. Er hatte sich einfach dazugesetzt und den Film mit ihr geschaut. Danach hatte er das häufiger gemacht, allerdings hatte sie den Eindruck gehabt, dass er mehr auf sie als auf den Fernseher achtete. Wie üblich sagte er dabei nichts, schüttelte nur hin und wieder den Kopf, als wäre sie ein wenig durcheinander, und ging schließlich wieder. Sie wusste nicht einmal, ob er den Film mochte, aber wenn nicht, hatte er kein Herz, das hatte sie ihm hinterhergerufen. Doch er hatte sich nicht umgedreht.

Sie kannte jedes Lied auswendig, und jeden Morgen, wenn sie ihre Übungen machte, spielte sie die Songs ab und sang und tanzte dazu. Auch abends machte sie ihr Sportprogramm dazu, mitsamt einer kleinen Showeinlage hin und wieder. Natürlich war Sam einmal in genau dem Moment hereingekommen, als sie ein Bein über einen Stuhl schwingen wollte, es aber nicht ganz schaffte und auf dem Po landete. Das war das erste Mal gewesen.

Sie machte auch gern Vertikaltuchakrobatik, um fit zu bleiben. Weil das Haus zweistöckig war und einen offenen Grundriss hatte, hatte sie dafür eine eigene Aufhängung, an der sie manchmal trainierte. Und als sie sich einmal kurz in den Tüchern verfangen hatte und kopfüber hängend bei lauter Musik versuchte, ihren Fuß freizubekommen, war Sam natürlich wieder hereinspaziert.

Und das dritte Mal, als sie gerade sehr cool und aufreizend (wenn man sich nicht selber lobte) mit dem Po auf und ab gewackelt hatte, hatte er am Türrahmen gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt, und sie mit seinen dunklen Augen beobachtet. Doch sie konnte nie sagen, was er dachte, weil seine Miene stets unergründlich war.

Bei den Gelegenheiten, wenn er sie mit seiner leisen, sonoren Schauspielerstimme Satine nannte, wollte sie ihn böse ansehen, fing stattdessen aber immer wieder an zu lachen. Er lachte nicht mit, doch manchmal wurden seine dunklen Augen weich, und in ihrem Bauch kribbelte es so seltsam, dass sie Angst bekam.

»Ernsthaft, Bailey, was für ein Wachhund bist du denn?« Seufzend schob sie die Finger ins lockige Fell ihres Hundes. Dennoch kam sie nicht darum herum, dass sie jetzt, wo Kaffee in Reichweite war, unbedingt einen Schluck haben wollte. »Danke, dass du mir Kaffee gebracht hast, Sam. Das weiß ich wirklich zu schätzen.«

Da sie sich tatsächlich darüber freute, fiel es ihr leicht, einen sarkastischen Unterton zu vermeiden, obwohl sie eigentlich ganz gern sarkastisch geklungen hätte. Vielleicht sollte sie ihn einfach in den eiskalten See schubsen. Doch er brächte es bestimmt fertig, sie mitzureißen, also wäre das wohl keine echte Genugtuung.

Ohne ein Wort reichte Sam ihr den Becher. Dankbar trank Stella den ersten Schluck, während sie beide zusahen, wie die leichte Brise mit dem Wasser spielte. Verstohlen schaute sie zu Sam hinüber. Glücklicherweise reagierte er nie mit irgendeinem süffisanten Grinsen. Er war ein Mensch, der in sich ruhte und nie etwas von ihr verlangte. Manchmal war sie am Ende des Tages so erschöpft, dass sie nicht einmal mehr ein kleines bisschen von sich mit irgendjemandem teilen mochte.

An solchen Tagen stand Sam meist auf ihrer Veranda und grillte Gemüse und Fleisch oder irgendetwas anderes, als wüsste er, dass sie einen schrecklichen Tag gehabt hatte und nicht reden wollte. Dann deutete er stumm auf die Kühlbox mit dem kalten Bier, und sie nahm sich eins, reichte ihm auch eins und setzte sich dann in ihren Lieblingshängesessel, der an der Überdachung der Veranda angebracht war. Sam bat sie nie um etwas. Und sie ihn auch nicht. Das war das Beste an ihrer seltsamen Beziehung. Er schien intuitiv zu wissen, wenn es bei ihr gerade schlecht lief. Aber sie fragte ihn nicht, warum er auftauchte und ihr das Leben leichter machte oder woher er eigentlich wusste, dass sie gerade ein wenig Zuwendung brauchte.

Sie seufzte und nahm noch einen Schluck Kaffee, während sie Bailey streichelte. Sie hatte ein paar Dinge gefunden, die das Leben schön machten. Diesen wunderbaren Ort. Ihren Hund. Kaffee. Ihre fünf Freundinnen. Den besten Film aller Zeiten und vielleicht Sam Rossi. Sie war nicht sicher, in welche Kategorie sie ihn einordnen sollte. Eine Beziehung hatten sie eigentlich nicht. Aber er ging mit niemand anders aus. Und sie genauso wenig. Sie hatten beide zu viele Geheimnisse.

Die Blätter an den Bäumen, die dem Steg am nächsten standen und ihn zu beiden Seiten rahmten, waren gelb, rot und orange und schaukelten im Wind. Viele davon waren bereits auf die Felsen am Ufer gefallen, an denen das Wasser leckte. Auf dem Steg, wo die Brise sie kreiselnd übers Holz jagte, hatten sie die Planken in einen leuchtend bunten Teppich verwandelt.

Als die Sonne mit ihrem Aufstieg begann, veränderten sich die Farben ganz langsam. Immer mehr Strahlen fielen auf den See, zuerst in einem niedrigen Winkel. Dann erschien ein goldener Halbkreis, der sich im tiefen, dunkelblauen Wasser kaum spiegelte. Der Anblick war großartig, der Grund, warum Stella an diesem Ort geblieben war. Hier fühlte sie sich mit der realen Welt verbunden. Klein vor der großartigen Natur. Als der goldene Ball sich weiter erhob, sahen die Bäume plötzlich ganz anders aus. Der Ball schien im Wasser zu wachsen und ließ es schimmern, als wäre darin ein Goldschatz verborgen.

