Tage der Nemesis (eBook) - Martin von Arndt - E-Book

Tage der Nemesis (eBook) E-Book

Martin von Arndt

4,8

Beschreibung

Frühjahr 1921: Im vornehmen Berliner Stadtteil Charlottenburg wird die Leichedes ehemaligen türkischen Staatsführers Talât Pascha gefunden. Kommissar Andreas Eckart erkennt in dem Toten einen der Hauptverantwortlichenfür den Völkermord an den Armeniern aus dem Jahr 1915 und kommt rasch einer Terrororganisation auf die Spur, die Rache für die Opfer des Genozids nimmt und die politischen Entscheidungsträger von damals im Visier hat. Als weitere Attentate geschehen,führen die Ermittlungen Eckart bis nach Rom. Doch je weiter der Kommissarmit seinen Recherchen voranschreitet, desto tiefer verstrickt er sich in die politischenWinkelzüge eines zutiefst verfeindeten Europas, das zwischen den Katastrophen zweierWeltkriege steht. Schließlich gerät Eckart selbst ins Fadenkreuz der Attentäter ... Ein atemloser Politthriller um wahre Verbrechen, der die politisch aufgeheizte Atmosphäre der Zwanzigerjahre eindrücklich einfängt.

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Martin von Arndt

 

Tage der Nemesis

 

Roman

 

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage März 2014)

 

© 2014 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Stefan Imhof

Korrektorat: Eva Elisabeth Wagner

Umschlaggestaltung: Philipp Starke, Hamburg

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-305-8

 

Preis, o Nemesis, Dir!

Allmächtig waltende Gottheit!

Die, allschauend, das Leben durchspäht

vielstämmiger Menschen.

Ewige, vielverehrt, die allein

sich freut der Gerechten.

 

(Aus den Hymnen des Orpheus)

 

 

Vorwort des Verfassers

Fast einhundert Jahre ist es her, dass auf dem Boden des ehemaligen Osmanischen Reiches Hunderttausende von Armeniern bei sogenannten »Umsiedlungsaktionen« innerhalb von wenigen Monaten getötet wurden. Die Verantwortlichen dieser Massaker, eine Gruppe um den ehemaligen Großwesir Talât Pascha, tauchten nach Ende des Ersten Weltkriegs 1918 in Deutschland unter; doch anders als dreißig Jahre später, als die Nürnberger Prozesse die Schuldigen des Völkermords in Nazideutschland zur Rechenschaft zogen, mussten sich Talât und Konsorten niemals persönlich vor Gericht verantworten. Obwohl sie von türkischen Richtern für diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit – wenn auch nur in Abwesenheit – zum Tode verurteilt wurden.

Es war eine armenische Terrororganisation, die unter dem Decknamen der Rachegöttin Nemesis beschloss, auf eigene Faust Gerechtigkeit walten zu lassen; oder vielmehr: blutige Rache an den Verantwortlichen dieses Völkermordes zu nehmen. Mein Buch erzählt die Geschichte dieser Organisation. Dabei handelt es sich um »Doku-Fiction«: Weite Teile folgen den historischen Fakten, einiges musste ich aus dramaturgischen Gründen umgestalten. So sind vor allem die Figuren der Ermittler fiktional, andere handelnde Personen und die Faktenlage entsprechen den geschichtlichen Tatsachen. Ich stütze mich dabei auf allgemein zugängliche Polizei- und Prozessakten sowie auf die Bücher international anerkannter Historiker aus den USA, aus der Türkei, aus Armenien, Großbritannien, Frankreich und Deutschland.

Es waren türkische Freunde, die mich mit dem Stoff um »Operation Nemesis« erst bekannt gemacht haben. Eine »Beleidigung des Türkentums« lag daher nie in meiner Absicht. Es ist heute wichtiger denn je, zu verstehen, dass es eine ­verbrecherische kleine Clique ist – die Führungsriege der ­sogenannten »Jungtürken« um das Jahr 1914 –, nicht das türkische Volk, das diesen Genozid zu verantworten hat. Denn es darf als gesichert gelten, dass zu Beginn der Deportationen zahlreiche untere und mittlere Beamte des Osmanischen Reiches tatsächlich davon ausgegangen sind, es handle sich »nur« um kriegsrelevante Umsiedlungen der Armenier aus grenznahen Regionen; dass einige Armenier zu ihren christlichen Glaubensbrüdern in Russland hielten, mit denen sich das Osmanische Reich im Krieg befand, ist in diesem Zusammenhang nicht von der Hand zu weisen.

