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In den letzten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entstand innerhalb der Psychoanalyse und der christlichen Theologie eine Bewegung, die sucht, biblischen Texten mit Hilfe tiefenpsychologischer Deutung zu einer neuen realitätsbezogenen Wichtigkeit zu verhelfen. Höhepunkt dieser „Psychologisierung“ des Christentums sind die Bücher des umstrittenen Theologen Eugen Drewermann. Martin von Arndt klärt auf über die Geschichte der psychologischen Bibelexegese und gibt Antwort auf die Fragen: Welche Inhalte transportieren Texte, die die Bibel grundlegend anders deuten wollen? Und wie verändert sich das Christentum selbst in dieser Neudeutung? Neben den Vätern der tiefenpsychologischen Bibelexegese wie Ludwig Levy, Theodor Reik, Emil Lorenz, Sigmund Freud und Carl Gustav Jung umfasst die Analyse Autoren der zweiten Rezeptions- sowie der Hochphase (u.a. Wolfgang Kretschmer, Fritz Künkel, Erich Fromm, Roland Kachler, Hanna Wolff und Maria Kassel). Jüngste Arbeiten von Jochen Ellerbrock, Dominique Stein, Stefan Schmitz und Anselm Grün schließen die Textinterpretationen ab.
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Dritte Auflage 2024
Vollständige eBook-Ausgabe der 1999 erschienenen Originalausgabe
eBook veröffentlicht bei edition enso, Siemensstraße 1, D-71706 Markgroeningen
Dritte Auflage ©2024 + Alle Rechte vorbehalten
edition enso
eISBN 9783759253552
Umschlagabbildung unter Verwendung eines Fotos von Dr. Annette Kosakowski
Meine Verbundenheit soll an dieser Stelle all jenen zuteil werden, die aktiv oder passiv (welches Wort ich hier in der Tat zurückgeführt wissen will auf „passio“) in entscheidendem Maße dazu beigetragen haben, daß diese Arbeit wirklich und wahrhaftig zustande kommen konnte: zuvörderst meinem religionswissenschaftlichen Lehrer und Doktorvater in Würzburg, Herrn Professor Dr. Norbert Klaes, sowie Herrn Privatdozenten Dr. Franz-Peter Burkard, der das Zweitgutachten besorgte; sodann aber meiner Familie, allen voran meiner Mutter Katharina, die mir Studium wie akademischen Abschluß überhaupt erst ermöglichte; Frau Daniela Hägele, die mir eifrig und kompetent als Mentorin bei wissenschaftlicher Recherche und methodischer Kritik zur Seite stand; und schließlich Herrn Rüdiger Frank, der für den unerläßlichen musikalischen Binnenraum für das mechanische Geschäft des Schreibens sorgte.
Danke.
Vorliegende Arbeit strebt unter Zuhilfenahme religionssoziologischer und religionshermeneutischer Methoden eine Untersuchung der Hauptwerke des Schrifttums tiefenpsychologischer Bibelexegese – im folgenden auch kurz: Tiefenexegese – von Beginn dieses Jahrhunderts bis zum heutigen Tage an. Dabei soll aufgezeigt werden, daß mit der Existenz implizit religiöser Elemente innerhalb der Tiefenpsychologie durch die Deutung einer expliziten, tradierten christlichen Religion die Inhaltlichkeit dieser stark im Sinne vor allem ihrer gnostischen Subtraditionen verändert wird.
Die tiefenexegetischen Werke sollen gleichsam als Versuche zu einer Neukonstruktion des Christentums, als Versuche auch einer neuen Sichtweise auf eine scheinbar verkrustete und in ihrer Plausibilitätsstruktur zutiefst in Frage gestellten Religion verstanden werden, was teilweise den eigens gesetzten Zielvorstellungen der Interpreten entspricht, teilweise aber auch ungewollte Tendenzen spiegelt und einen tiefen Blick werfen läßt in die Voraussetzungshaftigkeit der entsprechenden exegetischen Arbeit.
Kapitel 1 bietet zunächst einen Überblick über das Geschehen, das zu einer tiefgreifenden Wandlung innerhalb der christlichen Traditionsvermittlung geführt hat. Unter dem Stichwort „Wertwandel“ soll die Basis gesellschaftlicher Veränderungen der letzten Jahrzehnte skizziert werden, unter dem Motto „Wandel in der religiösen Wertvermittlung“ werden die historischen und psychologischen Prämissen geklärt, die die anthropologische Forschungsrichtung bewegt haben, auf dem Gebiet religiöser Traditionsvermittlung überhaupt tätig zu werden. Anschließend erfährt das Phänomen der Tiefenexegese eine inhaltliche Definition.
In Kapitel 2 soll eine explizite Aufgabeneröffnung und Darstellung der hier angewandten hermeneutischen Interpretationsmethode für die aus den Texten zutage geförderten Ergebnisse und ihre historische und inhaltliche Einordnung erfolgen.
Die Kapitel 3 bis 6 präsentieren als Hauptteile der Arbeit die exemplarischen Thesenverläufe der wichtigsten tiefenexegetischen Schriften in diachroner Differenzierung, daneben wollen sie durch kurze bio- und bibliographische Notizen mit Autor und Werk vertraut machen.
Kapitel 7 sucht als erster Ergebnisteil Textbehandlung und Textauswahl der tiefenexegetischen Methode darzustellen und hierdurch die Tendenzen dieser Forschungsrichtung zu erhellen.
Kapitel 8 widmet sich dagegen ganz der textinhaltlichen Seite des Phänomens, zeigt zunächst die in der Tiefenpsychologie immanent verbreiteten „Mythen der Psychologie“ auf, ermittelt anschließend die Elemente „fremdreligiösen“ Gedankenguts, die in den exegetischen Texten zutage getreten sind, um zuletzt die implizite Religion im Vergrößerungsglas zu sichten, die der mutmaßlich neutralen exploratorisch-psychologischen Arbeit zugrunde liegt.
In Kapitel 9 wird schließlich in einem kurzen Ausblick eine Standortbestimmung geboten, an welchem Punkte „religiöser Mythenbildung“ sich die christliche Religiosität durch die tiefenexegetischen Ansätze derzeit befindet; im weiteren Verlauf soll dann anhand eines Exkurses unter Verweis auf die sozialpsychologische Rollentheorie Hjalmar Sundéns geklärt werden, ob nicht vornehmlich psychologische Mythen und Rollen das religiöse Rollenverhalten spätestens seit den Siebziger Jahren vorstrukturieren und dadurch die genuin christlich-religiösen Rollen bereits allenthalben verdrängt haben.
Um die thematischen Voraussetzungen der Dissertation genauer fassen zu können, ist es vorab vonnöten, die soziologische Basis von Wertwandel und Wertwandelforschung zu skizzieren.
Der soziokulturelle Begriff des Werts ist seit Mitte dieses Jahrhunderts sichtbar Gegenstand soziologischer Arbeit. Kluckhohn entwickelt im Jahre 1951 bereits eine nachgerade „klassisch“ zu nennende Definition. Danach ist Wert: „Eine Auffassung vom Wünschenswerten, die explizit oder implizit sowie für ein Individuum oder für eine Gruppe kennzeichnend ist und welche die Auswahl der zugänglichen Weisen, Mittel oder Ziele des Handelns beeinflußt.“[1]
Werte sind gleichsam realisationsbedürftig und realisationsdeterminierend, sie sind Kriterien zur Auswahl konkreter Handlungsziele, damit Grundlagen individuellen Verhaltens und Handelns als „bewußte oder unbewußte Vorstellungen des Gewünschten, die sich als Präferenz bei der Wahl zwischen Handlungsalternativen niederschlagen.“[2]
Der Wert steht als Kontinuum von Externalisierung, Internalisierung und Aktualisierung zwischen Gesellschaft und Individuum, er erhält seine Ausformung und Prägung in der Gemeinschaft, muß aber individuell realisiert werden: „Ein sozial sanktionierter, kulturell typisierter und psychisch internalisierter Standard selektiver Orientierung für Richtung, Intensität, Ziel und Mittel des Verhaltens von Angehörigen des betreffenden soziokulturellen Bereichs. Sein objektives Kriterium ist Bedeutung in der individuellen Persönlichkeitsstruktur.“[3]
Gesellschaftliche Wertvorstellungen besitzen eine hierarchische Struktur, um entsprechend Handlungsabwägungen zu ermöglichen. Innerhalb der Werthierarchien sind wechselseitige Abhängigkeiten und Verstärkungen von Werten zu beobachten. Um sie in ihrer kulturprägenden Bedeutung fassen zu können, schlägt der deutsche Soziologe Walter Jaide das Konzept einer Abgrenzung zwischen Werten und komplementären Gegenwerten vor[4].
Nach einer ersten Phase empirischer Sozialforschung[5] in den Fünfziger Jahren ist der Begriff „Wert-„ oder „Wertewandel“ als Phänomen gesellschaftlicher Neustrukturierungsprozesse spätestens seit den Siebziger Jahren Thema soziologischer Untersuchungen.
Wertwandel wird hier verstanden als „Bewußtseinswandel einer zunehmenden Problematisierung und Thematisierung der Relationen zwischen Ich und Gesellschaft, zwischen Subjekt und System“, wobei funktionalistische oder instrumentalistische „Normalitätserwartungen“ abgewertet werden zugunsten „Selbstverwirklichungsansprüchen“ in Arbeitswelt und Privatleben[6]. Wertwandel schließt nicht nur die Durchsetzung anderer Werte, sondern vielmehr auch eine andere Weise der „Be-Wertung“ (Paradigmenwechsel) ein.
Ein entscheidender Name für die frühe Wertwandelforschung ist der Ronald Ingleharts. Er vertritt in diesem Punkt eine Knappheits- und Sozialisationshypothese: In materieller Knappheit aufgewachsene Personen neigen eher dazu, materialistische Werte zu vertreten, wohingegen in materiellem Überfluß Sozialisierte für postmaterialistische Werte einstehen. Inglehart folgt hierin Abraham Maslows „Bedürfnishierarchie“: Ist ein vergleichsweise niederes, ein physiologisches Bedürfnis befriedigt, entstehen „höhere“, postmaterialistische Bedürfnisse. Aus einer solchen „Sättigungsthese“ psychologischer Provenienz wird bei Inglehart vereinfachend eine „Knappheitshypothese“ soziologischer Natur. Die Kritik konnte nicht ausbleiben und greift vornehmlich in der nicht zu rechtfertigenden Gleichsetzung der Begriffe von „Wert“ und „Bedürfnis“. Daneben wird bemängelt, daß das Meßinstrumentarium nicht korrekt eingesetzt, Ranking als die von Inglehart angewandte Methode dem Probanden zu wenig Bewertungsspielraum läßt und sein Modell des Wertwandels vielmehr als Frage des Lebenszyklus erscheint.