Wie gebannt sah Stella zu. Der Ball schien sich zu bewegen wie ein lebendiges Wesen. Jeder Sonnenaufgang war anders. Die Farben und die Art, wie sie im Wasser wirkten. Es war pure Magie. Sie konnte nicht immer zu ihrem Lieblingsplatz gehen, um dieses dramatische Ereignis zu beobachten, aber sie versuchte es. Die Geräusche des Morgens begleiteten den Sonnenaufgang. Die Gesänge der frühen Vögel. Einige davon Männchen, die ihr Revier absteckten. Manche hatten großartige Stimmen, andere klangen eher heiser.

Hingerissen lauschte Stella dem Konzert. Der eine Sänger endete auf einer hohen Note, der andere ließ die Stimme fallen. Es gab auch welche, die nur einen einzelnen rauen Ruf ausstießen, wie eine Art Gruß oder ein Ich bin hier. Sie genoss dieses Alleinsein früh am Morgen, bevor die Sonne ganz aufgegangen war und sie sehen konnte, welche Vögel schon mit ihr wach waren.

Das Ganze wurde untermalt vom Summen der allgegenwärtigen Bienen und Insekten und dem Rascheln der Eidechsen im Laub. All das gehörte zur Natur, auf die sie sich hier in der Sierra verlassen konnte. Unabhängig von der Jahreszeit fand sie hier immer etwas, das für die Erdung sorgte, die sie so brauchte; als Gegenentwurf zu der wahnsinnig gewordenen anderen Welt, die sie nicht mehr verstehen konnte und in die sie anscheinend nicht mehr passte.

»Wirst du heute noch mit mir sprechen?«

Ihr Magen hatte sich völlig verkrampft. Mit irgendjemandem musste sie reden. Und eigentlich würde sie sich Sam dafür aussuchen, aber was sollte sie ihm sagen? Unter den Wimpern hervor blickte sie ihn an und hoffte, dass er so die Angst in ihren Augen nicht sah. Aber das war das Problem bei ihm. Er war viel zu aufmerksam und bemerkte alles. Auch Details, die anderen entgingen.

Sie war nicht besonders redselig. Was wusste sie eigentlich von ihm? Sie würde ihm gern vertrauen. Schließlich war er der einzige Mann, der in ihrem Haus ein und aus ging, aber sie kannte ihn nicht. Sie wusste rein gar nichts von ihm. Nicht einmal, ob er verheiratet war oder Kinder hatte. Oder ob er vor der Polizei weglief, doch so, wie er aussah, wusste sie instinktiv, dass er sich, falls er auf der Flucht war, nicht vor etwas so Banalem wie den Cops versteckte. Eher wegen eines internationalen Verbrechens, von dem nur die CIA oder der Heimatschutz wussten – und sonst keiner.

In der Regel wusste sie alles Nötige über ihre Angestellten, aber nicht über Sam. Als sie ihn gebeten hatte, für sie zu arbeiten, hatte er etwas gezögert. Am Ende hatte er dann gemeint, dass er nur für Bargeld arbeiten würde. Unter dem Tisch ausgezahlt. Normalerweise ließ sie sich auf so etwas nicht ein. Bei ihr lief alles strikt legal ab, aber sie hatte dringend einen richtig guten Arbeiter gebraucht, der all das konnte, was Sam konnte. Damals war fast jede Hütte renovierungsbedürftig gewesen. Mit bröckelnden Mauern und veralteten Stromkabeln und Rohrleitungen. Unglaublich viel Arbeit. Dazu kamen die Bootsmotoren. Sie brauchte ihn mehr als er sie. Als sie ihn eingestellt hatte, hatte sie angenommen, es sei nur für kurze Zeit. Doch daraus waren inzwischen zwei Jahre geworden.

Sie hielt den Mund, nahm noch einen Schluck Kaffee und blickte weiter über den See. Was sollte sie auch sagen, was sie nicht so aussehen ließ, als würde sie den Verstand verlieren? Nichts. Sie konnte ihn nicht einweihen. Selbst wenn sie ihm ihre Vergangenheit enthüllte und das sorgfältig errichtete Kartenhaus ihres neuen Lebens zerstörte, was würde es bringen? Sie hatte keine Beweise, und sie bezweifelte, dass sie ihm klarmachen konnte, dass diese Unfälle keine waren und ein Serienmörder in der Sierra herumlief. Bis zu diesem Zeitpunkt war ja noch nicht einmal der Angler tot aufgefunden worden, weil noch kein Verbrechen geschehen war – doch es war nur eine Frage der Zeit. Der Killer würde in zwei Tagen zuschlagen. Sie musste unbedingt den See entlangfahren und das Ufer nach dem Tatort absuchen.

»Ich bin jetzt über zwei Jahre hier, Stella. In der Zeit hast du deine Haustür nicht ein einziges Mal abgeschlossen. Und du blaffst sonst auch nicht deine Mitarbeiter an, auch wenn sie einen Fehler machen. Das ist nicht deine Art.«

Stella mied seinen Blick und schaute weiter über den See. Das ruhige Wasser war so tief, dass zahllose Leichen darin versenkt werden konnten. Und über dem See ragten die Berge mit all den wunderschönen Bäumen auf. Es gab zahllose Möglichkeiten, Tote so zu verstecken, dass sie nie gefunden wurden. Und dann noch die Thermalquellen. Manche waren so heiß, dass eine Leiche darin zersetzt werden würde.

Unwillkürlich presste sie eine Hand auf den Mund, wie sie es als Kind getan hatte, um nichts auszuplappern, das sie nicht sagen sollte. Eine schlechte Angewohnheit, die sie sich mühsam aberzogen hatte, und jetzt war sie wieder da. Einfach so. Ihre Finger zitterten derart, dass sie sich am liebsten draufgesetzt hätte. Sie hoffte, dass es Sam nicht auffiel, aber er sah alles. Das wusste sie. Sam war so ein Typ. Rasch vergrub sie die Hand wieder in Baileys Fell.

