Symphonie Pathétique - Klaus Mann - E-Book

Symphonie Pathétique E-Book

Klaus Mann

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Über das Verhältnis von Eros, Politik und Kunst In «Symphonie Pathétique» entwirft Klaus Mann ein Lebensbild des russischen Komponisten Peter Iljitsch Tschaikowsky vor dem Hintergrund des späten 19. Jahrhunderts. Die versunkenen Szenarien von St. Petersburg und Moskau, des kaiserlichen Berlin, der Gewandhaus-Stadt Leipzig und weiterer Zentren der Musikkultur werden lebendig. Doch der Glanz der bürgerlichen Welt ist trügerisch: Wegen seiner homosexuellen Neigungen war Tschaikowsky zeitlebens zum Außenseiter verdammt. Eines der wichtigsten Werke Klaus Manns.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 548

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Klaus Mann

Mit einem Nachwort von Fredric Kroll

Symphonie Pathetique

Ein Tschaikowsky-Roman

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Über das Verhältnis von Eros, Politik und Kunst

 

In «Symphonie Pathétique» entwirft Klaus Mann ein Lebensbild des russischen Komponisten Peter Iljitsch Tschaikowsky vor dem Hintergrund des späten 19. Jahrhunderts. Die versunkenen Szenarien von St. Petersburg und Moskau, des kaiserlichen Berlin, der Gewandhaus-Stadt Leipzig und weiterer Zentren der Musikkultur werden lebendig. Doch der Glanz der bürgerlichen Welt ist trügerisch: Wegen seiner homosexuellen Neigungen war Tschaikowsky zeitlebens zum Außenseiter verdammt.

 

Eines der wichtigsten Werke Klaus Manns.

Über Klaus Mann

1906 in München geboren, begann Klaus Mann seine literarische Laufbahn als enfant terrible in den Jahren der Weimarer Republik. 1933 emigrierte er nach Paris, 1936 in die USA. Er wurde zur zentralen Figur der internationalen antifaschistischen Publizistik und gab die Zeitschriften «Die Sammlung» und «Decision» heraus. Als US-Korrespondent kehrte er 1945 nach Deutschland zurück, wurde dort allerdings nicht mehr heimisch. 1949 starb er in Cannes an einer Überdosis Schlaftabletten.

Erster Teil

Erstes Kapitel

Es war dunkel im Zimmer, nur von der Türe her kam ein schmaler Lichtschein. Der Lichtschein verging, da der Kellner die Türe leise hinter sich schloß.

«Wohin darf ich das Tablett stellen?» fragte der Kellner. Einige Sekunden verstrichen, aus der Dunkelheit kam kein Laut. Der Kellner war, in wartender Haltung, ein paar Schritte von der Türe entfernt, stehengeblieben. Da er sich nun, diskret, aber mit einer gewissen Schärfe, räusperte, antwortete schließlich der Herr, der, bis zum Kinn zugedeckt, regungslos im Bett lag: «Bitte – hier neben das Bett – hier auf das Tischchen, mein Lieber …»

Die Stimme war weich und sprach das Deutsch mit einem gedehnten, singenden Akzent. Der Kellner lächelte. Es machte ihm Spaß, Ausländer zu bedienen. Daß sie sich mit der Sprache abquälen mußten, die ihm geläufig war, gab ihm ein angenehmes Gefühl der Überlegenheit. «Bitte, mein Herr», sagte er, und seine Stimme klang schon ein wenig väterlich. Er machte die paar Schritte von der Türe zum Bett und stellte das Tablett auf ein rundes Tischchen, das er heranschob.

«Darf ich die Vorhänge aufziehen, mein Herr?» fragte er und sprach jedes Wort deutlich aus: Es war ja nur ein Ausländer, an den er sich wandte, ein älterer Herr mit einer weichen Stimme, man behandelte ihn am besten nachsichtig und zugleich respektvoll, dann gab es ein Trinkgeld.

«Danke», sagte der Herr, der sich unter seiner Steppdecke immer noch nicht rührte. «Wenn Sie so gut sind, sie nur halb zurückzuziehen. – Ich vertrage das grelle Licht nicht», fügte der Herr mit einer gewissen Wehleidigkeit hinzu und bewegte endlich den Kopf, um den Kellner anzusehen. Der machte sich mit den sanften Bewegungen, die man in Krankenzimmern hat, an den schweren Samtportieren zu schaffen, die das Fenster verhüllten. Licht fiel ins Zimmer, der Herr im Bett mußte blinzeln. Blinzelnd prüfte sein Blick die Unordnung in dieser fremden Hotelstube: Halb ausgepackte Koffer, Kleidungsstücke und Bücher in chaotischem Durcheinander auf den plüschbezogenen Sesseln und der falschen Renaissance-Kommode. ‹Ich muß ja in einem schönen Zustand gewesen sein, als ich gestern abend angekommen bin›, dachte der Herr. ‹Ach ja, der Cognac während der Reise …› Er schloß angewidert die Augen.

«Es ist ein schöner Tag heute», sagte der Kellner, zugleich stramm und devot, vom Fenster her. «Ein ausgesprochen schöner Wintertag», fügte er aufmunternd hinzu, denn der Ausländer schwieg.

Sein Schweigen war nicht streng und abweisend, wie der Kellner es wohl von anderen Gästen kannte; vielmehr traurig, hilflos, fast etwas blöde. Daraufhin beschloß der Kellner, diesen Gast zu behandeln wie ein Kind. Energisch belehrte er ihn: «Das da, neben der Teekanne, ist die Morgenzeitung.» Nach einer ganz kurzen Pause fügte er, nicht ohne Strenge, hinzu: «Wollen der Herr gleich Richtigkeit machen?»

Der Angeredete verstand ihn nicht sofort. Etwas ratlos sah er den Kellner an, der groß und schlank, wie ein preußischer Gardeoffizier, in seinem speckigen Frack vor ihm stand. Der merkwürdig eindringliche, tiefblaue, wehmütig grübelnde Blick des Fremden stimmte den strammen jungen Mann wieder sanfter. «Ob der Herr gleich zu bezahlen wünschen?» fragte er und verneigte sich leicht.

Der Fremde richtete sich halb auf, hastig öffnete er die Schublade des Nachttischchens, drinnen lag Silbergeld zwischen Papieren. «O bitte –», sagte er, «bitte – natürlich – wieviel –?» Von den ungeschickt eiligen Bewegungen, mit denen der Graubärtige die Münzen zwischen den Briefcouverts, Notizbüchern und Notenblättern hervorkramte, fühlte sich der Kellner fast gerührt. Gleichzeitig aber sagte ihm sein frischer Verstand, daß er sich, wie er nun einmal sozial gestellt war, solche Rührung nicht leisten könne, am wenigsten einem etwas komischen Ausländer gegenüber. «Das Frühstück aufs Zimmer: Macht drei Mark», sagte er knapp, dabei flackerte es frech in seinen hellen Augen: Er verlangte das Dreifache von dem, was er abzuliefern hatte – wenn es Unannehmlichkeiten geben sollte, konnte man sich immer noch auf ein Mißverständnis herausreden. «O bitte – natürlich», machte der Herr und kramte eifrig in seiner Schublade. Nun betrachtete ihn sich der Kellner mit offenem Wohlwollen und mit etwas Mitleid.

Das wenige und federnhaft lockere Haar auf dem Schädel des Fremden war beinahe weiß; weißgraue Färbung hatte auch der rund und ziemlich kurz gehaltene Vollbart und der hängende Schnurrbart, unter dem die Lippen dick, weich und sehr rot sichtbar wurden. Da er sich wieder aufrichtete von seiner Schublade, war sein Gesicht dunkel gerötet; er keuchte ein wenig.

Es waren zwei Münzen, die er dem Kellner reichte: Ein Taler und ein Markstück – das machte eine Mark Trinkgeld auf den unverschämten Preis, den dieser gefordert hatte.

«Es ist ziemlich teuer», sagte der Herr und lächelte mit einer müden Schalkhaftigkeit.

«Gewiß, mein Herr», sagte der Kellner und spürte, zu seinem eigenen Erstaunen, wie er etwas rot dabei wurde. Er stand unschlüssig da, das Geld in der Hand. Merkwürdigerweise überlegte er sich ein paar Sekunden lang allen Ernstes, ob er dem Herrn etwas zurückgeben sollte.

«Sind Sie Berliner?» fragte der Herr. Der Kellner fühle wieder auf sich den eindringlichen, blauen und traurigen Blick.

«Nein, ich bin Hamburger, Herr», sagte er, und nahm plötzlich respektvoll die Hacken zusammen.

«Aha, Hamburger», machte der Herr; er lag wieder still auf dem Rücken, aber den Kopf so gewendet, daß er den jungen Mann ansehen konnte: «Nach Hamburg muß ich auch nächstens fahren; es ist eine schöne Stadt.»

«Von welcher Nationalität sind der Herr selber, wenn ich fragen darf?» sagte der Kellner, und war stolz, daß er den Satz so fein herausgebracht hatte.

«Ich bin Russe», sagte der Herr und wandte sein ruhendes Haupt. Ohne den Kellner noch einmal anzusehen, bedeutete er ihm durch eine Handbewegung, er könnte nun gehen. Der Kellner zog sich zurück, schloß leise die Tür.