Die entsprechenden Einwände leiten nunmehr eine neue Forschungsphase innerhalb der Wertwandelfrage ein. Der säkulare Wandel von „materialistischen“ zu „postmaterialistischen“ Werten als „Prosperitätsthese“ – Wertwandel erscheint einzig rückführbar auf ökonomische Faktoren, initiiert von der jeweils aktuellen Jugendgeneration –, als Konzept besonders erfolgreich in der Bundesrepublik der Siebziger Jahre, macht einer Gegenüberstellung von industriellen und postindustriellen Werten Platz. Hier werden zunehmend Pflichtwerte mit Werten von Selbstverwirklichung[7], Lebensgestaltung und -qualität konfrontiert[8]. Innerhalb des Phänomens Wertwandel ist es vonnöten, die einzelne Werte zu einem Wertsystem zu synthetisieren. Werte treten stets in Kombination mit anderen Werten auf, also findet auch ein Wertwandel nur selten als rein „suspensiver Wertwandel“ statt, als Wertzerfall und Wertneuentstehung also. Vielmehr handelt es sich im Gesamtsystem um eine Wertintensivierung, Erweiterung oder Neunormierung. Wichtig ist demzufolge nicht der Gesichtspunkt eines „additiven Wertwandels“, der an einer Totalzahl der Werte in der Gesellschaft rührt, sondern die Änderung von deren Inhaltlichkeit durch Bezug auf andere im System vertretene Werte[9].
Wertwandel, ursprünglich akzentuiert als „Traditionsverlust“ in konservativer, als „Maßstab für den Fortschritt“ in eher liberaler Provenienz, wird aber thematisch noch lange Jahre mit dem sprichwörtlich großen Fragezeichen versehen. Daß hierbei weitgehend Spiegelfechterei betrieben wird, sucht Walter Jaide zu beweisen: „Die (vermeintlich) ‚neuen‘ Werte sind großenteils alte, die aufgrund bestimmter Umstände eine Renaissance erfahren haben. Sie entstammen dem großen Reservoir bereits geschichtlich vorgegebener Werte, unter deren Einfluß die jeweils nachwachsenden Generationen sozialisiert und enkulturiert werden [...].“[10] Die „Entmythologisierung“ des Problems seitens neuer soziologischer Bewertungen von Mitte der Achtziger Jahre an läßt die Dynamik wertwandlerischer Prozesse ins Zentrum des Interesses der Forschung treten. Es wird erstmals ein zyklischer Verlauf konstatiert, Wertwandel soll innerhalb einer kulturellen Dynamik statthaben[11]. Anstelle einer unilinearen Entwicklung wird eine historische Regeneration von Werten (Jaide), die als „Wertwandelschub“ ihren Ausdruck findet, angenommen.
Die Theorie von „Wertwandelschüben“ markiert das dritte Stadium der Wertwandeltheorie, an deren Fortschritten in Deutschland Helmut Klages allen voran entscheidenden Anteil besitzt. Er deutet den Zeitraum seit Ende der Sechziger bis Ende der Siebziger Jahre in Mitteleuropa als Phase eines „Wertwandelschubs“. Der Autor geht von zwei grundlegenden Wertgruppen aus, die reziproke Wertminderung respektive Rangerhöhung erfahren: die Pflicht und Selbstkontrolle betonenden („Pflicht- und Akzeptanzwerte“) werden zugunsten der nach Selbstaktualisierung strebenden Werte („Selbstentfaltungswerte“) gemindert. Letztere gewinnen seit den Sechziger Jahren besonders in der Arbeitswelt an Bedeutung und können von hier aus eine gesellschaftliche Neuorientierung bewirken. Dabei spielen sicherlich die veränderten sozialen und ökonomischen Bedingungen – Aufgabe des Prinzips der Vollbeschäftigung, die Ölkrisen der frühen Siebziger Jahre – eine entscheidende Rolle.
Klages bestimmt für diese Entwicklung eine „Phasenfolge“ in drei Abschnitten: 1. Bis Anfang oder Mitte der Sechziger Jahre kann noch ein Anwachsen der „Pflicht- und Akzeptanzwerte“ beobachtet werden; 2. bis Mitte der Siebziger Jahre findet ein deutlicher Abbau dieser Werte „bei gleichzeitiger Expansion von Selbstentfaltungswerten“[12] statt; 3. erreicht Deutschland eine Phase der Stagnation in der Wertwandlungsbewegung bei vergleichsweise instabiler Situation der Wertbezüge.[13]
Die Erklärungen für einen solchen Schub werden in der Bildungsexpansion der Nachkriegsjahre und dem damit einhergehenden technischen Fortschritt[14], auch in der „Ausdifferenzierung und zunehmende[n] Verselbständigung gesellschaftlicher Subsysteme“[15] gesucht, wobei zu beachten ist, daß in den jeweiligen Subsystemen spezifische Werthierarchien entstehen und vergleichsweise unabhängig nebeneinander existieren können, daß sohin deren Wandlungsgeschwindigkeiten auch unterschiedlich schnell sein können.
Für wertwandlerische Prozesse innerhalb gesellschaftlicher Subsysteme sind besonders die sogenannten „Vorhutgruppen“ von einem erhöhten Interesse für die Forschung: „Zu den Trägern heutiger Umwertungstendenzen zählen insbesondere jüngere, gut ausgebildete Menschen mit anspruchsvollem Informationsverhalten, hochentwickeltem Problem- und Krisenbewußtsein und mit starker Bereitschaft zum gesellschaftlich-politischen Engagement.“[16] In dem für diese Arbeit vorliegenden Kontext sind es die Psychologen und Psychotherapeuten, die eine Vorhutgruppe bilden für eine in Veränderung begriffene christliche Traditionsvermittlung in der Gesellschaft und eine innerhalb bestehender christlicher Religiosität umgewertete Inhaltlichkeit. –
Zurückkehrend zu unserem Ausgangspunkt ist nun aber zu hinterfragen, welche Werte in den für diese Schrift wichtigen Kategorien Abwertungen oder Aufwertungen erfahren haben. Nach Klages[17] wichen im religiösen Bereich jenseitsorientierte Religionen denen mit stärkerer Diesseitsorientierung, eine anthropomorphe Gottesvorstellung der innerweltlichen Religiosität ohne Gott, eine allgemeine Frömmigkeit aber der Suche nach neuen Sinnhorizonten als spirituelle Selbsterfahrung[18]. Im psychosozialen Bereich verliert eine kollektive gegen personale Identität, Selbsterkenntnis, Bewußtseinserweiterung und innere Harmonie; das naturwissenschaftliche Weltbild büßt Bedeutung ein gegenüber dem Erleben des Menschen als psychosomatische Einheit, sektorales wird nachhaltig ganzheitlichem Denken geopfert.
Allgemein fällt eine „Akkulturation“ östlicher Werte im Bereich der Religionen auf, die spezifische Wandlungstendenzen vorbereitet. Es ist von Interesse, aber nicht restlos zu klären, ob es nicht vor allen Dingen die psychologischen Forschungen der frühen Sechziger und Siebziger Jahre waren, die die „neuen religiösen Werte“ letztlich „gesellschaftsfähig“ gemacht haben. Der Kirchensoziologe Neuhold sieht darin jedenfalls eine Erklärung für „das veränderte Erscheinungsbild von Religion“[19], das sich immer stärker dem Konzept der Selbstaktualisierung annähert, welches durch die Kirchen nicht in zureichendem Maße Unterstützung erfährt, wodurch diese als „unattraktiv empfunden [werden], weil man in ihnen keine ausreichende Sensitivität für das nunmehr kommandierende Bedürfnis nach Selbstfindung und -entfaltung finden konnte.“[20]
Nach dem oben dargestellten Wertwandelschub bis Mitte der Siebziger Jahre erlebt Deutschland eine spezifische Zementierung der reziproken Wertgruppen, die sich vor allem subkulturell oder auch nach Kohortenzugehörigkeit manifestiert haben.[21] Nach der sogenannten „Wende“ von 1982, der Ablösung der sozial-liberalen durch eine konservativ-liberale Regierungskoalition, ist allerdings ein neuerliches Abrücken von den Ergebnissen dieser Werteprogression zu bemerken, und bedingt dadurch ein viel allgemeinerer sozialer und kultureller Umbruch. Die Diskussion um die „Lebensqualität“, die auf „Selbstentfaltungstendenzen“ im Sinne von Klages zielte, weicht einer nachhaltig auf allen Lebensgebieten vertretenen „Leistungsorientierung“, einer Wertmischung ehemaliger „Pflicht- oder Akzeptanzwerte“ mit durch das neoliberale Leistungsprinzip gestützten „Selbstentfaltungswerten“, die allerdings im Vergleich zu ihren Ursprüngen in den Sechziger Jahren weitgehend pervertiert erscheinen[22].
Möglicherweise ist hier ein neuerlicher Ansatz zu einem Wertwandelschub zu beobachten, als deren politischer Aspekt auch die allgemeine konservative Wende („Roll-Back“) erscheint, die in den meisten Erstweltländern seit Mitte (USA) oder Ende der Siebziger Jahre (Großbritannien), spätestens aber seit Anfang der Achtziger Jahre (Deutschland, Frankreich, Benelux) stattfindet. Interessant im Rahmen unseres Forschungsgebietes ist der Ausdruck dieser Wende weniger im sozialen und politischen, sondern vor allem im kulturellen und wissenschaftlichen Sektor. Dort erscheint sie gleichsam als „positivistische Wende“, als Heraufdämmern eines „Neobehaviorismus“ innerhalb der Psychologie oder „Somatismus“ („Biologismus“) in der Medizin.