»Satine, wenn du Hilfe brauchst, ich bin da, aber du musst mit mir reden. Nur raus mit der Sprache.«

»Hab ich das wirklich getan? Jemanden angeblafft, weil er einen Fehler gemacht hat?« Nun wandte sie den Kopf und sah ihn an. »Etwa dir gegenüber, Sam?«

Seine harten Züge wurden weicher. Der samtene Blick seiner dunklen Augen, der über ihr Gesicht glitt, verunsicherte sie. »Nein, mit Bernice am Bootsverleih neulich.«

Stella presste einen Handballen gegen ihre Stirn. Er hatte recht. Sie hatte nicht geschrien, war aber recht barsch gewesen. Okay. Mehr als das. Dabei behandelte sie ihre Angestellten nie so. Bernice Fulton war schon etwas älter und arbeitete seit mehr als fünf Jahren für sie. Die Frau würde sich das zu Herzen nehmen. »Ich werde mit ihr reden.«

An dem Tag war es ungewöhnlich heiß gewesen, obwohl alle schon mit dem kühleren Herbstwetter gerechnet hatten. Deshalb waren die Gäste im Resort zu den Booten geeilt, weil sie auf den See hinauswollten. Leider waren dabei auch Leute gewesen, die nicht die geringste Ahnung hatten, wie man ein Boot lenkte. Sam und sie hatten die meiste Zeit damit verbracht, sturzbetrunkene Partygruppen zu retten, sowie eine alleinerziehende Mutter mit ihren beiden sehr kleinen Kindern, die Gott sei Dank Schwimmwesten getragen hatten.

Die Angler dagegen hatten sich den ganzen Tag bei ihr beklagt. Es war ein endloser Strom aus mürrischen, gereizten oder ernsthaft wütenden Menschen, hauptsächlich Männern, gewesen, die glaubten, alles besser zu wissen, obwohl die meisten sie inzwischen kannten. Im Laufe der Jahre hatte sie sich Respekt bei ihnen verschafft. Leider aber waren auch die Angler nicht immun gewesen gegen die überraschend hohen Temperaturen und die starke Luftfeuchtigkeit, wo doch sonst gewöhnlich trockene Hitze herrschte. Und schon gar nicht gegen all die verrückten Touristen, die sich nicht darum scherten, welche Regeln für den Bootsverkehr galten, und sich auch nicht richtig benahmen, wenn es darum ging, sich den See mit den Anglern zu teilen.

Stella war immer wieder angeschrien, beschimpft und beleidigt worden, meist was ihren IQ oder ihre Fähigkeit betraf, ein Anglercamp zu leiten – was Sunrise Lake ja gar nicht mehr war, aber sie hatte niemanden korrigiert. Sie hatte an ihrem höflichen Lächeln festgehalten, sich jede Sorge und Beschwerde angehört und allen versichert, dass man sich darum kümmern würde – es sei denn, jemand ging zu weit.

Vor langer Zeit, als sie als Managerin im Resort angefangen hatte, hatte Stella gelernt, dass sie sich behaupten musste, wenn sie sich den Respekt der Angler verdienen wollte. Deshalb wurde sie nicht schrill und schrie auch nie, sondern blickte selbst dem ältesten und erfahrensten fest ins Auge, wenn sie mit ihm sprach. Sie kannte sich im Thema aus und kämpfte für die Rechte der Angler, ließ sich aber nicht von ihnen gängeln, ganz egal, wie empört sie daherkamen.

Dennoch war sie am Ende eines sehr langen, anstrengenden Tages, nachdem sie ein Boot nach dem anderen in den Hafen zurückgeholt hatten, weil die meist betrunkenen Insassen nicht einmal wussten, wie man damit anlegte, nicht in der besten Stimmung gewesen und hatte Bernice Fulton angeblafft. Sam hatte recht. So etwas machte sie normalerweise nicht. Er jedenfalls war ruhig geblieben – wie immer. So wie er ohnehin kaum etwas redete, schnauzte er auch nie jemanden an. Das hatte er gar nicht nötig. Er sah nur jeden, der ihm dumm kam, mit einem durchdringenden Blick an, dann gab derjenige sofort klein bei.

Als Sam an Bord eines Partybootes mit fünf Frauen in Bikinis gestiegen war, die sich ihm allesamt an den Hals warfen, hatte er sie kaum angesehen, nur das Boot zurückgebracht, es vertäut und war nicht einmal so galant gewesen, den beschwipsten Damen auf den Steg zu helfen. Er war einfach gegangen und hatte sie Bernice überlassen. Das wusste Stella, weil sie es beobachtet hatte, und es war das Einzige, was sie an diesem Tag zum Lachen gebracht hatte.

Sie hatte inzwischen jede Nacht Albträume. Danach lag sie immer wach, das hieß, dass sie nur sehr wenig Schlaf bekam, was sicherlich zu ihrer zunehmenden Launenhaftigkeit beitrug. Und mit niemandem über ihre Sorgen und Ängste sprechen zu können, verstärkte ihre Reizbarkeit noch. Sie wusste einfach nicht, was sie tun sollte, um ihre Freunde und Bekannten zu schützen.

»Bernice wird sich freuen, wenn du reinen Tisch machst, aber damit hast du mir noch nicht erklärt, was dich umtreibt. Was ist los, Stella?«

Sie nahm noch einen Schluck Kaffee und betrachtete die funkelnde Wasseroberfläche, dann erschauderte sie. Sie durfte mit niemandem darüber reden. Nicht einmal mit Sam. Sie musste allein damit fertigwerden, zumindest so lange, bis sie wusste, dass er nichts damit zu tun hatte. Er war erst zwei Jahre hier und ein absoluter Einzelgänger. Womöglich packte er eines Tages einfach seine Sachen und verschwand.

Er war sehr sportlich und außergewöhnlich kräftig. Und er hatte am ganzen Körper Narben, die darauf hindeuteten, dass ihm irgendwann in seinem Leben etwas Fürchterliches zugestoßen war. Was machte das psychisch mit einem Menschen? Sie hatte versucht, über das Internet etwas über ihn herauszufinden, aber vergeblich. Sie konnte sich zwar nicht vorstellen, dass er unschuldige Menschen ermordete, aber sie musste mehr über ihn wissen, ehe sie sich ihm anvertraute.

