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»Orwell kennen die meisten Leser nur als düsteren Big Brother-Visionär - die wenigsten wissen, daß der Autor einige Jahre als Kolonialbeamter in Burma tätig war. Vor diesem Erfahrungshintergrund entfaltet er die Geschichte eines britischen Diplomaten in einem burmesischen Außenposten. Lesenswert vor allem wegen der Schilderungen der Landeskultur - und George Orwells bitterböser Abrechnung mit der britischen Kolonial-Mentalität.«
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Seitenzahl: 446
George Orwell
Tage in Burma
Roman
Aus dem Englischen vonSusanna Rademacher
Die Originalausgabe
erschien 1935 in London
unter dem Titel ›Burmese Days‹
Copyright © by The Estate
of the late Sonia Brownell Orwell
Diese letzte Übersetzung von
Susanna Rademacher konnte vor ihrem Tod
nicht mehr fertiggestellt werden
und ist daher (von S.291 der Buchausgabe an)
von Tina Richter ergänzt worden
Für die Auflage von 1986 wurde die Übersetzung
von Manfred Papst durchgesehen
Ein Glossar von Namen und Wörtern
findet sich am Ende des eBooks
Covermotiv: Illustration von
Tomi Ungerer
Alle deutschen Rechte vorbehalten
Copyright © 2012
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 20308 0
ISBN E-Book 978 3 257 60250 0
[5] …In dieser unzugangbarn Wildnis
Unter dem Schatten melanchol’scher Wipfel…
(Shakespeare,
[7] I
U Po Kyin, Distriktsrichter von Kyauktada in Ober-Burma, saß auf seiner Veranda. Es war erst halb neun, aber man schrieb den Monat April, und in der Luft lag eine Schwüle, eine Drohung der langen, stickigen Mittagsstunden. Hin und wieder bewegte ein schwacher Windhauch, der vergleichsweise kühl erschien, die frisch bewässerten Orchideen, die von der Dachkante herabhingen. Hinter den Orchideen konnte man den staubigen, gekrümmten Stamm einer Palme sehen und weiter hinten den flammenden ultramarinblauen Himmel. Oben im Zenit, so hoch, daß einem beim Hinaufsehen schwindlig wurde, kreisten ein paar Geier ohne den geringsten Flügelschlag.
Ohne zu blinzeln, starrte U Po Kyin wie ein großer Porzellangötze in das wilde Sonnenlicht hinaus. Er war ein Mann von fünfzig Jahren und so dick, daß er sich seit Jahren nicht ohne Hilfe aus seinem Sessel erhoben hatte, dabei aber wohlgestaltet und sogar schön in seiner Fülle; denn die Burmanen werden nicht schlaff und verquollen wie die Weißen, sondern nehmen symmetrisch zu wie schwellende Früchte. Sein Gesicht war großflächig, gelb und völlig faltenlos, und seine Augen hatten eine gelblichbraune Farbe. Seine Füße – platt mit hohem Spann und gleichmäßig langen Zehen – waren nackt wie auch sein kahlgeschorener Kopf, und er war mit einem bunten, magentarot und grün karierten arakanesischen Longyi bekleidet, wie die Burmanen sie als bequemes Hausgewand tragen. Er kaute Betel, den er einem auf dem Tisch stehenden Lackkästchen entnahm, und dachte über seine Vergangenheit nach.
Es war ein glänzend erfolgreiches Leben gewesen. U Po Kyins früheste Erinnerung – sie reichte in die achtziger Jahre zurück – [8] war der Einmarsch der siegreichen britischen Truppen in Mandalay, den er, ein kugelbäuchiges Kind, mitangesehen hatte. Er erinnerte sich, wie diese Kolonnen großer Beefsteakmänner mit roten Gesichtern und roten Röcken ihn entsetzt hatten; und die langen Gewehre auf ihren Schultern und das schwere, rhythmische Stampfen ihrer Stiefel. Nach ein paar Minuten hatte er Fersengeld gegeben, denn in seinem kindlichen Sinn hatte er begriffen, daß sein Volk dieser Rasse von Riesen nicht gewachsen war. Auf der Seite der Briten zu kämpfen, von ihrer Größe zu profitieren, war schon in der Kindheit sein höchster Ehrgeiz gewesen.
Mit siebzehn hatte er sich um eine Anstellung bei der Regierung beworben, aber ohne Erfolg, denn er war arm und ohne Beziehungen, und so hatte er drei Jahre lang in dem stinkenden Labyrinth der Basare von Mandalay als Gehilfe der Reishändler gearbeitet, und hin und wieder hatte er gestohlen. Dann mit zwanzig Jahren war er durch einen Glücksfall von Erpressung in den Besitz von vierhundert Rupien gekommen; er ging sofort nach Rangun und kaufte sich in eine Regierungsstelle ein. Trotz des geringen Gehaltes war dieser Posten recht einträglich. Ein Ring von Angestellten bezog damals ein regelmäßiges Einkommen aus der Unterschlagung staatlicher Lagerbestände, und Po Kyin (er hieß damals einfach Po Kyin, das ehrenvolle U kam Jahre später) beteiligte sich natürlich daran. Er war jedoch zu talentiert, um sein Leben lang ein kleiner Angestellter zu bleiben und sich auf den kläglichen Diebstahl von Münzen wie Annas und Pice zu beschränken. Eines Tages kam ihm zu Ohren, daß die Regierung, die knapp an unteren Beamten war, einige Angestellte zu befördern gedachte. Diese Nachricht hätte sich binnen einer Woche herumgesprochen, aber es gehörte zu Po Kyins Fähigkeiten, stets eine Woche früher als alle anderen informiert zu sein. Er sah seine Chance und denunzierte alle seine Komplizen, bevor sie gewarnt werden konnten. Die meisten wanderten ins Gefängnis, und Po Kyin wurde zum Lohn für seine Redlichkeit zum Hilfsgemeindebeamten ernannt. Seitdem [9] war er unaufhaltsam aufgestiegen. Jetzt, mit sechsundfünfzig Jahren, war er Distriktsrichter, und er würde wohl noch weiter befördert werden bis zum amtierenden Kommissar, dem Engländer gleichgestellt und einige sogar untergeordnet waren.
Seine Rechtssprechung geschah nach sehr einfachen Methoden. Auch für die höchste Summe verkaufte er niemals sein Urteil in einem Fall, denn er wußte, daß ein Richter, dessen Urteile gefälscht sind, früher oder später dabei erwischt wird. Sein Verfahren war viel sicherer: er ließ sich von beiden Parteien bestechen und entschied dann den Fall nach streng juristischen Grundsätzen. Das verschaffte ihm den nützlichen Ruf, unparteiisch zu sein. Neben seinen Einkünften von den prozeßführenden Parteien erhob U Po Kyin fortgesetzt einen Zoll, eine Art Privatsteuer von allen Dörfern, die seiner Gerichtsbarkeit unterstanden. Wenn ein Dorf seinen Tribut nicht zahlte, ergriff U Po Kyin Strafmaßnahmen – Räuberbanden überfielen das Dorf, führende Dorfbewohner wurden unter falschen Anklagen verhaftet und so fort –, und die Summe wurde immer binnen kurzem bezahlt. Er erhielt auch einen Anteil am Erlös aller größeren Raubzüge, die im Distrikt verübt wurden. Fast alle diese Tatsachen waren natürlich jedermann bekannt mit Ausnahme von U Po Kyins dienstlichen Vorgesetzten (kein britischer Beamter wird je etwas glauben, was gegen seine eigenen Leute spricht), aber die Versuche, ihn zu entlarven, schlugen ausnahmslos fehl; seine Helfershelfer, die ihm wegen ihres Anteils an der Beute die Treue hielten, waren zu zahlreich. Wenn eine Anklage gegen U Po Kyin vorgebracht wurde, ließ er sie einfach von einer Anzahl hergerichteter Zeugen entkräften und antwortete mit Gegenklagen, die seine Position nur noch stärkten. Er war so gut wie unangreifbar, denn er war ein zu guter Menschenkenner, um sich je falscher Werkzeuge zu bedienen, und außerdem von seinem Ränkespiel derart absorbiert, daß weder Leichtsinn noch Unwissenheit zu einem Fehlgriff führen konnte. Man konnte so gut wie sicher sagen, daß ihm niemand auf seine Schliche kommen und er von Erfolg zu Erfolg schreiten und [10] schließlich hoch in Ehren und mehrere hunderttausend Rupien schwer sterben würde.
Und auch über das Grab hinaus würde sein Erfolg erhalten bleiben. Nach buddhistischem Glauben werden diejenigen, die im Leben Böses getan haben, als Ratte, Frosch oder sonst ein niederes Tier wieder verkörpert. U Po Kyin war ein guter Buddhist und gedachte sich gegen diese Gefahr abzusichern. Er würde seine letzten Jahre auf gute Werke verwenden, die ihm eine Menge Verdienste einbringen würden und sein ganzes übriges Leben aufwogen. Diese guten Werke würden wahrscheinlich in der Errichtung von Pagoden bestehen. Vier Pagoden, fünf, sechs, sieben – die Priester würden ihm sagen, wie viele, mit kunstvoller Steinmetzarbeit, vergoldeten Sonnenschirmen und Glöckchen, die im Winde klingelten, jedes Klingeln ein Gebet. Und er würde als Mensch wieder auf die Erde kommen, und zwar als Mann – denn eine Frau steht ungefähr auf derselben Stufe mit einer Ratte oder einem Frosch – oder bestenfalls mit einem würdigeren Tier, z.B. einem Elefanten.