In letzterer sind seit Beginn der Neunziger Jahre – im anglosächsischen Kulturraum auch schon früher – ein Abrücken von der Diskussion um die Antipsychiatrie-Bewegung[23] oder die Psychosomatik als entscheidende Wendemarken zu gewahren. Eine aufs neue entbrannte Suche nach rein genetischer Ätiologieforschung als dem Stein der Wiesen in nahezu allen medizinischen und „psychohygienischen“ Belangen – von der Asthmatherapie bis hin zur Frage nach der Genese von Homosexualität – feiert hier fröhliche Urständ[24].
In der Psychologie ist die analoge Ausrichtung ähnlich positivistisch gefaßt, der „kritischen Psychologie“ weht „die steife Brise des wissenschaftlichen Zeitgeistes entgegen. Der versteht unter Theorie nur mehr die Aneinanderreihung von beliebigen Versatzstücken ohne den Anspruch von Wahrheit im Sinne eines engen Bezugs zu menschlichem Leben und zu menschlicher Praxis. Er stellt sich damit – und diese Einschätzung würden seine Vertreter sicherlich begrüßen – in die Tradition Descartescher und Comtescher Reduktion von Wissenschaft zur Produzentin von Handlungswissen, das auf Nützlichkeit angelegt ist, die sich am Interesse mächtiger gesellschaftlicher Gruppen orientiert.“[25]
Überall innerhalb der forschenden Psychologie werden derzeit lediglich sogenannte „Domain-Programme“ lanciert, werden konsistente, gut einer Realitätsprüfung standhaltende Theorien für möglichst abgegrenzte, kleine Problembereiche konzipiert. Von Mitte der Siebziger Jahre an wurde die Psychoanalyse sukzessive aus den Prüfungsordnungen der Psychologischen Institute verbannt und ersetzt durch das unspezifische Fachgebiet „Klinische Psychologie“, in dem gemeinhin explorative Konzepte nicht länger zur Sprache kommen. Damit flackerte letzthin der alte „Glaubenskampf“ zwischen der Tiefenpsychologie und einer „akademischen Psychologie“ wieder auf, die sich heute, nach anfänglichen schweren Berührungsängsten, eigentlich in einer Allianz mit der Verhaltenstherapie (VT) und deren „kognitivem Geschwister“ befindet.
Die Verhaltenstherapie entsteht als vom Behaviorismus abhängige Bewegung, eine von den Lerntheoretikern Pawlow, Thorndike oder Skinner konzipierte Forschungsrichtung. Die Aspekte von Habituierung, Sensitivierung und Konditionierung stehen hier im Mittelpunkt einer Theorie externer Kontrolle. Dafür wurde die abstrakte SD-R(O)-CK-Formel entwickelt: Stimulus (S) und Konsequenz (C) sind verhaltenssteuernd (R); Reiz-Reaktion (Diskrimination: D) und Reaktionskonsequenz (Kontingenz: K) sind organische (O) Verknüpfungsmechanismen – ein lineares, operationalisierbares und sicherlich deterministisches Modell, das die klassische Verhaltenstherapie bestimmte und innerhalb der „akademischen Psychologie“, seiner statistischen Erforschbarkeit und einfachen Nachprüfbarkeit wegen, zu höchsten Ehren gelangte.
Die Verhaltenstherapie sieht sich in der Folge als Tendenz zur „Entmythologisierung der Neurose“[26], öffnet sich seit Mitte der Sechziger Jahre aufgrund des allgemeinen „Ganzheits- oder Humanisierungsdrucks“ in den Humanwissenschaften auch neuen Verfahren, muß indessen seit Anfang dieses Jahrzehnts einer Forcierung neobehavioristischen Gedankenguts in den eigenen Reihen ins Auge sehen, dessen extremste Spielart sicherlich „NLP“ darstellt, die „Neurolinguistische Programmierung“, entwickelt aus den Ansätzen kognitiver Verhaltenstherapeuten (Bandler, Grinder). Hier gilt es als ausgemacht, daß die kognitive Verarbeitung von Informationen in Repräsentationssystemen (Verbalisierungen, Körperhaltung) ablesbar sei. Durch neurolinguistische Umprogrammierung der „fehlerhaften“ (neurotischen) Sektoren könne eine effektive und effizientere Neustrukturierung des menschlichen Bewußtseins erreicht werden.
Wie hängen nun solch neue Wege in den Humanwissenschaften mit dem Phänomen des „Roll-Back“ zusammen? Manifestiert sich hinter all diesen Erscheinungen seit Ausgang der Siebziger Jahre eine konstatierbare, allgemein als valide angenommene „neue“ Geisteshaltung?
Ganz offenbar läßt sich ein Welt- und Menschenbild dieses neuerlichen Wertwandelschubs konstruieren, eines, das sich wertkonservativ gebärdet, indes einen materialistisch-positivistischen und deterministischen Hang[27] besitzt, das mit seiner Leistungsbetontheit und seinen sozialdarwinistischen Tendenzen – ebenso wie der Markt sich selbst reguliert (Neoliberalismus) dürfe in der Gemeinschaft letztlich auch nur das Individuum seinen Weg machen, das sich am besten an die bestehenden Bedingungen anzupassen und einzugliedern weiß[28] – sich scheinbar mühelos harmonisieren läßt mit einem streng neobehavioristischen Reiz-Reaktions-Denken oder einem neuen Positivismus und dessen Machbarkeitswahn, beispielsweise in der apparaten Medizin. Auch die gesellschaftsstabilisierenden Tendenzen der Verhaltenstherapie liegen ganz auf einem solchen geistigen Breitengrad, steht hier doch die Resozialisation, die Funktionalität im sozial gesteckten Rahmen im Zentrum therapeutischen Interesses, ohne bohrende Fragen nach den krankmachenden sozialen oder politischen Strukturen[29]. – Solche Beiträge, und damit auch die Fragen nach „Sinnfindung“ und die Problematisierung einer Lebensqualitätsdiskussion, leisten traditionell eher die explorativen Therapien und Theorien, die sich gemeinhin als nicht-opportun verstehen und eine Geschichte gesellschaftskritischer Ansätze und der Politisierung von Otto Groß über Alfred Adler und Erich Fromm bis hin zu Alexander Mitscherlich[30] aufzuweisen vermögen (auch wenn einem Menschen wie Sigmund Freud, das sei nebenbei erwähnt, nun nicht gerade grundsätzlich eine progressive soziale Haltung oder den Jungschen Ansätzen überhaupt irgend sinnvolle politische Relevanz nachgesagt werden könnte[31]). –
Gründe für die allenthalben stattfindende Neuorientierung an „Neobehaviorismus“ oder „Somatismus“[32] sind nun nicht nur innerhalb des ökonomisch überforderten Gesundheitswesen zu suchen, das natürlich ein Interesse an steter Kostendämpfung haben muß, nach welchem Kalkül die verhaltenstherapeutische Intervention der exploratorischen Analyse – weil langwieriger und kostspieliger – vorzuziehen ist. Daneben besitzt erstere auch eine viel klarer adaptierbare, eine auf der Grundlage statistischer Testverfahren basierende und funktionell gehandhabte Vorstellung von Geheiltsein[33], die sich weniger an einem subjektiven Krankheitsempfinden als an der Verbesserung von Symptomatiken orientiert.
Mag sein, es ist auch Kostenkalkül, der in einer solchen Bewegung eine Rolle spielt. Teilweise drückt sich hierin aber eine tiefergehende Wirkung der „Umprogrammierung“ durch den stark konservativen Geist der „Wende“ aus, dem alle Exploration schnell zum Greuel wird[34], und der hinter aller dies-bezüglichen Kritik sozialzersetzende Strukturen wittert. Dabei möchte ich noch einmal entschieden betonen, daß mit „Wende“ nicht die politische Neuformierung in der Bundesrepublik des Jahres 1982 allein gemeint ist, daß diese vielmehr nur als ein Aspekt innerhalb eines eventuell als wertwandlerisch zu empfindenden Gesamtzusammenhangs auftritt, als dessen wissenschaftstheoretischen Aspekte eben die oben dargestellten „Ismen“ sich ihren Weg bahnen[35].
Mit solchem „Zeitgeist“ verbunden erscheint ein erhöhtes Sicherungsbedürfnis in einer als zunehmend unsicher erlebten Welt[36], die nicht zuletzt seit dem schleichenden Zusammenbruch der Staaten des Warschauer Pakts und seiner ideologisch Verbündeten noch weniger klare Positionierung („blockloses Erleben“) und eindeutige Handlungsvorgaben aufweist. Quantisierbarkeit und Erforschbarkeit, kurz: Machbarkeit, stellen dabei ganz zweifelsfrei angsthemmende Faktoren dar. Der unsichere Mensch erlebt die Welt immer als Bedrohung und sucht sich ihrer zu „versichern“[37]. Ansätze dagegen, wie sie noch vielfach in den Siebziger und frühen Achtziger Jahren vertreten worden sind und die geprägt waren von dynamischen Paradigmen, die sich einer durchgehend strukturierten Orientierung entziehen, fordern als ihre Grundvoraussetzung sicherlich stärker die individuelle Prägung nach dem Erleben menschlichen „Urvertrauens“ im Sinne Eriksons.
Dieser erste Exkurs soll hier mit der Vorläufigkeit seiner Ergebnisse enden. Er diente weitgehend einer Ergänzung und Positionierung des weiteren Verlaufs von Wertwandelschüben im Deutschland der Achtziger Jahre, daneben der Erläuterung der allgemein damit verbundenen kulturellen Tendenzen, speziell auch in dem für diese Arbeit relevanten psychologischen Fachbereich.
Mit dem Problem des Wandels in der religiösen Wertvermittlung kehren wir zum eigentlichen Thema vorliegender Schrift zurück. Seit Mitte der Sechziger Jahre tritt im Zuge generellen Wertwandels auch innerhalb der Religion ein „Gestaltwandel“[38] in Erscheinung: christlich-religiöse Werte verlieren ihren komplexen, also umfassenden, den ganzen Menschen betreffenden Charakter für die Lebensführung des einzelnen, die Plausibilitätsstruktur[39] christlicher Sinngehalte droht zu zerfallen[40]. Solch „religiöser Wertwandel“ steht dabei selbstredend in Wechselwirkung mit sozial-religiösen Erziehungszielen und deren Präsentation innerhalb der Wertvermittlung[41], und sohin ist es nicht verwunderlich, daß auch ein Wandel in der religiösen Wertvermittlung zu beobachten ist, welcher „Trend“ eine Tendenz besitzt, die wegweist vom „seelischen Spezialisten“ (Seelsorger), hin zum „Spezialisten der Seele“[42].