Sie fühlte seinen Blick auf sich ruhen und wusste, dass er nicht lockerlassen würde. Sie benahm sich auch wirklich anders als sonst.

»Was hat dich darauf gebracht, mir heute Morgen Kaffee zu holen, Sam?«

Das tat er nämlich nicht regelmäßig. So wie er auch nicht jeden Abend für sie kochte oder alle Tage vorbeikam, um mit ihr einen Film anzuschauen. Sie lud ihn auch nie ein, er tauchte einfach auf. Er hatte noch nie etwas von ihr gewollt. Nie. War ihr nicht ein einziges Mal zu nahe gekommen, nicht einmal für so etwas wie einen flüchtigen Kuss. Sie dagegen war mehr als einmal versucht gewesen, ihn zu küssen, hatte diese Linie aber auch nie überschritten. Sie hatte zu viel Angst davor, dass er einfach wieder gehen würde, und sie wollte ihn bei sich haben, ganz egal wie.

Sam liebte Bouldern und traditionelles Bergsteigen. Deshalb war er – wie so viele andere – in die Gegend hier gekommen. Er hatte in seinem Geländewagen mit all seinen Besitztümern darin auf einem der Campinglätze in der Stadt gelebt, niemanden um irgendetwas gebeten und sich im Wesentlichen wohl selber versorgt, aber er scheute sich nicht vor Arbeit und war bei fast allem geschickt. Auf einer Baustelle von Carl Montgomery, dem örtlichen Bauunternehmer – okay, dem einzig anständigen –, war er ihr sofort aufgefallen. Wenn Carl den Mann eingestellt hatte, musste er gut sein.

Es war unmöglich, Sam nicht zu bemerken. Außerdem hatte sie ein Auge für Menschen und für Details, deshalb war sie ja so gut in ihrem Job. Sam hielt sich abseits, selbst auf einer geschäftigen Baustelle. Doch das hielt ihn nicht davon ab, wortlos alle Arbeiten zu verrichten, die ihm aufgetragen wurden. Schließlich beschloss sie, dass er genau der richtige Mann für die vielfältigen Aufgaben in ihrem Resort war. Er konnte praktisch alles an Arbeiten erledigen, die bei ihr anfielen.

Sie bot ihm ein gutes Gehalt, eine eigene Hütte und ein besseres Auto. Dennoch hatte er die Chance nicht sofort ergriffen. Er hatte sich Zeit genommen und gut darüber nachgedacht. Er war sogar ins Resort hochgekommen, um es sich anzusehen, ehe er eine Entscheidung traf. Das hatte ihn ihr nur noch sympathischer gemacht. Sie hatte die Entscheidung, ihn einzustellen, nicht ein einziges Mal bereut, auch wenn seine Schweigsamkeit sie hin und wieder gehörig nervte.

Sie begegnete seinem dunklen, fordernden Blick. Das war nicht leicht. Ihm in die Augen zu schauen, fiel ihr niemals leicht. Manchmal fühlte es sich an, als blickte sie in einen Abgrund.

»Ich kann in zwei Minuten weg sein, wenn du willst, Stella.«

Er sagte das so ruhig, dass es am Anfang gar nicht richtig zu ihr durchdrang. Doch dann ließ ihr Körper sie fast im Stich. Hastig wandte sie das Gesicht ab, damit er die aufsteigenden Tränen nicht bemerkte. Oder die Panik, die sie erfasste.

»Warum sagst du das, Sam?« Sie konnte kaum sprechen, die Frage kaum herausbringen. »Was habe ich dir getan? Was ist los?« Sie wollte aufstehen und ihn auf dem Steg sitzen lassen, doch sie fürchtete, dann würde er tatsächlich seine Sachen packen und gehen, und sie würde ihn nie wiedersehen.

Sam war noch zurückhaltender als sie. Möglicherweise empfand er für niemanden etwas. Bedeutete sie ihm wirklich so wenig? Das konnte sein. Sie hatte sich ihm angenähert, weil sie jemanden brauchte; er dagegen genügte sich selbst. Das hatte sie von sich auch geglaubt, doch in Wahrheit brauchte sie das Resort, ihre Freunde und ihn. Sie brauchte Sam. Die Vorstellung, ohne ihn zu sein, zerriss ihr das Herz. Vielleicht war sie wegen der Albträume und ihrer Unsicherheit im Moment besonders verletzlich. Weil sie so viel Angst um alle hatte.

»Manchmal, wenn Leute mir wichtig sind, spüre ich, wie es ihnen geht. Und da du mir wichtig bist, weiß ich, dass du dich schrecklich fühlst.«

Stellas Finger schlossen sich fester um ihren Kaffeebecher. Das war das Letzte, was sie von ihm erwartet hatte. Sein Tonfall war unverändert, doch das leise Eingeständnis ging ihr unter die Haut und traf sie tief im Innern. Menschen, die niemals aus unerklärlichen Beweggründen handelten, mochten seine Erklärung albern finden, doch für sie klang sie völlig vernünftig.

Es war das erste Mal, dass Sam irgendetwas gesagt hatte, das ihn verwundbar machen konnte. Er hatte praktisch angedeutet, eine besondere psychische Gabe oder zumindest eine sehr starke Intuition zu haben. Sie wollte sich gern damit revanchieren, selbst etwas von sich preiszugeben. Das war nur fair. Ein wirklicher Austausch.

»Ich habe manchmal Albträume. Schlimme Albträume. Es sind immer mehrere hintereinander. Dann kann ich nicht mehr schlafen. Dagegen hilft nichts.« Und genauso war es ja auch. Stella trank noch etwas Kaffee und ließ die freie Hand auf Baileys Fell liegen.

Sam schwieg eine lange Weile. Als sie es wagte, zu ihm hinüberzuschauen, betrachtete er die Berge. Die Strahlen der Sonne durchzogen die Bäume und den geisterhaften Nebel mit leuchtenden Streifen. Der Anblick rührte sie jedes Mal.