All diese Gedanken flogen U Po Kyin hurtig durch den Kopf, größtenteils in Bildern. Sein Denkapparat war schlau, aber ganz barbarisch und vermochte ausschließlich auf ein bestimmtes Ziel hin zu arbeiten; reine Meditation lag außerhalb seines Horizontes. Jetzt hatte er den Punkt erreicht, auf den seine Gedanken abzielten. Er legte seine ziemlich kleinen, dreieckigen Hände auf die Armlehnen seines Sessels, wandte sich ein wenig um und rief leicht schnaufend:
»Ba Taik! Heh, Ba Taik!«
U Po Kyins Diener Ba Taik trat durch den Perlenvorhang auf die Veranda. Er war sehr klein, und sein pockennarbiges Gesicht hatte einen schüchternen, etwas hungrigen Ausdruck. U Po Kyin zahlte ihm keinen Lohn, denn er hatte wegen Diebstahls im Gefängnis gesessen, und ein Wort hätte genügt, ihn wieder dorthin zu bringen. Während Ba Taik sich seinem Herrn näherte, verbeugte er sich so tief, daß man den Eindruck hatte, er ginge rückwärts.
[11] »Heiligster Gott?« fragte er.
»Wartet jemand auf mich, Ba Taik?«
Ba Taik zählte die Wartenden an den Fingern auf: »Da ist der Dorfälteste aus Thitpingyi mit Geschenken, Euer Ehren, und zwei Bauern mit einer Klage wegen Überfalls, die sie bei Euer Ehren Vorbringen wollen, auch sie mit Geschenken. Ko Ba Sein, der Oberschreiber aus dem Büro des amtierenden Kommissars, wünscht Sie zu sehen, und außerdem der Polizist Ali Shah und ein Bandit, dessen Namen ich nicht weiß. Ich glaube, sie haben Streit wegen ein paar Goldreifen, die sie gestohlen haben. Und dann ist da noch ein junges Bauernmädchen mit einem Säugling.«
»Was will sie?« fragte U Po Kyin.
»Sie sagt, das Kind wäre von Ihnen, Heiligster.«
»Aha. Und wieviel hat der Dorfälteste mitgebracht?«
Ba Taik glaubte, es seien nur zehn Rupien und ein Korb Mangopflaumen.
»Sag dem Ältesten«, sagte U Po Kyin, »es müssen zwanzig Rupien sein, und wenn das Geld nicht bis morgen hier ist, werden er und sein Dorf es bereuen. Die anderen werde ich später empfangen. Jetzt soll Ko Ba Sein zu mir hereinkommen.«
Ba Sein erschien sogleich. Er war ein aufrechter, schmalschultriger Mann, sehr groß für einen Burmanen, und hatte ein merkwürdig glattes Gesicht, das an Mokka-Creme denken ließ. Für U Po Kyin war er ein nützliches Werkzeug. Phantasielos und fleißig, war er ein ausgezeichneter Angestellter, und Mr. Macgregor, der amtierende Kommissar, vertraute ihm die meisten seiner dienstlichen Geheimnisse an. U Po Kyin, den seine Gedanken in gute Laune versetzt hatten, begrüßte Ba Sein lachend und wies auf das Betelkästchen.
»Nun, Ko Ba Sein, wie geht unsere Angelegenheit voran? Ich hoffe, daß sie, wie unser lieber Mr.Macgregor sagen würde« – U Po Kyin ging plötzlich zum Englischen über – »bemerkenswerte Fortschritte macht?«
Ba Sein lächelte nicht über den kleinen Scherz. Während er sich steif und langrückig in den freien Sessel setzte, antwortete er:
[12] »Ausgezeichnet, Sir. Unsere Zeitung ist heute morgen gekommen. Wenn Sie freundlicherweise sehen wollen…«
Er zog eine Nummer einer zweisprachigen Zeitung namens Burma-Patriot heraus. Sie war ein erbärmlicher, acht Seiten umfassender Fetzen, auf löschblattartigem Papier miserabel gedruckt, und bestand teils aus Nachrichten, die von der Ranguner Gazette gestohlen waren, teils aus schwächlichen nationalistischen Heldentaten. Auf der letzten Seite waren die Typen verrutscht, so daß sie von oben bis unten kohlschwarz war, als trüge die Zeitung Trauer wegen ihrer geringen Auflage. Der Artikel, dem U Po Kyin sich nun zuwandte, war in einer anderen Type gesetzt als der übrige Text. Er lautete:
In dieser glücklichen Zeit, da wir armen Schwarzen durch die mächtige westliche Zivilisation mit ihren mannigfaltigen Wohltaten wie Kinematograph, Maschinengewehre, Syphilis usw. einen ungeahnten Aufstieg genießen, welches Thema könnte da interessanter sein als das Privatleben unserer europäischen Wohltäter? Wir glauben darum, daß es unsere Leser vielleicht interessieren wird, etwas über die Vorgänge in dem binnenländischen Distrikt von Kyauktada zu hören. Besonders von Mr.Macgregor, dem ehrenwerten Kommissar besagten Distrikts.
Mr.Macgregor gehört zum Typ des vornehmen alten englischen Gentleman, für den wir, in dieser glücklichen Zeit, so viele Beispiele vor Augen haben. Er ist ein ›Familienmensch‹, wie unsere lieben englischen Vettern sagen. Er ist sogar in höchstem Maße ein Familienmensch, denn er hat im Distrikt Kyauktada, wo er ein Jahr lang war, drei Kinder, und in Shwemyo, seinem letzten Distrikt, sechs kleine Nachkommen hinterlassen. Vielleicht ist es Mr.Macgregor versehentlich entgangen, daß er diese kleinen Kinder völlig unversorgt zurückgelassen hat und daß einige ihrer Mütter dem Hungertode nahe sind usw. usw. usw.
In diesem Ton ging es noch eine Spalte lang weiter, und so jämmerlich es war, so war es doch über den übrigen Inhalt der [13] Zeitung hoch erhaben. U Po Kyin las den Artikel, den er auf Armeslänge von sich abhielt – er war weitsichtig –, sorgfältig durch, schürzte nachdenklich die Lippen und entblößte eine große Anzahl tadelloser kleiner Zähne, die vom Betelsaft blutrot gefärbt waren.
»Der Redakteur wird sechs Monate Gefängnis dafür kriegen«, sagte er schließlich.
»Das stört ihn nicht. Wie er sagt, ist die Zeit im Gefängnis die einzige, wo er vor seinen Gläubigern sicher ist.«
»Und du sagst, dein kleiner Lehrling Hla Pe hat diesen Artikel ganz allein geschrieben? Ein sehr gescheiter Bursche – ein höchst vielversprechender Bursche! Erzähl mir nie wieder, daß diese staatlichen höheren Schulen Zeitverschwendung sind. Hla Pe wird bestimmt seinen Angestelltenposten bekommen.«
»Dann glauben Sie also, Sir, daß dieser Artikel genügen wird?«
U Po Kyin antwortete nicht sofort. Ein schnaufendes, gequältes Geräusch ging von ihm aus; er versuchte sich von seinem Sessel zu erheben. Ba Taik war dieses Geräusch nicht unbekannt. Er trat durch den Perlenvorhang, und er und Ba Sein legten je eine Hand unter U Po Kyins Achselhöhlen und hievten ihn auf die Beine. U Po Kyin blieb einen Augenblick stehen, um wie ein Fischträger, der seine Last zurechtrückt, das Gewicht seines Bauches auf den Beinen ins Gleichgewicht zu bringen. Dann entließ er Ba Taik mit einem Wink.