Teil dieses Prozesses ist es nunmehr, daß der Vorreiter und Hauptexponent eines übergreifenden Wertes der Selbstaktualisierung, die Psychologie, die Wertvermittlung für den religiösen Sektor übernimmt. Mit dem Rückgang althergebrachter christlicher Traditionsvermittlung durch die Kirchen geht eine implizit religiöse (oder quasi-religiöse) durch die Tiefenpsychologie einher: „Therapie wird Religion“.[43]
Ursprünglich obliegt die Vermittlung christlichen Gedankengutes weitgehend der moraltheologischen oder auch der Pastoralliteratur[44]. Die christliche Ethik beispielsweise – Teil der göttlichen Offenbarungswirklichkeit – wirkt unter institutionalisierter Vermittlung bis in die Parteien- und politische Landschaft Deutschlands hinein[45]. Während die Institutionalisierung der Kirche sich seit dem letzten Krieg sogar noch verstärkte, ihr gesellschaftlicher Einfluß wuchs[46], ist ihr „geistiges“ Gewicht im Laufe der letzten Jahrzehnte im Abnehmen begriffen. Wertwandel betrifft folglich in dem hier gesteckten Rahmen weniger die Institution Kirche, als vielmehr ihre Kapazität als Wert- oder Traditionsvermittlerin.
Für den Kirchensoziologen Neuhold sind die angesprochenen Erscheinungen freilich erste Symptome einer „religiösen Desozialisation“: „Für die religiöse Entwicklung bedeutet die religiöse Desozialisation, a.) daß religiöse Fragen nicht mehr als religiöse begriffen werden, b.) daß Motive ursprünglich religiöser Provenienz freigesetzt werden, c.) daß das Moment der Erfahrung mit religiöser Wirklichkeit zurückgeht, d.) daß es zur Verwilderung im religiösen Bereich kommt. [...]“ All dies führe zu einer „Tradierungskrise des Christentums“[47]. Nun ist „Tradierungskrise“ ein wohl eher wertender, ein theologischer Befund, der auch der neuen Tendenz innerhalb des Vermittlungsgeschehens selbst nicht gerecht zu werden vermag. Allerdings, und darin gebe ich Neuhold uneingeschränkt Recht, stellt das Problem religiöser Wertvermittlung immer auch eine Frage nach der Plausibilität der von dieser Religion verkündeten Werte dar, da letztere ja nicht mehr durch gesellschaftliche Machtvorgänge internalisiert werden können, sondern auf emotionaler oder ethischer Basis ruhen.
Dennoch steht für vorliegende Arbeit vielmehr der spezifische Wandel in der religiösen Wertvermittlung als Hauptgegenstand der Untersuchung im Raum. Die christlichen Kirchen sehen ihrer rapiden „Entinstitutionalisierung“ entgegen, sie verlieren zusehends ihre Monopolstellung auf dem „religiösen Markt“, werden Anbieter unter vielen. Aber auch die von ihnen vertretenen Werte und Lehren werden zunehmend privatisiert, so daß einerseits christlich-religiöse Inhaltlichkeit inzwischen eben maßgeblich von Tiefenpsychologen und Psychotherapeuten statt Pfarrern oder Pastoraltheologen definiert werden kann, daß andererseits aber auch Theologen selbst vermehrt mit einem tiefenpsychologischen Instrumentarium zu arbeiten sich anschicken[48]. Je mehr „religiöse Motivation und religiöse Normen für die Lebensführung des einzelnen an Bedeutung verlieren“[49], desto stärker fassen beispielsweise psychologisch motivierte, quasi-religiöse Werte Fuß im Wertsystem der Gesellschaft.
Unter dem Motto: „Es würde sich ja auch niemand mit einer Glaubensfrage an seinen Anlageberater wenden!“, liegen die Ursachen für diesen Wandel nicht zuletzt in einer Hochschätzung des wissenschaftlichen Spezialistentums begründet: dem Therapeuten als „Spezialisten der Seele“ haftet ärztliche Kompetenz an, dem Vertrauen in die Ärzteschaft wiederum der Glaube an die Machbarkeit von Lebensbewältigung durch Technik und Naturwissenschaften. Auch wenn die Sakralisierung technischer Disziplinen, die Anfang und Mitte unseres Jahrhunderts beherrscht, seit den frühen Siebziger Jahren einen erheblichen Rückschlag erfahren hat, werden durch neuerliche Umfragen und Untersuchungen die allgemein wissenschaftsfreundlichen Tendenzen, die sich in solcher Elitenverehrung ausdrücken, eher gestützt, und so vermag auch Helmut Barz in obenerwähnter Studie „Jugend und Religion“ einen sich zunehmend wieder verstärkenden Glauben an die exakte Wissenschaft und konstruktivistische Neigungen unter der Jugendlichengeneration nachzuweisen. Im folgenden Kapitel werden wir endogenen wie exogenen Ursachen dieser fremdwissenschaftlichen „Dienstübernahme“ nachspüren.
„Nach einer langen Phase materialistischer Grundeinstellung, wissenschaftlicher Fortschritte, mörderischer Kriege und Entfremdung durch Industrialisierung und Konsumüberfütterung betrachten wir das gegenwärtige Suchen als Anfang einer psychologischen Renaissance.“[50] Dieser Befund zweier humanistischer Therapeuten der Achtziger Jahre erhellt den Stellenwert, den Psychologie und Psychologen in Selbst- und Fremdwahrnehmung besitzen: von hier ausgehend, wird eine „neue Morgenröte“ der Erkenntnis mit entsprechenden Auswirkungen auf die Lebensführung des einzelnen erwartet. Dabei folgen die Psychotherapeuten in ihrem Unterfangen, Kompetenzen im religiösen Dienstleistungssektor zu übernehmen, zunächst einem extern an sie herangetragenen gesellschaftlichen Wunsch und Bedürfnis; aber es ist auch eine zunehmende interne Bereitschaft dieses Wissenschaftszweiges erkennbar[51].
„Exogene Ursachen“: Vorbereitet wurde diese Tendenz letztlich durch die allgemein veränderte soziale Wertschätzung (Fremdwahrnehmung) von Psychotherapie und Tiefenpsychologie nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Tiefenpsychologie war im Laufe der Kriegsjahre in den Vereinigten Staaten heimisch geworden und eroberte dort die Salons der Künstler[52] und Intellektuellen; um „up to date“ zu sein, um sich seiner Voraussetzungen in einer mittelständischen Gesellschaft bewußt zu werden und sich seiner selbst zu versichern, war es nötig geworden, sich einer Analyse zu unterziehen. Die medizinische Psychologie, die sich sukzessive durch Verfeinerung ihrer Methodik „exakte Wissenschaft“ titulieren durfte, profitierte ebenfalls eklatant von der allgemeinen Wertschätzung, so daß seitens beider psychologischen Forschungsrichtungen inzwischen „letzte Antworten“[53] erwartet werden durften.
Daneben besitzt der Therapeut eine sozial sanktionierte Vorbildfunktion: gesellschaftliche Rolle und gesellschaftlicher Status, Expertentum und psychologische Spezialausbildung werden als Garanten erachtet, die neu aufgetauchten individuellen Seelenprobleme in Heilung oder Heil aufzulösen: „Der Einfluß des Psychotherapeuten auf den Patienten erwächst in erster Linie aus dem Umstand, daß der Patient von ihm Heilung erhofft, eine Erwartung, die durch die kulturelle Rolle des Therapeuten und seine Spezialausbildung noch gesteigert wird.“[54] Und, so führt der amerikanische Mediziner Jerome Frank weiter aus: „Der Erfolg des Psychotherapeuten hängt zum Teil davon ab, daß der Patient in ihm den Besitzer von Kenntnissen und Fertigkeiten der Heilkunst sieht.“[55] Es ist daher nur zu verständlich, daß sich immer mehr Therapeuten durch die Haltung ihrer Patientinnen und Patienten und den allgemeinen „psychosozialen Hunger“ aufgefordert fühlen, tatsächlich „letzte Antworten“ zu erteilen[56].
„Endogene Ursachen“: Eine entsprechende Selbstwahrnehmung der Rolle des Therapeuten, die gegebenenfalls auch zu einer radikalen Kompetenzüberschätzung führen kann, wird bereits während der Ausbildung „trainiert“. Die tiefe Überzeugung der dem Individuum eigenen Fähigkeiten von Selbsterkenntnis und Selbstaktualisierung auf dem Wege zur Heilung, eine Überzeugung, die in einer erfolgreich absolvierten „Lehranalyse“ (oder Vergleichbarem) oder auch durch langjährige Therapieausübung gewonnen worden ist, wird nunmehr auch in die geisteswissenschaftliche, in die exegetische Arbeit getragen.
Problematisch an Hypothesen, die die Selbstwahrnehmung von Psychologen betreffen, ist allerdings deren (noch) fehlender statistischer Befund. Bisher gibt es nur wenige Arbeiten, die sich in für die vorliegende Arbeit relevanter oder adäquater Weise eingehender mit diesem Thema beschäftigt haben; allen voran ist die Studie David Jordahls zu nennen. Zumeist ist man hier aber gezwungen, Einzelkommentare von Therapeuten selbst auszuwerten oder sie im Rahmen von Büchern zu sichten, die in einem inhaltlich unterschiedlichen oder größeren Zusammenhange stehen.[57]
Kommentare, die von einem spezifischen Vertrauen in die exploratorische Eigenart der psychologischen Forschung zeugen, sind allerdings nicht selten. Exemplarisch in seiner Tendenz sei allein das nachfolgende Zitat des Jung-Schülers Rudin herausgehoben: „Irgendwie spürt auch der religiöse Mensch von heute, daß viele Ratschläge von religiöser Seite bei ihm an eine leere Wand anklopfen, von der es hohl zurücktönt. Oft genug sind die Konflikte primär zwar schon von religiöser Art, aber man hat das Gefühl, zuerst müsse die seelische Situation mit natürlichen Mitteln gemeistert werden.“[58] Die hier als „natürlich“ apostrophierten Mittel sind selbstredend die psychologischen, die Überlegenheit der Methode soll gegenüber einer innerreligiösen Heilssuche aufgewertet werden.