»Weshalb hast du diese Träume? Worum geht es darin?«

Das waren gute Fragen. Sie hätte damit rechnen sollen, dass er nachhaken würde. Er war nicht nur intelligent, sondern ging Probleme gerne an, um sie zu lösen.

»Um Tote, die im See treiben«, platzte sie heraus. Das war nur die halbe Wahrheit. Und sie kam auch nur gepresst heraus, weil ein Teil von ihr das Gefühl hatte, dass sie ihn anlog, während er sich ihr geöffnet hatte und ihr nach zwei Jahren, in denen sie umeinander herumgeschlichen waren, Macht über ihn gegeben hatte. Er hatte sich ihr ausgeliefert, und sie blieb immer noch distanziert. Aber er war scharfsinnig. Er wusste, dass sie ihm etwas vorenthielt, und das musste schmerzen. Sie wäre jedenfalls gekränkt.

Sie zwang sich, ihn anzuschauen, denn zumindest das war sie ihm schuldig. Seine dunklen Augen musterten ihr Gesicht sehr sorgfältig, und sie sahen zu viel. Sie wusste, dass sie Schatten unter den Augen hatte. Aber was konnte sie ihm erzählen? Es gab keine Leiche. Bisher noch nicht einmal den Hinweis auf einen Unfall. Sie musste ihren freien Tag unbedingt nutzen, um den See abzusuchen, in der Hoffnung, dass sie die Stelle fand, wo der Angler getötet werden würde, wenn sie das nicht verhindern konnte. Das Schlimmste daran war, dass es in der Gegend mehrere Seen gab, die bei Anglern beliebt waren. Dennoch war sie sicher, dass der Mord an ihrem geliebten See passieren würde.

»Stella, du bist die ruhigste, vernünftigste Frau, die mir je begegnet ist. Ich weiß, dass du in Schwierigkeit steckst.« Er zuckte die Achseln. »Aber ich möchte dich nicht bedrängen. Ich selber mag es nicht, wenn man mir Fragen stellt, also werde ich nicht darauf bestehen, dass du mit mir redest, wenn du es nicht möchtest. Sobald du nicht mehr so durcheinander bist, tust du das, was du immer machst, du gehst Schritt für Schritt vor und packst ein Problem nach dem anderen an. Du wirst das schon schaffen. Du schaffst es immer.«

Dass er sich dessen so sicher war, beruhigte sie und gab ihr Selbstvertrauen. Er hatte recht. Sie war kein Kind mehr, und der Killer befand sich auf ihrem Terrain. In ihrer geliebten Sierra. Außerdem hatte er keine Ahnung, dass sie ihm bereits auf der Spur war und ihn kriegen würde.

2

Danke, Sam. Wenn ich nachts wach liege, geht es mir nicht gut. Du scheinst einen leichten Schlaf zu haben und mit nur wenigen Stunden auszukommen, aber ich schlafe tief und fest und brauche gute acht Stunden, sonst habe ich schlechte Laune.«

Das Lächeln, das über Sams Gesicht glitt, war für sie ebenso schön wie der Sonnenaufgang. Obwohl sie nicht glaubte, dass es seine Augen erreicht hatte, oder wenn, dann nur so kurz, dass es ihr entgangen war. Sie sah es nur selten, denn meist war sein Gesicht von tief in die rauen Züge geschnittenen harten Linien geprägt.

»Du hast noch nie schlechte Laune gehabt, Stella, erst in letzter Zeit. Ich würde sagen, das ist eher auf die Albträume zurückzuführen als auf einen Mangel an Schlaf.«

»Kann sein, aber dass du mich daran erinnerst, dass ich einen klugen Kopf auf den Schultern habe, hilft mir. Das ist sehr nett. Ich bin dankbar dafür, dass ich heute einen freien Tag habe.«

»Du arbeitest zu hart, aber es scheint dir gut zu bekommen.«

»Ich liebe diesen Ort. Hier fühle ich mich wie geborgen«, gestand Stella. Das hatte sie noch nie gehabt. Alles an der östlichen Sierra Nevada gefiel ihr. »Manchmal sitze ich draußen auf der Veranda, schaue mich einfach nur um und bin glücklich, am Leben zu sein. Ich möchte nirgendwo anders hin.«

»Ich finde es schön, dass man hier nachts die Sterne sehen kann«, sagte Sam zu ihrer Überraschung. »In den meisten Nächten schlafe ich draußen. Ich mag es, auf einer Pritsche zu liegen und in den Himmel zu gucken. Heutzutage sind die Sterne längst nicht mehr überall zu sehen. Aber hier leuchten sie so hell, dass man sich ihnen ganz nah fühlt.«

Da Sam normalerweise nicht viel redete, war schon diese kleine Enthüllung wie ein Geschenk. Stella wusste, dass er oftmals nachts auf dem Gelände des Resorts patrouillierte und alles überprüfte. Er war genauso schlimm wie die beiden Wachmänner und nahm es vielleicht sogar viel genauer, weil er auch noch zusätzliche Runden drehte.

Sie hatte mitbekommen, dass Patrick Sorsey, einer der Wachmänner, gelegentlich bei der Arbeit einschlief. Er war vierundvierzig, hatte drei Kinder, und seine Frau war mit dem vierten schwanger. Eine Überraschung, mit der niemand gerechnet hatte. Er hatte sich zwei Jobs aufgehalst, und offenbar deckte Sam ihn. Doch Patrick war im Grunde ein guter Mann, lediglich überarbeitet.