»Nein, genügt nicht«, sagte er auf Ba Seins Frage. »Genügt keineswegs. Da gibt es noch eine Menge zu tun. Aber dies ist der richtige Anfang. Hör zu.«
Er ging zur Brüstung und spuckte einen Mundvoll scharlachroten Betelsaft aus, dann begann er, die Hände auf dem Rücken, mit kurzen Schritten auf der Veranda auf und ab zu schreiten. Die Reibung seiner gewaltigen Schenkel verlieh seinem Gang etwas leicht Watschelndes. Während er auf und ab ging, sprach er in dem unreinen Jargon der Regierungsbüros – einem Mischmasch aus burmanischen Verben und abstrakten englischen Redewendungen:
[14] »Also, gehen wir diese Angelegenheit von Anfang an durch. Wir werden einen konzertierten Angriff auf Dr.Veraswami machen, den Zivilchirurgen und Gefängnisdirektor. Wir werden ihn verleumden, seinen Ruf zerstören und ihn schließlich für immer ruinieren. Es ist ein ziemlich heikles Unternehmen.«
»Ja, Sir.«
»Wir riskieren nichts, aber wir müssen langsam vorgehen. Wir haben es hier nicht mit einem jämmerlichen Angestellten oder Polizisten zu tun. Wir haben es mit einem hohen Beamten zu tun, und ein hoher Beamter, auch ein Inder, ist etwas anderes als ein Angestellter. Wie ruiniert man einen Angestellten? Ganz leicht; eine Anklage, zwei Dutzend Zeugen, Entlassung und Gefängnis. Aber das genügt hier nicht. Sachte, sachte, ganz sachte werde ich vorgehen. Kein Skandal und vor allem keine offizielle Ermittlung. Keine Beschuldigungen, auf die man etwas erwidern kann, und doch muß ich es binnen drei Monaten jedem Europäer in Kyauktada einhämmern, daß der Doktor ein Schurke ist. Womit soll ich ihn beschuldigen? Bestechung geht nicht, ein Arzt bekommt keine nennenswerten Bestechungsgelder. Was dann?«
»Wir könnten vielleicht eine Meuterei im Gefängnis einrichten«, sagte Ba Sein. »Man würde dem Doktor die Schuld geben, er ist ja der Direktor.«
»Nein, das ist zu gefährlich. Ich will nicht, daß die Gefängniswärter nach allen Richtungen um sich schießen. Außerdem wäre es kostspielig. Es muß also Illoyalität sein, das ist klar – Nationalismus, Aufhetzung zum Aufruhr. Wir müssen den Europäern einreden, daß der Doktor illoyale, antibritische Ansichten hat. Das ist viel schlimmer als Bestechung; von einem eingeborenen Beamten erwarten sie sowieso, daß er bestechlich ist. Aber wenn sie auch nur einen Augenblick an seiner Loyalität zweifeln, ist er erledigt.«
»Es wäre schwer zu beweisen«, wandte Ba Sein ein. »Der Doktor ist den Europäern gegenüber sehr loyal. Er wird böse, wenn jemand etwas gegen sie sagt. Und sie wissen es, glauben Sie nicht?«
[15] »Unsinn, Unsinn«, sagte U Po Kyin behaglich. »Kein Europäer schert sich um Beweise. Bei einem Mann mit schwarzem Gesicht ist ein Verdacht schon Beweis. Ein paar anonyme Briefe wirken Wunder. Es ist nur eine Frage der Ausdauer; anklagen, anklagen, immer wieder anklagen – so muß man mit den Europäern umgehen. Ein anonymer Brief nach dem anderen, abwechselnd an alle Europäer. Und dann, wenn ihr Mißtrauen gründlich geweckt ist –« U Po Kyin zog den einen kurzen Arm hinter dem Rücken hervor und schnipste mit Daumen und Finger. »Wir beginnen mit diesem Artikel im Burma-Patriot«, setzte er hinzu. »Die Europäer werden vor Wut schäumen, wenn sie ihn sehen. Der nächste Schritt ist, ihnen einzureden, daß der Doktor ihn geschrieben hat.«
»Es wird schwierig sein, dieweil er unter den Europäern Freunde hat. Sie alle gehen zu ihm, wenn sie krank sind. Er hat Mr.Macgregor von seinen Blähungen geheilt bei diesem kalten Wetter. Sie betrachten ihn als einen sehr klugen Doktor, glaube ich.«
»Wie wenig du die Europäer verstehst, Ko Ba Sein! Die Europäer gehen nur zu Veraswami, weil es in Kyauktada keinen anderen Arzt gibt. Kein Europäer vertraut einem Mann mit schwarzem Gesicht. Nein, bei den anonymen Briefen kommt es nur darauf an, daß man genug schickt. Ich werde bald dafür sorgen, daß er keine Freunde mehr hat.«
»Da ist Mr.Flory, der Holzhändler«, sagte Ba Sein. (Er sprach es ›Mr. Porley‹ aus.) »Er ist ein guter Freund von dem Doktor. Ich sehe ihn jeden Morgen zu ihm gehen, wenn er in Kyauktada ist. Zweimal hat er den Doktor sogar zum Essen eingeladen.«
»Ah, da hast du recht. Wenn Flory ein Freund von dem Doktor wäre, das könnte uns schaden. Man kann einen Inder nicht verletzen, wenn er einen europäischen Freund hat. Das gibt ihm – wie heißt das Wort, das sie so gern haben? – Prestige. Aber Flory wird seinen Freund sehr schnell fallenlassen, wenn die Schererei anfängt. Diese Leute haben kein Gefühl der Treue zu einem Eingeborenen. Übrigens weiß ich zufällig, daß Flory ein [16] Feigling ist. Mit dem werde ich fertig. Deine Rolle ist, Mr.Macgregor zu beobachten, Ko Ba Sein. Hat er in letzter Zeit an den Kommissar geschrieben – vertraulich, meine ich?«
»Er hat vor zwei Tagen geschrieben, aber als wir den Brief über Dampf geöffnet haben, fanden wir, daß es nichts von Bedeutung war.«
»Nun gut, wir werden ihm was zu schreiben geben! Und sobald er den Doktor verdächtigt, dann ist es Zeit für diese andere Angelegenheit, von der ich zu dir gesprochen habe. So werden wir – was pflegt Mr.Macgregor zu sagen? Ach ja, ›zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen‹. Einen ganzen Schwarm von Fliegen – haha!«
U Po Kyins Lachen war ein ekelhaftes Blubbern tief in seinem Bauch wie die Vorbereitung eines Hustenanfalls; dabei klang es fröhlich, sogar kindlich. Er sagte nichts weiter über die ›andere Angelegenheit‹ die selbst für ein Gespräch auf der Veranda zu privat war. Als Ba Sein merkte, daß die Unterredung beendet war, stand er auf und verbeugte sich eckig wie ein mit einem Gelenk versehenes Lineal.
»Wünscht Euer Ehren sonst noch etwas?« fragte er.
»Vergewissere dich, daß Mr.Macgregor den heutigen Burma-Patriot zu sehen bekommt. Hla Pe solltest du lieber sagen, er soll einen Ruhranfall bekommen und nicht ins Büro gehen. Ich brauche ihn für die anonymen Briefe. Das wäre für den Augenblick alles.«
»Dann darf ich gehen, Sir?«
»Gott sei mit dir«, sagte U Po Kyin etwas zerstreut, und gleich darauf rief er wieder nach Ba Taik. Er verschwendete keinen Augenblick seines Tages. Er brauchte nicht lange dazu, die anderen Besucher abzufertigen und das Dorfmädchen ohne Lohn wegzuschicken, nachdem er ihr Gesicht gemustert und gesagt hatte, er erkenne sie nicht. Jetzt war Frühstückszeit. Schmerzhafte Hungergefühle, die ihn jeden Morgen pünktlich um diese Stunde überkamen, begannen seinen Leib zu peinigen. Er rief dringlich:
[17] »Ba Taik! Heh, Ba Taik! Kin Kin! Mein Frühstück! Mach schnell, ich verhungere.«
Im Wohnzimmer hinter dem Vorhang war bereits der Tisch gedeckt: eine riesige Schüssel Reis und ein Dutzend Schälchen mit Curry, getrockneten Garnelen und Scheibchen von grünen Mangopflaumen. U Po Kyin watschelte zum Tisch, ließ sich grunzend nieder und fiel sofort über das Essen her. Seine Frau Ma Kin stand hinter ihm und bediente ihn. Sie war eine hagere Frau von fünfundvierzig Jahren mit einem freundlichen, hellbraunen Affengesicht. U Po Kyin beachtete sie nicht, während er aß. Die Schüssel dicht unter der Nase, stopfte er schnell atmend mit flinken, fettigen Fingern die Speisen in sich hinein. All seine Mahlzeiten waren flink, leidenschaftlich und enorm, weniger Mahlzeiten als Orgien, Schwelgereien in Curry und Reis. Als er fertig war, lehnte er sich zurück, rülpste ein paarmal und befahl Ma Kin, ihm eine grüne burmanische Zigarre zu holen. Er rauchte nie englischen Tabak, der, wie er erklärte, keinen Geschmack hatte.
Bald darauf zog U Po Kyin mit Ba Taiks Hilfe seinen Büroanzug an; dann stand er eine Weile vor dem hohen Spiegel im Wohnzimmer und bewunderte sich. Es war ein holzgetäfelter Raum mit zwei Säulen, noch als Teakholzstämme erkennbar, die den Firstbalken trugen; es war dunkel und schlampig darin wie in allen burmanischen Zimmern, obgleich U Po Kyin es nach ›Ingaleik‹ Mode eingerichtet hatte mit einem furnierten Büfett und passenden Sesseln, einigen Lithographien von der königlichen Familie und einem Feuerlöscher. Auf dem Fußboden lagen Bambusmatten, die mit Limonen- und Betelsaft befleckt waren.
Ma Kin saß in der Ecke auf einer Matte und nähte an einem Ingyi. U Po Kyin drehte sich langsam vor dem Spiegel und bemühte sich, einen Blick auf seine Rückseite zu werfen. Er trug einen Gaungbaung aus hellrosa Seide, einen Ingyi aus gestärktem Musselin und einen Paso aus Mandalay-Seide, einem prachtvollen lachsfarbenen, gelb gemusterten Brokat. Mit Anstrengung drehte er den Kopf und betrachtete wohlgefällig den stramm und glänzend sein riesiges Hinterteil bedeckenden Paso. Er war stolz [18] auf seine Beleibtheit, weil die Masse Fleisch für ihn ein Symbol seiner Größe war. Er war einst ein unbekannter Hungerleider gewesen – jetzt war er dick, reich und gefürchtet. Er fühlte sich geschwellt von den Leibern seiner Feinde – ein Gedanke, aus dem er etwas sog, was der Poesie sehr nahe kam.
»Mein neuer Paso war billig – nur zweiundzwanzig Rupien, heh, Kin Kin?« fragte er.