Auch die Annahme spezifischer beruflicher Fähigkeiten, die nur der Psychologe zu leisten vermag, ist häufig anzutreffen. Ich verweise, um eine gewisse Kürze zu wahren, diesbezüglich nur auf die Befunde von Kapitel 8.5.[59]
Frank konstatiert entsprechend: „Die Ausbildung des Therapeuten hat Folgen für sein Selbstbild, für die Einstellungen des Patienten zu ihm und damit auch für seine Leistung als Heiler. Die psychoanalytische Ausbildung wird unter dem Gesichtspunkt ihrer Wirksamkeit als Methode der Indoktrination und als Form der Gruppenstützung beurteilt, als die sie im Psychoanalytiker die Selbstachtung und das Bewußtsein therapeutischer Kompetenz steigert.“[60]
David Jordahl, Theologe und analytischer Psychologe, stützt in einer Umfrage unter Psychotherapeuten, die er im Jahre 1990 mittels einer einfachen, einordnend-klassifizierenden statistischen Methode vornimmt, die Hypothese eines „analytischen Priestertums“ und hält die Vorwürfe seitens der Theologie, eine „neue Gegenkirche“ gründen zu wollen, für nicht so abwegig wie zunächst geglaubt, da neben einer „In-group-Mentalität“[61] auch das Fehlen einer „angemessenen Selbstkritik“[62] zu beobachten ist. „Andererseits ist der Mut der Tiefenpsychologen fast zu bewundern, denn ein paar Hundert Analytiker forderten x-tausend Theologen heraus, rivalisierten mit ihnen und maßen sich an, für etwas wie das Seelenheil der Menschheit zuständig zu sein.“[63]
In der Auswertung der Umfrage zeigt sich ein interessantes Berufsprofil der Analytiker: Mehr als 50% der Probanden bekennen sich insgesamt zu Gott, signifikant höher wird der Befund im Alterssegment der über 45jährigen, unter den Jungianern (60%), den weiblichen Therapeuten (64%) und den katholischen im Vergleich zu den protestantischen.
Der Institution Kirche wird Kompetenz allein in religiösen Fragen zugetraut, aber mit kaum 30% schon in wenig überzeugendem Maße; im Problemfeld menschlicher Beziehungen dagegen sind nur zwischen 5% und 10% der Therapeuten der Ansicht, daß die Kirche noch eine Stimme besitze.
Dagegen sprechen sich über 30% dafür aus, daß die priesterliche Berufsklasse eine zusätzliche therapeutische Ausbildung erhalten solle, wobei wiederum über ein Viertel der Befragten sie anschließend nicht in dem einschlägigen Berufsfeld tätig sehen möchte. An einer „déformation professionelle“ leiden nach Meinung der Therapeuten weitaus mehr Geistliche, über 26% der Therapeuten sind dieser Ansicht, aber nur etwa 15% konstatieren ein gleiches für die eigenen Reihen. Ein für die überaus positive Selbstwahrnehmung sicherlich wichtiges Ergebnis, das durch die Frage nach den Kompetenzbereichen noch bestätigt wird: über 20% der Jungianer halten die Therapie für den günstigsten Ort schlechthin, religiöse Erfahrung zu gewinnen: „Für die Psychotherapeuten ist die Psychotherapie zumindest ebenso geeignet, religiöse Erfahrung vorzubereiten, wie die Kirche selbst.“[64]
Schließlich bestätigen auch die Befunde zur allgemeinen Abwägung, welche Bereiche – Religion, Philosophie, Psychologie oder „andere“ – am meisten zum Verständnis der Persönlichkeit beigetragen haben, die obigen Ergebnisse: zugunsten der Religion sprechen sich weniger als 6% aus, für die Psychologie immerhin zwei Drittel. Wenn anschließend der in den Ergebniskapiteln 7 und 8 näher erläuterte Konnex zwischen Selbsterfahrung und Gotteserfahrung zu Rate gezogen und verständlich wird, daß ein allgemeines „Verständnis der Persönlichkeit“ für die Tiefenpsychologie gleichbedeutend ist mit Gotteserkenntnis, wird letzthin die „Okkupation“ religiöser Kompetenzen hier transparent.[65]
Bevor wir uns einer ersten begrifflichen Untersuchung des Phänomens tiefenpsychologischer Bibelexegese zuwenden, sollen vorab, gleichsam als Aufriß nur, Tradition und „Bedeutung“ von Exegese überhaupt skizziert werden.
Exegese, altgriechisch ἐξήγησις, wird als Deutung, Erklärung, Kommentierung oder „Auslegung“ übersetzt. Sie ist neben dem analog gebrauchten ἑρμηνεία die „Deutung von Zeichen, Zeichensystemen (Texten, Bildern) und Ereignissen, sofern ihnen Zeichencharakter zugesprochen wird.“[66] Entscheidend in einem heutigen Sinne ist dabei neben dem Deutungsmoment der aktive oder konstruktive Part des Exegeten oder Hermeneuten, der einem Gegenstand der Auslegung eine entsprechende „Be-Deutung“ beimißt.
Seit dem 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung findet sich Exegese als terminus technicus in Literatur, Wissenschaft, Recht, Kult und Divination. Erst neuzeitlich erscheint dagegen die Differenzierung der griechischen und lateinischen Begriffe (interpretatio) analog theologischer und anderweitiger Auslegung.[67]
Die ersten Regeln und Methoden zur Exegese finden sich zunächst im antiken Griechenland bei den Sophisten und Rhetorenschulen, anschließend auch in der „Poetik“ des Aristoteles. Im Zeitalter des Hellenismus ist es namentlich die alexandrinische Schule, die sich einer hermeneutischen Zielsetzung verschrieben hat; von hier aus, mit der Aufwertung der Heiligen Schrift und der Akzentuierung des Christentums als Schriftreligion, wird theologische Hermeneutik zur allegorischen, die bis ins Mittelalter hinein die bevorzugte Deutungstechnik bleibt. Allerdings bahnt sich früh auch schon ein Kampf an zwischen der alexandrinisch-allegorischen Hermeneutik vor allem des Origenes, der erstmals eine zusammenhängende hermeneutische Theorie entwickelt, welche einen gewissen Einfluß auch auf die „Doctrina christiana“ des Augustinus ausstrahlt, und der antiochischen Theologenschule des Theodoros, die das völlige Fehlen des historischen Moments in der Allegorese kritisiert. Wichtig ist hier der wörtliche Sinn, der aber auch eine übertragene Bedeutung, die sogenannte „theoria“, zuläßt[68], so daß eine prophetische Aussage sowohl als historisches Phänomen erfaßt, wie auch eine künftige Entwicklung daraus abgeleitet zu werden vermag.
Aus diesem ersten Positionsstreit gehen im Mittelalter geschärfte hermeneutische Auslegungstechniken hervor. Hugo von St.Victor und seine dominikanische Schule, die auf dem antiochischen Ideensystem fußen, sind hier wiederum kontrastiv zum vierfachen Schriftsinn, der als Weiterentwicklung der Methode des Origenes lange Zeit noch dominant wirkt, zu sehen. Erst im Zeitalter der Renaissance wird durch die Beschäftigung mit den hebräischen Originalquellen der alttestamentlichen Schriften, initiiert durch Johannes Reuchlin, die philologische Kritik als neuer Aspekt in die Theorie der Exegese einbezogen.
Nach einer zwei Jahrhunderte andauernden „Latenzzeit“ sind frühe Ansätze zu einem biblischen Kritizismus in der Aufklärung, hier vor allem bei Johann Semler zu erkennen, der Versuche zur Fundierung einer historisch-kritischen Methodik unternimmt. Im letzten Jahrhundert beschreitet die Exegese in der „Leben-Jesu-Forschung“ (unter anderem bei David Friedrich Strauß oder Ernest Renan) durch die Übernahme psychologischer Arbeitsmittel neuen Boden.
Ab Ende des Ersten Weltkriegs, evoziert auch durch die Beschäftigung mit der Lebensphilosophie Husserls oder Bergsons, wird der „Sitz im Leben“, die soziokulturelle Alltagsrelevanz der biblischen Texte[69], Initial für Bultmann oder Dibelius. Bultmanns existentiale Interpretation, auf Heidegger fußend, entsteht als wichtigstes neues Paradigma nach dem der historisch-kritischen Exegese. Seit dem letzten Krieg zeigt sich aber auch ein zunehmender Einfluß des literarischen Kritizismus und der linguistischen Forschung, historische und philologische Glossen beherrschen nachhaltig die exegetischen Kommentare und die aktuelle Diskussion.[70]
Zur Funktion der Exegese soll zunächst ihr systematischer Charakter angesprochen werden. Kommunikation vollzieht sich als Zeichentransfer bei einer steten Unsicherheit des Inhalts, da keine Identität herrscht zwischen Zeichen und Bezeichnetem. Es erwächst folglich das Bedürfnis nach Sicherung der Botschaft oder Vergewisserung ihrer Inhalte durch Redundanz oder Auslegung. Schriftliche Texte sind in dieser Beziehung noch weitaus schwieriger zu fassen und gefährdeter, da sie ohne Autorenpräsenz existieren. Ein Schriftstück obliegt weitgehend seiner Dechiffrierung durch einen Hermeneuten, der die eigenen Erfahrungen (retrospektiver Anteil) und Erwartungen (prospektiver Anteil) in den Inhalt projiziert, und, indem er ihn deutet, auch auf den Text reagiert. Aufgabe von Exegese oder Hermeneutik bedeutet sohin: „Alles Schriftliche ist [...] eine Art entfremdeter Rede und bedarf der Rückverwandlung der Zeichen in Rede und in Sinn. Weil durch die Schriftlichkeit dem Sinn eine Art von Selbstentfremdung widerfahren ist, stellt sich diese Rückverwandlung als die eigentliche hermeneutische Aufgabe. Der Sinn des Gesagten soll neu zur Aussage kommen, rein aufgrund des durch die Schriftzeichen überlieferten Wortlauts. Die Auslegung von Schriftlichem hat im Gegensatz zum gesprochnen Wort keine andere Hilfe.“[71]
Exegese dient also dazu, Kommunikationsvorgänge zu sichern. Bei normativen oder kanonisierten Texten ist dabei immer auch der soziokulturelle Hintergrund mitzubedenken, wobei die Exegese hier zwei Aufgaben üben kann: 1. Zur Applikation eines Textes; hier dient die Ausdeutung der Anwendung auf einen bestimmten Fall, beispielsweise im juristischen Bereich, aber auch in der Predigt oder Seelsorge. 2. Zur Adaptation des Textes; hier wiederum fördert sie die Überwindung historischer Diskrepanzen, sie sucht, kanonisierte Texte, die ja keiner Veränderung unterliegen dürfen, zu aktualisieren und mit der Jetztzeit zu harmonisieren.