Der Mann im Bett blieb bewegungslos, die Augen geschlossen. ‹Um Gottes willen, warum bin ich hier?› dachte er. ‹Warum bin ich hier, was habe ich hier zu suchen? Warum bin ich nicht, wohin ich gehöre – du unbegreiflicher Gott, warum bin ich nicht daheim? Hier kenne ich niemanden, und fast niemand kennt mich. Man will sich über mich lustig machen, es ist ein Komplott geschmiedet gegen meine arme Person. Ach, diese ganze Tournee ist ein Wahnsinn …› Der Gedanke kam ihm mit einer lähmenden Heftigkeit. ‹Ich kann mich nicht mehr bewegen›, dachte der Mann. ‹Es ist alles so abscheulich und so sinnlos und derartig schlimm, daß ich mich überhaupt nicht mehr bewegen kann.›

Er bewegte sich trotzdem. Er richtete sich auf, goß sich Tee ein. Ehe er aber die Tasse zum Munde führte, entfaltete er die Morgenzeitung – die Vossische Zeitung vom 29. Dezember 1887. Er blätterte und fand auf der dritten Seite die Notiz:

«Heute, am 29. Dezember, trifft der bekannte russische Komponist Tschaikowsky in Berlin ein. Zahlreiche Freunde und Verehrer beabsichtigen, ihn im Restaurant Lutter u. Wegener um einhalb elf Uhr durch einen Frühschoppen zu ehren.»

Peter Iljitsch ballte die Zeitung und warf sie zur Erde. Er saß aufgerichtet im Bett und stöhnte vor Zorn. Sein Gesicht war dunkelrot angelaufen, auf der hochgekuppelten Stirne traten dicke Adern bedrohlich hervor. Er murmelte Flüche, wie die Kutscher und die Soldaten sie gebrauchen, daheim in Rußland. Mit seinen Fäusten schlug er die Bettdecke, um seinem Zorn ein wenig Luft zu machen. Schließlich wurde aus den unartikulierten Flüchen eine zusammenhängend ergrimmte Rede.

«Das ist ungeheuerlich!» rief er ins Zimmer. «Das ist beispiellos! Ein Halunkenstreich! Man will sich über mich lustig machen! Man will mich blamieren – darauf hat man’s abgesehen! O, dieses Agentenpack! O, dieser Neugebauer! Dieser verfluchte Herr Siegfried Neugebauer!»

Der Name des Agenten steigerte seinen Zorn derartig, daß der Tobende es liegend nicht mehr aushalten konnte. Auf dem Rand des Bettes sitzend fischte er mit den Zehen nach den Pantoffeln, die er unter dem Bett vermutete; fand sie nicht; ekelte sich eine Sekunde lang vor der Berührung seiner nackten Fußsohlen mit dem staubigen Bettvorleger – einem imitierten Eisbärenfell –; vergaß den Ekel in seinem Zorn und eilte barfuß durchs Zimmer. Sein langes seidenes Nachthemd wehte, gestikulierend und jammernd rannte er zwischen Fenster und Tür hin und her, sein stürmender Gang war zugleich schwerfällig stapfend und beflügelt – nacktfüßig, bärtig, im wallenden weißen Gewand machte er den Eindruck eines Eremiten, den heiliger Zorn erfaßt hat, und der, durch seine Zelle wie durch einen Käfig rennend, die schnöde Schlechtigkeit der Welt beklagt.

«Zahlreiche Freunde und Verehrer!» schrie der Ergrimmte höhnisch und blieb mitten im Zimmer stehen, die Arme mit geballten Fäusten gereckt. «Zahlreiche Freunde und Verehrer – das ist Hohn! Das hat man in diese verdammte Zeitung gesetzt, eigens um mich zu verhöhnen! Dabei kennt mich keine Katze hier, keine Katze, ich bin vollständig unbekannt. Woher weiß überhaupt jemand, daß ich heute in Berlin bin? Ich bin doch nur auf der Durchreise, es sollte ein Ruhetag sein, ich wollte mich doch verstecken. Dieser Neugebauer muß seine Spione in Moskau und in Petersburg haben. Er hat herausbekommen, an welchem Tag ich hier eintreffe. – Dieser Neugebauer! Oh!» Er brüllte aufs neue. Da er Neugebauers nicht habhaft werden konnte, trampelte er auf der zerknüllten Morgenzeitung herum.

Während er trampelte, traf sein Blick das eigene Bild im Spiegel. Er sah den zornigen Graukopf im weißen Gewande – den rasenden Eremiten mit der dunkel geröteten Stirn –, er sah einen springenden, stampfenden, lächerlichen alten Gesellen, und er schämte sich. «Ich muß mich beruhigen», murmelte er. «Es hat keinen Zweck, sich so aufzuregen. Ich will Baldrian nehmen.»

Er setzte sich aufs Bett, kramte auf dem Nachttisch nach dem Medikament, inzwischen fanden unten seine Füße die Pantoffel. Während er die Tropfen ins Gläschen laufen ließ, murrte er noch – mit einem Ärger, der sich allmählich besänftigte –: «Freunde und Verehrer! Es ist beispiellos!»

Während er den kleinen Heiltrank schluckte, trat ein schlaues und vergnügtes Schmunzeln auf sein Gesicht. ‹Aber ich werde denen einen Streich spielen!› dachte er – und dieser Einfall verbesserte mit einem Zauberschlag seine Laune –, ‹ich werde ihm einen Streich spielen, diesem Herrn Neugebauer! Der soll sich wundern. Ich werde für ihn einfach nicht aufzufinden sein. Seinen Frühschoppen mag er allein trinken. Ich bin weg, ich bin eben leider nicht da. Er weiß doch wohl nicht, in welchem Hotel ich abgestiegen bin – alles kann er schließlich nicht ausspioniert haben. Morgen früh fahre ich dann nach Leipzig, und bei den Herren von der Berliner Philharmonie melde ich mich erst, wenn ich zum Konzert hierher zurückkommen muß. Für heute drücke ich mich, ich bin nirgends zu finden. Mögen sie sich doch amüsieren, im Restaurant Lutter u. Wegener, die Herren Freunde mit den Herren Verehrern. Ich mache einen Morgenspaziergang. Wieviel Uhr ist es denn jetzt?›

Auf dem Nachttisch lag, zwischen Natronschachtel, Baldriantropfen und zwei Familienphotographien, seine schöne Uhr – eine kostbare Platinarbeit, auf beiden Seiten hübsch verziert, mit eingelegten Figuren aus Gold. Peter Iljitsch nahm sie niemals zur Hand, ohne sie sich zärtlich zu betrachten: Sie war sein Talisman und sein schönstes Ding, das Geschenk einer geheimnisvollen, gütigen und mächtigen Freundin. Er ließ den Deckel aufspringen. Es war zehn Minuten vor zehn Uhr. ‹Nun will ich mich allmählich anziehen›, beschloß er. ‹Wenn die festliche kleine Gesellschaft sich im Restaurant Lutter u. Wegener zusammenfindet, will ich schon auf meinem Morgenspaziergang sein.›

Er wusch sich Gesicht und Oberkörper mit kaltem Wasser. Während er begann, sich seine Kleidungsstücke zusammenzusuchen, die über Tisch und Stühle verstreut lagen, summte er eine süße, kurze Melodie vor sich hin – eigentlich nur den Bruchteil, das Fragment eines größeren melodischen Einfalls. ‹Mozart –› dachte er, während er sich nach den Strümpfen bückte. ‹Wie reizend das ist! Wie das wohltut – das ist ja, als würde plötzlich alles besänftigt und verzaubert und lieblich in Ordnung gebracht. Wie dankbar hat man zu sein, daß es das gibt … Vielleicht führen sie heute abend etwas von Mozart in der Oper auf – den Figaro möchte ich so gerne hören; aber wahrscheinlich steht doch nur Lohengrin auf dem Programm.›

Er sah nun: Draußen war ein schöner Wintertag. Am Fenster gab es hübsche und phantastische Eisfiguren; auf denen spielte die Sonne. ‹Das sieht reizend aus!› dachte Peter Iljitsch. Er zündete sich eine Zigarette an; in seiner Aufregung hatte er sogar das Rauchen vergessen, sonst waren die Zigaretten das Erste, wonach er, gleich beim Aufwachen, griff.

Der Spiegel, der ihm vorhin den tanzenden Eremiten gezeigt hatte, zeigte ihm jetzt einen stattlich zivilen Herrn im schwarzen, mit seidenen Litzen verzierten Rock. Während er sich die Krawatte band – wobei er weiter die zauberhaften, tröstlich lieblichen paar Takte summte – klopfte es an der Türe. Peter Iljitsch dachte: ‹Das wird der Kellner sein, der sein Frühstückstablett abholen will. Übrigens habe ich gar nichts von dem Zeug gegessen, so sehr hat diese abscheuliche Zeitung mich aufgeregt. Einen phantastischen Preis hat der junge Halunke für seinen Tee gefordert – sonst ein ganz netter Bursche, sonst ein ausgesprochen ganz netter Bursche.› – «Entrez!» sagte Peter Iljitsch, ohne sich vom Spiegel wegzudrehen.

Die Türe ging auf. Peter Iljitsch, am Spiegel, wartete darauf, das Klappern des Geschirrs und die schneidig-devote Stimme des jungen Kellners zu hören; ja, er mußte sich eingestehen, daß er sich auf den Klang dieser Stimme freute – es war eine junge Stimme –, und daß er vielleicht nur deshalb abgewendet stehenblieb, um sich diese kleine Vorfreude listig zu verlängern. Schließlich aber sagte jemand, der zögernd an der Türe stehengeblieben war und der durchaus keine junge Stimme hatte, auf eine näselnde, zugleich überdiskret zurückhaltende und aufdringliche Art: «Herr Tschaikowsky, wenn ich nicht irre.»

Peter Iljitsch fuhr herum. Er wurde erst bleich vor Schrecken, dann rot vor Zorn. «Mit wem habe ich das Vergnügen?» fragte er drohend. Auf seiner Stirne traten wieder die Adern hervor.

«Ich bin Siegfried Neugebauer, Ihr Agent, Herr Tschaikowsky», sagte mit sanfter Stimme der Mann an der Türe und lächelte süßlich.

Peter Iljitsch stand mehrere Sekunden lang sprachlos, wie gelähmt. Schließlich sagte er leise: «Das ist stark», wobei er Herrn Siegfried Neugebauer anstarrte wie eine böse Erscheinung.

«Ich bin sehr glücklich, Meister, Ihre Bekanntschaft zu machen», sagte der Agent und machte ein paar Schritte auf Tschaikowsky zu.