Sicher ist auch, dass die einfachen Menschen im Osmanischen Reich die Deportationen und das, was dabei geschah, als unmenschlich ablehnten – egal ob Türken, Kurden oder Araber, alle Chronisten berichten einhellig von heimlichen Rettungs- und Solidaritätsaktionen von Bauern und Stadtbürgern, und das trotz drohender Todesstrafen.

Umso mehr schmerzt es, dass es in der Türkei noch immer Kreise zu geben scheint, die diese Massaker leugnen oder sich weigern, sie als verbrecherisch zu verurteilen. Dabei lehrt uns die historische Erfahrung, dass man nicht notwendig auf jeden Aspekt seiner Geschichte stolz sein muss (welches Volk kann das schon sein?!); zudem hatte das türkische Volk diese für den Genozid verantwortliche Riege nicht einmal gewählt, Talât und Konsorten putschten sich an die Regierung, waren also in ihren mörderischen Absichten nicht vom Volk legitimiert (ganz im Gegensatz zu den Verantwortlichen der Schoah).

Dennoch habe ich die Hoffnung, dass die Menschen in der Türkei ebenso wie die türkischstämmigen Mitbürger hierzulande meinen Roman in diesem Sinne richtig deuten werden. Und so widme ich dieses Buch sowohl dem türkischen als auch dem armenischen Volk – in der Zuversicht, dass Aussöhnung eines Tages möglich sein wird.

 

1. Berlin, März 1921

Es war viel zu kalt für diese Jahreszeit.

Grau und Schwarz waren die alles beherrschenden Farben: An einem grau-schwarzen Himmel trieben grau-schwarze Wolkenfetzen. Ab und an sah die Sonne hervor, um zu bibbern und sich rasch wieder zu verziehen. Obwohl es schon Mitte März war, hielt der Winter die Stellung. Es regnete und schneite, regnete und schneite, tags wie nachts. Die meisten Berliner hatten einen Schnupfen.

Sein kurzes blondes, hier und dort schon silbern schimmerndes Haupthaar, der schütter sprießende, krause Schnurrbart und das sich nach vorn verjüngende Gesicht verliehen ihm das Aussehen eines überdimensionierten Nagetiers. Dazu kam, dass er einen speckig glänzenden, grauen Anzug sowie einen Binder in derselben Farbe trug und seine Kiefer in unablässiger Kaubewegung seine Unterlippe bearbeiteten. Kriminalbezirkssekretär Gerhard Wagner, ein hagerer Ostpreuße Anfang dreißig, nur wenig größer als die Gassenjungen, die er soeben mit den Worten »Das ist ein Tatort, ihr Mistkruken« vom Bürgersteig scheuchte, hatte schlechte Laune. Er war in eine Pfütze getreten, seine Schuhe sogen sich mit dem Schmutzwasser voll. Er spuckte aus, fluchte, spuckte wieder aus.

Den Leichnam hatte man längst wegschaffen lassen, die Zeugen waren zur Hauptvernehmung auf dem Revier, die Spurensicherung hatte sich verzogen, und die Arbeit am Tatort war so gut wie beendet. Was also wollte Eckart noch hier? Sich die Patronenhülse ansehen? Die Blutlache am Boden? Wollte er wissen, ob der Mörder gegen die Sonne gesehen hatte, als er den Schuss abgab? Oder traute er Wagner einfach mal wieder nicht zu, dass er in der Lage war, den organisatorischen Mist allein zu regeln?

Der Nager herrschte einen Schupo an, besser darauf zu achten, dass die Schaulustigen nicht durch die Spuren trampelten. Dann war er wieder zurück in seiner Gedankenwelt und zerbiss seine Lippe.