Ma Kin beugte den Kopf über ihre Näharbeit. Sie war eine schlichte, altmodische Frau, die noch weniger über europäische Gewohnheiten gelernt hatte als U Po Kyin. Sie konnte nicht ohne Mißbehagen auf einem Stuhl sitzen. Jeden Morgen ging sie, einen Korb auf dem Kopf, zum Basar wie eine Bauernfrau, und abends konnte man sie in ihrem Garten knien sehen, wo sie zu dem weißen Turm der Pagode betete, welche die Stadt krönte. Seit mindestens zwanzig Jahren vertraute U Po Kyin ihr seine Intrigen an.
»Ko Po Kyin«, sagte sie, »du hast in deinem Leben sehr viel Böses getan.«
U Po Kyin machte eine abwehrende Handbewegung. »Was schadet das? Meine Pagoden werden alles wiedergutmachen. Ich habe noch viel Zeit.«
Ma Kin beugte den Kopf wieder über ihre Näharbeit, sie hatte einen eigensinnigen Ausdruck wie immer, wenn sie etwas mißbilligte.
»Aber Ko Po Kyin, wozu all dieses Pläneschmieden und Intrigieren? Ich habe dich auf der Veranda mit Ko Ba Sein sprechen gehört. Du planst etwas Böses gegen Dr.Veraswami. Warum willst du diesem indischen Arzt schaden? Er ist ein guter Mann.«
»Was verstehst du von diesen dienstlichen Angelegenheiten, Weib? Der Doktor ist mir im Wege. Erstens weigert er sich, Bestechungsgelder anzunehmen, und das erschwert uns anderen das Leben. Und außerdem – nun, da ist noch etwas anderes, was du mit deinem Weibergehirn nie verstehen kannst.«
»Ko Po Kyin, du bist reich und mächtig geworden, und was [19] hat es dir genützt? Wir waren glücklicher, als wir arm waren. Ach, ich besinne mich so gut darauf, wie du nur ein Gemeindebeamter warst, das erste Mal, daß wir ein eigenes Haus hatten. Wie stolz waren wir auf unsere neuen Korbmöbel und auf deinen Füllfederhalter mit dem goldenen Klipp! Und wie geehrt fühlten wir uns, als der junge englische Polizeioffizier zu uns kam und auf dem besten Stuhl saß und eine Flasche Bier trank! Geld bringt kein Glück. Was willst du jetzt mit noch mehr Geld?«
»Unsinn, Weib, Unsinn! Kümmere du dich um deine Kocherei und Näherei und überlaß die dienstlichen Angelegenheiten denen, die etwas davon verstehen.«
»Nun ja, ich weiß nicht. Ich bin deine Frau und habe dir immer gehorcht. Aber wenigstens ist es nie zu früh, sich Verdienste zu erwerben. Du solltest danach streben, mehr Verdienste zu erwerben, Ko Po Kyin! Willst du nicht zum Beispiel ein paar lebende Fische kaufen und im Fluß freisetzen? Man kann auf diese Weise viel Verdienst erwerben. Außerdem haben die Priester, als sie heute früh ihren Reis holten, mir erzählt, daß im Kloster zwei neue Priester sind, die auch Hunger haben. Willst du ihnen nicht etwas geben, Ko Po Kyin? Ich selber habe ihnen nichts gegeben, damit du das Verdienst dafür erwerben kannst.«
U Po Kyin wandte sich vom Spiegel ab. Dieser Appell hatte ihn ein wenig getroffen. Wenn es ohne Unbequemlichkeit zu machen war, versäumte er keine Gelegenheit, Verdienste zu erwerben. In seinen Augen war die Summe seiner Verdienste eine Art Bankkonto, das sich unablässig vermehrte. Jeder im Fluß freigesetzte Fisch, jedes Geschenk für einen Priester war ein Schritt auf dem Wege zum Nirwana. Das war ein beruhigender Gedanke. Er gab Anweisung, den Korb Mangopflaumen, den der Dorfälteste gebracht hatte, ins Kloster zu schicken.
Bald darauf verließ er das Haus und ging die Straße hinunter, gefolgt von Ba Taik, der einen Aktenordner trug. Er ging langsam und sehr aufrecht, um seinen umfangreichen Bauch im Gleichgewicht zu halten, und hielt über dem Kopf einen gelbseidenen Sonnenschirm. Sein rosa Paso glitzerte in der Sonne wie [20] ein in Satinpapier gewickeltes Praliné. Er ging ins Gericht zur Verhandlung der heute anstehenden Rechtsfälle.
II
Etwa um die Zeit, als U Po Kyin mit seinen Vormittagsgeschäften begann, ging ›Mr.Porley‹, der Holzhändler und Freund von Dr.Veraswami, aus seinem Haus und in Richtung Club.
Flory war ein etwa fünfunddreißigjähriger, mittelgroßer, nicht unansehnlicher Mann. Er hatte sehr schwarzes, steifes, tief ansetzendes Haar und einen gestutzten schwarzen Schnurrbart, und seine von Natur bläßliche Haut war von der Sonne gebräunt. Da er weder dick noch kahl geworden war, wirkte er nicht älter als seine Jahre, aber sein Gesicht war trotz der Sonnenbräune sehr abgezehrt, mit schmalen Wangen und einem eingesunkenen, welken Aussehen um die Augen. Er hatte sich offenbar heute morgen nicht rasiert. Er trug das übliche weiße Hemd, khakifarbene Drellshorts und Strümpfe, aber statt eines Tropenhelms einen zerbeulten breitkrempigen Filzhut, den er schief über das eine Auge gezogen hatte. Er hatte einen Bambusstock mit einem Handgelenkriemen bei sich, und ein schwarzer Cockerspaniel namens Flo trottete hinter ihm her.
Aber all dies waren sekundäre Kennzeichen. Das erste, was an Flory auffiel, war ein häßliches Muttermal, das sich als gezackter Halbmond über seine linke Wange zog, vom Auge bis zum Mundwinkel. Von links her gesehen hatte sein Gesicht ein angeschlagenes, vergrämtes Aussehen, als wäre das Muttermal ein Bluterguß – denn es war von dunkelblauer Farbe. Er war sich seiner Häßlichkeit voll bewußt. Und stets, wenn er nicht allein war, hatten seine Bewegungen eine seitlich schräge Tendenz, da er ständig lavierte, um das Muttermal nicht sehen zu lassen.
[21] Florys Haus stand oberhalb des Marktplatzes, dicht am Rande des Dschungels. Von dem Gartentor aus senkte sich der ausgedörrte, khakifarbene Marktplatz steil herab, und um ihn herum stand ein halbes Dutzend blendendweißer Bungalows. Alles zitterte und bebte in der heißen Luft. Auf halbem Wege bergab lag ein von einer weißen Mauer umgebener englischer Friedhof und nahebei eine kleine Kirche mit einem Blechdach. Dahinter war der European Club, und wenn man den Club – einen plumpen, einstöckigen Holzbau – ansah, hatte man das eigentliche Zentrum der Stadt vor sich. In jeder indischen Stadt ist der Europäische Club die geistige Zitadelle, der eigentliche Sitz der britischen Macht, das Nirwana, nach dem die eingeborenen Beamten und Millionäre vergeblich schmachten. Das war hier doppelt der Fall, denn der Club von Kyauktada rühmte sich, daß er, fast als einziger Club in Burma, nie einen Orientalen als Mitglied aufgenommen hatte. Hinter dem Club strömte riesig und ockergelb der Irrawaddy und blitzte an Stellen, auf die die Sonne fiel, wie Diamanten; jenseits erstreckte sich die große Einöde von Reisfeldern, die am Horizont von einer Kette schwärzlicher Berge abgeschlossen wurde.
Die Eingeborenenstadt einschließlich der Gerichtsgebäude und des Gefängnisses lag drüben auf der rechten Seite, größtenteils zwischen grünen Hainen von heiligen Bobäumen versteckt. Der Turm der Pagode erhob sich aus den Bäumen wie ein schlanker Speer mit goldener Spitze. Kyauktada war für das obere Burma eine ziemlich typische Stadt, die sich zwischen den Tagen von Marco Polo und 1910 nicht sehr verändert hatte und die im Mittelalter noch ein weiteres Jahrhundert hätte schlafen können, wenn sie sich nicht als passende Stelle für eine Eisenbahnendstation erwiesen hätte. 1910 machte die Regierung sie zum Hauptquartier eines Distrikts und zum Sitz des Fortschritts – zu verstehen als ein Block von Gerichtsgebäuden mit ihrer Armee von dicken, aber gierigen Anwälten, einem Krankenhaus, einer Schule und einem dieser riesengroßen, beständigen Gefängnisse, welche die Engländer überall zwischen Gibraltar und [22] Hong Kong gebaut haben. Die Bevölkerung betrug etwa viertausend Menschen, darunter ein paar hundert Inder, ein paar Dutzend Chinesen und sieben Europäer. Es gab auch zwei Eurasier, Mr.Francis und Mr.Samuel, die Söhne eines amerikanischen baptistischen Missionars und einer römisch katholischen Missionarin. Die Stadt enthielt keinerlei Sehenswürdigkeiten außer einem indischen Fakir, der seit zwanzig Jahren in einem Baum in der Nähe des Basars lebte und sich sein Essen jeden Morgen in einem Korb heraufzog.