Siegfried Neugebauer war merkwürdig anzusehen. Sein rötliches Haupthaar war schütter und bedeckte nur mit wenigen, sorgfältig frisierten Strähnen seinen länglichen Schädel. Schütter war auch sein Bart, der – intensiver rot gefärbt als das Kopfhaar – wie ein durchsichtiger, dünner Vorhang erst am Rande des Kinns begann, das rosige glatte Gesicht aber – ein langnäsiges, neugieriges, dabei betrübtes Gesicht mit hellen wimpernlosen Augen – merkwürdig nackt ließ. Selbst die Oberlippe war glattrasiert, was der Mode der Zeit nicht entsprach und zu dem dünnen roten Bartgewebe überraschend wirkte. Der Mund hatte ein süßliches, dabei ständig gekränktes Lächeln. Unter der Oberlippe wurden häßlich gefärbte Nagezähne sichtbar; mit der neugierig schnuppernden, langen, stolz gebuckelten, rosigen Nase gaben sie dem Gesicht einen sonderbar tierischen Ausdruck: Es erinnerte zugleich an einen Hasen und an eine Ziege.

‹Das ist ja ein teuflischer Mann›, dachte Peter Iljitsch, der sich seinen Gast angewidert, aber mit starkem Interesse betrachtete. Siegfried Neugebauer hielt den Blick seines Gegenübers mild lächelnd aus – ja: Auf eine zerstreute und sonderbar unempfindliche Art schien er überhaupt nicht zu bemerken, daß er gemustert wurde. Über seinen rund geöffneten, wimpernlosen, hellen Augen hing ein Nebel. Eben dieser Nebel machte den ganzen Mann unangreifbar. Man konnte ihn anschreien, er würde nur süßlich, fast geschmeichelt lächeln, neugierig mit der langen Nase schnuppern, in seine verhangenen Augen würde kaum Erstaunen treten, gewiß nicht Entrüstung. Peter Iljitsch begriff – noch ehe er ihn angebrüllt hatte –: Es ist sinnlos. Er könnte mich gar nicht verstehen. Er ist der würdeloseste Mensch, den ich jemals getroffen habe. Dabei hat sein Auftreten eine gewisse Grandezza – das ist wunderlich. Es liegt nicht nur am hohen Stehkragen und dem langen, gehrockartigen Jackett aus dunkelbraunem, großkariertem Stoff. Es liegt auch an den hochgezogenen, breiten, fettgepolsterten Schultern und der überraschend schlanken Taille – ja, der sonderbare Mensch mit dem Haupt eines schnuppernden Zwergenkönigs hat eigentlich eine feine Figur! –: Es liegt am vornehm zerstreuten Blick der zugedeckten Augen – schreckliche Augen, demütige und zugleich grausame Augen hat mein Agent.

«Woher wissen Sie, in welchem Hotel ich wohne?» fragte Tschaikowsky mit gedämpfter, etwas heiserer Stimme: Er hatte sich fest vorgenommen, nicht zu schreien, jeden lauten Ton zu vermeiden. «Woher wissen Sie überhaupt, daß ich hier bin?» – «Ich mußte es doch wissen, um Sie abholen zu können, Meister», antwortete der Agent und lächelte rätselhaft.

«Abholen – wozu?» Peter Iljitschs Gesicht lief wieder beunruhigend rot an.

«Zum Frühschoppen», sagte Siegfried Neugebauer sanft, zeigte seine Nagezähne, blickte verschleiert und schien, genüßlich schnuppernd, die Nase ein wenig krausgezogen – unangreifbar auf alles gefaßt – abzuwarten, was nun erfolgen würde.

Peter Iljitsch ballte die Fäuste, tat zwei Schritte auf den Agenten zu: Die Lust, diesen Menschen zu schlagen, war stark in ihm, aber er spürte, daß Neugebauer auch noch den Faustschlag mit einem süßlich schmollenden Lächeln unter krausgezogener Nase quittiert haben würde. So bezwang er sich und sagte nur, etwas keuchend: «Das ist ungeheuerlich. Sie wagen es, mir von diesem grotesken Frühschoppen zu sprechen.»

«Aber Meister!» Neugebauer hatte eine mit sanftem Vorwurf geölte Stimme. «Habe ich Ihnen nicht schon vor Wochen geschrieben, daß ich einen Frühschoppen veranstalten will?»

«Und ich habe Ihnen schon vor Wochen geantwortet, daß ich an einer solchen Veranstaltung nicht teilnehmen würde!» fuhr Tschaikowsky auf. «Ich habe Ihnen geantwortet, daß ich fremde Leute hasse, daß ich menschenscheu und schüchtern bin – ja, ich habe Ihnen verboten, einen Frühschoppen oder irgendeinen anderen Unfug solcher Art im Zusammenhang mit meiner Person zu arrangieren. Habe ich Ihnen das ausdrücklich verboten oder nicht?!» fragte Peter Iljitsch drohend.

Was tat Siegfried? Siegfried schnupperte und lächelte geschmeichelt. «Oh, das habe ich doch nicht so ernstgenommen», sagte er mit einer schaurigen Koketterie.

Peter Iljitsch erkannte: Ich muß dieses Gespräch möglichst schnell zu Ende bringen. Diese Begegnung gehört genau zu jenen, denen ich nicht gewachsen bin. Ach, ich sollte eben nicht auf Reisen gehen. Es ist ein Wahnsinn von mir, daß ich auf Reisen gehe, noch dazu allein –: Natürlich setzt man sich da solchen Begegnungen aus, solchen Zusammenstößen mit der abscheulichen Welt. – «Ob Sie es ernstgenommen haben mein Herr, oder nicht», sagte er unheimlich leise, «– ich werde nicht zu Ihrem Frühschoppen kommen.»

Neugebauer strich sich den dünnen Bart, der leise knisterte, wie elektrisch geladen. «Es ist bald halb elf Uhr», sagte er mit Sanftheit. «Die Herren erwarten uns bei Lutter u. Wegener.»

Daraufhin wandte ihm Peter Iljitsch den Rücken.

«Sie haben mehr Freunde in unserer Stadt, als Sie glauben», sagte Neugebauer, nachsichtig zuredend.

«Freunde und Verehrer!» zischte Tschaikowsky. «Freunde und Verehrer – ich weiß!»

«Gewiß», erwiderte Siegfried sanft – sein Tonfall hatte etwas Vernünftiges, ja, sogar Überzeugendes. «Und zu Ihren Freunden und Verehrern gehöre auch ich.»

Peter Iljitsch wandte sich nach ihm um. Der Agent stand in einer merkwürdig frömmelnden Haltung, den Kopf etwas schief, die Hände über dem Magen gefaltet. Auf Peter Iljitschs erstaunten, ja, ratlosen Blick hin sagte er besonders näselnd und langsam, mit einer gewissen raunenden Feierlichkeit: «Gewiß, Meister. Ich liebe alle Ihre Kompositionen.»

Mit Bestürztheit fühlte Peter Iljitsch, daß er ihm glauben müsse. Dieser zähe und unheimliche Mensch liebte vielleicht wirklich alle seine Werke, er kannte sie vielleicht alle, er spielte sie sich abends auf dem Flügel vor, und dann bewegte sich etwas in seinem Herzen – wie schauerlich und wie rührend das war! Tschaikowsky fühlte Mitleid mit diesem Menschen – ja, er fühlte Mitleid beinah ebenso stark und heftig, wie er eben noch Zorn und Ekel gespürt hatte; es geschah ihm zuweilen, daß in seiner Seele das Mitleid den Zorn schnell und überraschend ablöste.

«Vielleicht verstehen Sie wirklich etwas von meiner Musik», sagte er hastig. «Aber Sie dürfen nicht von sich auf andere schließen. Ich bin vollkommen unbekannt hier.»

«Wie häßlich!» machte Neugebauer bekümmert, die Hände immer noch auf dem Magen gefaltet. «Wie sehr, sehr häßlich von Ihnen, so zu reden! Man kennt Sie. Kapellmeister Bilse hat so häufig das beliebte Andante aus Ihrem Quartett im Programm seiner populären Konzerte gehabt.»

«Das beliebte Andante, ich weiß.» Tschaikowsky hatte einen angeekelten Zug um den Mund. «Ich werde wahrscheinlich überhaupt die ganze Tournee absagen», erklärte er plötzlich: Es verschaffe ihm eine starke Erleichterung, diese Worte auszusprechen. «Es war ein Fehler, daß ich mich jemals auf dergleichen eingelassen habe. Ich bin dem gar nicht gewachsen. Übrigens bin ich kein Dirigent.» Er hatte ein Schluchzen in der Kehle. ‹Ich möchte allein sein und weinen›, empfand er.

«Sie sind nervös, Meister», sagte vorwurfsvoll Neugebauer.

«Ich bin nicht nervös!» fuhr Peter Iljitsch ihn an. «Ich weiß sehr genau, was ich sage. Mir fehlen zum Dirigenten alle physischen und moralischen Voraussetzungen. Wenn ich vors Publikum trete, schäme ich mich derart, daß ich in die Erde sinken möchte. Ich kann die Arme kaum heben, und wenn ich sie hebe, so bewege ich sie lahm und ungeschickt. Ich schade meinen eigenen Sachen, wenn ich sie selbst dirigiere – und ich wollte ihnen doch ein bißchen nützen, deshalb habe ich mich dieser Marter ausgesetzt; aber es erweist sich, daß ich ihnen im Gegenteil schade, daß ich sie ganz ruiniere, so grauenhaft ungeschickt stelle ich mich an. Wissen Sie überhaupt, durch welchen idiotischen Zufall ich zum Dirigieren gekommen bin?»

Neugebauer schwieg, aber in seinem Schweigen lag eine Neugier, die die Erzählung, ja, das Geständnis des anderen zäh und stark herauszulocken schien.