Eckart. Manchmal schnupperte dieser verrückte Seelenklempner durch Tatortwohnungen wie ein Bluthund, der seine Witterung aufgenommen hatte. Und Rosenberg, sein Judenbengel, immer um ihn herum, sah ihn dann stets von schräg unten mit seinen großen Augen an, notierte sich jeden Unsinn in den Kladden, die er immer mit sich herumtrug. Sieben Jahre war er, Wagner, älter, außerdem schon viel länger in Berlin, und trotzdem hatten Rosenberg und er denselben Dienstgrad. Das konnte ja nicht mit rechten Dingen zugehen! Höchste Zeit, dass diese Zustände sich änderten! An allem hatten Leute wie dieser Eckart Schuld, kämen die Kaisertreuen wieder ans Ruder, würde es den beiden schlecht ergehen!

Wagner tat einen erregten Schritt zur Seite, als wollte er mit dem linken Bein die ganze Demokratenbrut von der Erdoberfläche wischen. Dabei trat er erneut in eine Pfütze. Sie war tiefer, Wasser und Straßenkot schwappten über das Futterleder ins Innere des Schuhs, beim Anheben des Fußes war ein schmatzender Laut zu hören. Die Kollegen lachten, Wagner ballte die Faust in ihre Richtung. Dann hörte er das vertraute Motorengeräusch.

Kriminaloberkommissar Dr. Andreas Eckart kam im Mordauto des Polizeipräsidiums, einer schwarzen Mercedes-Limousine, in die Hardenbergstraße vorgefahren. Sein Assistent Ephraim Rosenberg spielte wie so oft den Chauffeur.

Eckart war ein groß gewachsener und, obwohl schlank, in seinen Bewegungen ein wenig unbehände wirkender Enddreißiger, der sich regelrecht aus dem Wagen herausschälen musste. Er hatte nachtschwarzes Haar, ein grünes und ein braunes Auge, darunter einen Schmiss auf der linken Wange; eine eigentümlich fahle Gesichtsfarbe trug dazu bei, dass sich die Augenränder, die er auch dann hatte, wenn er einmal ausgeschlafen war, noch dunkler ausnahmen. Selbst wenn er frisch rasiert war, sah man einen blauen Bartschatten in seinem Gesicht.

Rosenberg, der immer mit ihm Schritt zu halten sich bemühte, war Mitte zwanzig. In seiner Kindheit in Potsdam hatte er den künstlerisch dilettierenden Freundinnen seiner Mutter Modell gestanden. Wahrscheinlich als Putte. Er hatte lockiges blondes Haar und ein weiches, fast mädchenhaft wirkendes Gesicht, das ihn um Jahre jünger erscheinen ließ. Nur die Hornbrille, die ihm ein intellektuelles Aussehen verlieh, und der aus England stammende, weiße Trenchcoat verschafften ihm eine gewisse Autorität im Kollegenkreis.

Als Eckart in seinem langen schwarzen Ledermantel und sein Kollege an den Tatort herantraten, schien es Wagner, als näherte sich eine große Krähe, neben der ein weißer Pudel dahinjagte.

Rosenberg nahm seine Brille ab und blinzelte in den Regen. Eckart nickte Wagner zur Begrüßung zu.

»Bringen Sie mich auf den neuesten Stand«, sagte der Kommissar und setzte seinen Hut auf.

»Toter Türke«, schnarrte Wagner. Er war unentwegt damit beschäftigt, seine Schuhe vom Straßenschmutz zu reinigen.

»Und wo ist er?«

»In der Wohnung der Witwe.«

»Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?«

Eckart funkelte seinen Untergebenen von oben herab an. Er war mehr als einen Kopf größer als Wagner.

»Wer hat das veranlasst?«

»Da hat irgendein hohes Tier angerufen.«

»Ein hohes Tier? Was denn für ein hohes Tier?«

»Vom Auswärtigen Amt.«

»Soso, vom Auswärtigen Amt. Fabelhaft, Wagner, jetzt fehlt uns die Leiche. – Rosenberg, Sie kümmern sich darum, dass der Tote so schnell wie möglich in die Rechtsmedizin gebracht wird.«

Eckart überlegte. Auswärtiges Amt. Das ließ auf nichts Gutes schließen. Immer wenn sich Wichtigtuer aus der Regierung einmischten, war ein »nasser Fisch« zu befürchten, ein Fall, der wohl nie gelöst werden würde. Er verscheuchte den Gedanken wieder.