Um den „thematischen Faden“ weiter zu spinnen, der nach Kapitel 1.2.1 kurzzeitig hat durchtrennt werden müssen, kehren wir zurück zum Thema wertwandlerischer Prozesse innerhalb christlicher Traditionsvermittlung.
Neben allgemeiner Veränderungen in der Wertvermittlung vermittels therapeutischer Arbeit etabliert sich nunmehr auch parallel dazu im exegetischen Schrifttum ein neues Verfahren; dabei wird biblisch-christliches Gedankengut aufgegriffen und interpretiert mit den Mitteln und den „Werkzeugen“ der Tiefenpsychologie, mit dem Anspruch, wahrer und nuancierter für eine veränderte Bedürfnislage des Menschen der heutigen Gesellschaft zu sein – heilsame Medizin für das „psychologische Zeitalter“[72]. Religion als „Innerlichkeit“ – das innerpsychische Erleben des Religiösen wird nachhaltig gegen theologisches Räsonnieren ausgespielt, entsprechende Tendenzen könnten für sich gleichsam das Motto „religio contra theologiam“[73] wählen. Zeitlich ist die Methode zwar spätestens seit den Fünfziger Jahren in Umlauf, wirksam wird sie indessen erst seit Anfang der Siebziger Jahre, da die vielgeschmähte Theologie zu reagieren und sich mit dem neuen Paradigma sukzessive auseinanderzusetzen beginnt.
Durch die neuen Zugangsmethoden erhalten die kanonisierten biblischen Texte eine veränderte Inhaltlichkeit, wobei allerdings zu betonen ist, daß solch tiefenpsychologische Interpretation von Altem und Neuem Testament noch lange nicht als „unchristlich“ verstanden, keine eigentliche „Profanisierung“ christlicher Religiosität bedeuten muß, sondern lediglich Tendenzen der Schriften widerspiegelt, die „entfernter“ geglaubt[74]. Tatsächlich bleibt zuweilen wenig inhaltliche Übereinstimmung mit der ursprünglich beglaubigten „Quintessenz“ der Evangelien.
Therapie wird Religion, die Tiefenpsychologie „erdeutet“ ein neues Christentum. Das für dieses Verfahren zugrundeliegende Textmaterial entstammt einer „expliziten“ Religion, aber die Zielvorstellungen des Therapieprozesses spiegeln die Züge einer „impliziten“ Religion.[75]
Nach eigener Definition soll dies neue Bibelverständnis nunmehr folgendes leisten:
1. „Retrospektiver Anteil“: Es soll ein neuer Zugang zu den geistig-religiösen (Präge-) Traditionen erschlossen werden: „Die Tiefenpsychologie wird zu einer neuen Methode, das Kerygma existentiell nahe zu bringen.“[76] Es wird auf dem Königsweg über die Entschlüsselung unbewußter Motive und „inneren Wissens“ die Traditionslinie christlicher Religion zwischen den uranfänglichen Texten und dem heutigen Status quo erneuert – für den Individualpsychologen Ellerbrock ein möglicher Weg, um die Plausibilitätsstruktur christlicher Überlieferung wiederherzustellen, um „dem rechten Verhältnis von Kontinuität und Wandel der Überlieferung“[77] zu begegnen. Die Methode kann zu einer „Verlebendigung“ der antiken Texte beitragen und so zu einer Existenzerhellung auch für heutige Menschen führen. Der „Sitz im Leben“ wird betont, Antwort auf die Fragen gegeben: Was gehen die Texte uns Heutige an, was „leisten sie“ für unser Dasein? Denn: „Nicht historische Figuren, wir selbst sind gemeint.“[78]
2. „Prospektiver Anteil“: Durch die Identifikation mit psychosymbolisch gedeuteten Figuren der biblischen Texte soll der Leser auf einen Weg der Wandlung (Metanoia) geführt werden – die Imitatio, die ganz im Sinne mystischer Vorstellungen in der eigenen Seele statthat, wird als Aufruf verstanden, selbst den Weg der Metanoia zu beschreiten[79]. Die exegetischen Ergebnisse sollen sohin zu einem erweiterten („ganzen“) Menschsein beitragen. Das Telos einer allgemeinen Metanoia lautet: Vollendung von Mensch und Menschheit. „Eine tiefenpsychologische Schriftauslegung ist deshalb von großer Bedeutung, weil und insofern die Inkarnation Gottes und die Individuation des Menschen aufeinander bezogen gesehen werden können. Christus als das wahre Selbst des zur Selbstwerdung bereiten Menschen läßt durch sein Leben, Sterben und Auferstehen den daran teilhaben, der sein eigenes Kreuz auf sich nimmt und ihm nachfolgt.“[80]
Die oft betonte Analogizität zwischen religiösen Bekehrungs- und Heilungsvorgängen in der psychotherapeutischen Arbeit stellt im übrigen eines der Hauptargumente dar für eine tiefenpsychologische Interpretation religiöser Texte[81], oder allgemeiner: eine entsprechende Untersuchung religiöser Schriften seitens der Psychologie. Das analoge Schema von psychologischer und religiöser Metanoia sieht nach Jerome Frank wie folgt aus[82]: 1. Periode „schwerer Demoralisierung“; 2. geistliches Führungserlebnis, das an einer Person konkretisiert wird; 3. Änderung in der persönlicher Werthaltung und „Entwicklung einer optimistischeren Auffassung vom Sinn der Existenz.“[83]
Daneben wird die „Ergänzungsfunktion“ der tiefenexegetischen Methode immer wieder betont: sie soll nicht andere Forschungszugänge ablösen, sondern lediglich erweitern, bestenfalls im Sinne einer Kompensation[84], beispielsweise der rationalen Einseitigkeit der historisch-kritischen Methode.[85]
Die Ansätze zur Methodik der Tiefenexegese sollen im folgenden näher in einer exemplarischen Unterscheidung der tiefenpsychologischen Schulrichtungen dargestellt werden.
1. Psychoanalyse:
Eine umfassende Darstellung der psychoanalytischen Leitlinien für die exegetische Arbeit findet sich erstmals in der vom Herausgeber Yorick Spiegel gestalteten Einführung „Psychoanalyse und analytische Psychologie – Instrumente der Exegese?“ zu seinem Sammelband „Psychoanalytische Interpretationen biblischer Texte“.
Der Autor hebt die „Analogizitätsmethode“ in diesem Zusammenhang hervor: Texte gestalterischen Ursprungs sind wie Träume zu behandeln und auch in analoger Form zu deuten; es soll gefragt werden nach ihrem unbewußten und verborgenen, dem „latenten Schriftinhalt“, der mit dem latenten Trauminhalt bei Freud korrespondiert.
Texte als Träume zu interpretieren erfolgt in zwei Schritten: erstens ist der manifeste Inhalt in seinem Gesamtkontext möglichst genau zu erfassen; dazu gehört auch die Eingrenzung und Bestimmung der literarischen Form – im Grunde also eine Voraussetzungsleistung der historisch-kritischen Methode; anschließend soll der Annahme nachgespürt werden, ob sich hinter dergleichen Entwicklungen womöglich „verdrängte Konflikte verschiedenster Entwicklungsstufen verbergen“[86], ein Umstand, der meist darin begründet liegt, daß der Verfasser sich aufgrund offizieller oder personaler Repressalien[87], die häufig unbewußt zur Wirkung kommen, nicht offen äußern konnte. Es ist davon auszugehen, daß der Autor mehr „wußte“ als er „be-wußt“ ausdrücken konnte oder durfte; den unbewußten Versatzstücken dieses Wissens, das in einer variantenreichen Einkleidung textuell vorliegt, gilt es folglich „auf die Schliche zu kommen“. „Die lange Geschichte der Unterdrückung macht es zu einer selbstverständlichen Forderung, zwischen den Zeilen zu lesen, um die wahre Intention eines Autors zu erfahren.“[88] In einem solchen Verfahren kann natürlich ein positiver Abschluß der Deutung nie erreicht werden, „die Analyse ist faktisch eine unendliche“[89].
In der Aufspürung verdrängter Faktoren sieht Spiegel drei Ebenen der Deutungsarbeit: 1. Die individualpsychologische Untersuchung biblischer Gestalten, die Beschreibung und Aufdeckung innerpsychischer Prozesse individueller Figuren, die sich allerdings wegen der historischen Distanz als äußerst schwer realisierbar darstellt, ohne der Psychologisierung zu verfallen; zudem sind 2. viele biblische Personen als mythische Wesen von Projektionen verdeckt, die es innerhalb eines effizienteren Verfahrens aufzudecken gilt[90]; 3. kann ein symbolisches Element wie das „Volk Israel“ als Person interpretiert werden, das phylogenetisch eine Entwicklung wie ein Einzelwesen nimmt. Klinisches Material dient hier der Illustration historischer Prozesse.
Der Fokus des Interpreten soll bei alledem selbstredend auf der wichtigsten aller Tabuschranken liegen: dem Elterninzest. Der Ödipuskomplex ist historisch und allgegenwärtig, weil er auf Basis der psychosozialen Situation entsteht, die voraussetzungshaft bei allen Menschen gleichgeartet ist. Folglich gebührt ihm auch die größte Aufmerksamkeit.
2. Analytische oder komplexe Psychologie:
Für die Explikation einer analytisch-psychologischen Tiefenexegese hat Maria Kassel in ihren Werken „Biblische Urbilder“ und „Sei, der du werden sollst“ den bisher wohl besten und ausführlichsten Zugang dargelegt.