«Es ist die Schuld meiner Moskauer Freunde», stellte Peter Iljitsch erbittert fest. «Meine Moskauer Freunde haben mich hineingeredet. Es fing damit an, daß der Kapellmeister Altani krank wurde, während der Proben zu meiner Oper ‹Der Frauenschuh›. Kennen Sie meine Oper ‹Der Frauenschuh›?» fragte Tschaikowsky und blickte grimmig zur Seite. «Ein abscheuliches Machwerk –»

Neugebauer liebkoste das knisternde Gewebe seines roten Bartes. «Ich habe mir den Klavierauszug durchgespielt», erklärte er und blickte träumerisch. Tschaikowsky machte eine ungeduldige Handbewegung.

«Man wollte mir einen Ersatz für Altani stellen», fuhr er hastig fort – es war, als entschuldigte er sich für die Situation, in die er geraten war, indem er ihre Vorgeschichte erzählte, mehr für sich selbst als für den Agenten –, «aber es war ein mittelmäßiger Dirigent – ich muß Wert auf eine gute Aufführung meiner Werke legen – ja, auch wenn es sich um ein schwaches Werk handelt, oder gerade dann – man ist ja beständig in Gefahr, sich zu blamieren. Kurz und gut: Ich lehnte ihn ab, und da kamen einige Herren von der Direktion auf die absurde Idee, ich selber sollte meine Oper dirigieren. Natürlich sagte ich nein – kein Mensch kann ungeeigneter sein als ich für ein Auftreten vor dem Publikum. Die Uraufführung wurde also verschoben. Zu Beginn der nächsten Spielzeit war mein Freund Altani wieder kerngesund, es fehlte ihm einfach gar nichts mehr. Nun kommt aber das Schönste: Inzwischen hatte es sich die Operndirektion in den Kopf gesetzt, ich selber müßte die Aufführung leiten – ich weiß nicht, was man sich davon versprach, vielleicht einen Heiterkeitserfolg, eine komische Sensation. Man drang in mich, man ließ nicht locker, Altani selber redete mir am herzlichsten zu, was sollte ich machen, schließlich gab ich nach. Ich weiß nicht mehr, wie der Abend der Premiere vorübergegangen ist, das Publikum hat sein Gelächter wohl aus Höflichkeit unterdrückt, ja, unser Publikum ist besser erzogen, als man im Westen glaubt.»

«Wie können Sie nur Ihr eigenes Genie so herabsetzen?» sagte Neugebauer bekümmert. «Das ist sehr, sehr häßlich. Jeder weiß, wie glänzend Sie sich als Dirigent bewährt haben, nicht nur bei der Opernpremiere, sondern auch im Konzertsaal. Ihr großes Konzert, am 4. März dieses Jahres, in der Petersburger Philharmonischen Gesellschaft, ist ein Triumph für Sie gewesen, Meister.»

«Sie haben die Daten im Kopf», brummte Tschaikowsky – und er dachte, mit einem mitleidigen Erstaunen: Aber der Mensch ist ja wirklich ein Verehrer von mir! – «Übrigens war es keineswegs ein Triumph; ich sagte Ihnen ja schon: Unser Publikum ist gut erzogen. Es wollte mir, als ich in all meiner Ungeschicklichkeit und Armut auf dem Podium erschien, wahrscheinlich danken für Verdienste, die ich mir vielleicht früher erworben habe – obwohl auch diese Verdienste fragwürdig sind –»

«Sie sind der größte lebende Komponist», sprach sanft Siegfried Neugebauer und schaute den Meister aus seinen verhangenen Augen mit einer schamlosen Ergebenheit an. Tschaikowsky schien es zu überhören.

«Natürlich», sagte er nachdenklich, «als dann die großen Angebote aus dem Ausland kamen –: Ich war doch wohl geschmeichelt. Was wollen sie denn von mir? war natürlich mein erster Gedanke. Was will die Welt denn von mir? Man möchte sich wohl über mich lustig machen. – Aber mein zweiter Gedanke war: Hier ist eine Chance, deinen Ruhm gewaltig zu fördern, und damit den Ruhm deines Landes – ja, ich mehre doch Rußlands Ruhm, wenn ich was für meinen eigenen tue. So wenige russische Musiker hatten bis jetzt die Gelegenheit, vor einem ausländischen Publikum zu erscheinen, nur Glinka hat einmal in Paris konzertiert, und Rubinstein – natürlich, Anton Rubinstein –» ‹Aber warum erzähle ich das diesem fremden und fatalen Menschen?› dachte er plötzlich. ‹Er macht mich geschwätzig – ich komme mir wie ein geschwätziger alter Onkel vor –›

Er schwieg, auf dem Bett sitzend, den Kopf gesenkt. Als er langsam weiterredete, schien er die Anwesenheit des Agenten vergessen zu haben. «Was man nur für sich macht, ausschließlich für sich, – das muß wohl immer mißglücken», sagte er nachdenklich und schaute vor sich hin, auf den staubigen Bettvorleger, den falschen Eisbären. «Das heißt», verbesserte er sich, wobei er plötzlich den Kopf hob und böse lächelte: «Vielleicht macht man im Grunde doch alles immer nur für sich selber, weil die anderen ja so weit weg sind, daß man sie mit keinem Ruf und mit keiner Bewegung erreicht. – Ganz egal, ganz egal», er stand auf und tat ein paar stapfende Schritte durchs Zimmer, – «auf das große russische Konzert, das ich in Paris geben will – mit eigenem Risiko, verstehen Sie mich, Herr Neugebauer? – auf das kommt es mir an. In diesem Konzert will ich gar nichts von mir aufführen, nicht das kleinste Stück. Ich will den Europäern unsere Klassiker zeigen, den großen Glinka und Dargomyschsky – man weiß ja gar nichts von ihnen –, und ich will sie mit ein paar von unseren besten Lebenden bekannt machen. Verdient haben es die Herren ja nicht um mich, das kann man wohl sagen. Aber ich tue es auch nicht für die Herren, sondern für Rußland. Wahrscheinlich werden die Moskauer und die Petersburger Zeitungen auch dieses Konzert wieder totschweigen, denn sie gönnen mir nicht, daß man sich im Ausland um mich kümmert, und sie wollen nicht zugeben, daß ich etwas leisten kann für Rußland – ich bin ja nur ein ‹Westler›, und kein legitimer Vertreter russischer Kunst. Aber ich will es trotzdem den Franzosen vorführen, wie Rußland zu singen vermag. Auf dieses Konzert kommt es mir an. Ich will den Leuten beweisen, daß ich nicht nur auf Reisen gehe aus Eitelkeit, um meine eigenen Sachen bekannt zu machen!»

«Nun», sagte der Agent und hatte ein sanftes, unverschämt zerstreutes Lächeln, «gerade dieses Konzert wird nicht zustande kommen.»

Peter Iljitsch war völlig verdutzt. «Wieso?» fragte er nur und betrachtete aus seinen weiten und erstaunten Augen Neugebauer.

Der hob skeptisch die vornehm gepolsterte Schulter. «Weil es scheitern wird», sprach er freundlich. «Die Unkosten sind viel zu hoch. Sie können es ja nicht schaffen. Außerdem interessiert sich in Paris kein Mensch für Dargomyschsky, dessen Namen niemand aussprechen kann.» In seiner Stimme war ein aufreizender Ton von Mitleid.

«Schweigen Sie!» herrschte Peter Iljitsch ihn an. «Gott sei Dank haben Sie mit meinen Pariser Angelegenheiten nichts zu tun. Schlimm genug, daß ich Ihnen einen so großen Teil meiner Tournee anvertraut habe – ich werde Ihnen auch den wieder wegnehmen. Woher wollen Sie wissen, was ich in Paris auszurichten vermag? Ich habe dort einen großen Namen und sehr mächtige Freunde», stellte er erhobenen Hauptes fest. «Woher wollen Sie wissen, was ich in Paris ausrichten kann? Ich werde das große russische Konzert ganz bestimmt geben.»

«Es wird nicht zustande kommen», wiederholte hartnäckig-zerstreut der Agent. «Das ist doch eine Frage des Geldes», fügte er mit demselben lyrisch-raunenden Ton hinzu, den er vorhin gehabt hatte, als er von Tschaikowskys Werken sprach.

«Freilich nicht, wenn ich es Ihnen anvertrauen wollte», bemerkte hochmütig Peter Iljitsch. «Ich wäre besser dran, wenn ich mich Ihnen gar nicht anvertraut hätte. Sie sind nämlich ein miserabler Agent.»

Neugebauer hatte ein Lächeln unter krausgezogener Nase, als genieße er diese Beleidigung. «Das ist natürlich unendlich ungerecht», sagte er, jede Silbe näselnd, dehnend und singend – schmollend in einem Ton, als weise er eine gar zu gewaltige, unfein übertriebene Schmeichelei von sich.

«Sie haben mir alles verdorben», konstatierte Peter Iljitsch. «Sie machen nichts als Intrigen und Konfusionen. Sie haben mich überall gleichzeitig angeboten, wie saures Bier. Sie haben alle Leute verärgert und hereingelegt. Für das Wiener Konzert haben Sie in Ihrer geistreichen Art denselben Abend bestimmt wie für das Pariser: Also muß ich auf Wien verzichten, und gerade das Wiener Publikum hätte ich mir erobern wollen. Dresden haben Sie mir verdorben, Kopenhagen haben Sie mir verdorben – alles durch Ihre Konfusionen, und weil Sie überschlau sein wollten. Sie machen mich ja kaputt!» schrie Peter Iljitsch ihn an und rannte durchs Zimmer.

«Jedem kann einmal ein kleiner Irrtum passieren», gab der Agent mit einer verschwommenen Feierlichkeit zu bedenken.

«Ich will auch hier nicht die ‹Ouvertüre 1812› aufführen», redete sich Peter Iljitsch weiter in Zorn. «Ich habe Ihnen zehnmal geschrieben, daß ich ‹Francesca da Rimini› machen will. ‹1812› ist ein miserables Stück, ich kann es nicht ausstehen. Es ist auf Bestellung geschrieben, zu einem patriotisch-religiösen Anlaß, es taugt ganz und gar nichts, ich will keineswegs in Berlin damit debütieren.»