»Raubmord?«, fragte er.

»Deutet nichts darauf hin, Herr Kommissar. Wir haben Papiere und Geld bei ihm gefunden.«

Wagner reichte seinem Vorgesetzten einen Ausweis.

»Ali Sai Bey. Geschäftsmann.«

Eckart öffnete den Pass mit dem grün-goldenen Wappen des Osmanischen Reichs und hielt ihn etwas über Augenhöhe ins Licht, um zu erkennen, ob die Stempel echt waren.

»Geht’s etwas genauer?«

»Obsthändler.«

»Obsthändler?«

Eckart fasste Wagner scharf ins Auge. Dann sagte er sehr langsam: »Na, unser Obsthändler muss ein ganz schönes Früchtchen gewesen sein, wenn sich das Auswärtige Amt so um seine Leiche sorgt.«

Der Ermittler sah sich um. Der Tote musste vor Nummer 17 gelegen haben, zwischen Fasanen- und Joachimsthalerstraße. Keine hundert Meter bis zum Bahnhof Zoo. Eine der belebtesten Gegenden Charlottenburgs – wer hier jemanden umbrachte, kam nicht weit. Er begann einen Halbkreis um den Tatort zu beschreiten. Es war, als wollte er den fehlenden Leichnam an den ihm zugehörigen Platz zurückstarren. Dann ging er schnellen Schritts die Straße hinauf Richtung Hochschule der Bildenden Künste, anschließend hinab, der Gedächtniskirche entgegen, begleitet von den missbilligenden Blicken Wagners. Nachdem er Orientierung gewonnen zu haben schien, kehrte er zu seinen jüngeren Kollegen zurück.

»Gut. Was wissen wir, Rosenberg?«

Der Angesprochene zog ein schon reichlich zerfleddertes Notizbuch aus seinem Jackett und begann zu lesen.

»Erste Zeugenaussagen, durch die Schupo vorgenommen: Ein orientalisch aussehender junger Mann begegnet einem orientalisch aussehenden älteren Mann. Sie gehen aneinander vorbei. Plötzlich dreht sich der Jüngere, er …«

»Halt, Rosenberg«, rief Eckart, »kommen Sie!«

Er zog seinen jungen Kollegen mit sich.

»Sie sind das Opfer, ich der Täter. Woher komme ich?«

Rosenberg orientierte sich neu in seinen Aufzeichnungen.

»Sie gehen eine Zeit lang auf der anderen Straßenseite Richtung Fasanenstraße. Dann wechseln Sie auf meinen Bürgersteig und gehen an mir vorbei.«

Eckart überquerte rasch die Straße, die Augen fest auf den Boden geheftet, sodass er zwar dem Grünzeug ausweichen konnte, das sich zwischen den Fahrbahnen befand, aber beinahe von einem Wagen überfahren wurde. Erst dessen lautes Hupen ließ ihn wieder den Kopf heben.

»Gehen Sie los!«, rief er Rosenberg vom anderen Bürgersteig zu. Beide Männer setzten sich in Bewegung. Auf halber Höhe querte Eckart die Straße, blickte dabei zu den offenen Fenstern hinauf, aus denen Neugierige herabstarrten, er sah zu Rosenberg, wieder zu den Fenstern. Schließlich fixierte er seinen Assistenten mit solcher Vehemenz, dass seine Augenlider zu zittern begannen. Kaum war er an ihm vorüber, rief der:

»Jetzt ziehen Sie eine Pistole. Sie schießen mir aus nächster Nähe in den Hinterkopf. Ich falle um, ein Zeuge sagt aus, meine Schädeldecke sei regelrecht aufgeklappt, ich …«

»Fallen Sie um, Rosenberg!«

»Ich? Aber … hier ist alles nass, Herr Kommissar …«

Rosenbergs Augen flehten, auch wenn er wusste, dass Einspruch zwecklos war.

»Sie tragen doch einen Regenmantel! Außerdem haben Sie eben einen Schuss in den Kopf erhalten.«

Rosenberg brachte sich zögerlich in kauernde Stellung, schlang den Mantel um seine Beine, dann setzte er sich und versuchte dabei so wenig Fläche wie möglich einzunehmen. Seine Stimme bekam einen weinerlichen Ton. Wagner lachte still in sich hinein: Es gab Momente, da war es herrlich, nicht der Liebling vom Chef zu sein.