Auch hier wird von der Analogizität von Träumen und literarischen Texten ausgegangen, die indes nicht als Manifestationen allein des individuellen Unbewußten, wie es bei den freudianisch orientierten Interpretationen geschieht und so zu einem allgegenwärtigen Aufspüren des Verdrängten oder der Ödipusproblematik führt, sondern vor allem des kollektiven Unbewußten verstanden werden: „Biblische wie überhaupt alte Texte [sind] nämlich für Menschen heute deshalb noch existentiell von Bedeutung, weil sie Manifestationen des kollektiven Unbewußten enthalten, die mit dem kollektiven Unbewußten heutiger Menschen korrespondieren.“[91]
Das exemplarisch wichtige Moment ist hierbei die Individuationsproblematik, Selbstwerdung durch Selbsterkenntnis steht im Mittelpunkt biblischer Textarbeit: „In archetypischer Sicht können Menschsein und Göttlichsein Jesu Christi, beide in gleicher Weise, auch heute erschlossen werden, und zwar ohne daß dem modernen Menschen zugemutet wird, sein Weltbild außer Kraft zu setzen. Einzige Voraussetzung für diesen Zugang ist, daß der Mensch sich selbst mit seinen noch unbekannten Tiefen besser kennenlernt und versteht.“[92]
Für die Autorin dient der tiefenpsychologische Umgang mit der biblischen Überlieferung dabei nicht der Heilung psychischer Krankheiten: „Hauptzweck ist vielmehr, die biblische Erfahrung als Ursprungserfahrung christlichen Glaubens in Gegenwartserfahrung überzuleiten und so heutige Glaubenserfahrung im Zusammenhang mit der Tradition zu ermöglichen; Glaube soll so im Kontext des Lebens vollziehbar werden.“[93]
Die dergestalt ausgeführte Bibelauslegung kennt eine Konvergenz zwischen Interpretationsvorgang und Lebensführung: die aus dem Bibeltext resultierende Erfahrung kann nach tiefenpsychologischer Interaktion mit dem Bibeltext unmittelbar in die individuellen Lebensbereiche umgesetzt werden. Durch die Tiefenexegese können unbewußte Tiefenschichten des Lesers, die unmittelbar durch den Bibeltext angesprochen werden, in viel stärkerem Maße ans Licht gezogen werden als in „normalen“ Auslegungsmethoden, die nicht konvergent, also nicht innerpsychisch operieren und stets in erster Linie auf die manifeste Textebene zielen. So ist tiefenpsychologische Exegese in der Lage, eine Einheitlichkeit zwischen biblischer Wahrheit und heutiger menschlicher Erfahrung zu erzielen. Gleichsam ist „in dieser Sicht [...] die tiefenpsychologische Bibelauslegung [...] ein Versuch, die in der Gegenwartstheologie und Religionspädagogik erfolgte ‚anthropologische Wende‘ in konkreten Glaubens- und Lebensvollzug umzusetzen.“[94]
Von einem „entgötterten Weltbild“ in unserem „wissenschaftlichen Zeitalter“ ausgehend, ist Transzendenz als Jenseits Gottes in herkömmlichem Sinne nicht mehr rein faßbar[95], muß infolgedessen über andere Wege erschlossen werden. Die Archetypenlehre Jungs eignet sich für Kassel in besonderem Maße, verbindet sie doch eine anthropologische, also moderne Sicht der Welt mit einem tiefen Blick auf das Numinose, Transzendente, das indessen „in uns“ beheimatet ist. Die Gottesimago ist eine innerpsychische Größe, korrespondiert mit dem Archetyp des Selbst: „Wenn Wissenschaften zunehmend die psychische Innenwelt, und das heißt die Subjektivität des Menschen, erforschen und dabei neue Perspektiven für menschliches Selbstverständnis gewinnen, dann wird Gotteserfahrung nur noch im Bezug zu diesem veränderten Selbstverständnis möglich sein. Gott wandert dabei, bildlich gesprochen, aus dem Jenseits der äußeren Welt in das Jenseits der menschlichen Innenwelt.“[96]
Tiefenpsychologische Arbeitsmethoden in theologischem Denken sollen folglich einem Wandel des menschlichen Daseinsverständnisses Rechnung tragen. Der Aufruf zur Metanoia bleibt bestehen: Jesus in seiner Funktionalität als Archetyp des Selbst provoziert Menschen zu innerem Aufbruch und neuem Glauben.
3. Individualpsychologie:
Joachim Ellerbrock unternimmt eine Standortbestimmung für die individualpsychologische Bibelexegese im ersten Kapitel seines Buches „Adamskomplex“. Grundlegend ist hier das Postulat, die Menschenbilder von Adlerscher Psychologie und Christentum seien in hohem Maße deckungsgleich[97]. Für Theologen wie Laien bedeutet dies einen Gewinn an christlicher Plausibilitätsstruktur durch die Wissenschaft einerseits, eine unmittelbarere Akzeptanz der individualpsychologisch erarbeiteten Deutungen der Schriften andererseits, weil den anthropologischen Strukturen, die diese Spielart der Tiefenpsychologie mit sich bringt, mehr Vertrauen von christlicher Seite entgegengebracht zu werden vermag.
Oberstes Streben ist auch für diesen Autor, die „Relevanz der alten Texte über die Zeiten hinweg zu erweisen“[98]. Eine diesem Ziel adäquate Methode sieht er in der Lesart biblischer Texte als „frühe Erinnerungen“ der Menschheit, analog dem Adlerschen Konzept der persönlichen „frühen Erinnerungen“. Die Entdeckung Adlers beruhte darauf, daß aus den ersten drei bis fünf Lebensjahren des Kindes „nur solche Elemente im Gedächtnis bewahrt [werden], die in gleichnishafter Weise die Persönlichkeitsstruktur des Betreffenden, seinen ‚Lebensstil‘ (Adler) zum Ausdruck bringen. Die frühen Erinnerungen sagen also etwas aus über das Wesen eines Menschen, verdichtet zum Gleichnis.“[99] Auf die biblische Überlieferung übertragen, bedeutet dies, daß hier eine Leitlinie des Verhältnisses von Gott und Mensch im textuellen Geschehen ihren Ausdruck findet, die es aufzudecken gilt. Das aber bedeutet, „daß sich in den so verstandenen frühen Erinnerungen Vergangenheit und Gegenwart zusammenschließen. Dann mag zwischen dem Einst und Jetzt getrost die Wirkungsgeschichte der Texte liegen.“[100]
4. „Unentschiedene“ Schulrichtungen:
Der Drewermann-Schüler Stefan Schmitz, der in seinen Arbeiten eine Synthese anstrebt zwischen unterschiedlichsten Schulrichtungen, definiert die Aufgabe der Tiefenexegese schlicht wie folgt: „Die Bibelwissenschaft soll [...] zum Verständnis des Gotteswortes führen.“[101] Exegese als „theo-logische“ Disziplin soll in erster Linie das Verständnis eines Textes, der als Gotteswort verstanden wird, fördern. „Gotteswort“ wiederum erscheint lediglich mittelbar durch „Menschenwort“, und so soll der entsprechende Text dergestalt eine Deutung erfahren, daß er „für alle Menschen verbindlich“ wird, „Kommunikabilität“ erfährt und das „einen jeden Menschen unbedingt Angehende“[102] einschließt. Im Sinne Drewermanns, so konstatiert Schmitz weiter, soll die theologische Arbeit dort beginnen, wo das Bleibende, Unvergängliche des Textes seinen Ursprung nimmt, wo das Gotteswort „in seiner bedingten Gestalt eine unbedingte Bedeutung besitzt“, das meint: einen „grundlegenden Sinn“, sowie eine Zeiten und Regionen transzendierende Bedeutung und Wichtigkeit.[103] Die historisch-kritische Forschung bleibt dabei in der geschichtlichen Zielvorstellung des Deutungsprozesses und in der Eindimensionalität ihres hermeneutischen Vorurteils im Sinne Gadamers befangen. Sie zeigt sich einzig interessiert an der „historisch-kausalen Herkunft“ und „finalen Absicht der Verwendung“ des Texts, also an Quellenforschung und „bewußten Aussageabsicht[en] des jeweiligen Tradenten“[104].