«Aber das Publikum möchte es hören!» warf vornehm und zerstreut, mit einem überlegenen Achselzucken, Neugebauer ein.

«Ich pfeife aufs Publikum!» schrie Peter Iljitsch. «Ich will mich nicht mit meinem ordinärsten Werk im Ausland präsentieren. Bei der Einweihung der Erlöserkirche in Moskau war das ganz wirkungsvoll, wenn zum Schluß die Russenhymne über die Marseillaise triumphiert, mit Kanonenschüssen und Glockengeläut. Wie, man könnte ja wohl auch im Konzertsaal Kanonen schießen und Glocken läuten lassen? Das würde das Publikum vielleicht auch gerne hören? – Zehnmal habe ich Ihnen geschrieben, daß ich nichts mehr zu tun haben möchte mit ‹1812›, und nun steht es doch auf dem Programm!»

«Alle sind für ‹1812› gewesen», bemerkte Neugebauer mit einer etwas gelangweilten Nachlässigkeit, als lohnte es sich kaum, über das Thema zu sprechen. «Herr Schneider, Vorstand der Philharmonischen Gesellschaft, war für ‹1812›, und sogar Herr von Bülow.»

«Ich verehre Hans von Bülow als einen großen Musiker und bin ihm viel Dank schuldig.» Peter Iljitsch sprach hastig und mit scharfer Betonung, denn er fürchtete, der fatale Neugebauer könnte Unfrieden zwischen ihm und Bülow säen –, «aber von meinen eigenen Werken verstehe ich doch wohl mehr als er.»

«Gewiß», meinte Siegfried, dessen Augen besonders verhangen schienen. «Sie sollten aber auch auf unsere patriotischen Gefühle Rücksicht nehmen. Natürlich hören wir es gerne, wenn die Marseillaise von irgend einer anderen Nationalhymne besiegt wird, ganz gleich von welcher.»

«Ich hätte wohl das Deutschlandlied gegen die Marseillaise ausspielen sollen!» Peter Iljitsch war sehr gereizt. «Dann hätte ich vielleicht sogar die Ehre gehabt, den Fürsten Bismarck in meinem Konzert zu begrüßen. – Ich bestehe auf ‹Francesca da Rimini›.»

«Wir sind uns doch alle darüber einig, Meister», sagte Neugebauer, die Nase sehr krausgezogen, mit einer plötzlichen, höchst unverschämten Vertraulichkeit, «daß ‹Francesca da Rimini› ziemlich langweilig ist.»

Tschaikowskys Gesicht lief rot an. «Ich habe es satt», sagte er leise und verbissen.

«Sehr richtig: Wir haben keine Zeit mehr, uns zu unterhalten!» Neugebauer wurde frisch und unternehmungslustig. «Es wird höchste Zeit. Wir müssen zu Lutter u. Wegener.»

Über diese Frechheit war Peter Iljitsch so fassungslos, daß er, statt zu antworten, den Agenten nur anstarrte. «Ich habe doch zu einem Frühschoppen für den Meister eingeladen», bemerkte Neugebauer, nachlässig näselnd. «Es ist auch sonst heute noch viel zu erledigen», sprach er zutraulich weiter. «Ich habe verschiedene Verabredungen für Sie angenommen: Mit Herren von der Philharmonischen Gesellschaft, mit ein paar Journalisten …»

«Sie werden mich mit allen Leuten auseinanderbringen, mit denen Sie Verabredungen für mich getroffen haben – gegen meinen Willen.» Tschaikowsky sprach, ohne den Agenten anzusehen. «Ich werde niemanden aufsuchen und niemanden empfangen. Ich bin erschöpft von der Reise. Es ist mein Ruhetag. Ich will keine Menschen.»

«Haben Sie nicht Lust, jetzt mit mir zum Frühschoppen zu kommen?» Neugebauer tat, als machte er einen ganz neuen Vorschlag. Sein schläfriges, langnäsiges rosa Gesicht blieb unbewegt.

«Gehen wir!» sagte Tschaikowsky rauh.

Er ließ sich von Neugebauer in den Pelz helfen. Der Agent reichte ihm auch die große runde Mütze. So vermummt, sah Peter Iljitsch plötzlich halb nach russischem Fürsten, halb nach Großbauer aus.

Neugebauer ließ ihm höflich den Vortritt. Sie gingen schweigend durch den teppichbelegten Korridor, ihre Schritte machten kein Geräusch, sie gingen lautlos und schnell, Siegfried Neugebauer einen halben Meter hinter Peter Iljitsch.

Auch auf der breiten Treppe lag ein dicker roter Teppich. Auf jedem Treppenabsatz stand eine verstaubte Palme in einem bunten Emailkübel.

Mit vielen Palmen war die Halle geschmückt, wo in falschen Renaissance-Sesseln Herren mit großen Schnurrbärten und hohen Stehkragen saßen und die Zeitung studierten. Den größten Schnurrbart hatte der Portier, der, stramm und aufrecht, wie auf Wache, in seiner Loge unter dem Bild des alten Kaisers stand. Der Portier hatte ein Gesicht wie ein zorniger Kater. Mit einem barschen militärischen Nicken begrüßte er den russischen Komponisten und seinen Agenten.

An einem Pianoforte, das mit vielen gedrehten Säulchen verziert war, saß ein junger Mann mit schwarzer Mähne und einer lose gebundenen schwarzen Seidenschleife als Krawatte. Er schlug auf die Tasten ein, das Klavier war verstimmt. ‹Natürlich – Wagner›, dachte Peter Iljitsch angewidert. ‹Der Pilgerchor – und er spielt ihn wie einen Militärmarsch. Ach, diese Deutschen!›

Er ging an dem martialischen Concierge vorüber und trat ins Freie. Ihm folgte Neugebauer.

Draußen war es sonnig und kalt. Peter Iljitsch atmete in tiefen Zügen die frische Luft. Es fuhr eine Droschke vorüber, er winkte dem Kutscher, und die Droschke hielt. Der Kutscher, mit einem freundlichen grauen Bart, sah beinah aus wie die Kutscher zu Hause.

Siegfried Neugebauer wollte mit einsteigen, Peter Iljitsch aber warf ihm den Wagenschlag vor der Nase zu. Von innen öffnete er um einen Spalt das Fenster. «Amüsieren Sie sich gut auf Ihrem Frühschoppen!» rief er und lachte plötzlich – es war ein spitzbübisches, vergnügtes Lachen, das sein Gesicht verjüngte –: «Ich fahre spazieren!»

Neugebauer lief einige Schritte neben der Droschke her: Peter Iljitsch hatte dem Kutscher ein Zeichen gemacht, geschwind loszufahren. Der verzweifelte Agent hatte große, rudernde Armbewegungen – er schwang die langen Arme wie Flügel, als wollte er gen Himmel flattern, vor Kummer und vor Enttäuschung. Dann blieb er stehen.

Tschaikowsky sah noch, wie auf dem Gesicht Neugebauers langsam das süßliche, zähe Lächeln aufging, mit dem er – ein unangreifbarer Mensch – diese neue Beleidigung zu genießen schien.

‹So ist die Welt›, dachte Peter Iljitsch, während er sich das Plaid über die Knie legte, denn es war kalt –, ‹man sollte sich nicht mit ihr einlassen, jede Begegnung mit ihr ist anstrengend sowohl als beschämend. Sie ist aufdringlich, diese Welt, liebedienerisch, dabei frech; sie ist brutal und dabei masochistisch; boshaft, sentimental und nicht einmal tüchtig, denn sie kann nichts als Konfusionen machen, die Leistungen aber – die sind unser Teil. Sie fordert alle unsere schlechten Instinkte heraus, sie reizt uns, verwirrt uns, beschämt uns, sie macht uns arrogant, grob und hilflos. Ich bin ihr ganz und gar nicht gewachsen. Bei allem tut dieser Neugebauer mir leid. Er ist vielleicht im Grunde ein ziemlich anständiger Mensch, er hat einen rührenden Blick, wenn ich’s mir recht überlege, und er wäre wahrscheinlich dankbar, wenn man sich etwas netter gegen ihn benehmen wollte.›

«Fahren Sie mich in den Tiergarten!» rief er dem Kutscher zu. Seine Stimme hatte den weichen, beinah werbenden Ton, wie immer, wenn er sich an kleine Leute wandte.

Die erste Ausfahrt Peter Iljitschs, bei jedem seiner Aufenthalte in Berlin, galt dem Tiergarten. Es war der Flecken der Hauptstadt, den er am liebsten mochte, oder am wenigsten haßte. Es war die einzige Stelle in dieser gewaltigen Kapitale, wo er sich ein wenig zu Hause fühlte; das übrige Berlin blieb ihm fremd, so oft er auch schon hier gewesen war.

Der Wagen bog von der Friedrichstraße in die breite Prunkavenue Unter den Linden ein. Es lag ein leichter gefrorener Schnee, auf dem die Tritte der Passanten und die Wagenräder lustig knirschten. Auf dem Schnee blitzte die Sonne, es war ein herrlicher Tag. Die breite Galastraße zeigte wie im Triumph ihre repräsentative Schönheit. Dem Brandenburger Tor, das den wuchtigen Abschluß der glanzvollen Perspektive bildete, sah man an: Es war eigens dafür gebaut, siegreiche Truppen durch seine Bogen marschieren zu lassen, unter Trompetengeschmetter und Trommelgedröhn. Was für eine Paradestraße! Es war deutlich: Sie selbst und alle, die auf ihr gingen – rüstige Herren und Damen, aber auch die Armen und ein wenig Gebückten, die weniger auffielen – genossen ihren Glanz, der noch verschönt wurde durch Sonnenlicht und blitzenden Schnee. Was für eine Stadt! Die wahre Hauptstadt für dieses triumphierende Land – das gefürchtetste Land des Erdteils, dem niemand ganz traute, das keiner ganz liebte, aber mit dem alle rechnen mußten.