»Weiter, was mache ich?«

»Sie werfen die Pistole hin und flüchten Richtung Fasanenstraße.«

Eckart setzte sich in Bewegung, blieb dabei aber in Rufweite.

»Auf dem Bürgersteig gegenüber hat sich inzwischen eine Menschentraube gebildet. Einige beginnen mit der Verfolgung. Gestellt werden Sie von einem, dem Sie direkt in die Arme laufen.«

Eckarts Flucht war jäh beendet. Er blickte die Straße hinab, in das Gesicht eines Kriegsinvaliden auf Krücken, der beunruhigt zurückglotzte und seinen Bauchladen, in dem er Schnürsenkel, Knöpfe und Streichhölzer feilhielt, vor dem Polizisten zu verbergen suchte. Eckart salutierte, dann drehte er sich auf der Stelle und kehrte gemessenen Schritts zum Tatort zurück.

»Die Menschen haben begonnen, auf Sie einzuschlagen, auf den Kopf, immer wieder. Sie beteuern: ›Das ist ein Ausländer, ich bin auch Ausländer, das schadet nichts‹. Allerdings macht das die Menge nur noch wilder. Schließlich zieht Sie der, der Sie gestellt hat, mit sich und bringt Sie auf die Polizeiwache am Zoo. Sie bluten schwer, sind nicht vernehmungsfähig, Sie werden in eine Zelle gebracht.«

»Gut, Rosenberg, das genügt, danke.«

Eckart reichte seinem Assistenten die Hand, brachte ihn mit einem kräftigen Armzug zum Stehen. Dann ging er einige Schritte und kniete sich neben die Blutlache. Es war der Augenblick, in dem seine Assistenten darauf bedacht waren, Schupos und Spurensicherung von ihm fernzuhalten. Eckart konnte in solchen Momenten außer sich geraten. Wahrscheinlich war er das auch: außer sich, außerhalb seines Körpers. Außerhalb von allem und jedem.

Eckart blickte auf die »17« an der Häuserwand, dann wieder zu Boden. Als er den Kopf senkte, ergoss sich ein Wasserschwall aus seiner Hutkrempe. Er atmete tief ein, schob sein Kinn resolut vor. Seit drei Jahren war dieser Weltkrieg nun vorbei, aber er hörte einfach nicht auf. Jeder in dieser gottverdammten Stadt hatte heutzutage eine Schusswaffe. Wie hatte dieser österreichische Spötter geschrieben, dieser Kraus? Der Krieg soll einen seelischen Aufschwung bringen für die, die ihm ständig ins Auge blicken. Ich beneide den Tod jedenfalls nicht darum, dass er sich jetzt von so vielen armen Teufeln ins Auge blicken lassen muss. Ich erst recht nicht! Auch dieser Obsthändler ist wahrscheinlich ein Kriegstoter, aber in die Statistiken wird er’s nicht mehr bringen.

In der Luft lag der Geruch von Benzin. Eckart stand langsam wieder auf. Um zu signalisieren, dass er nun angesprochen werden durfte, zog er sein Zigarettenetui hervor, entnahm ihm eine türkische Spezialmischung und wartete, dass Rosenberg oder Wagner ihm Feuer gaben – was angesichts des Regens ein schwieriges Unterfangen war.

»War der Täter vermummt?«

Der Kommissar inhalierte rasch und tief.

»Nein, darin waren sich alle Zeugen bei der Erstbefragung einig.«

»Wohin wollte er? Hier haben die Wände Augen und Ohren. Er muss sich im Klaren darüber gewesen sein, dass er diesen ganzen Menschen am helllichten Tag nicht entfliehen konnte. Schon gar nicht ohne seine Waffe.«

»Vielleicht eine Spontantat. Er war kopflos«, sagte Wagner ohne Nachdruck.