»Ich bin nur etwas erstaunt, dass eine Wasserleiche dich so nervös macht. Es ist ja nicht so, als hättest du nicht schon öfter mit Toten, der Polizei und der Gerichtsmedizinerin zu tun gehabt, und soweit ich weiß, hat dich das noch nie aus der Ruhe gebracht.«

Das stimmte. Seit sie an diesem Ort war und das Resort leitete, hatte sie es mit allem Möglichen zu tun bekommen, angefangen bei Herzattacken bis hin zu echten Unfällen. Meistens Tod durch Ertrinken aufgrund zu hohen Alkoholkonsums. Bei keinem dieser Vorfälle hatte sie Probleme gehabt, die Lage zu bewältigen. Sie wusste, was zu tun war und wen sie anrufen musste. Mehrere ihrer Freunde und Bekannten, einschließlich Sam, gehörten der Bergwacht an. Vienna Mortenson, eine ihrer Freundinnen, war sogar die Leiterin der Rettungsmannschaft in ihrem Bezirk. Sie redeten oft über ihre Arbeit, und nach jedem Einsatz trafen sich die meisten, die dabei gewesen waren, im Grill, um sich darüber auszutauschen, was passiert war. So lernten sie aus jeder Erfahrung.

Stella war nicht sicher, was sie Sam antworten sollte, denn er hatte wieder einmal recht. Er kannte sie so gut. Es gab nur wenig, was sie umwarf, und Tote gehörten nicht dazu – aber dass ein Serienmörder anfing, in ihrem wunderschönen Stück vom Paradies sein Unwesen zu treiben, schon. Immerhin konnte sie ihm zuvorkommen. Sie musste sich nur konzentrieren und durfte sich nicht ablenken lassen. Schließlich war sie kein Kind mehr, und auch kein Teenager. Im Laufe der Jahre hatte sie viel trainiert und viel dazugelernt.

Sie stellte den Kaffeebecher auf den Steg und rieb sich die Schläfen. »Ich brauche nur etwas Schlaf. Ich habe ein paar Tage frei. Das sollte helfen. Ich versuche, mit Bernice zu sprechen, ehe ich mich mit Harlow und Shabina treffe. Ich finde es echt gut, dass du mich darauf hingewiesen hast, dass ich sie angeblafft habe. Das hat sie nicht verdient, nur weil ich unausgeschlafen bin.«

»Nein, sie hatte es verdient, weil sie Boote an Leute vermietet hat, denen sie keins hätte geben sollen, aber so schroff reagierst du sonst nicht«, korrigierte er sie. »Ich muss mich jetzt um die Klimaanlage in Hütte H kümmern.«

»Du meinst die Honigwaben-Hütte?« Stella benutzte den offiziellen Namen der etwas größeren rustikalen Hütte, die nach der Renovierung praktisch ständig vermietet war, mit voller Absicht. Am Abend zuvor war das Paar, das dort gewohnt hatte, abgereist, sodass ihnen ein Tag blieb, ehe die nächsten Bewohner eintrafen. Das war sehr selten bei dieser besonderen, sehr beliebten Hütte.

Sam antwortete nicht, sondern sah sie einfach nur ausdruckslos an.

»Du zuckst jedes Mal zusammen, wenn ich Honigwabe sage.« Sie konnte sich den Ansatz eines Kicherns nicht verkneifen. Sam redete immer von den Hütten A, B oder C.

»Ich weiß nicht, warum du darauf bestehst, normalen Hütten lächerliche Namen zu geben.«

»Wir müssen sie doch für unsere Gäste irgendwie herausheben. Schließlich sind sie nicht mit den Angelhütten, den Wohnmobilen oder den Zelten auf dem Campingplatz zu vergleichen. Sie ziehen eine andere Kundschaft an.« Mit einem sehr hohen Einkommen. Diese Hütten brachten das ganze Jahr über Geld. Die Wintersportarten – Snowboarden, Ski- und Motorschlittenfahren – waren äußerst beliebt, und ihr Resort war das Tor zu dem Berg über ihnen.

»Hast du genug Zeit zum Reparieren, ehe die nächsten Gäste eintreffen?«

»Wenn nicht, kann ich ja eine neue Klimaanlage einbauen und die andere später in Ordnung bringen.« Sam stand auf. »Es gefällt mir nicht, dass du diese Albträume hast, Stella. Wenn das nicht aufhört, schlafe ich in deiner Nähe, damit ich da bin, falls du mich brauchst.«

Er ging auf seine leise Art um den Airedale herum, blieb kurz hinter ihr stehen und strich ihr ganz langsam hauchzart übers Haar, dennoch fühlte es sich an, als durchzuckte sie ein Blitz, und ein erregender Schauer rieselte über ihren Rücken. Alle Nervenenden waren sensibilisiert. So etwas machte er normalerweise nicht. Und Sam überließ nichts dem Zufall. Er tat nichts Unüberlegtes.

»Ich will nur noch eins sagen, Stella. Ich habe gewisse Fähigkeiten. Ich hab zwar geschworen, sie nie wieder zu nutzen, egal, was passiert, aber ich bin jetzt etwas mehr als zwei Jahre hier und habe dich kennengelernt. Wenn du in Schwierigkeiten bist und mich brauchst, sag es mir einfach.«

Stella runzelte die Stirn und verdrehte den Hals, um zu ihm aufzuschauen, doch er entfernte sich bereits, ohne sich umzusehen. Sein Gang schien etwas Raubtierhaftes bekommen zu haben, aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein, weil ihre Träume sie so verstört hatten. Was meinte er mit gewissen Fähigkeiten und dass er geschworen hatte, sie auf keinen Fall wieder einzusetzen? Plötzlich benahm auch er sich nicht mehr so wie sonst. Sie hatte sich auf ihn verlassen, ohne es zu bemerken, und nun stellte sie fest, dass sie ein wenig Angst vor ihm hatte.

Sie schaute auf ihren Hund hinunter. Er schlief schon wieder und war alles andere als wachsam. »Weißt du, Bailey, du solltest mich nicht nur begleiten, sondern eigentlich auch beschützen. Weißt du nicht mehr, dass ich dir das erklärt habe, als du noch klein warst?« Sie tätschelte seinen Kopf. Der Hund war in ihrem Leben eine genauso zuverlässige Konstante wie ihre geliebte Sierra.

Sie musste mit ihrer Welt verbunden bleiben. Alles um sie herum änderte sich zu schnell. Es war, als würde sie den Boden unter den Füßen verlieren. In der Sierra ging ein Mörder um. Jedes Mal, wenn sie die kühle Morgenluft einatmete, wurde es ihr bewusster. Sie hatte nie Albträume, es sei denn, ein Serienmörder war in der Nähe. Falls es nach dem alten Muster weiterging, würde in ein oder zwei Tagen eine Leiche gefunden werden. Gewöhnlich nach zwei Tagen. Aber nicht immer. Das war ein sehr kleines Zeitfenster, um einen Killer zu stoppen.