Der fremde Herr in der Droschke – Peter Iljitsch Tschaikowsky aus Moskau – war beunruhigt durch diese harte, aggressive Schönheit; sie hatte – fand er – viel Bedrohliches. ‹Ach diese Deutschen!› dachte er noch einmal. ‹Es ist ja sehr nett von ihnen, daß sie mich eingeladen haben, bei ihnen zu dirigieren, und es ist sehr anerkennenswert, daß sie sich so stark für Musik interessieren. Aber wie sie aussehen! Nein, wie sie alle aussehen!›

Er schaute mit einem Blick, der wehmütig und etwas ängstlich war, durchs Wagenfenster. ‹Jeder von ihnen ist ein kleiner Bismarck!› dachte Peter Iljitsch aus Moskau. Mehr eingeschüchtert als höhnisch, musterte er die martialischen Mienen der Männer: Gesträubter Schnurrbart, buschige Augenbrauen und eine drohende Entschlossenheit des Ausdrucks verliehen ihnen entschieden viel Angst-Einflößendes. Ein erheblicher Teil von ihnen trug Uniformen, man meinte, sie wollten jeden Augenblick den Säbel ziehen. Den Damen warfen sie unternehmungslustige und flotte Blicke zu; die ihrerseits gingen erhobenen Hauptes, jede eine Germania, im Vollbewußtsein ihrer unantastbaren Würde, den großen Pelzmuff trugen sie wie eine Trophäe vor sich her. In blitzenden Equipagen, vor denen die Pferde stramm, wohlgenährt und schön gezäumt waren, fuhren erfolgreiche Kommerzienräte vorüber, an ihren fetten Fingern sah man die Brillantringe blitzen. Die Kommerzienräte und die Offiziere schienen die breite Galastraße ganz zu beherrschen; zwischen ihnen bewegte sich zuweilen, hastig, zerstreut, aber nicht ohne ein gewisses gefährliches Selbstbewußtsein, ein Professor mit Schlapphut, zottigem Vollbart und weiter, asketisch rauher Lodenpelerine, der unter seiner störrisch gesenkten Stirne Böses auszusinnen schien.

Der fremde Herr in der Droschke sah dies alles: Überdeutlich, vereinfacht, wie die gespenstischen Figuren aus einem Witzblatt. Er schämte sich seines bösen Blicks. Aber er mußte denken: ‹Ach diese Deutschen! Hätte es nicht dieses Jahr fast schon wieder Krieg zwischen ihnen und Frankreich gegeben? Ich verstehe ja nicht viel von den Dingen, aber ich spüre doch, wie beunruhigend dies alles ist. Haben sie nicht auch schon wieder ihre Armee vergrößert? Es ist doch irgend eine neue Wehrvorlage durchgegangen –›

Die Droschke fuhr über die blitzende Weite des Pariser Platzes. Das triumphal geöffnete Brandenburger Tor nahm sie auf. Drüben rollte der Wagen auf der trockenen Schneeschicht in gleichmäßigem Tempo weiter. Das war der Tiergarten.

‹In dieser Stadt ist mein lieber Kotek gestorben›, dachte Peter Iljitsch, und spürte plötzlich wieder Tränen im Hals. ‹In dieser Stadt hat er die letzten Jahre seines Lebens verbracht. Ach, er hätte niemals von Davos fortgehen dürfen, und nun gar in diese entsetzlich anstrengende Kapitale! Ich habe ihm dringend abgeraten, man sah es ihm ja an, daß er es nicht überleben würde. Warum mußte er sterben? Er war jung, talentvoll und kraftbegabt. Ich hatte ihn gern, eine Zeitlang hat er viel für mich bedeutet, und er hätte noch mehr für mich bedeuten können, wenn er gewollt hätte und wenn wir Zeit gehabt hätten. Warum konnte nicht ich sterben und er am Leben bleiben? Dann säße ich jetzt nicht hier, in dieser verfluchten Droschke, er aber würde irgendwo in einem Zimmer stehen, das nachdenkliche junge Gesicht schiefgehalten, und wunderschön Geige spielen. Ja, er war ein vorzüglicher Violinist, deshalb habe ich ihm auch eine Valse Scherzo gewidmet, für Violine und Klavier, ein ganz hübsches Stück. Er redete ein bißchen viel, das ist wahr, manchmal ist es mir etwas auf die Nerven gegangen. Er redete, was ihm gerade einfiel, zuweilen völlig unzusammenhängendes Zeug, so wie manche Figuren bei Dostojewsky schwatzen – aber mit einer angenehmen, lieben Stimme, und auch sein nachdenklicher, immer etwas geistesabwesender Gesichtsausdruck war nett dabei. Ich mochte ihn gerne. Gott, was haben wir miteinander geschwätzt, als ich ihn zum letzten Mal in Davos besuchte! Ich blieb eine ganze Woche, wir hatten so unendlich viel zu besprechen, und wir mußten viel lachen – es war reizend, obwohl der arme Kotek so krank war. Mein lieber Kotek, wo steckst du denn jetzt? Mein Lieber, darfst du denn auch Musik machen, wo du jetzt bist? Mein Lieber …›

Peter Iljitsch wurde aus seinen zärtlich-trauervollen Gedanken gerissen durch einen Lärm, der ihm schrecklich vorkam; es war aber nur ein großer Hund, der die Droschke anbellte. Doch hatte sogar dieses Bellen einen bedrohlichen Ton. Bedrohlich war auch der Blick, den ein Schutzmann unter buschigen Augenbrauen auf den Wagen, den Kutscher und den fremdländischen Fahrgast warf: Der strenge Hüter der Ordnung schien schon beinah entschlossen, diesen melancholisch blickenden Ausländer aus irgendeinem Grunde auf der Stelle zu arretieren. – Eine Schar von Kindern zog singend vorüber, militärisch geordnet in Reih und Glied, und was sie sangen, handelte von der deutschen Ehre und daß man Frankreich bald mal wieder schlagen wollte. Über bellenden Hund, singende Kinder und gefährlichen Schutzmann reckte ein hochgerüsteter Herr mit siegreicher Geste seinen langen Degen. Der Herr war aus weißem Stein – eine Statue, die in herausfordernder Haltung einen zugefrorenen Brunnen zierte. All dies sah Peter Iljitsch, und er fürchtete sich. Er empfand Furcht und Haß. Alles um ihn herum war ihm feindlich. Er fühlte sich vereinsamt, ausgeliefert, angegriffen von allen Seiten. Noch der blitzende Himmel bedrohte ihn.

Er haßte die Steinfigur, er haßte die Straße, den verschneiten Tiergarten, die ganze kaiserliche und pompöse Stadt. Mit einer ungeheuren Dringlichkeit wünschte er sich, ganz woanders zu sein, nur nicht hier – nur nicht hier.

Er kannte diese Anfälle, diesen würgenden, unsagbar heftigen Wunsch nach einer sofortigen, eiligen und gründlichen Ortsveränderung. Dieses zugleich lähmende und aufpeitschende Weh, das peinigender war als ein physischer Schmerz, konnte ihn überall packen, auch zu Hause – wenn es ein ‹zu Hause› für ihn gab. Aber immer wieder bezog Peter Iljitsch seinen Haß und seinen Ekel in vollstem Ernst auf den Ort, wo er sich eben befand. ‹Ich will nicht hier spazieren fahren›, dachte er leidvoll, ‹ich will gar nicht in dieser fremden und abscheulichen Stadt spazieren fahren, in der mein Kotek gelitten hat. Wäre ich doch nicht hier! Dieses Glitzern der Sonne auf dem Schnee macht mich krank und rasend. Ich ertrage das nicht. Wäre ich doch woanders. Am besten nirgendwo – aber doch bitte nicht hier.

Wäre es doch zum Beispiel Herbst, und ich säße in Maidanowo, meinem lieben, stillen Maidanowo! Nein, ich säße nicht, ich würde über das offene Feld laufen und einen Drachen steigen lassen – es ist wundervoll, Drachen steigen zu lassen. Oder ich würde im Walde spazieren und Pilze suchen – es ist so beruhigend, sich nach Pilzen zu bücken, ich kenne sie alle. Der Wald von Maidanowo ist schön, er wird zwar ziemlich unbarmherzig abgeholzt, aber er ist doch immer noch stattlich. Vielleicht wäre mein lieber Bruder Modest bei mir, oder der junge Sohn meiner Schwester Sascha, oder der alte Laroche, dieses faule Tier. Ich muß einen Menschen bei mir haben, den ich gut und seit langer Zeit kenne, mit dem mich gemeinsame Erinnerungen verbinden und den ich liebe. Es ist nicht gut, daß ich alleine bin. Keineswegs will ich hier noch länger spazieren fahren.›

«Kehren Sie um!» schrie er dem Kutscher zu. «Fahren Sie mich ins Hotel zurück!» Der Kutscher wandte mit einem väterlichen Erstaunen sein altes, bärtiges Gesicht nach dem Fahrgast. Der Herr, der vorhin eine so sanfte Stimme gehabt hatte, ließ nun eine rauhe hören.

 

Die Hotelhalle durchquerte Peter Iljitsch mit zornig stapfendem Schritt: Für die Herren und Damen in den falschen Renaissance-Sesseln mochte er, im langen Pelzmantel, mit runder Pudelmütze über dem merkwürdig dunkel geröteten Gesicht, etwas Erschreckendes haben. – Auch die Treppe nahm er mit langen, grimmigen Sätzen.

Während er durch den Korridor rannte, ärgerte er sich über die Lautlosigkeit seiner eigenen Schritte: Er hätte sich gewünscht, daß sie dröhnten. Mit einer Hand, die etwas zitterte, machte er sich daran, seine Zimmertür aufzuschließen. Ehe er eintrat, sah er sich noch einmal um: Er spürte einen verschleierten, aber zudringlichen Blick im Rücken.

Hinter der Ecke, die an dieser Stelle der Korridor machte, ragte etwas Langes, Rosiges, neugierig Schnupperndes hervor. Das war die Nase Siegfried Neugebauers, und da stand er auch schon, die vornehm gepolsterten Schultern hochgezogen, das klebrig zähe Lächeln auf den Lippen, die die Nagezähne freiließen. Er hatte gelauert. Sein rötliches Haupt war ganz verklärt vor Freude an der peinlichen, unwürdigen Situation. – «Sie haben mich ja schön im Stich gelassen!» sagte er, genußvoll näselnd, und trat zwei Schritte näher.

«Fichez-moi la paix!» schrie Peter Iljitsch ihn an, und er sprach auf französisch weiter, sei es, um Neugebauer zu kränken, oder nur, weil er in seiner Erregung in die Sprache fiel, die ihm geläufiger war. «Mit Ihnen will ich nichts mehr zu tun haben. Ich löse unseren Vertrag. Sie werden noch von mir hören.»

«Wie unendlich ungerecht!» rief der Agent klagend, dabei aber genießend.

Peter Iljitsch schmiß die Türe hinter sich zu und verschloß sie von innen. Er hörte Neugebauer noch ein wenig an der Türklinke spielen, sie drücken und pressen, und seine sanft raunenden Klagetöne von draußen, wie die eines ausgesperrten, zudringlichen, aber nicht gefährlichen Tiers.

Tschaikowsky war mitten im Zimmer stehengeblieben. Er stand einige Sekunden regungslos, die Augen geschlossen. ‹Ich werde das Zimmer verdunkeln›, dachte er. ‹Ja, ich mache die Vorhänge zu. Ich werde mich in diesen Lehnstuhl setzen und mich ganz still verhalten. Ich schließe die Augen. Ich denke an die paar Menschen, die mir noch geblieben sind. Dieser Tag muß vorübergehen. Morgen fahre ich nach Leipzig, das ist immerhin ein anderer Ort, man hat mich zwar hingelockt, um mich dort zu verhöhnen, aber so schlimm wie hier kann es dort nicht sein. O Gott, wie furchtbar, wie furchtbar! O du großer, strenger, weit entfernter Gott, an den ich glaube, wie furchtbar hast du alles eingerichtet! Wozu muß ich alles dies aushalten? Nur um es in eine Melodie zu verwandeln? Und dann wird es nicht einmal eine gute Melodie … Ich will mich ganz still verhalten: Es geht vorüber.›

Zweites Kapitel

«Er scheint nicht mitgekommen zu sein!» sagte einer von den vier Herren, die auf dem Bahnsteig standen. Aus dem Berliner Schnellzug stiegen die letzten Passagiere. Tschaikowsky, den man abzuholen gekommen war, zeigte sich nicht unter ihnen.

«Das ist doch unmöglich», sagte der Jüngste von den Herren, er hieß Alexander Siloti. Während die anderen drei in ihren Pelzmänteln unförmig wirkten, erschien er, in einem dunklen engen Paletot, ephebenhaft schlank. Mit einer Stimme, die einen merkwürdig metallischen, kühnen und lockenden Ton hatte, rief er plötzlich – das Gesicht etwas zurückgeneigt, die beiden Hände wie einen Trichter an seinen Mund gelegt –: «Peter Iljitsch, Peter Iljitsch! Wo sind Sie?»

Es war, als habe Peter Iljitsch nur auf diesen Anruf gewartet: Eine Sekunde später erschien an der Türe eines Erster-Klasse-Wagens seine große, breite, etwas gebeugte Gestalt, den Pelzkragen hochgeschlagen, die runde Mütze tief in der geröteten Stirne, zwischen den Lippen die Zigarette. In der einen Hand hielt er ein geöffnetes Buch, in der anderen eine Handtasche. Unruhig und gequält schaute er um sich. «Ja, – hallo! – Hallo! – Was ist denn?» rief er mehrfach und etwas sinnlos; seine Augen fanden die Freunde auf dem Bahnsteig nicht.

«Peter Iljitsch! Steigen Sie doch aus!» rief der junge Siloti mit der schönen metallischen Stimme. Endlich entdeckte ihn Tschaikowsky, der völlig verstört, wie blind, um sich starrte. «Oh, Sie sind es, Siloti!» winkte er, und auf seine Züge kam langsam ein Lächeln. «Ja – ich finde mich nämlich mit meinen Koffern nicht ganz zurecht – ich habe so fürchterlich viele Handkoffer –»

Siloti lief zu ihm hin: Sein Gang war so energiegeladen und beschwingt wie seine Stimme. – «Mein lieber Siloti!» empfing ihn Tschaikowsky, der ein Schluchzen in der Kehle spürte. «Wie schön, daß Sie da sind!» Sie schüttelten sich die Hände. «Ich stelle mich so abscheulich ungeschickt an!» Peter Iljitsch lachte, um Entschuldigung bittend. «Ja, ich bin es gar nicht mehr gewohnt, ohne fremde Hilfe zu reisen. – Ich hatte doch immer meinen guten Alexei bei mir –» Er nahm Silotis Arm. Nebeneinander verschwanden sie ins Innere des Wagens. Inzwischen winkte einer von den drei anderen dem Gepäckträger.

Es gab eine große Begrüßung. Peter Iljitsch umarmte seinen alten Freund, den Violinisten Brodsky, und schüttelte dem Pianisten Arthur Friedheim ausführlich beide Hände. Der Vierte – ein kleiner, agiler Mann mit schwarzem Ziegenbärtchen und einem Zwicker, der ihm beständig nach vorne, auf die derbe Nasenspitze, rutschte – stellte sich selber vor. «Mein Name ist Krause», sagte er eifrig. «Martin Krause, Musikreferent des Leipziger Tageblatts, ein Verehrer Ihrer Musik. Willkommen in Leipzig!» rief er mit plötzlicher Feierlichkeit, in einer Haltung, als stände er an der Spitze einer offiziellen Abordnung mit Blechkapelle und Fahnen. Mit einer triumphierenden kleinen Verbeugung, so wie der Zauberkünstler sie hat, wenn er sich zur allgemeinen Überraschung eine Taube oder eine Rotweinflasche aus den Ohren zieht, präsentierte er einen mächtigen Rosenstrauß, den er bis dahin wohl auf dem Rücken listig-sorgfältig versteckt gehalten. «Oh, Rosen – wie schön», sagte Peter Iljitsch gerührt. «Und mitten im Winter!» Er wollte die Blumengabe in Empfang nehmen, hatte aber keine Hand frei, mußte erst das Handköfferchen niedersetzen; dann störte ihn noch die Zigarette, er ließ sie einfach aus dem Munde fallen, Siloti trat sie artig für ihn aus.

«Willkommen in Leipzig!» sagte nun auch, etwas verspätet, Brodsky mit seiner tiefen brummenden Stimme. Arthur Friedheim hatte ein meckerndes, aber herzliches Lachen.

«Wie gut, daß ihr da seid!» Peter Iljitsch legte den einen Arm um Silotis, den anderen um Brodskys Schulter. «Ich habe mich nämlich überhaupt nicht aus dem Zug getraut. Ja, ich war schon fest dazu entschlossen, weiterzufahren – dann ein Telegramm aus irgendeiner fremden kleinen Stadt zu schicken, daß ich verhindert sei, nach Leipzig zu kommen!»

Brodsky lachte, daß es durch die Halle dröhnte. «Was für Ideen du hast!» Er bekam fast keinen Atem mehr vor Lachen. «Du bist doch immer noch derselbe närrische alte Kerl!» Sie lachten alle, nur Siloti hatte ein ernstes und strahlendes Lächeln auf seinen schönen, reinen und jungen Gesicht. «Ich bin doch froh, daß ich nach Ihnen gerufen habe!» sagte er leise, während Brodsky sich die Augen wischte, die das Gelächter feucht gemacht hatte.

«Es ist eine richtige Zwangsvorstellung gewesen», berichtete Peter Iljitsch, und sah Siloti an. «Ich dachte: du kannst gar nicht aussteigen. Entweder es ist kein Mensch an der Bahn, das wäre grauenhaft, und du fändest dich überhaupt nicht zurecht. Oder es sind fremde abscheuliche Leute da – das wäre natürlich noch unerträglicher gewesen. – Aber nun bin ich ja gerettet!»

Er legte seine Arme noch fester um die Schultern der beiden Freunde. Die Leute schauten den Dreien nach, wie sie sich durch die Bahnhofshalle dem Ausgang zu bewegten; Friedheim, Musikreferent Krause und die Gepäckträger folgten. Tschaikowsky stützte sich so fest auf Brodsky und Siloti, daß es aussah, als würde er von ihnen geschleppt: Leicht taumelnd, ein von seiner Umgebung verehrter, aber stark mitgenommener Alter, hing er in ihrer Mitte.

«Ich kann diese Eisenbahnfahrten nicht mehr vertragen», redete er. «Sie machen mich krank, sie zerstören mich, und um überhaupt über die Sache hinwegzukommen, nehme ich mir leider meistens eine volle Cognacflasche mit, am Ende der Reise aber ist sie plötzlich leer. Dabei ist Berlin–Leipzig ja wirklich keine sehr lange Strecke. Aber ich halte rein gar nichts mehr aus, ich bin fertig, ich bin ein Wrack, ihr seht es –, und komponieren kann ich auch nicht mehr.»

«Hohoho!» lachte Brodsky, aber Siloti schüttelte ernst und verweisend lächelnd den Kopf.

«Was ist das?» rief Tschaikowsky. «Ich schwätze und schwätze – euch lasse ich überhaupt nicht zu Worte kommen! Nun, wie geht es denn euch, meine Lieben? Aber ich weiß ja: Der alte Brodsky ist ein wohlbestallter Professor am Konservatorium zu Leipzig –»

«Ein wohlbestallter Violinprofessor», bestätigte, lustig brummend, Freund Brodsky.

«Und mein kleiner Siloti?» Tschaikowsky wandte ihm sein Gesicht zu und sah ihn voll an. «Mein kleiner Siloti reist von Triumph zu Triumph. Die ganze Welt spricht von ihm, das ist wunderbar. – Mein Gott, wie ich mich noch erinnere!» sagte Peter Iljitsch, und blieb mitten in der Bahnhofshalle stehen. «Als ich dir den Kompositionskursus gegeben habe, am Moskauer Konservatorium! Das ist nun schon ziemlich viel Jahre her. Dann kam die Zeit der großen Schule für dich – Rubinstein, Liszt. Aber damals, in Moskau, warst du ein ganz kleiner Junge. Du bist ein wundervoller Junge gewesen. – Und du bist es geblieben», fügte Peter Iljitsch hinzu.

Über das elfenbeinfarbene Gesicht des jungen Siloti ging eine flüchtige Röte, von der einige Flecken hektisch auf den Wangenknochen zurückblieben.

«Wie schnell du berühmt geworden bist!» sagte Peter Iljitsch und sah ihn immer noch an.

«Haben Sie Anton Rubinstein kürzlich gesehen?» fragte Siloti.

«Ich treffe ihn selten.» Peter Iljitsch wandte endlich seinen Blick von Siloti ab, während er weiterging. «Er ist mir gegenüber ziemlich streng und zurückhaltend geblieben. Ich fürchte ihn fast ebenso sehr, wie ich ihn verehre.» Brodsky lachte, aber der junge Siloti blieb ernst.

«Nichts kann mir den Verlust seines Bruders ersetzen», sagte Tschaikowsky und schaute mit einem geistesabwesenden Blick geradeaus. «Der gute Nikolai fehlt mir entsetzlich. – Ja, Brodsky», sagte er und wandte sich plötzlich nur noch an den älteren Freund, «es sind so viele dahin.» Brodsky nickte mit einer etwas genierten Feierlichkeit. Sie standen auf dem freien Platz vor dem Bahnhof.

Der Schnee hatte im bleichen Licht des späten Nachmittags einen fahlen Schimmer. Es war ziemlich kalt. Über den verschneiten Häusern stand der Himmel in glasiger Reinheit.

Musikreferent Krause, der die drei vorangehenden Russen eingeholt hatte, sagte mit einer drolligen Verneigung, die den Gebäuden, Droschken, Schlitten, Fußgängern und dem ganzen Platz galt: «Darf ich Ihnen unser Leipzig vorstellen, Meister, das musikalische Zentrum des Deutschen Reiches!» Er sprach, ein guter Sachse, das p in ‹Leipzig› ganz weich aus und dehnte den Namen der heimatlichen Stadt auf eine unnachahmlich breite und gemütliche Weise. Alle lachten. «Die musikalische Hauptstadt des Reiches, seitdem Mendelssohn-Bartholdy hier gewirkt hat», fügte der kleine Mann, dem der Zwicker auf die derbe Nasenspitze rutschte, feierlich hinzu.

Man winkte einem Schlitten. «Was für eine komische Form er hat», meinte Peter Iljitsch, während sie einstiegen. – «Er hat gar keine komische Form», erklärte Brodsky. «Nur eine etwas andere, als unsere Schlitten – zu Hause.»

Das Gefährt war offen; man verpackte sich in die Decken. Peter Iljitsch saß mit Brodsky und Siloti im Fond, Friedheim und Krause nahmen ihm gegenüber Platz. Musikreferent Krause schlug vor: «Am besten wird sein, wir geben die Gepäckstücke des Meisters im Hotel ab und fahren dann gleich weiter, zu Freund Brodsky – damit wir alle etwas Warmes in den Magen kriegen.» Peter Iljitsch betrachtete ihn sich belustigt und anerkennend. «Diese Deutschen sind Organisatoren!» stellte er fest. «Etwas Warmes in den Magen, – das ist eine glänzende Idee.»

Sie bekamen alle rote Backen und rote Nasen vom scharfen Luftzug; nur Silotis Gesicht blieb von elfenbeinerner Blässe: Im fahlen Licht des sinkenden Nachmittags schien es zu leuchten, als sei es aus anderem Stoff denn aus Fleisch und Blut. – Peter Iljitsch war sehr angeregt und redete viel. «Ihr wißt ja gar nicht, was für ein Glück ihr habt, daß ich so allein aus dem Zug gestiegen bin», schwatzte er lachend. «Mein Freund Siegfried Neugebauer hatte nämlich die Absicht, mich nach Leipzig zu begleiten – nur mittels der raffiniertesten Listen gelang es mir, das von uns abzuwenden.»

Siegfried Neugebauers Name hatte eine stark animierende Wirkung auf die Gesellschaft: Sie kannten ihn alle, sie lachten und schimpften im Durcheinander. «O dieser Neugebauer!» schrien sie, «dieser Unhold, dieser Hanswurst!» Peter Iljitsch amüsierte sich, er lachte am lautesten von ihnen allen. «Gewiß, gewiß – ein Unhold!» Er wiederholte mit Genuß jede einzelne Beleidigung, mit der man Siegfried charakterisierte. «Aber, ich versichere euch: Der Mann hat eine Art von dämonischer Kraft. Es ist ihm einfach nichts anzuhaben, er ist zäh wie das Leben selbst. Glaubt ihr, ich wäre ihn losgeworden? Aber keineswegs! Vormittags hatte ich ihn in aller Form herausgeschmissen. Abends begleitete mich Herr Neugebauer ins Konzert, obwohl ich nicht die mindeste Lust hatte, auszugehen, und schon gar nicht mit ihm. Mit Herrn Neugebauer zusammen mußte ich mir das Requiem von Berlioz anhören, unter der Leitung des Herrn Scharwenka – entre nous: Es wäre auch ohne Neugebauers Beisein recht qualvoll gewesen. Scharwenka benahm sich mir gegenüber ziemlich piquiert, weil Herr Neugebauer sowohl für den Morgen als für den Nachmittag Verabredungen für mich mit ihm getroffen hatte, obwohl er wußte, daß ich sie nicht halten würde. Ich mußte mich also nicht nur langweilen, sondern wurde auch noch schlecht behandelt. Ach dieser Siegfried! So habe ich mir Richard Wagners Waldknaben immer vorgestellt! Ich wage es gar nicht mehr, mich beim Hotelportier nach meiner Post zu erkundigen: Sicher sind mindestens zwei Telegramme von ihm dabei, und was für welche! Das eine nimmt zurück, was das erste umständlich formuliert, jedes hat fünfzig Worte, kostet einen Sack Gold, und beide zusammen ergeben eine heillose Konfusion!»

Während der ganzen Schlittenfahrt sprachen sie vom Agenten Neugebauer: Jeder hatte etwas Schreckliches mit ihm erlebt, jeder wußte eine groteske Anekdote von ihm. Arthur Friedheim behauptete, er habe ihm einmal eine Ohrfeige auf offenem Podium, angesichts des ganzen Publikums, gegeben, weil Neugebauer ihn zum Schluß des Konzerts hatte küssen und umarmen wollen.»

Professor Brodsky wohnte an der Peripherie der Stadt, in einer stillen und soignierten Villenstraße. Die Häuser hatten hier das Aussehen von gemütlichen kleinen Ritterburgen, mit vielen Erkern, Zinnen, Türmchen, Balkonen, runden Fenstern mit Butzenscheiben. «Wie eine Meistersinger-Dekoration im Provinztheater», lachte Peter Iljitsch. «Dabei ist es sicher sehr angenehm, hier zu logieren. Es sieht bürgerlich und wohlgepflegt und behaglich aus.»

Brodskys Wohnung lag im zweiten Stockwerk einer der traulich-sächsischen kleinen Ritterburgen. Während die Herren die Treppe hinaufgingen, erschienen oben zwei Damen, die winkten und riefen. Das waren Brodskys Frau und seine Schwägerin – beide von üppiger Gestalt, und sie sahen einander ähnlich. Unter den hohen Frisuren waren ihre Gesichter breit und freundlich, beide hatten sie die lange Zigarette zwischen den weichen Lippen. Madame Brodsky trug einen japanischen Kimono – schwarze Seide, mit großen gelben Blumen bestickt; die Schwägerin eine hochgeschlossene Russenbluse aus weißem Leinen, der Kragen, rot bestickt, steif wie der an einer Uniform. Brodsky umarmte seine Frau, die ihm sofort Vorwürfe machte, daß er im offenen Schlitten gefahren wäre und erfroren aussähe.

«Aber, meine Damen! Es ist ein so schöner Abend!» rief Peter Iljitsch. Er kannte Madame Brodsky aus Moskau und ließ sich der Schwägerin vorstellen. Vor beiden machte er tiefe Verbeugungen, mit einer etwas drollig-altfränkisch übertriebenen Galanterie. Madame Brodsky überreichte er die roten Rosen, die Herr Krause ihm vorhin geschenkt hatte.

In der Wohnstube roch es nach Tannenbaum, Lebkuchen und Samowar; auf dem runden Tisch in der Mitte des Zimmers stand der Christbaum – ein ausladendes, strammes, wohlproportioniertes Prachtstück von einem Christbäumchen, mit bunten Kugeln, Äpfeln, versilberten Tannenzapfen, allerlei Kringeln, Wachsengeln und Allegorien üppig behängt. Die Kerzen brannten, sie gaben dem Zimmer ihren Duft und ihr mild flackerndes Licht. «Ja, Peter Iljitsch, Ihnen zu Ehren habe ich unser Bäumchen mit neuen Kerzen versehen», berichtete Madame Brodsky.

Peter Iljitsch zeigte sich begeistert. «Oh, ein Christbaum, – ein richtiger Christbaum!» rief er ein über das andere Mal. «Das ist herrlich. Nun merke ich doch endlich, daß ich wirklich in Deutschland bin! Ja Brodsky, mein alter Brodsky, du bist ja ein richtiger deutscher Professor und Familienvater geworden! Aber