»Dafür hat er erstaunlich gut geschossen. Nein, nein, viel wahrscheinlicher ist doch, dass er gar nicht ernsthaft fliehen wollte. Dieser Mord hat etwas Symbolträchtiges, als wollte der Täter mit ihm ein Zeichen setzen. Er begegnet seinem Opfer auf offener Straße, geht an ihm vorbei und schießt ihm in den Schädel. Nicht ins Herz, das viel leichter zu treffen gewesen wäre. In den Schädel! Er ist nicht interessiert an den Habseligkeiten seines Opfers. Und statt sich den Weg freizuschießen, wirft er die Waffe weg und kommt nicht einmal dreißig Meter weit.«

Eckarts und Rosenbergs Augen begegneten sich.

»Für mich sieht das aus wie eine Hinrichtung, Herr Kommissar.«

»Ja«, sagte der und blies einen langen Atemzug Rauch aus, »aber eine Hinrichtung an einem türkischen Obsthändler … finden Sie das nicht merkwürdig, Rosenberg?«

»Ich habe gelesen, dass es bei den Orientalen häufig Ehrenmorde gibt. Die töten sogar ihre eigenen Kinder, wenn sie glauben, dass sie ihnen Schande gebracht haben.«

»Soso, gelesen haben Sie das, Rosenberg.«

»Vielleicht auch Mord aus Leidenschaft? Die Ehefrau des Türken war dabei, als ihr Mann getötet wurde.«

»Und das sagen Sie mir erst jetzt? Hat man auch auf sie geschossen?«

»Jedenfalls ist sie unverletzt.«

»Und wo ist sie?«

»In ihrer Wohnung, Hardenbergstraße Nummer 4, gleich hier vorn. Sollen wir zu ihr?«

»Gleich hier vorn, soso. Nein, Rosenberg, erst gehen wir zum Täter, immer erst zum Täter …«

Mit schnellen Schritten näherte sich der Kommissar dem Dienstwagen.

»Sind Sie endlich fertig mit Ihrer Schuhpflege, Wagner? Sie fahren mit in die ›Fabrik‹. Ich brauche Sie für die Vernehmung.«

Eckart warf die Zigarette aufs Pflaster. Es zischte, als sie auf den nassen Boden traf.

2.

In der Fabrik, dem Polizeipräsidium auf dem Alexanderplatz, herrschte das übliche Mittagsgedränge. Bürodiener hasteten mit Aktenstapeln, die ihren Kopf überragten, durch die Gänge, die langen Röcke der Stenotypistinnen bauschten sich beim Versuch, den Halbblinden auszuweichen. Es roch nach Bohnerwachs, nach Kaffee, Zigaretten und nassen Lumpen. In den schlecht geheizten Räumen saßen Kripobeamte in ihren Wintermänteln. Über allem lag das Geräusch ratternder Schreibmaschinen.

Eckart schüttelte zwei sich ihm aufdrängende Kollegen ab und strebte seinem Büro zu. Noch im Auto hatte er Rosenberg angewiesen, die Spurensicherung in die Wohnung des Täters zu schicken, Papiere zu konfiszieren und alles zu versiegeln.

Vor der offenen Tür des Vernehmungsraumes blieb er abrupt stehen und spähte vorsichtig hinein, ohne selbst gesehen zu werden.

»Ist er das?«, fragte er Wagner, der einen Zusammenstoß mit seinem Vorgesetzten gerade noch verhindern konnte.

Auf dem Delinquentenstuhl saß ein gut aussehender junger Mann in Hemdsärmeln. Mittelgroß, mager. Seine linke Wange zeigte einen tiefen Kratzer, er hatte verkrustetes Blut auf der Stirn und auf dem Kragen. Das Gesicht eines französischen Aristokraten, dachte Eckart: ausdrucksstarke Lippen, fein geschwungene Nase, das Haar à la mode zurückgekämmt. Nur dass er auffallend bleich war und den Kopf einzog.

»Erkennungsdienstlich ist er behandelt. Ein …« Wagner stutzte und deutete auf einen maschinengeschriebenen Zettel: »Ich kann das nicht aussprechen. Hat einen persischen Pass.«

»Soghomon Tehlerian. Soghomon klingt wie ›Salomon‹. Gut, Sie fangen mit der Befragung an, ich stoße gleich zu Ihnen. Rosenberg: Sie knüpfen sich die Zeugen noch einmal vor. Vielleicht hat ja doch einer etwas gesehen, das uns weiterbringt.«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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