Flory gähnte, als er aus seinem Tor trat. Er hatte sich gestern abend halb betrunken, und das blendende Licht machte ihn reizbar. »O dieses verdammte Loch!« dachte er, während er den Hügel hinabschaute. Und da außer dem Hund niemand in der Nähe war, begann er laut zu singen: »Scheißig, scheißig, scheißig, scheißig geht es her« zur Melodie von »Heilig, heilig, heilig, heilig ist der Herr«, während er die heiße, rote Straße hinunterging und dabei das ausgedörrte Gras mit seinem Stock peitschte. Es war fast neun Uhr, und die Sonne wurde mit jeder Minute glühender. Die Hitze hämmerte einem auf den Kopf mit stetigen, rhythmischen Stößen wie Schläge mit einem riesigen Polster. Flory blieb vor dem Gartentor des Clubs stehen und wußte nicht recht, ob er hineingehen oder die Straße weitergehen und Dr.Veraswami besuchen sollte. Dann fiel ihm ein, daß heute »englischer Posttag« war und die Zeitungen gekommen sein würden. Er ging hinein, vorbei an dem hohen Drahtgitter des Tennisplatzes, das mit einer Kletterpflanze mit sternförmigen malvenfarbigen Blüten bewachsen war.
Auf den Rabatten neben dem Weg drängten sich englische Blumen – Phlox und Rittersporn, Stockrosen und Petunien –, die die Sonne noch nicht erschlagen hatte, in üppiger Größe und Fülle. Die Petunien waren riesig, fast wie Bäume. Einen Rasen gab es nicht, aber ein Gebüsch von einheimischen Bäumen und Sträuchern – goldgelbe Mohurbäume wie große Sonnenschirme mit blutroten Blüten, Jasminsträucher mit sahnefarbenen, stiellosen Blüten, purpurne Bougainvillea, scharlachroter Hibiskus [23] und die rosafarbene chinesische Rose, gallig grüne Krotons, gefiederte Tamarindenwedel. Der Zusammenstoß der Farben in dem blendenden Licht tat den Augen weh. Ein fast nackter Mali bewegte sich, die Gießkanne in der Hand, in dem Blumendschungel wie ein großer honigsaugender Vogel.
Auf den Stufen zum Club stand, die Hände in den Taschen seiner Shorts, ein strohblonder Engländer mit stacheligem Schnurrbart, zu weit auseinanderstehenden hellgrauen Augen und im Verhältnis zu seinen Beinen abnorm dünnen Waden. Es war Mr.Westfield, der Polizeiinspektor des Distrikts. Mit sehr gelangweilter Miene schaukelte er auf den Fersen vor und zurück und schürzte die Oberlippe, so daß sein Schnurrbart ihn an der Nase kitzelte. Er grüßte Flory mit einer leichten Seitenbewegung des Kopfes. Er sprach knapp und soldatisch und ließ jedes Wort weg, das nicht unbedingt notwendig war. Fast alles, was er sagte, war als Scherz gemeint, aber sein Ton war dumpf und melancholisch.
»Hallo Flory, alter Junge. Ganz fürchterlicher Morgen, was?«
»Damit müssen wir in dieser Jahreszeit wohl rechnen«, sagte Flory. Er hatte sich ein bißchen zur Seite gewandt, so daß die Wange mit dem Muttermal von Westfield abgewandt war.
»Ja, verdammt nochmal. Zwei Monate noch so weiter. Voriges Jahr bis Juni nicht ein Tropfen Regen. Sehen Sie den verfluchten Himmel an, kein Wölkchen. Wie so ein verdammt großer blauer Emailletopf. Mein Gott, was gäbe man darum, jetzt in Piccadilly zu sein, heh?«
»Sind die englischen Zeitungen gekommen?«
»Ja. Der liebe alte Punch,Pink’un und Vie Parisienne. Kriegt man direkt Heimweh, wenn man sie liest, was? Kommen Sie rein, trinken wir was, eh das ganze Eis schmilzt. Der alte Lackersteen hat richtig darin gebadet. Schon halb blau.«
Sie gingen hinein, und Westfield bemerkte in seinem düsteren Ton: »Geh voran, Macduff.« Die Clubräume hatten mit Teakholz getäfelte Wände, die nach Erdöl rochen; es waren nur vier Räume, von denen einer eine trostlose ›Bibliothek‹ von [24] fünfhundert verschimmelten Romanen enthielt und ein anderer einen alten, schäbigen Billardtisch, der jedoch selten benutzt wurde, weil fast das ganze Jahr hindurch Scharen von geflügelten Insekten um die Lampen summten und sich auf dem Filzbezug niederließen. Außerdem gab es ein Spielzimmer und eine ›Lounge‹, aus der man über eine breite Veranda zum Fluß hinausblickte; aber zu dieser Tageszeit waren alle Veranden mit grünen Bambusstabjalousien verhängt. Die Lounge war ein ungemütlicher Raum, mit Kokosmatten auf dem Boden und Korbsesseln und – tischen, auf denen glänzende illustrierte Zeitschriften herumlagen. Als Ausschmückung gab es eine Anzahl ›Bonzo‹-Bilder und die verstaubten Sambarschädel. Ein träge fächernder Punkah schüttelte Staub in die lauwarme Luft.
Drei Männer waren in diesem Raum. Unter dem Punkah räkelte sich ein blühender, gutaussehender, etwas gedunsener Mann von vierzig Jahren, den Kopf in die Hände gestützt, quer über den Tisch und stöhnte vor Schmerzen. Das war Mr.Lackersteen, der örtliche Geschäftsführer einer Holzfirma. Er war am Abend vorher schwer betrunken gewesen und litt nun darunter. Ellis, örtlicher Geschäftsführer einer anderen Firma, stand vor der Anschlagtafel und studierte mit bitter konzentrierter Miene eine Bekanntmachung. Er war ein kleiner, drahthaariger Mensch mit blassem, scharf geschnittenem Gesicht und unruhigen Bewegungen. Maxwell, der geschäftsführende Bezirks-Forstbeamte, lag in einem Liegestuhl, las im Field und war unsichtbar bis auf zwei grobknochige Beine und dicke, mit feinen Härchen bedeckte Unterarme.
»Seht euch diesen ungezogenen alten Mann an«, sagte Westfield, Mr. Lackersteen halb zärtlich bei den Schultern packend und ihn schüttelnd. »Beispiel für die Jugend, was? Gut, daß es nicht uns erwischt hat, und so weiter. Man kann sich vorstellen, wie man mit vierzig sein wird.«
Mr.Lackersteen gab ein Stöhnen von sich, das wie ›Brandy‹ klang.
»Armer alter Kerl«, sagte Westfield; »ein richtiger Märtyrer [25] des Alkohols, heh? Seht nur, wie er’s aus allen Poren ausschwitzt. Erinnert mich an den alten Hauptmann, der immer ohne Moskitonetz schlief. Als sein Diener gefragt wurde, warum, antwortete der: ›Nachts Master zu betrunken, um Moskitos zu bemerken; morgens Moskitos zu betrunken, um Master zu bemerken.‹ Seht ihn euch an – nach der Sauferei gestern abend will er jetzt noch mehr. Dabei kommt eine kleine Nichte zu ihm zu Besuch. Soll heute abend kommen, nicht wahr, Lackersteen?«
»Ach, laß diesen Saufkopf in Ruhe«, sagte Ellis, ohne sich umzudrehen. Er hatte einen gehässigen Cockney-Ton. Mr.Lackersteen stöhnte wieder. »…die Nichte! Gebt mir um Himmels willen einen Brandy.«
»Gutes Vorbild für die Nichte, heh? Wenn sie den Onkel siebenmal in der Woche unterm Tisch liegen sieht. Heh, Butler! Brandy für Master Lackersteen!«
Der Butler, ein dunkler, kräftiger Drawida mit wässerigen gelben Augen wie die eines Hundes, brachte den Brandy auf einem Messingtablett. Flory und Westfield bestellten Gin. Mr.Lackersteen schluckte ein paar Löffel voll und lehnte sich, nun resignierter stöhnend, in seinem Sessel zurück. Er hatte ein fleischiges, kluges Gesicht mit einem Bürstenbärtchen. Er war im Grunde ein sehr einfaches Gemüt, ohne einen anderen Ehrgeiz als »sich zu amüsieren«. Seine Frau beherrschte ihn mit der einzig möglichen Methode, ihn nie für mehr als ein bis zwei Stunden aus den Augen zu lassen. Nur einmal, ein Jahr nach ihrer Heirat, war sie für vierzehn Tage verreist und unerwartet einen Tag früher als geplant zurückgekommen und hatte Mr.Lackersteen betrunken vorgefunden, rechts und links von einem nackten burmanischen Mädchen gestützt, während ein drittes ihm Whisky aus der Flasche einflößte. Seitdem hatte sie ihn »wie eine Katze vor einem verdammten Mauseloch« beobachtet, wie er sich zu beklagen pflegte. Trotzdem brachte er es fertig, sich recht häufig zu »amüsieren«, obgleich es dabei meistens ziemlich rasch hergehen mußte.
»Meine Güte, was ist nur heute früh mit meinem Kopf los«, [26] sagte er. »Ruf den Butler nochmal, Westfield. Ich brauch noch einen Brandy, bevor meine Missus hier aufkreuzt. Sie sagt, sie will meine Sauferei auf vier Gläschen am Tag runterschrauben, wenn unsere Nichte hier ist. Zum Teufel mit allen beiden!« setzte er düster hinzu.
»Hört mit dem Quatsch auf, ihr alle, und hört euch das an«, sagte Ellis säuerlich. Er hatte eine komisch verletzende Sprechweise und machte sehr selten den Mund auf, ohne jemanden zu beleidigen. Er übertrieb seinen Cockney-Akzent absichtlich wegen des zynischen Tones, den er seinen Worten gab. »Habt ihr diesen Wisch vom alten Macgregor gesehen? Ein Blumensträußchen für jeden. Maxwell, wach auf und hör zu!«
Maxwell ließ die Field sinken. Er war ein blonder Jüngling von frischer Farbe, nicht älter als fünf- oder sechsundzwanzig, sehr jung für seinen Posten. Mit seinen schweren Gliedmaßen und dichten weißen Augenwimpern erinnerte er an das Fohlen eines Karrengaules. Ellis zwickte die Notiz mit einer geschickten, gehässigen Bewegung von dem Brett und begann sie vorzulesen. Sie war von Mr.Macgregor angeschlagen worden, der nicht nur stellvertretender Kommissar, sondern auch Clubsekretär war.
»Nun hört euch das an. ›Da dieser Club bisher noch keine orientalischen Mitglieder hat und es jetzt üblich ist, Beamte von öffentlich anerkanntem Rang, ob Eingeborene oder Europäer, zur Mitgliedschaft der meisten europäischen Clubs zuzulassen, ist der Vorschlag gemacht worden, die Frage zu erwägen, ob wir diese Praxis in Kyauktada verfolgen wollen. Die Angelegenheit wird bei der nächsten Generalversammlung zur Diskussion stehen. Einerseits kann man daraufhinweisen…‹ – na ja, ist wohl nicht nötig, das alles durchzukauen. Er kann nicht mal eine Bekanntmachung aufsetzen ohne literarischen Durchfall. Worauf es jedenfalls ankommt, ist, daß er verlangt, daß wir gegen all unsere Regeln verstoßen und einen lieben kleinen Nigger in diesen Club aufnehmen. Den lieben Dr.Veraswami zum Beispiel. Dr.Schwammischlammi. Das wäre ein Fest, was? Kleine kugelbäuchige Nigger am Bridgetisch, die einem Knoblauchdunst ins [27] Gesicht pusten. Herrgott, wenn man sich das vorstellt! Wir müssen Zusammenhalten und sofort ein Machtwort sprechen. Was sagt ihr, Westfield? Flory?«
Westfield zuckte philosophisch die mageren Achseln. Er hatte sich an den Tisch gesetzt und sich einen schwarzen, stinkenden burmanischen Stumpen angezündet.
»Müssen uns wohl damit abfinden«, sagte er. »Diese Scheißeingeborenen kommen heutzutage in alle Clubs. Sogar in den Pegu-Club, hab ich gehört. So geht’s eben mit diesem Lande, wißt ihr. Wir sind ungefähr der letzte Club in Burma, der sich noch behauptet.«
»Das sind wir; und mehr noch, wir werden uns verdammt nochmal weiter behaupten. Eher verrecke ich im Graben, als daß ich hier einen Nigger reinlasse.« Ellis hatte einen Bleistiftstummel hervorgeholt. Mit dem merkwürdigen Trotz, den manche Leute in ihre kleinste Geste legen können, heftete er den Anschlag wieder an das Brett und schrieb neben Mr.Macgregors Unterschrift ein winziges, sauberes »V. I.«. »So, das ist meine Meinung zu dieser Idee. Ich werde ihm das auch sagen, wenn er kommt. Was sagst du, Flory?«
Flory hatte die ganze Zeit nichts gesagt. Obgleich von Natur durchaus kein schweigsamer Mann, hatte er in Clubunterhaltungen selten viel zu sagen. Er hatte sich an den Tisch gesetzt und las G. K. Chestertons Artikel in der London News und kraulte gleichzeitig mit der linken Hand Flos Kopf. Ellis gehörte jedoch zu den Leuten, die ständig andere piesacken, damit sie ihre eigene Meinung nachplappern. Er wiederholte seine Frage, und Flory blickte auf, und ihre Blicke begegneten sich. Die Haut um Ellis’ Nase wurde plötzlich so blaß, daß sie fast grau erschien. Das war bei ihm ein Zeichen der Wut. Ohne jedes Vorspiel brach er plötzlich in einen Strom von Beschimpfungen aus, der erschreckend gewesen wäre, wenn sich die anderen nicht längst an dergleichen gewöhnt hätten.
»Mein Gott, ich hätte gedacht, in so einem Fall, wenn sich’s darum dreht, diese schwarzen, stinkigen Schweine von dem [28] einzigen Ort fernzuhalten, wo wir uns noch in Ruhe unterhalten können, hättest du den Anstand zu haben, mich zu unterstützen. Selbst wenn dieses kugelbäuchige, schmierige kleine Ferkel von einem Niggerdoktor dein bester Kumpel ist. Mir kann’s egal sein, wenn du dich mit dem Abschaum aus dem Bazar anfreundest. Wenn es dir Spaß macht, Veraswami zu besuchen und mit seinen Niggerkumpels Whisky zu trinken, so ist das deine Sache. Tu was du willst außerhalb des Clubs. Aber, bei Gott, wenn du davon redest, Nigger hier hereinzubringen, das ist etwas anderes. Du willst den kleinen Veraswami wohl gern als Clubmitglied haben, heh? Damit er sich in unsere Unterhaltung einmischt und jeden mit seinen schweißigen Händen antatscht und uns seinen dreckigen Knoblauchatem ins Gesicht pustet. Bei Gott, er würde mit meinem Stiefel hinter sich rausfliegen, wenn ich je seine schwarze Schnauze hier drin sehen müßte. Dieser schmierige, kugelbäuchige kleine – – –!« usw.
So ging es mehrere Minuten lang weiter. Es war merkwürdig eindrucksvoll, weil es so völlig aufrichtig war. Ellis haßt die Orientalen wirklich – haßte sie mit einem bitteren, unermüdlichen Abscheu wie etwas Böses oder Unreines. Obwohl er als Angestellter einer Holzfirma zwangsläufig in ständigem Kontakt mit den Burmanen leben und arbeiten mußte, hatte er sich nie an den Anblick eines dunklen Gesichts gewöhnt. Jede Andeutung eines freundschaftlichen Gefühls gegenüber einem Orientalen erschien ihm als grauenhafte Perversion. Er war intelligent und ein fähiger Angestellter seiner Firma, aber er gehörte zu jenen – leider häufigen – Engländern, denen man nie erlauben sollte, einen Fuß auf östlichen Boden zu setzen.
Flory saß da und streichelte Flos Kopf in seinem Schoß und war außerstande, Ellis’ Blick zu begegnen. Meistens machte sein Muttermal es schon schwierig für ihn, den Leuten direkt ins Gesicht zu sehen. Und als er sich zu sprechen entschloß, fühlte er seine Stimme zittern – denn das tat sie öfter, wenn sie hätte fest sein sollen; auch seine Gesichtszüge zuckten manchmal unbeherrscht.
»Beruhige dich«, sagte er schließlich mürrisch und etwas [29] schwächlich. »Beruhige dich. Es gibt keinen Grund, sich so aufzuregen. Ich habe nie vorgeschlagen, Eingeborene als Mitglieder hier aufzunehmen.«
»Ach, wirklich? Wir wissen aber alle verdammt gut, daß du es gern tun würdest. Warum gehst du sonst jeden Morgen zu diesem öligen kleinen Babu? Warum setzt du dich mit ihm an den Tisch, als wäre er ein weißer Mann, und trinkst aus Gläsern, die seine dreckigen schwarzen Lippen besabbert haben – es kotzt mich an, daran zu denken.«
»Setz dich, alter Junge, setz dich«, sagte Westfield. »Vergiß es. Komm, trink eins drauf. Lohnt sich doch nicht zu streiten. Zu heiß.«
»Mein Gott«, sagte Ellis ein bißchen ruhiger, während er ein paar Schritte auf und ab ging, »mein Gott, ich verstehe euch Jungs nicht. Ich versteh das einfach nicht. Da ist dieser alte Idiot Macgregor und will ohne jeden Grund einen Nigger in diesen Club bringen, und ihr sitzt alle rum und sagt kein Wort. Guter Gott, was sollen wir denn in diesem Land? Wenn wir nicht regieren wollen, warum hauen wir dann nicht ab? Hier sitzen wir und sollen eine Bande von verdammten schwarzen Schweinen regieren, die seit Menschengedenken Sklaven gewesen sind, und statt sie auf die einzige Art, die sie verstehen, zu beherrschen, gehen wir hin und behandeln sie wie unseresgleichen. Und ihr blöden Hunde findet das alle selbstverständlich. Da ist Flory, sein bester Freund ist ein schwarzer Babu, der sich Doktor nennt, weil er zwei Jahre an einer indischen sogenannten Universität studiert hat. Und du, Westfield, bist stolz wie ein König auf deine jämmerlichen, bestechlichen Feiglinge von Polizisten. Und Maxwell verbringt seine Zeit damit, hinter eurasischen Nutten herzulaufen. Ja, das tust du, Maxwell; ich hab von deinem Treiben in Mandalay mit einer stinkigen kleinen Hure namens Molly Pereira gehört. Vermutlich hättest du sie geheiratet, wenn sie dich nicht hierher versetzt hätten? Ihr alle scheint dieses dreckige schwarze Viehzeug gerne zu haben. Herrgott, ich weiß nicht, was mit uns allen los ist. Wirklich, ich weiß es nicht.«
[30] »Komm, trink noch einen«, sagte Westfield. »Heh, Butler! ’nen Tropfen Bier, ehe das Eis schmilzt, heh? Bier, Butler!«
Der Butler brachte einige Flaschen Münchener Bier. Ellis setzte sich sogleich an den Tisch zu den anderen und nahm eine der kühlen Flaschen in seine kleinen Hände. Auf seiner Stirn stand Schweiß. Er schmollte noch, war aber nicht mehr zornig. Er konnte jederzeit gehässig und zänkisch sein, aber seine heftigen Wutanfälle waren bald vorbei, und er entschuldigte sich nie dafür. Zankereien gehörten zum regulären Ablauf des Clublebens. Mr.Lackersteen fühlte sich besser und studierte die Illustrationen in La Vie Parisienne. Es war jetzt nach neun, und der vom beißenden Rauch von Westfields Stumpen durchwehte Raum war zum Ersticken heiß. Allen klebte das Hemd mit dem ersten Schweiß des Tages am Rücken. Der unsichtbare Chokra, der draußen das Punkah-Seil zog, war in der Glut eingeschlafen.
»Butler!« schrie Ellis, und als der Butler erschien, »geh und weck diesen verdammten Chokra auf!«
»Ja, Master.«
»Und Butler!«
»Ja, Master?«
»Wieviel Eis haben wir noch?«
»’gefähr zwanzig Pfund, Master. Wird nur heute reichen, glaub ich. Ich find es sehr schwer, Eis jetzt kühl zu halten.«
»Red nicht so, zum Teufel – ›Ich find es sehr schwer!‹ Hast du ein Lexikon verschluckt? ›Bitte, Master, kann Eis nicht kühl halten‹ – so solltest du reden. Wir werden den Kerl rausschmeißen müssen, wenn er zu gut englisch sprechen lernt. Ich kann Dienstboten, die englisch sprechen, nicht ausstehen. Hast du gehört, Butler?«
»Ja, Master«, sagte der Butler und zog sich zurück.
»Gott! Kein Eis vor Montag«, sagte Westfield. »Gehst du wieder in den Dschungel, Flory?«
»Ja. Ich sollte jetzt schon dort sein. Ich bin nur wegen der englischen Post gekommen.«
[31] »Werd selber ne kleine Rundreise machen, glaub ich, mit nem Happen vom Reisefonds. Kann das verdammte Büro in dieser Jahreszeit nicht ausstehen. Unter dem verdammten Punkah sitzen und eine Quittung nach der anderen unterschreiben. Papierkram. Gott, ich wollte, es wäre wieder Krieg!«
»Ich gehe übermorgen wieder raus«, sagte Ellis. »Kommt diesen Sonntag nicht der verdammte Padre und hält Gottesdienst? Jedenfalls werde ich Zusehen, daß ich dann nicht da bin. Verdammte Knierei.«
»Nächsten Sonntag«, sagte Westfield. »Hab versprochen, dafür da zu sein. Macgregor auch. Bißchen schwer für den armen Teufel von Padre, muß ich sagen. Kommt nur alle sechs Wochen einmal her. Wir sollten doch wenigstens eine Gemeinde aufbringen, wenn er schon mal kommt.«
»Ach, zum Teufel! Ich will ja dem Padre zu Gefallen gern Psalmen trillern, aber ich kann’s nicht ausstehen, wie diese christlichen Eingeborenen sich in unsere Kirche drängeln. Diese Bande von Madrassi-Dienstboten und Karier-Schullehrern. Und dann diese beiden Gelbbäuche, Francis und Samuel – die nennen sich auch Christen. Wie der Padre das letztemal hier war, hatten sie die Frechheit, nach vorn zu kommen und sich zu den Weißen in die vordersten Kirchenbänke zu setzen. Jemand sollte mit dem Padre darüber sprechen. Was waren wir für verdammte Idioten, daß wir je diese Missionare auf dieses Land losgelassen haben! Bringen Basarfegern bei, sie wären so gut wie wir. ›Bitte, Sir, ich selber Christ wie Master.‹ Verdammte Frechheit.«
»Na, sind das hier nicht zwei Beine?« sagte Mr.Lackersteen und reichte La Vie Parisienne über den Tisch. »Du kannst doch Französisch, Flory; was heißt das, was da drunter steht? Mein Gott, das erinnert mich daran, wie ich in Paris war, mein erster Urlaub, bevor ich geheiratet habe. Herrgott, ich wollte, ich wäre wieder dort!«
»Kennt ihr den schon: ›Da war eine Dame in Woking‹?« sagte Maxwell. Er war ein ziemlich schweigsamer junger Mann, aber [32] wie andere junge Leute hatte er eine Vorliebe für einen guten derben Vers. Er vervollständigte die Biographie der Dame in Woking, und ein paar lachten. Westfield antwortete mit der jungen Dame aus Wangen, die hatte ein seltenes Verlangen, und Flory beteiligte sich mit dem jungen Pfarrer aus Gehlen, der ließ es an Vorsicht nicht fehlen. Wieder wurde gelacht. Selbst Ellis taute auf und zitierte mehrere Verse; Ellis’ Späße waren stets wirklich witzig und doch maßlos schmutzig. Alle wurden heiterer und freundschaftlicher trotz der Hitze. Sie hatten das Bier ausgetrunken und wollten gerade nach dem nächsten Drink rufen, als sie draußen auf den Stufen knarrende Schuhe hörten. Eine dröhnende Stimme, unter der die Dielenbretter erbebten, sagte scherzend:
»Ja, ganz entschieden sehr komisch. Ich habe es in einen meiner kleinen Artikel in Blackwood’s aufgenommen, wißt ihr. Ich erinnere mich auch, als ich in Prome stationiert war, an noch
einen ganz – äh – amüsanten Vorfall, der – – –«
Offenbar hatte Mr.Macgregor den Club betreten. Mr.Lackersteen rief: »Teufel, da ist ja meine Frau«, und schob sein leeres Glas so weit wie möglich von sich fort. Mr.Macgregor und Mrs.Lackersteen traten zusammen in die Lounge.
Mr.Macgregor war ein großer, wuchtiger Mann, einiges über vierzig, mit einem freundlichen Mopsgesicht, und trug eine Brille mit Goldrand. Seine ausladenden Schultern und die Art, wie er den Kopf vorstreckte, erinnerten merkwürdig an eine Schildkröte – und bei den Burmanen war das auch sein Spitzname; die ›Schildkröte‹. Er hatte einen sauberen seidenen Anzug an, der unter den Achseln schon Schweißflecken zeigte. Er begrüßte die anderen mit einem humorig-ironischen Gruß und pflanzte sich dann strahlend vor dem Anschlagbrett auf in der Haltung eines Schulmeisters, der hinter dem Rücken mit einem Stock spielt. Die Gutmütigkeit in seinem Gesicht war ganz echt, und doch hatte er eine so vorsätzliche Herzlichkeit an sich, einen so angestrengten Eifer zu zeigen, daß er nicht im Dienst war und seinen offiziellen Rang vergaß, daß niemand sich in seiner [33] Gegenwart ganz behaglich fühlte. Seine Konversation hatte offensichtlich die eines humorvollen Schullehrers oder Geistlichen, den er früher einmal gekannt hatte, zum Muster. Jedes lange Wort, jedes Zitat, jede sprichwörtliche Redewendung figurierte in seinem Kopf als ein Scherz und wurde mit einem summenden Laut wie ›äh‹ deutlich angekündigt. Mrs. Lackersteen war eine Frau von etwa fünfunddreißig, gut aussehend auf konturlose, in die Länge gezogene Art, wie ein Modedruck. Sie hatte eine seufzende, mißvergnügte Stimme. Die anderen waren bei ihrem Eintritt alle aufgestanden, und Mrs.Lackersteen sank erschöpft in den besten Sessel unter dem Punkah und fächelte sich mit einer schlanken Hand, schlaff wie die Pfote eines Molches.
»Ach Gott, diese Hitze, diese Hitze! Mr.Macgregor hat mich mit seinem Wagen abgeholt. So nett von ihm. Tom, dieser Tropf von einem Rikscha-Mann ist angeblich wieder krank. Wirklich, ich glaube, du solltest ihn mal tüchtig durchpeitschen, damit er wieder zu Verstand kommt. Es ist zu schrecklich, jeden Tag in dieser Sonne herumzulaufen.«
Mrs.Lackersteen, die dem Fünfzigmeterweg zwischen ihrem Haus und dem Club nicht gewachsen war, hatte aus Rangun eine Rikscha importiert. Außer Ochsenkarren und Mr.Macgregors Wagen war sie das einzige mit Rädern versehene Fahrzeug in Kyauktada, denn in dem ganzen Distrikt gab es keine zehn Meilen Straße. Im Dschungel erduldete sie, um ihren Gatten nicht allein zu lassen, alle Schrecken wie lecke Zelte, Moskitos und Büchsennahrung; aber sie glich es aus, indem sie sich über jede Kleinigkeit beklagte.
»Wirklich, ich finde die Faulheit dieser Dienstboten allmählich unerhört«, seufzte sie. »Finden Sie nicht auch, Mr.Macgregor? Wir scheinen heutzutage keine Autorität mehr bei den Eingeborenen zu haben, mit all diesen schrecklichen Reformen und der Unverschämtheit, die sie von den Zeitungen lernen. In gewisser Weise werden sie fast so schlimm wie die unteren Klassen zu Hause.«
[34] »Oh, doch nicht ganz so schlimm, meine ich. Trotzdem fürchte ich, daß der Geist der Demokratie sich zweifellos sogar hier einschleicht.«
»Und noch vor so kurzer Zeit, sogar kurz vor dem Krieg, waren sie so nett und respektvoll! Wie sie einen mit einem Selam grüßten, wenn man auf der Straße an ihnen vorbeikam – das war wirklich ganz reizend. Ich weiß noch, daß wir unserem Butler monatlich nur zwölf Rupien bezahlten, und dieser Mann liebte uns wirklich wie ein Hund. Und jetzt verlangen sie vierzig bis fünfzig Rupien, und meiner Ansicht nach ist die einzige Möglichkeit, wie ich einen Dienstboten behalten kann, die, ihnen den Lohn mehrere Monate im nachhinein zu geben.«
»Der alte Typ des Dienstboten verschwindet«, gab Mr.Macgregor zu. »In meiner Jugend schickte man einen Butler, der respektlos war, ins Gefängnis mit einem Zettel, auf dem stand ›Bitte dem Überbringer fünfzehn Hiebe geben‹. Nun ja, tempi passati! Diese Zeiten sind für immer vorbei, fürchte ich.«
»Ja, da haben Sie wohl recht«, sagte Westfield in seinem düsteren Ton. »Dieses Land wird nie wieder so, daß man darin leben kann. Mit der britischen Herrschaft in Indien ist es zu Ende, wenn Sie mich fragen. Das Dominion und das alles ist verloren. Zeit, daß wir abhauen.«
Worauf sich ein allgemeines Murmeln der Zustimmung erhob, sogar von Flory, der für seine bolschewistischen Ansichten bekannt, und sogar von dem jungen Maxwell, der kaum drei Jahre im Lande war. Kein Anglo-Inder wird je bestreiten oder hat je bestritten, daß Indien vor die Hunde geht – denn Indien war, wie der Punch, nie mehr das, was es einmal gewesen war.
Ellis hatte inzwischen die anstößige Bekanntmachung hinter Mr.Macgregors Rücken abgemacht und hielt sie ihm nun hin, wobei er in seiner mürrischen Art sagte:
»Hier, Macgregor, wir haben diesen Anschlag gelesen, und wir alle halten die Idee, einen Eingeborenen in den Club zu wählen, für absoluten –« Ellis hatte sagen wollen ›absoluten Quatsch‹, aber ihm fiel Mrs.Lackersteens Anwesenheit ein, und [35] er verbesserte sich – »für absolut unerwünscht. Schließlich ist der Club dazu da, daß wir uns hier wohl fühlen, und wir wollen nicht, daß Eingeborene hier rumschnüffeln. Der Gedanke gefällt uns, daß es noch einen Ort gibt, wo wir frei von ihnen sind. Die anderen sind alle genau derselben Meinung wie ich.«
Er sah sich unter den anderen um. »Hört, hört!« sagte Mr. Lackersteen barsch. Er wußte, daß seine Frau erraten würde, daß er getrunken hatte, und hoffte, daß eine Bekundung von gesundem Menschenverstand ihn entschuldigen würde.
Mr.Macgregor nahm die Bekanntmachung mit einem Lächeln entgegen. Er sah das hinter seinen Namen geschriebene ›V. I.‹ und fand insgeheim Ellis’ Art sehr respektlos, aber er stellte die ganze Sache durch einen Scherz ab. Er gab sich ebenso große Mühe, im Club ein guter Kumpel zu sein, wie er sich bemühte, in den Bürostunden seine Würde zu wahren. »Wenn ich recht verstehe«, sagte er, »wäre unserem Freund Ellis die Gesellschaft seines – äh – arischen Bruders nicht willkommen?«
»Nein«, sagte Ellis scharf. »Auch nicht meines mongolischen Bruders. Mit einem Wort: ich mag keine Nigger.«
Mr.Macgregor wurde steif bei dem Wort ›Nigger‹, das in Indien nicht genehm ist. Er hatte kein Vorurteil gegen Orientalen; er hatte sie sogar von Herzen gern. Solange man ihnen keine Freiheit gab, hielt er sie für die reizendsten Leute unter der Sonne. Es schmerzte ihn immer, wenn sie böswillig beleidigt wurden.
»Ist es ganz fair«, sagte er steif, »diese Leute Nigger zu nennen
ein Ausdruck, den sie naturgemäß übelnehmen –, wo sie doch offenbar nichts dergleichen sind? Die Burmanen sind Mongolen, die Inder sind Arier oder Drawidas, und sie alle sind ganz bestimmt –«
»Ach, lassen Sie den Quatsch!« sagte Ellis, dem Mr.Macgregors Rang nicht im geringsten imponierte. »Nennt sie Nigger oder Arier oder was ihr wollt. Ich sage nur, daß wir hier im Club keine schwarze Haut sehen wollen. Wenn Sie darüber abstimmen lassen, werden Sie finden, daß wir wie ein Mann dagegen [36] sind – wenn nicht Flory seinen lieben Freund Veraswami hier haben will«, setzte er hinzu.
»Hört, hört!« wiederholte Mr.Lackersteen. »Du kannst darauf zählen, daß ich gegen alle stimme.«
Mr.Macgregor schürzte launig die Lippen. Er war in einer peinlichen Lage, denn die Idee, einen Eingeborenen als Mitglied aufzunehmen, war nicht seine eigene, sondern ihm von dem Kommissar zugeschoben worden. Aber er machte nicht gern Entschuldigungen und sagte also in versöhnlicherem Ton:
»Wollen wir nicht die Diskussion darüber bis zur nächsten Generalversammlung aufschieben? In der Zwischenzeit können wir die Angelegenheit reiflich erwägen. Und jetzt«, fuhr er fort, während er zum Tisch ging, »wer nimmt mit mir eine kleine – äh – flüssige Erfrischung zu sich?«
Der Butler wurde gerufen und die ›flüssige Erfrischung‹ bestellt. Es war jetzt heißer denn je, und alle waren durstig. Mr.Lackersteen war drauf und dran, einen Drink zu bestellen, als er dem Blick seiner Frau begegnete, zusammenschreckte und mürrisch ablehnte. Er saß, die Hände auf die Knie gelegt, mit einem ziemlich rührenden Ausdruck da und sah zu, wie Mrs.Lackersteen ein Glas Limonade mit Gin schlürfte. Mr.Macgregor trank, obwohl er die Bons für die Getränke unterschrieb, reine Limonade. Als einziger Europäer in Kyauktada hielt er sich an die Regel, vor Sonnenuntergang nicht zu trinken.
»Alles schön und gut«, brummte Ellis, der, die Unterarme auf dem Tisch, mit seinem Glas spielte. Der Disput mit Mr.Macgregor hatte ihn wieder unruhig gemacht. »Alles schön und gut, aber ich bleibe bei dem, was ich gesagt habe. Keine Eingeborenen in diesem Club! Dadurch, daß wir ständig in solchen kleinen Dingen nachgeben, haben wir das Empire ruiniert. Dieses Land ist nur von Aufruhr zerfressen, weil wir zu sanft mit ihnen gewesen sind. Die einzig mögliche Politik ist, sie als den Dreck zu behandeln, der sie sind. Dies ist ein kritischer Augenblick, und wir brauchen jedes bißchen Prestige, das wir kriegen können. Wir müssen Zusammenhalten und sagen: ›Wir sind die [37] Herren und ihr Bettler – – –‹« Ellis drückte seinen kleinen Daumen auf den Tisch, als zerdrücke er eine Made – – »›ihr Bettler bleibt da, wo ihr hingehört!‹«
»Hoffnungslos, alter Junge«, sagte Westfield. »Ganz hoffnungslos. Was soll man machen mit all dem Papierkrieg, der einem die Hände bindet? Diese eingeborenen Bettler kennen das Gesetz besser als wir. Sagen einem Beleidigungen ins Gesicht und zeigen einen an, sowie man ihnen eine klebt. Man kann nichts tun, wenn man nicht energisch auftritt. Und wie kann man das, wenn sie nicht den Schneid haben, sich zur Wehr zu setzen?«
»Unser Burra Sahib in Mandalay sagte immer«, warf Mrs.Lackersteen ein, »daß wir letzten Endes einfach aus Indien herausgehen sollen. Die jungen Leute werden nicht mehr herkommen, um ihr Leben lang für Beleidigungen und Undankbarkeit zu arbeiten. Wir werden einfach rausgehen. Wenn die Eingeborenen kommen und uns bitten zu bleiben, werden wir sagen: ›Nein, ihr habt eure Chance gehabt und habt sie nicht wahrgenommen. Also gut, wir lassen euch allein, regiert euch selbst.‹ Das wird ihnen schon eine Lehre sein.«
»Dieses Recht-und-Ordnung-Zeug, das hat uns erledigt«, sagte Westfield düster. Der Niedergang des Indischen Empires durch zu viel Rechtmäßigkeit war für Westfield ein immer wiederkehrendes Thema. Seiner Ansicht nach konnte nichts als eine waschechte Rebellion und die daraus folgende Verhängung des Kriegsrechts das Empire vor dem Zerfall retten. »Dieser ganze Papierkrieg und Bürokratismus. Die Büro-Babus sind jetzt die eigentlichen Regenten dieses Landes. Unsere Stunde hat geschlagen. Das Beste, was wir tun können, ist, den Laden dichtzumachen und sie in ihrem eigenen Saft schmoren zu lassen.«
»Da bin ich nicht einverstanden, bin ich einfach nicht einverstanden«, sagte Ellis. »Wir könnten die Sache in einem Monat in Ordnung bringen, wenn wir wollten. Man braucht nur für einen Penny Schneid. Seht euch Amritsar