Stella zog die Beine an und rieb das Kinn an den Knien, während sie über den See blickte. Der Nebel, der immer noch einen rötlichen Schein hatte, war mit schimmernden Fingern bis an den Ufersaum herangekrochen. Stella weigerte sich, ihn anders als wunderschön zu finden. Sam hatte recht. Sie neigte nicht zu Fantastereien, sondern hielt sich an die Realität, und die würde sie auch zu diesem Killer führen. Sie würde sich jetzt nicht in ein verängstigtes Kind verwandeln. Der erste Punkt auf ihrer Liste war, den Ort zu finden, an dem der Mord stattfinden sollte. Das war eine große Aufgabe, denn es gab mehrere Seen, nicht nur den Sunrise, zu denen viele Angler frühmorgens aufbrachen, um zu fischen.

»Okay, Bailey, wir haben zu tun.«

Der Hund hob den Kopf, legte ihn schräg und schaute sie an, als wolle er fragen, ob es ihr jetzt besser gehe. Sie kraulte ihm das Fell. »Mir geht’s gut. Dem Sonnenaufgang zuzusehen, bringt mich immer wieder ins Lot. Ganz egal, wie schlecht die Lage ist, sobald die Sonne über den Horizont steigt, ist alles wieder gut. Dann fühle ich mich wie ein neuer Mensch. Wir kriegen das hin. Wenn ich mit Shabina und Harlow Kaffee getrunken habe, gucke ich, ob ich noch ein Mittagessen mit Zahra einschieben kann.«

Zahra Metcalf war ihre Seelenverwandte. Stella hatte nie damit gerechnet, einmal jemanden zu haben, mit dem sie sich so eng verbunden fühlte wie mit Zahra. Mit den anderen Frauen war sie befreundet. Sie mochte sie alle. Und tauschte sich mit ihnen aus. Aber sie waren nicht wie Zahra. Das war eine Beziehung auf einer anderen Ebene. Wenn es auf der Welt einen Menschen gab, dem Stella vertraute, dann war es Zahra.

Für den Rückweg zum Haus nahm Stella sich Zeit. Glücklicherweise war außer ihr noch niemand wach. Nur sehr wenige Gäste mochten aufstehen, wenn der Morgen dämmerte, es sei denn, sie wollten angeln gehen. Oft hätte sie ihren Gästen gern gesagt, dass sie die Schönheit ihrer Umgebung besser begreifen würden, wenn sie einfach nur auf die Veranden oder Balkone der Hütten hinausträten und dem Sonnenauf- oder -untergang zusähen. Doch nur wenige Urlauber verstanden das. Die meisten waren gekommen, um der Stadt zu entfliehen, brachten sie aber mit, weil sie es nicht schafften, ihre elektronischen Geräte zurückzulassen.

Stella ließ Bailey die breite umlaufende Veranda zuerst betreten und achtete darauf, ob der Hund irgendwie anzeigte, dass ein Fremder sich dem Haus genähert hatte. Es gab Zufahrtstore, durch die man musste, um auf diese Seite des Anwesens zu gelangen, und normalerweise wachten die Sicherheitsleute wie »Drachen« darüber, dass niemand hereinkam, der keine Verabredung mit ihr hatte. Das hieß aber nicht, dass es nicht viele andere Wege gab, um auf diesen Teil des Geländes zu kommen.

Da Bailey nicht beunruhigt wirkte, öffnete sie die Haustür mit neu gewonnener Selbstsicherheit. Ihre Malutensilien befanden sich im Atelier oben. Sie liebte den Raum mit der Aussicht über den See. Eine Seite bestand fast vollständig aus Glas und hatte eine schwere Schiebetür, durch die sie auf den Balkon gehen konnte, wo sie einen Großteil des Jahres einen bequemen Stuhl und einen kleinen Tisch stehen hatte. Nur im Winter, wenn Schnee sich ankündigte, brachte sie die Möbel ins Haus.

Das Atelier war hell und sonnig, mit perfektem Licht zum Malen und Zeichnen. Es war nicht so, als wäre sie überaus talentiert, aber sie bildete sich gern ein, recht gut zu sein. Trotzdem würde sie ihre Werke niemals verkaufen. Das Malen entspannte sie einfach, so wie auch ihre Vertikaltuchakrobatik und das Bouldern. Im College hatte sie neben den betriebswirtschaftlichen Seminaren auch etliche Malkurse belegt.

Das Tagebuch und die Skizzenbücher, in denen sie alles über ihre Albträume festhielt, holte sie auf dem Weg ins Atelier aus einer verschlossenen Schublade neben ihrem Bett, wo sie sie stets aufbewahrte. Sie wollte nicht, dass irgendjemand sie fand. Der Inhalt war zu schrecklich. Die älteren Einträge und Zeichnungen schaute sie sich gar nicht mehr an. Eigentlich begann sie mit ihren Aufzeichnungen auch jetzt in der Absicht, ihren Geist von ihren Eindrücken zu befreien, so wie sie es sich beigebracht hatte. Sie stellte sich ihr Gehirn wie eine Kreidetafel vor, die sie so lange immer wieder sauber wischte, bis sie ganz leer blieb. Sie rief sich zunächst die genauen Details des Albtraums ins Gedächtnis. Die Felsen. Die Pflanzen. Das Schilf. Jede Kleinigkeit, an die sie sich erinnern konnte. Sie schaute sich den Himmel an. Den Boden. Den Verlauf des Seeufers. Versuchte, an dem Angler vorbeizusehen, an ihrer Angst vor dem, was geschehen würde, damit sie sich auf die Einzelheiten konzentrieren und ihren Blickwinkel erweitern konnte. Selbst die Umrisse der Felsen im Wasser und die Algen, die sie bedeckten, gaben ihr womöglich Hinweise darauf, wo die Szene sich abspielte.

Als sie alle möglichen Details der Umgebung festgehalten hatte, konzentrierte sie sich auf den Angler und versuchte, sich so viel von ihm zu vergegenwärtigen, wie sie konnte. Seine Kleidung. Seine Figur. Seine Größe. Das, was trotz der tief sitzenden Kappe von seinen Haaren zu sehen gewesen war. Die Hände an der Angel. Die Rute selbst. Sie schrieb alles nieder, was ihr einfiel, und sie war eine sehr gute Beobachterin.

Dann kam der See an die Reihe. Jedes kleine bisschen, das sie noch von der Oberfläche, der Form und den Farben und sogar dem, was unter Wasser gewesen war, wusste. Als Letztes dann alles über den Mörder. Die Art, wie er sich bewegt hatte. Sein Körperbau. Seine Kraft. Wie er durchs Wasser geglitten war. Sein Taucheranzug. Seine Handschuhe. Den mit verschiedenen Waffen bestückten Gürtel um seine Taille.

Nachdem sie alles in ihr Tagebuch geschrieben hatte, holte sie ihren Skizzenblock und fing an, jede einzelne Szene zu zeichnen, bis ins Kleinste genau so, wie sie es sich aufgeschrieben hatte. Sie beeilte sich nicht, weil sie alles richtig machen wollte. Als sie sich schließlich mit leicht schmerzendem Rücken aufrichtete, stellte sie zufrieden fest, dass sie den potenziellen Tatort nicht besser hätte reproduzieren können.

Sie blätterte zurück zur ersten Zeichnung von vor fünf Tagen, um sie mit der neuen zu vergleichen. In der ersten gab es nicht viele Details, weil der Eindruck noch undeutlich gewesen war und die Kameralinse so weit geschlossen, dass sie nur einen winzigen Teil des sich anbahnenden Schreckensszenarios zu sehen bekommen hatte.

Ihr Handy gab ein paar Takte eines Jazz-Songs von sich und riss sie aus ihrer tiefen Versunkenheit. Sie zog es aus der Tasche und sah es mit gerunzelter Stirn schuldbewusst an.

»Harlow. Tut mir schrecklich leid. Ich weiß. Ich weiß. Ich habe dich und Shabina versetzt. Ich bin aufgehalten worden …« Sie verstummte, denn sie wusste, dass Harlow ihr nicht böse sein würde.

Harlow Frye war in einer Politikerfamilie aufgewachsen und daran gewöhnt, sich der jeweiligen Situation anzupassen. Sie nahm alles »wie es kam«, ging graziös und elegant durchs Leben und regte sich niemals über Kleinigkeiten auf, schon gar nicht, wenn sie annahm, dass Stella damit beschäftigt war, ein Problem im Resort zu lösen.

»Dann versuchen wir, uns ein andermal zu verabreden. Ich hoffe, dass ich heute Abend in die Stadt kommen kann. Vielleicht kann ich dir dann eine Nachricht schicken, ob du Zeit hast«, bot Stella an, weil sie wusste, dass beide Freundinnen tagsüber arbeiten mussten. Deshalb hatten sie sich zum Frühstück verabredet.

»Ich hab heute Nachtschicht und Shabina auch«, erwiderte Harlow. »Aber irgendwann klappt es mit uns, keine Sorge.«

Stella fühlte sich schrecklich. So fing es an. Damit, dass man seine Freunde anlog. Und Sam verdächtigte, nur weil ihr sein geschmeidiger Raubtiergang auffiel. Misstraute sie ihm wirklich? Eigentlich nicht, doch sie konnte einfach nicht ausschließen, dass er imstande wäre, einen Mord zu begehen. Aber waren das nicht alle Menschen? Nein, das glaubte sie nicht. Nicht jeder.

Nachdem sie sich noch einmal entschuldigt hatte, legte sie auf und schrieb Zahra, um sie zu fragen, ob sie Zeit zum Mittagessen hätte. Zahra Metcalf arbeitete als Verwaltungschefin im Krankenhaus, deshalb verbrachte sie die meiste Zeit mit Meetings, in denen es darum ging, wofür man das Geld ausgeben sollte, das sie mühsam beschafft hatte. Stella wusste, dass Fördergelder ungeheuer wichtig für das Krankenhaus waren. Zuschüsse, Spenden und Sammlungen finanzierten die neuesten Geräte und stellten sicher, dass es sowohl für die Notaufnahme wie auch für alle anderen Stationen genug Ärzte und Krankenschwestern gab. Das Krankenhaus war zwar klein, aber sehr gut ausgestattet. Und das musste es auch sein, denn sie waren ein gutes Stück von jeder anderen Hilfe entfernt. Zahra war sehr clever und unglaublich gut darin, Fördergelder aufzutreiben und für ihr Haus zu sichern. Außerdem verstand sie es bestens, Wohltätigkeitsveranstaltungen zu organisieren und dabei den gesamten Landkreis einzubeziehen.

Harlow half ihr bei diesen Veranstaltungen, auch wenn es zwischen Zahra und Harlow etwas gab, wovon keine der beiden Frauen jemals sprach. Sie gingen stets freundlich miteinander um, standen sich aber nicht besonders nahe, was eigentlich unverständlich war. Immerhin hatte Harlow Zahra geholfen, vor einer arrangierten Heirat aus ihrem Heimatland zu flüchten. Harlows Mutter hatte Zahra ein Visum und einen guten Job besorgt, und am Ende auch die amerikanische Staatsangehörigkeit. Zahra sprach niemals über Probleme mit Harlow und Harlow ihrerseits nie über welche mit Zahra, und Stella hatte zu viele eigene Geheimnisse, um neugierige Fragen zu stellen.

Zahra konnte sie zum Mittagessen treffen. Das war perfekt. Stella blickte auf ihre Uhr. Sie hatte reichlich Zeit, noch um den See zu fahren und nach Stellen Ausschau zu halten, die ihrer Zeichnung vielleicht ähnelten. Sie hatte den Sunrise Lake schon oft umrundet, aber es handelte sich um einen großen See, daher war es unmöglich, sich jeden einzelnen Uferabschnitt zu merken.