Dem setzt tiefenpsychologische Bibelexegese die Überzeugung entgegen, daß biblische Erzählungen eben „Ausdrucksformen seelischen Geschehens“[105] darstellen, die einer adäquaten Auslegung – der der „Seelenkunde“ – bedürfen. Die Bibel soll sohin, zumindest in den „‚unhistorischen‘ Erzählformen[...] ihre psychische Wahrheit im Rahmen einer psychologischen Auslegung“[106] zurückgewinnen.[107]
Eugen Drewermann ist meines Wissens der erste Exeget, der in „Tiefenpsychologie und Exegese“ tatsächlich einen Codex umfassender Kriterien für die tiefenpsychologische Bibelinterpretation erstellt[108]. Seine Darstellung beginnt zunächst mit einer harschen Kritik an der historisch-kritischen Arbeitsweise: vermittels der tiefenpsychologischen Methode sei die Exegese vom Kopf, wohin sie allerdings jene Forschungsrichtung befördert habe, wieder auf die Beine zu stellen. In seinen Angriff schließt der Autor auch den Umstand ein, daß die Dogmatik sich schon vom zweiten Jahrhundert an eher von der rational orientierten griechischen Philosophie beeinflussen lassen habe, als von den Erfahrungen der Psyche. Entscheidend daran war und ist, daß nur die bewußte Aussagefunktion oder -absicht eines Textes oder Texters mit den exegetischen Methoden realisiert wurde. In der Suche nach den religionshistorischen Quellen und Bezügen wird allein die Funktion des Textes als Aussagemittel unter Ausklammerung des Unbewußten zur Geltung gebracht. „Um es pointiert zu sagen: die bewußte Aussageabsicht des ‚Endredakteurs‘, dieser ganze Stolz oder vielmehr dieses stets unerreichbare Phantom der historisch-kritischen Methode, ist für ein wirkliches Verständnis der ‚unhistorischen‘ Erzählungen religiöser Überlieferung so relativ oder nebensächlich wie die bewußte Selbsteinschätzung eines Analysanden in der Traumanalyse: an jeder Stelle seiner Traumerzählung darf man voraussetzen, daß die Bilder seines Traumes weit mehr über ihn selbst besagen, als er im Bewußtsein von sich wissen kann.“[109]
Die Hervorhebung des historisch Einmaligen legt nur Zeugnis ab über die Vergangenheit eines Textes oder Geschehens, trägt indes nicht bei zu seiner Verlebendigung, gerade sie „führt [...] nicht zu einer theologischen Einsicht in die bleibende Bedeutung eines Textes.“[110]
Als weiteren Kritikpunkt führt Drewermann die erkenntnistheoretischen Präjudizien des 19. Jahrhunderts an, die zur Basis historisch-kritischer Forschung wurden, die aber recht eigentlich nur für die Naturwissenschaften ausgelegt waren. Die Übernahme der Kantschen Erkenntnistheorie – Erkenntnis gilt als rein historisch verbürgte und spiegelt immanent die Gesetze kausaler Reduktion, Rationalität und Objektivität –, die sich ursprünglich als Meilenstein methodischer Arbeit erwiesen hat, wird zum Hemmnis für den Import neuerer wissenschaftstheoretischer Ansätze. Er hält dafür, daß der Standort hermeneutischer Exegese religiöser Texte nicht im Außen der Geschichte angesetzt werden dürfe, sondern, darin folgt der Autor dem semiotischen Ansatz Freuds, im Traum, sowie in schöpferischen, also traumnahen Prozessen. Drewermann sucht eine „typologische“ und „archetypische“, kurz: eine an der Traumpsychologie orientierte Hermeneutik zu etablieren, als deren zentrales Postulat gilt, daß die Regeln der Traumdeutung ohne Ausnahme auch in die Bibelinterpretation übertragbar seien. Mit der Traumarbeit verbindet das gestalterische Schaffen, daß der latente, nicht der manifeste Inhalt das Wesenhafte enthält. Darüber hinaus sollen Bildhaftigkeit und die symbolischen Theoreme Jungs eine Berücksichtigung in der tiefenpsychologischen Schriftauslegung erfahren. Biblische, oder allgemeiner: religiöse Erzählungen, sind als Gottes Träume in der menschlichen Seele zu behandeln. Dies ist der neue theologische Befund[111].
Von elementarer Bedeutung für eine grundsätzliche Abfassung formaler Kriterien zur Interpretation biblischer Texte erweist sich nicht allein die unterschiedliche Thematik der Stoffe, vielmehr sollen auch die Differenzen in den jeweiligen Projektionsebenen zum Tragen kommen.
So nennt der Autor sechs verschiedene Textgattungen:
1. Archetypische Formen: Traum, Mythos, Märchen, Sage und Legende. Mythen projizieren ihr unbewußtes Vorstellungsmaterial in die Natur, während Sagen und Legenden es in der Historie abbilden. „Ihre Geschichtsdarstellungen sind mithin zu verstehen als szenische Darstellungen des idealen Ichs unter bestimmten geschichtlichen Bedingungen.“[112] Der entsprechende Regelkanon soll in aller Ausführlichkeit unten Darstellung finden.
2. Wundergeschichten, gleichsam auch „Novellen“. Hier steht die Einheit von priesterlichem und ärztlichem Tun und die Symbolik der Umstände im Mittelpunkt des Stoffes. Die Physis ist Darstellungsort des Heils, der menschliche Körper wird zur Projektionsfläche, seelische Spaltungen werden objektiviert in somatischem Geschehen und beseitigt durch „spezifische Symbolhandlungen“[113]. Als Regeln für eine angepaßte Deutung schlägt der Autor die Verdichtungsregel, Vollständigkeitsregel und Einfühlungs- oder Integralitätsregel vor, im folgenden näher expliziert.
3. Erscheinungs- und Berufungsgeschichten. Komplementär zu den unter Punkt 2 genannten Novellen erscheint das eigene Bewußtsein in den Erscheinungsgeschichten als Ort der Darstellung äußerer Vorgänge. In der Prophetie entspricht die innere Geschichte der Volksgeschichte und verhält sich daher komplementär zu Sage oder Legende. Es bedarf hier keiner neuen Auslegungsregeln, da als einziger Unterschied zu den unter Punkt 1 genannten Phänomenen neben der veränderten Projektionsfläche der Wachzustand den Empfang der religiösen Maximen verbürgt, während es dort der (mythische) Schlafzustand ist.
4. Eschatologien, Apokalypse. Die innere Natur erscheint wiederum als Bild der äußeren. Weil dies weitgehend mythisch ist, kommen die gleichen Regeln wie unter Punkt 1 zur Geltung.
5. Historische Erzählungen. Zwar historisch, als „vom Menschen kommend“ zu verstehen, besitzen sie gleichwohl ein überzeitliches, will sagen: archetypisches Moment, das nicht auf der Ebene der Ereignisse oder Fakten, sondern der der Charaktere und Personen liegt, diese also „tiefenpsychologisch zentral vom Erleben der Angst und der Angstverarbeitung her zu deuten [sind], ganz so, wie es in jeder analytischen Psychotherapie der Fall zu sein pflegt.“[114] Primär soll hinterfragt werden, was die Einzelszene bedeutete, würde sie als Traum erzählt. Personen dürfen dabei durchaus im Sinne der Jungschen Subjektstufe als innerpsychische Figuren gedeutet werden[115].
6. Wortüberlieferungen: Gleichnisse, Parabeln. Hierfür stellt Drewermann sieben Interpretationsregeln auf, die ich unter drei grundsätzlichen zusammenfassen möchte.
α. Personalitätsregel: Den kontextuellen Konflikten ist in der eigenen Seele nachzuspüren, um die formale Isolation der Logien zu brechen. Die Frage: Was gilt mir das Wort? soll stets das Interesse des Exegeten leiten.
β. Innerlichkeitsregel: Die Symbole sind als Bilder einer inneren Wirklichkeit zu verstehen (Subjektstufe), die zur Individuation anleiten soll.
γ. Regel paradoxer Brechung: Die Logien dienen zum Aufbrechen neurotischer Strukturen und einem neuen Einlernen[116].
Den eigentlichen Regelcodex zur tiefenpsychologischen Interpretation stellt der Autor für die unter Punkt 1 genannten archetypischen Formen in 15 Punkten auf, die ich unter acht mir wesentlich erscheinende subsumiert habe.[117]
α. Motivgeschichtlicher Ansatz: Analog dem Motivbegriff der Literatur läßt ein häufiges Vorkommen zentraler Elemente auf ein „Motiv“ und den dahinterstehenden Archetyp schließen. Das Material ist hierbei anzureichern, auf religionshistorische Parallelen und die Bedeutungsvielfalt auf alle „möglichen Zeiten und Zonen“[118] hin auszudehnen (Amplifikation). Ferner ist die Weiterdichtung des Motivs in Kunst und Literatur und in seiner Beziehung zum Ritual zu beachten.
β. Symbolische Deutung: Zunächst sollen die Motive eine typologische, will sagen: naturmythologische Deutung auf der Objektstufe erfahren, da sie als Bilder der Psyche einen Niederschlag evolutiver menschlicher Erfahrung von Jahrtausenden darstellen: „Die Sonne etwa könnte in den Mythen nicht zu einem Gott erhöht werden, wäre der Mensch nicht bereits in seiner physischen Abhängigkeit vom Sonnenlicht und ebenso durch die psychischen Erfahrungen von Licht und Finsternis in sich selber ‚sonnenhaft‘.“[119] Anschließend wird eine archetypische Deutung auf der Subjektstufe analog der Jungschen Traumtheorie vorgenommen: Äußeres ist als Abglanz des Inneren zu lesen, die auftretenden Personen als Aspekte einer Psyche.
γ. Finalität: Die archetypische Erzählung wird als Prozeß der Individuation gedeutet, der Entwicklungsgeschichte und -geschichten auf ein bestimmtes Ziel hin. Die Erzählungen kreisen um ein Problemfeld wie die Psyche in der Individuation um eine neue Mitte, das Selbst („Circumambulatio“).
δ. Anfangsregel: Die einem Stoffe zugrundeliegenden zentralen Konflikte und Lösungsansätze sind bereits in verdichteter Form in der Exposition vorgestellt, gemäß der Theorie des Initialtraums nach Jung.
ε. Zentrierung: Es soll eine Suche erfolgen nach der Zentralgestalt für die objektale (im Sinn des Freudschen Familienromans: der ödipale Held) und subjektale Deutungsstufe (Abgrenzung der „Ichfigur“ oder „Ichfunktion“ der Erzählung).
ζ. Vollständigkeitsregel: Im Sinne des hermeneutischen Zirkels existieren keine isolierten Motive: Das Texteinzelne ergibt einen stimmigen Zusammenhang im Textganzen, der wiederum im Verständnis der Teile vorausgesetzt werden darf.
η. Realisierungsregel: Die Symbolsprache soll in eine psychologische Begriffssprache verwandelt und wieder mit den seelischen Erfahrungen, aus denen sie gewonnen worden ist, rückverbunden werden. Entscheidend sind hier natürlich das symbolische Vorwissen sowie die religionshistorischen und psychologischen Kenntnisse, um Willkür bei der Auslegung zu vermeiden.
θ. Verdichtungsregel: Phylogenetische findet in ontogenetischer Entwicklung Darstellung, analog literarischer Zeitdehnungs- und Zeitraffermethoden soll hier das Geschehen nachgezeichnet werden, ausgehend von persönlichkeitspsychologischen Erkenntnissen.
Ohne hier ein Fazit anzuschließen, soll die Validität der Ergebnisse Drewermanns, die sich in der Textbehandlung der tiefenpsychologischen Bibelexegese niederschlägt, erst in Kapitel 7.1 näher hinterfragt werden.
Etwa zehn Jahre nach „Tiefenpsychologie und Exegese“ stellt Stefan Schmitz, in äußerst verkürzter Form Drewermann folgend, nochmals einen Codex von vier Interpretationsregeln auf:
1. Äußere Handlung ist als Abglanz einer inneren zu verstehen;
2. beide sollen eine Einheit reflektieren;
3. deshalb müssen psychologisch sinnvolle Verknüpfungen von Textstellen im Sinne der Drewermannschen Vollständigkeitsregel gesucht werden: