Tagebuch aus der Okkupationszeit der britischen Kanalinseln - Hans Max Freiherr von Aufseß - E-Book

Tagebuch aus der Okkupationszeit der britischen Kanalinseln E-Book

Hans Max Freiherr von Aufseß

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Beschreibung

Während die Besetzung der britischen Kanalinseln durch die Wehrmacht in den Jahren 1940 bis 1945 in Deutschland vergessen ist, ist sie in Großbritannien durchaus im kollektiven historischen Bewusstsein präsent. Anders als an der »Ostfront« errichteten die Deutschen auf Guernsey, Jersey und Alderney zwar kein auf Vernichtung der Zivilbevölkerung abzielendes Terrorsystem, doch auch hier geschahen Kriegsverbrechen, waren Tote zu beklagen, wurden Zwangsarbeiter ausgebeutet, Juden deportiert. Hans Max Freiherr von Aufseß (1906–1993), Besatzungsoffizier und deutscher Zivilverwalter der Inseln, stammte aus altem fränkischem Adel. Aus der Perspektive seines Standes – überheblich, antisemitisch, dünkelhaft, gleichzeitig teilnehmend, einfühlsam, gebildet, stellenweise auch selbstkritisch – führt von Aufseß während seiner Zeit auf den Inseln Tagebuch. Dieses Tagebuch ist eine Quelle für die Geschehnisse auf den »Islands«, vor allem ist es aber der Blick auf das Innenleben eines deutschen Besatzungsoffiziers während einer hierzulande kaum bekannten Episode aus dem großen Drama des Zweiten Weltkriegs. Gerade die Ambivalenz des Freiherrn macht das Tagebuch lesenswert. Er ist kein tumber »Nazi«, aber auch kein Widerständler. Der Nationalsozialismus ist ihm ästhetisch und habituell unangenehm, den deutschen Angriffskrieg hinterfragt er trotzdem nicht. Die häufig diskutierte Frage nach Handlungsspielräumen des Einzelnen im Angesicht von Terror und Unmoral stellt sich dem Leser der Tagebücher unmittelbar.

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Hans Max von Aufseß

TAGEBUCH

aus der Okkupationszeit derbritischen Kanalinseln1943–1945

Mit einem Geleitwort von

John Nettles

Herausgegeben, kommentiertund mit einer Einführung versehen von

Tobias Arand

Übersetzung des Geleitworts von John Nettles aus dem Englischen:Ilka Schlüchtermann

Erste Auflage 2020© Osburg Verlag Hamburg 2020www.osburgverlag.deAlle Rechte vorbehalten,insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.Lektorat: Bernd Henninger, HeidelbergUmschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, HamburgSatz: Hans-Jürgen Paasch, OesteDruck und Bindung: CPI books GmbH, LeckPrinted in GermanyISBN 978-3-95510-217-3eISBN 978-3-95510-225-8

Inhalt

Geleitwort

John Nettles

Der gute Deutsche von Jersey?Hans Max Freiherr von Aufseß und seine Tagebücher von den Kanalinseln

Tobias Arand

Hans Max Freiherr von Aufseß:Tagebuch 1943–1945Kommentierte Edition

Tagebuch 1: 8. Oktober 1943 bis 1. September 1944

Tagebuch 2: 3. September 1944 bis 5. November 1944

Tagebuch 3: 6. November 1944 bis 23. Februar 1945

Tagebuch 4a: 1. März 1945 bis 9. Mai 1945

Tagebuch 4b: 19. April 1945 bis 9. Mai 1945

Anhang

Quellen und Literatur

Bildnachweis

Danksagung

Geleitwort

Im Laufe der Recherche zu meinem Buch ›Jewels and Jackboots‹ (›Hitlers Inselwahn‹) über die deutsche Besetzung der britischen Kanalinseln stieß ich auf die englische Übersetzung eines Tagebuches des Barons von Aufseß – Besatzungsoffizier und Leiter der Zivilverwaltung der Inseln –, das die letzten Monate des Krieges von August 1944 bis Mai 1945 beleuchtet. Das Tagebuch vermittelt uns das Bild eines Mannes mit großer Energie und Leidenschaft, dessen größtes Glück darin bestand, auf seinem prächtigen Pferd, ›Satan‹, an der Brandung entlang über die weiten Strände der Inseln zu reiten – und, was ihm sicher noch mehr gefallen haben dürfte, seine Zeit in Begleitung der Ladys zu verbringen. Er war ein gebildeter Mann mit einem gewissen Verständnis für die Unbill, die die Inselbewohner zu ertragen hatten; er half ihnen – jedenfalls sofern sie keine Juden oder Zwangsarbeiter waren – im Rahmen seiner Möglichkeiten und versuchte, die schlimmsten Widrigkeiten, die mit der Besetzung der Inseln über sie hereinbrachen, von ihnen fernzuhalten. Er kümmerte sich um die Inselbewohner durchaus mit Anteilnahme, aber immer wieder auch aus einer Position des Besatzers. Viele Bewohner der Inseln hatten Grund, dieser sehr ambivalenten und gerade deshalb interessanten Persönlichkeit zu danken, andere hingegen sahen auch seine kritische Rolle als Teil eines Militärregimes, das mit in Lagern kasernierten Zwangsarbeitern auf den Inseln Betonbunker des Atlantikwalls bauen ließ. Immer wieder war Aufseß ein gescheiter und einsichtsvoller Kommentator des Krieges, seine Gedanken sind zum Verständnis des Kriegsverlaufs von unschätzbarem Wert. Dennoch lässt sich nicht behaupten, dass er den Krieg und den Nationalsozialismus auf Grundlage einer eindeutig humanistischen Gesinnung abgelehnt hätte.

Das Team, das an der deutschen Übersetzung von ›Jewels and Jackboots‹ arbeitete, war einer Meinung, dass die Original-Tagebücher aufgespürt werden mussten, um Baron Aufseß authentisch und präzise zitieren zu können. Seine liebenswürdige Enkeltochter, Freifrau Cornelia von Aufseß, besaß ein Manuskript des Tagebuches und gewährte uns gerne Einblick. Mehr noch, sie wies uns auf weitere Manuskripte hin, die im Fränkische-Schweiz-Museum in Tüchersfeld archiviert sind. Wir machten uns an die Übertragung der Handschrift und nach einem langwierigen, mühevollen Prozess, für den ich dem Lektor Bernd Henninger und dem Herausgeber Prof. Arand sehr danke, liegt nun diese Gesamtfassung als Buch vor.

Diese Tagebücher einer größeren Leserschaft zugänglich zu machen, war ausgesprochen wichtig, stellen sie doch einen wertvollen und aufschlussreichen Beitrag zur Forschung dar und rücken zudem eine Persönlichkeit wieder ins Licht der Öffentlichkeit, die mit der Geschichte der sechs Jahre andauernden Okkupation eng verbunden war.

John Nettles

Der gute Deutsche von Jersey?

Hans Max Freiherr von Aufseß und seine Tagebücher von den Kanalinseln

In der 2004 vom britischen Sender ITV produzierten Fernsehserie ›Island at War‹ spielt ein fiktiver ›Heinrich Baron von Rheingarten‹ als deutscher Besatzungskommandeur der ebenfalls erfundenen Kanalinsel St. Gregory eine wichtige Rolle. Nach der Eroberung der Kanalinseln errichten die deutschen Okkupanten rasch ein rigides Unterdrückungsregime. Der Baron wird dabei allerdings als ein gefühlvoller, verheirateter Mann gezeichnet, der die deutsche Heimat und seine Frau vermisst. Er tritt zwar als energischer Offizier auf, nimmt aber dennoch humanitäre Rücksichten auf einen Teil der Einwohner. Dabei distanziert er sich mit überheblicher Attitüde und aus Perspektive eines Adeligen und Militärs ›alter Schule‹ vom fanatisierten Nationalsozialismus. Sein eigenes Tun als feindlicher Besatzer und seine Rolle im großen Eroberungs- und Vernichtungskrieg stellt er jedoch nicht in Frage. In die Figur des ›Heinrich von Rheingarten‹ sind unverkennbar einige Charakterzüge eines realen Barons bzw. ›Freiherrn‹ und Vertreters des deutschen Repressionsapparats eingeflossen: Hans Max Freiherr von und zu Aufseß. Von Aufseß leitete von 1942 bis 1945 die Zivilverwaltung während der deutschen Besatzung auf den britischen Kanalinseln. Der Unterschied zwischen beiden Baronen liegt allerdings im Ausmaß der Kompetenzen. Während der fiktive Baron der TV-Serie die Inseln beherrscht, ist der reale Baron letztlich eine Randfigur, die nur über ihre zum ersten Mal nun auf Deutsch veröffentlichten Tagebücher in der Geschichte der Kanalinseln eine gewisse Bekanntheit erlangen konnte.

Die immerhin fünf Jahre lang währende Okkupation eines direkt der Krone unterstellten Teils Großbritanniens ist ein in Deutschland noch immer wenig bekanntes historisches Ereignis. Ganz anders ist dies auf den britischen Inseln. Der gewonnene Zweite Weltkrieg, der siegreiche Kampf gegen das häufig verkürzt sogenannte ›Hitler-Deutschland‹ ist noch immer für die britische Identität von größter Bedeutung. Die Erinnerung an beide Weltkriege hat in Großbritannien und den Ländern des Commonwealth bis heute die Funktion, eine ruhm- wie verlustreiche Geschichte des Sieges von Recht, Freiheit und Zivilisation gegen die vermeintlichen deutschen ›Hunnen‹ zu tradieren. Man kann die Wirksamkeit dieses Narrativs für Briten aller Altersstufen nicht hoch genug einschätzen. In diesem Zusammenhang ist es nicht verwunderlich, dass die insgesamt für beide Seiten wenig heroische Geschichte der deutschen Besatzung eines kleinen Teils Britanniens dort noch immer überaus präsent ist. In Deutschland hingegen ist dieser Teil der Kriegsgeschichte als kleine Episode vor dem Hintergrund des großen Dramas aus Bombenkrieg, Vertreibung und Menschheitsverbrechen lange Zeit weitgehend vergessen worden.

Dieses Ungleichgewicht in der Wahrnehmung lässt sich auch in der nach 1945 veröffentlichten Literatur zu den Ereignissen auf Jersey, Guernsey, Sark und Alderney erkennen. Bereits 1945 publizierten erste britische Zeitzeugen ihre Erinnerungen1, wobei diese Berichte von unmittelbar Handelnden im Hinblick auf die eigene Rolle und das Verhalten der Deutschen apologetische Züge tragen. Unmittelbar nach den Ereignissen scheint auch die englische Seite kein Interesse an Kritik oder gar Selbstkritik gehabt zu haben. Auch später noch veröffentlichen Zeitzeugen ihre Erinnerungen, so wie beispielsweise der aus Guernsey stammende und 1944 deportierte Journalist Frank Falla, der seine Erinnerungen 1967 unter dem Titel ›The Silent War‹ herausbringt.2 Auch in der schon 1961 erschienenen Autobiographie Sibyl Hathaways, als ›Dame of Sark‹ Feudalherrin des gleichnamigen Kanalinselchens, spielt die Okkupationszeit eine große Rolle.3 Die Erinnerungen des ›Bailiff‹, des britischen Verwaltungschefs auf Jersey, Lord Coutanche, werden 1975 publiziert.4

Auf deutscher Seite erscheint 1963 lediglich eine grob verharmlosende Schrift von der Hand Dr. Wilhelm Caspers, eines ehemaligen Gestapo-Beamten5 und von 1940 bis 1942 Vorgänger des Freiherrn von Aufseß als Leiter der zivilen Besatzungsverwaltung.6 Casper versucht in seinem Buch, das vorgeblich tadellose Verhalten der deutschen Besatzer mit englischen Zeugenaussagen zu belegen. Er bezieht sich dabei vor allem auf die direkt 1945 veröffentlichten Schriften britischer Zeitzeugen. Über das »Insel-KZ Alderney«7, Tausende Zwangsarbeiter und deportierte Juden verliert Casper dabei aber kein Wort. Sein Buch ist, trotz aller Einwände gegen ein typisches Produkt deutscher Verdrängungs- und Verleugnungskultur der ersten Jahrzehnte nach dem Krieg, eine gute Quelle für das Verständnis der deutschen Verwaltungszusammenhänge während der Besatzung.

Schon in den 50er-Jahren setzt in Großbritannien eine Welle mehr oder weniger sachlicher Sekundärliteratur zum Thema ein. Den Anfang machen zehn Jahre nach Kriegsende Alan und Mary Wood, die 1955 ihre Studie ›Islands in Danger‹ veröffentlichen.8 Es folgen seit den 70er-Jahren weitere Überblicksdarstellungen9, aber auch Spezialabhandlungen zu den Zwangsarbeitern, zu Deportationen von Inselbewohnern10 und zu den deutschen Befestigungsanlagen11. Mit Roy McLoughlins Buch ›Living with the Enemy‹12 aus dem Jahr 1995 und Madeleine Buntings im selben Jahr erschienener Studie ›The Model Occupation‹13 setzt eine zunehmend kritischere Sicht auch auf die Rolle der Kanalinselbewohner zur Zeit der Besatzung ein. Bunting betont 1995 in der englischen Wahrnehmung der Kanalbesetzung bis dahin verdrängte Schattenseiten, insbesondere das Desinteresse der Insulaner am Schicksal jüdischer Mitbürger. Diese Kritik Buntings veranlasste im Folgenden weitere Untersuchungen zur Zusammenarbeit der englischen Behörden bei der Verfolgung der kleinen jüdischen Inselgemeinde.14 Wegen der starken, in Großbritannien durchaus umstrittenen Wirkung, die das nicht immer exakt recherchierte Buch von Bunting entfaltete, wird es 2004 ein zweites Mal aufgelegt. Im Jahr 2004 wird mit Joe Mières Buch ›Never to be forgotten‹ ein zwar anekdotenhaftes, dabei zum Teil mit präzisen Angaben überzeugendes Erinnerungsbuch eines Zeitzeugen vorgelegt.15 Ebenfalls von Bedeutung sind die neueren Darstellungen von Barry Turner, ›Outpost of Occupation‹16 aus dem Jahr 2010, Michael Ginns ›Jersey Occupied‹17, eine 2009 erschienene Gesamtdarstellung, und von Paul Sanders, der 2005 ›The British Channel Islands Under German Occupation‹18 veröffentlicht. Sanders’ akribisch auf Grundlage der umfangreichen Akten erarbeitete Studie stellt wohl die bis heute gründlichste Darstellung der Besatzungszeit dar. Mit Bunting, der er bescheinigt, für »a lot of bad blood«19 gesorgt zu haben, geht Sanders stellenweise hart ins Gericht. Mit den unterschiedlichen Formen des Widerstands einiger Inselbewohner beschäftigt sich zuletzt 2014 der umfangreiche und detaillierte Sammelband ›Protest, Defiance and Resistance in the Channel Islands‹ von Gilly Carr, Paul Sanders und Louise Willmot.20 Simon Hamon legt 2015 einen Band mit Zeitzeugenberichten zur Invasion der Insel vor.21 Die neueste Veröffentlichung zum Thema stammt von Duncan Barrett, der 2018 ein Buch mit dem Titel ›Hitler’s British Isles‹ auf den Markt bringt.22

Dem deutschen Publikum allerdings bleiben die Ereignisse auf den Kanalinseln und damit auch die Rolle des Freiherrn Hans Max von Aufseß nach dem schmalen Büchlein von Casper lange unbekannt. Erst die reich bebilderte deutsche Ausgabe des Buches von McLoughlin, die 2003 unter dem schon häufig ähnlich variierten Titel ›Britische Inseln unterm Hakenkreuz‹23 erscheint, ändert dies. Im Jahr 2012 veröffentlicht der weltweit als ›Inspector Barnaby‹ bekannte und mit Jersey eng verbundene Schauspieler John Nettles eine Darstellung zum Thema, die unter dem Titel ›Jewels and Jackboots. Hitler’s British Channel Islands‹24 für größere Aufmerksamkeit sorgte. Im Osburg Verlag Hamburg wird dann 2015 die deutsche Übersetzung des Buches von Nettles unter dem Titel ›Hitlers Inselwahn‹25 veröffentlicht und erreicht mit ungefähr 3000 verkauften Exemplaren die bis dahin größte Aufmerksamkeit für das Thema in Deutschland. 2017 zeigt das Zweite Deutsche Fernsehen im Rahmen der Reihe ›ZDF-History‹ eine TV-Dokumentation, in der John Nettles auf Grundlage seines Buches von der Besatzungszeit berichtet und das Thema so noch einem breiteren Publikum vorstellt. Ein Roman der populären deutschen Schriftstellerin Charlotte Link mit dem Titel ›Die Rosenzüchterin‹, der im Jahr 2000 veröffentlicht wird, handelt zumindest in Teilen von der Okkupationszeit auf Guernsey.26

Den Bekanntheitsgrad, den das historische Ereignis der Okkupationszeit auf den Kanalinseln bis in die Gegenwart in der englischsprachigen Welt besitzt, erreicht das Thema in Deutschland trotz ›Inspector Barnaby‹ alias John Nettles, Charlotte Link und TV-Dokumentationen nicht. Die für die deutsche Identität zentrale, aus nationalsozialistischen Verbrechen, Jahrzehnte währender Teilung, gewissenhafter Aufarbeitung der Schuld und schließlich glücklich wiedergewonnener Einheit zusammengesetzte Erzählung ist so dominant, dass das Schicksal unscheinbarer britischer Inseln westlich der Normandie dagegen als Kleinigkeit erscheinen muss.

Das stellenweise sehr persönliche Tagebuch von Aufseß, das dieser vielleicht während eines Teils seiner Zeit auf Jersey verfasste, ist in Großbritannien bereits seit 1985 präsent, als Kathleen J. Nowlan auf Grundlage eines maschinenschriftlichen und überarbeiteten Typoskripts von Hand des Freiherrn eine englischsprachige Ausgabe veröffentlicht. Diese erscheint unter dem Titel ›The Von Aufsess Occupation Diary‹.27 Von Aufseß steuert zu dieser Ausgabe ein Vor- und Nachwort bei. Seine Initiative, das Tagebuch in Deutschland zu veröffentlichen, scheitert mehrmals.28 Dass eine kritische Einordnung des Tagebuches in den historischen Zusammenhang oder eine Untersuchung der Glaubwürdigkeit des Textes 1985 unterbleiben, kann bei der direkten Beteiligung des Freiherrn nicht überraschen. In John Nettles’ Darstellung ist das Tagebuch prominent eingeflossen – ebenso wie offensichtlich in das TV-Drama ›Island at War‹.

Freiherr von Aufseß ist in Deutschland vor allem im bayerischen Raum bekannt, trat er doch nach dem Krieg vor allem als Autor populärwissenschaftlicher Bücher zur fränkischen Heimat- und Kulturgeschichte hervor.

Diese nun vorgelegte deutsche Edition seiner in vielerlei Hinsicht interessanten und aufschlussreichen Tagebücher soll das Thema der Besatzung der Channel Islands ein wenig auch in den Mittelpunkt deutschen Interesses rücken, gleichzeitig aber auch der ambivalenten Figur des Freiherrn von Aufseß neue Facetten hinzufügen.

Die deutsche Okkupation der Kanalinseln

Am 4. Juni 1940, wenige Wochen nach seinem Amtsantritt und kurz nach der gefährlichen Evakuierung der ›British Expeditionary Forces‹ aus Dünkirchen, formuliert der Premierminister Winston Churchill berühmte Worte, die den Widerstandswillen seiner Bevölkerung stärken sollen: »Wir werden kämpfen bis zum Ende. Wir werden in Frankreich kämpfen, wir werden auf den Meeren und Ozeanen kämpfen (…). Wir werden auf den Stränden kämpfen, wir werden an den Landungsabschnitten kämpfen, wir werden auf den Straßen kämpfen, wir werden in den Bergen kämpfen (…).«29 John Nettles fügt in seinem Buch mit trocken-britischer Ironie hinzu: »(…) außer auf den Kanalinseln«.30 In der Tat sind die Kanalinseln Churchill und den britischen Militärführern 1940 zunächst keinen Schuss wert. Der Großteil der eigenen Truppen konnte unter legendären Umständen gerettet werden – wovon mit ›Dunkirk‹ (2017) einer der eindrucksvollsten und innovativsten Kriegsfilme der jüngeren Filmgeschichte erzählt –, und Großbritannien steht im Sommer 1940 nach dem Zusammenbruch Frankreichs allein im Kampf gegen die deutsche Wehrmacht. Die westlich der Normandie gelegenen, strategisch bedeutungslosen Kanalinseln werden ihrem Schicksal überlassen. Doch bei der Evakuierung weiterer britischer Truppen, die bei St. Malo, in der nördlichen Bretagne, von der Wehrmacht eingeschlossen sind, müssen die Bewohner der Kanalinseln trotzdem zuvor helfen. Am 16. und 17. Juni werden die britischen Truppen mit Hilfe eilig auf den Inseln organisierter Fischkutter und Jachten nach dem Vorbild von Dünkirchen aus St. Malo evakuiert und auf größeren Schiffen Richtung Südengland gebracht. Am 19. Juni werden die Kanalinseln entmilitarisiert und die letzten dort zur eventuellen Verteidigung verbliebenen Soldaten ebenfalls nach England verschifft. Die lokale Miliz wird aufgelöst. Die Kanalinseln sind damit seit dem 20. Juni 1940 wehrlos. Allerdings informieren die Briten die deutschen Aggressoren nicht von diesem Zustand. Aus welchen Gründen eine lebensrettende Information der deutschen Behörden unterbleibt, ist bis heute ungeklärt. In den Folgetagen fliehen Zehntausende Inselbewohner in Panik nach England.31 Die Insel Alderney wird bis auf 19 Einwohner entvölkert, von Guernsey fliehen 17 000 der 42 000 Einwohner, von Jersey 6600 Einwohner.32 Wehrfähige junge Männer verlassen fast komplett die Inseln. Am 28. Juni greifen deutsche Flieger mit Heinkel He 111-Mittelstreckenbombern die Häfen von Jersey, St. Helier, und Guernsey, St. Peter Port, an. Bei diesem Angriff der Deutschen, die davon ausgehen, dass die Inseln verteidigt würden, sterben 44 Menschen, viele werden verwundet.33 Die Angriffe treffen Guernsey mit 33 Toten stärker als Jersey. Nettles schildert die Dramatik des Tages mit Augenzeugenberichten. Auf Guernsey werden Fahrer von mit Tomaten beladenen Lastwagen angegriffen: »Sie warfen sich unter ihre Fahrzeuge, in der Hoffnung, sich so vor dem deutschen Terror zu retten. Aber natürlich boten diese minderwertig konstruierten, größtenteils aus Holz bestehenden Lastwagen keinerlei Schutz. Ein Bombenhagel ging nieder. Mörderischer Beschuss folgte. Die vollen Tanks explodierten. Die Männer starben auf grausame Weise, ihr Blut mischte sich mit dem Saft der Tomaten, der über den Hafendamm rann und Pfützen bildete.«34 McLoughlin lässt einen Krankenhausarzt auf Jersey berichten: »(…) und ging durch das Krankenhaus zur Notaufnahme. Als ich dort ankam, wurde gerade der erste Verwundete eingeliefert. In seiner Brust klaffte ein großes Loch, und er starb schon wenige Augenblicke später. Fünfzig Prozent der Verwundeten, die im Krankenhaus starben, wurden durch Bomben getötet. Die andere Hälfte fiel Maschinengewehrkugeln zum Opfer.«35 Nach den Bombenangriffen besetzen die Deutschen schließlich Ende Juni/Anfang Juli 1940 die Kanalinseln. Am 9. August wird in St. Helier auf Jersey die Feldkommandantur 515 eingerichtet, die dem Militärbefehlshaber in Frankreich – erst General Otto von Stülpnagel, ab 1942 dessen entferntem Verwandten General Carl-Heinrich von Stülpnagel – unterstellt ist. Guernsey erhält eine Nebenstelle der Feldkommandantur. Diese ist eine militärische Einrichtung, hat aber vor allem die Funktion der deutschen Zivilverwaltung für die gesamten Inseln. Sie ist zuständig für die Feldpolizei, Propaganda, Zensur, Arbeitsverwaltung, medizinische und tierärztliche Versorgung, Lebensmittel-, Strom- wie Treibstoffversorgung auf den Inseln. Passkontrolle, Landwirtschaft, Textilproduktion und Viehzucht werden ebenfalls von ihr kontrolliert und koordiniert. Für jede Aufgabe gibt es eigene Abteilungen mit eigenen Sachbearbeitern, die wiederum alle dem Leiter der Zivilverwaltung innerhalb der Feldkommandantur unterstellt sind. Die Feldkommandantur 515 ist die Schnittstelle zwischen deutschem Militär und den britischen Behörden auf den Inseln. Sie ist direkt an die Befehle aus Paris und indirekt des ›Oberkommandos der Wehrmacht‹ gebunden und nur in begrenztem Rahmen zu eigenständigen Entscheidungen befähigt. Eine reine Konzentration auf zivile Angelegenheiten ist in einer solchen Konstruktion allerdings grundsätzlich eine Fiktion, da die militärischen Bedürfnisse, z. B. Bau und Unterhalt von Straßen, Beschaffung von Treibstoffen, häufig nur mit Hilfe der zivilen Besatzungsstellen durchgeführt werden können. Auf jeden Fall ist die Feldkommandantur Bestandteil der Umsetzung eines Angriffskrieges und der verbrecherischen nationalsozialistischen Ideologie. Ihre Mitarbeiter tragen zwar Uniform, sind aber mehrheitlich keine Berufsmilitärs, sondern einberufene Zivilisten mit bürgerlichen Berufen. Es ist davon auszugehen, dass auf diesem für die nationalsozialistische Führung in Berlin sehr prestigeträchtigen, kleinen britannischen Besatzungsteil nur Personen zur Verwaltung herangezogen werden, die im Sinne von Staat und Partei als zuverlässig gelten bzw. von denen zumindest kein Widerstand zu erwarten ist.

An der Spitze der Feldkommandantur steht zunächst mit Oberst Friedrich Schumacher als Inselkommandant ein gelernter Soldat. Auch Schumachers Nachfolger sind Militärs. Schumacher wird 1941 von Oberst Friedrich Knackfuß36, dieser 1944 von Major Dr. Wilhelm Heider, dann als Platzkommandant der verkleinerten Feldkommandantur, abgelöst. Die Außenstelle der Feldkommandantur leitet bis 1943 Eugen Fürst zu Oettingen-Wallerstein, dem Dr. Jacob Kratzer nachfolgt.37 Militärischer Ansprechpartner für die Feldkommandantur ist Oberst Rudolf Graf von Schmettow, der Befehlshaber auf den Inseln und damit ranghöchster Wehrmachtsoffizier ist. Schmettow wird 1942 zum Generalmajor befördert. Gegen Kriegsende wird von Schmettow, mittlerweile Generalleutnant, abgelöst und durch Vizeadmiral Friedrich Hüffmeier ersetzt. Leiter der zivilen Verwaltungsgruppe der Feldkommandantur wird zunächst Oberkriegsverwaltungsrat Dr. Gottfried Stein von Kaminski, ihm folgt im August 1941 der schon erwähnte Oberkriegsverwaltungsrat Dr. Casper.38 Auf britischer Seite sind die jeweiligen Insel-Bailiffs – für Jersey Alexander Moncrieff Coutanche, für Guernsey Victor Carey – die wichtigen Gesprächspartner. Für Guernsey sind noch die Vorsitzenden des dortigen sogenannten »Kontrollrats«, des ›States Controlling Committees‹, Ansprechpartner. Das ist zunächst Ambrose Sherwill und nach dessen Deportation John Leale. Coutanche ist auf Jersey ebenfalls noch Vorsitzender des ›Supreme Courts‹. Bedeutsam ist weiterhin noch die Rolle von Charles Duret Aubin, des Generalstaatsanwalts auf Jersey, auf dessen Mithilfe bei der Durchsetzung ihrer Verordnungen die deutschen Invasoren angewiesen sind. Auf Alderney gibt es für die Feldkommandantur 515 keine direkten britischen Ansprechpartner, befindet sich die entvölkerte Insel doch komplett in der Hand von Wehrmacht und SS. Die Interessen von Sark hingegen vertritt die selbstbewusste Lady Sibyl Hathaway, die ›Dame of Sark‹, die gern deutsche Offiziere auf ihrem Anwesen empfängt und mit ihnen geistvolle Gespräche führt. Sark und Alderney gehören zum Verwaltungsbereich von Guernsey und liegen so auch noch im Einflussbereich Victor Careys und der Vorsitzenden des dortigen Kontrollrats.

Rasch machen sich die Mitarbeiter an die Errichtung eines deutschen Besatzungsregimes. Vermutlich auf Anordnung Hitlers, der auf britischem Gebiet eine Art zivilisiertes ›Vorzeigebesatzungsregime‹ einrichten möchte39, verhalten sich die Deutschen gegenüber den Inselbewohnern zunächst so zurückhaltend wie möglich. Allerdings gilt dies nicht für die kleine Gruppe jüdischer Inselbewohner, mit deren Verfolgung die Feldkommandantur schon im Herbst 1940 beginnt. Im Oktober werden die ersten Verordnungen gegen die jüdischen Einwohner erlassen. Die englischen Inselbehörden rufen die jüdischen Mitbürger auf, sich registrieren zu lassen. Die Inselparlamente von Jersey und Guernsey bestätigen im November die antisemitischen Maßnahmen.40 Die Inselbewohner müssen im November ihre Funk- und Radiogeräte abgeben. Außerdem müssen sich die Bewohner registrieren lassen. Die dabei entstandenen ›Occupation Registration Cards‹ sind überliefert und bis heute eine wichtige Quelle zur Erforschung der Besatzungszeit.

Die Deutschen reagieren mit den Registrierungen auf ein gescheitertes britisches Kommandounternehmen, in dessen Verlauf einige englische Soldaten als Spione auf den Inseln landen wollten. Widerstand gegen die Verordnung bestrafen die Deutschen mit Haft und im schlimmsten Fall mit Deportation ins ›Reich‹.41 Die ›Geheime Feldpolizei‹ durchsucht die Inseln nach oppositioneller Literatur und beweist auch in diesem Detail, dass die Besetzung der Inseln keine skurrile Posse der Weltgeschichte, sondern durchaus Akt nationalsozialistischer Gewalt und Unterdrückung ist.

Im Verlauf des Jahres 1941 werden weitere Zwangsmaßnahmen durchgesetzt. Die britische Inselverwaltung hilft bei der Verfolgung des jüdischen Bevölkerungsteils, indem sie den Deutschen Namenslisten jüdischer oder auch vermeintlich jüdischer Mitbürger vorlegt. Mit Übereifer werden auch strittige Fälle, bei denen sich die Inselbehörden über den Status der Betreffenden unsicher sind, übermittelt – eine Form der Kollaboration oder Kooperation42, wie sie ähnlich auch im besetzten Frankreich und im von der Vichy-Regierung kontrollierten unbesetzten Frankreich zu beobachten ist. Die wenigen jüdischen Geschäfte werden nach dem bereits im ›Deutschen Reich‹ seit 1933 erprobten Muster ›arisiert‹, also zu einem lediglich symbolischen Preis an nichtjüdische Käufer veräußert.43 Dass die englischen Inselbehörden nicht mehr oder weniger antisemitisch waren als der britische Bevölkerungsdurchschnitt, darf angenommen werden. Zumindest kann ihnen kein besonderes Interesse nachgewiesen werden, ihren jüdischen Inselbewohnern gegen die deutschen Repressionen zu helfen. Selbst vergleichsweise zaghafte Formen des Widerstands werden durch die Inselbehörden unterdrückt. Als Unbekannte auf Guernsey Churchills berühmtes ›V‹ für ›Victory‹ auf Gebäude malen, lobt Bailiff Carey 25 Pfund für die Ergreifung der Täter aus.44

Das britische Narrativ vom heroischen Kampf gegen ›Nazideutschland‹ will auf die Zeit der Inselbesatzung nicht recht passen, wie auch Madeleine Bunting feststellt: »What has always made the Channel Islands’ record so important is that it punctures that British complacent assumption of a national immunity to this combination of amoral bureaucracy and anti-semitism.«45

Im September 1941 verlangt der ›Führer‹ Adolf Hitler die Deportation von Inselbewohnern, allerdings unterbleiben die Deportationen aus ungeklärten Gründen zunächst. Ob hier die Feldkommandantur oder die britischen Behörden den Befehl hintertrieben haben, wie später immer wieder behauptet wurde, bleibt unklar. Eventuell hat auch ein Brand im Führerhauptquartier die Weitergabe des Befehls verhindert.46 Ab November 1941 arbeiten dann 16 00047 Zwangsarbeiter der ›Organisation Todt‹, viele davon aus Russland, aber auch Franzosen, Spanier, Nordafrikaner, unter menschenunwürdigen Bedingungen am Bau von Festungsanlagen, mit denen Hitler die ganze französische Westküste zubetonieren lassen möchte. Die Betonburgen und ihre Geschütze sollen die Inseln in uneinnehmbare Festungen verwandeln.

Therese Steiner, Opfer der antijüdischen Maßnahmen. Sie wird ebenso wie Marianne Grünfeld und Auguste Spitz deportiert und stirbt im Vernichtungslager Auschwitz.

Im Jahr 1942 befinden sich 35 000 Deutsche auf den Inseln, womit auf zwei Inselbewohner ein deutscher Wehrmachtsangehöriger kommt.48 Kinos, Buchhandlungen mit NS-Propaganda, Bordelle, Theateraufführungen und eine deutschsprachige Inselzeitung dienen zur Zerstreuung für die kaum beschäftigten Landser. Für viele Deutsche erscheint der Aufenthalt auf Jersey und Guernsey weniger Krieg als vielmehr Urlaub zu sein.

Anders sieht es dagegen auf Alderney und auf den Festungsbaustellen aus. Die SS richtet auf Alderney mehrere Konzentrationslager ein, denen sie zynischerweise die Namen der deutschen Ferieninseln Norderney, Helgoland, Borkum und Sylt gibt. In diesen Lagern werden Zwangsarbeiter, Oppositionelle und Juden gefangen gehalten und misshandelt. Bei unzureichender Ernährung müssen die Gefangenen 12 Stunden am Tag an den Festungsbauten arbeiten. Die SS-Wachmannschaften prügeln wahllos Insassen zu Tode. Gefangene, die an Tuberkulose erkranken, werden erschossen. Viele Lagerinsassen sterben an Unterernährung und Auszehrung.49

Hans Max Freiherr von Aufseß ist als Kriegsverwaltungsrat seit Januar 1942 Stellvertreter Caspers in der Feldkommandantur 515. Im September des Jahres werden doch noch die ersten Inselbewohner in die deutschen Internierungslager Biberach, Laufen, Dorsten und Wurzach deportiert.50 Die Behandlung in den deutschen Lagern, welche die britischen Deportierten erfahren, ist allerdings wesentlich rücksichtsvoller als jene, wie sie die von der NS-Propaganda als ›slawische Untermenschen‹ bezeichneten russischen Kriegsgefangenen oder gar Juden erleiden müssen. In der kruden nationalsozialistischen Ideologie sind die britischen Gefangenen zwar Feinde, aber zumindest ›rassisch‹ nicht ›minderwertig‹. Dennoch sterben knapp 50 Inselbewohner in den deutschen Lagern.51 Weitere Deportationen folgen im Dezember 1942. Am 21. April 1942 werden die drei jüdischen Ausländerinnen Auguste Spitz, Marianne Grünfeld und Therese Steiner – Grünfeld ist Polin, Spitz und Steiner stammen aus Österreich – deportiert. Sie sterben später im Vernichtungslager Auschwitz.52

Marianne Grünfeld

Im Jahr 1943 verschärfen sich die deutschen Zwangsmaßnahmen. Bei einem Schiffsunglück im Januar lassen zahlreiche Zwangsarbeiter, die ins französische Cherbourg gebracht werden sollen, ihr Leben. Weitere Inselbewohner werden deportiert. Insgesamt werden während der gesamten Besatzung Hunderte britischer Staatsbürger verschleppt.53 Bürger, die noch immer eigene Radiogeräte besitzen, werden verhaftet und zu Haftstrafen verurteilt. Unter der britischen Bevölkerung wächst der Ärger über die Besetzung. Im November werden auf Guernsey englische Matrosen bestattet, die bei einem erfolglosen Angriff auf einen deutschen Konvoi durch U-Boot-Torpedos ums Leben gekommen sind. Dabei versammeln sich 5000 Inselbewohner und verwandeln die Beerdigung in eine Demonstration des Protestes.54 Vereinzelte Protestaktionen, z. B. wirft eine Frau Pferdemist auf deutsche Armeeangehörige, werden mit Haftstrafen verfolgt. Von einem kämpferischen Widerstand gegen die deutsche Besetzung, wie ihn die Partisanen Titos in Jugoslawien oder die Résistance in Frankreich leisten, kann allerdings für die Kanalinseln zu keinem Zeitpunkt der Jahre 1940 bis 1945 gesprochen werden. Die jungen Männer, die einen solchen Widerstand hätten tragen können, sind 1940 überwiegend geflohen und kämpfen nun an den Fronten des Krieges, die älteren Einwohner arrangieren sich und versuchen, die Besetzung ›auszusitzen‹. Zwar werden vereinzelt Sabotageakte verübt, z. B. Einbrüche in Geschützstellungen, und besonders mutige Inselbewohner verstecken geflüchtete Zwangsarbeiter und Juden, doch wie in jeder vergleichbaren Situation sind auch auf den Kanalinseln die ›Helden‹ in der Minderheit.55 Die wohl häufigste Form von Widerstand ist das Hören von sogenannten ›Feindsendern‹, also BBC. Die Suche nach Radios beschäftigt die deutschen Besatzer daher die ganzen Jahre der Okkupation.

Einen vollkommenen Gegensatz zu Widerstandsaktionen stellen die zahlreichen Liebesbeziehungen zwischen deutschen Männern und Inselbewohnerinnen dar.56 Vielen jungen Frauen auf den Inseln fehlen mögliche britische Partner.57 Sexuelle Not, Abenteuerlust, ein Überangebot an attraktiven, wenig beschäftigten jungen Männern in Uniform58, in denen viele nicht den Feind, sondern einen Menschen sehen, führen zu intimen Verhältnissen, von denen auch Freiherr von Aufseß in seinen Tagebüchern ausführlich berichtet. Manche Frauen werden aber auch aus purer Not und aus Überlebenswillen Beziehungen zu deutschen Landsern eingegangen sein. Aus dieser Art von Liebesverhältnissen oder, wie Sanders formuliert, »horizontal collaboration«59 gehen ca. 470 uneheliche Kinder hervor.60 Die meisten Menschen hoffen aber einfach nur auf ein baldiges Kriegsende, werden in dieser Hoffnung jedoch enttäuscht. Frauen, die sich mit Deutschen einlassen, werden von den Inselbewohnern verächtlich als ›Jerrybags‹61 bezeichnet.

Im Juli 1943 sinkt ein Schiff, das Sklavenarbeiter und französische Prostituierte auf die Inseln bringen soll, wobei erneut 250 Menschen sterben. Freiherr von Aufseß wird im November als Nachfolger von Wilhelm Casper Leiter der Zivilverwaltung in der Feldkommandantur 515. Casper wechselt in das Besatzungsregime nach Dänemark, wo er in den Stab des ›Reichsbevollmächtigten‹ und Kriegsverbrechers Werner Best eintritt.62

1944 ist das Jahr einer rasanten Verschärfung der Umstände. Die Inseln werden zu ›Festungen‹ erklärt, die im Falle englischer Angriffe entschlossen zu verteidigen sind. Von englischer Seite werden zunehmend erfolgreich deutsche Konvois, die Lebensmittel und Treibstoff zu den Inseln bringen sollen, angegriffen. Durch diese Attacken verschärfen sich die Lebensbedingungen der Inselbewohner. Die Feldkommandantur wird verkleinert und in ›Platzkommandantur‹ umbenannt. Ihre kampffähigen Mitarbeiter werden zur Wehrmacht eingezogen. Nach der alliierten Landung in der Normandie im Juni 1944 kommt es keineswegs zu einem von den deutschen Militärs erwarteten Angriff auf die Inseln. Die Channel Islands werden einfach ›links liegen gelassen‹ und stattdessen ausgehungert. Zu diesem Zeitpunkt sitzen 26 000 deutsche Soldaten untätig auf den Inseln herum, benötigen aber wie die Inselbewohner Nahrung, Medikamente, Treibstoff.63 Nach der Eroberung der normannischen Häfen durch die Alliierten bricht der Versorgungsnachschub für die Inseln völlig zusammen. Deutsche Soldaten, die in den Kämpfen in der Normandie verwundet wurden und auf die Inseln gebracht werden konnten, finden in den dortigen Lazaretten keine angemessene Versorgung mehr.

Hans Max Freiherr von Aufseß

In der allmählich unhaltbar werdenden Lage informieren die Deutschen im September 1944 das Rote Kreuz der neutralen Schweiz über das absehbare Ende der Nahrungsvorräte. Viele Inselbewohner hungern bereits. Die Deutschen bieten die Evakuierung der Zivilbevölkerung an, wären aber auch mit der Hilfe des Roten Kreuzes einverstanden. Premierminister Churchill lehnt beide Vorschläge zunächst ab. In sicherer Erwartung der abweisenden deutschen Antwort verlangt er stattdessen die Kapitulation der Besatzer. Gas- und Stromleitungen zu den Inseln werden von den Alliierten gekappt. Die Deutschen beginnen nun unter der Zivilbevölkerung nach verbliebenen Nahrungsmitteln zu suchen und gefundene Nahrung einzuziehen, um die eigenen Soldaten ernähren zu können. Dieser Bruch des Völkerrechts erzürnt die zunehmend verzweifelten Insulaner. Deutschen Landsern wird Zwangsruhe verordnet, um Kalorien zu sparen. Die Truppe ist kaum noch kampffähig. Im November erlaubt das britische Kriegskabinett doch noch Hilfslieferungen durch das Rote Kreuz. Das schwedische Rot-Kreuz-Schiff ›Vega‹ erreicht allerdings erst im Dezember 1944 die Inseln. Im Februar und März 1945 bringt die ›Vega‹ noch einmal dringend benötigte Nahrungsmittel auf die Inseln.64 Einerseits bleibt die Mehrheit der Menschen auf den Inseln, Briten wie Deutsche, von Krieg und Tod verschont – anders als Millionen Europäer auf dem Festland während des erfolgreichen Vorstoßes der Alliierten auf das ›Deutsche Reich‹ –, andererseits müssen die Menschen hungern und große Ungewissheiten ertragen.

Oberst von Schmettow wird im Januar 1945 durch den überzeugten Nationalsozialisten und kampfwilligen Admiral Friedrich Hüffmeier abgelöst. Dieser hält markige Durchhaltereden und unternimmt am 8. und 9. März 1945 einen erfolg- wie verlustreichen Angriff auf die Hafenstadt Granville, die am Westufer der normannischen Halbinsel Cotentin liegt. Es gelingt den Deutschen, Kohle zu erbeuten und einige Amerikaner gefangen zu nehmen. Am 9. Mai kapitulieren die Deutschen aber schließlich trotzdem kampflos. Selbst Hüffmeier muss einsehen, dass seine Truppe keinen Widerstand mehr leisten kann und ein Gemetzel nach dem Selbstmord des ›geliebten Führers‹ und der einen Tag zuvor erfolgten Kapitulation der Wehrmacht ebenso lächerlich wie tragisch wäre. Nach fünf Jahren endet die Zeit der deutschen Besatzung auf den Kanalinseln nicht in einem dramatischen Finale, sondern in einer banalen Übergabe auf einem englischen Kriegsschiff. Die deutschen Besatzer gehen in Kriegsgefangenschaft, während gleichzeitig englische Truppen die Inseln wieder in Besitz nehmen.

Das Verhalten der Inselbewohner während der fünfjährigen Okkupation ist ein heute umstrittenes Thema in der britischen Öffentlichkeit. Unmittelbar nach dem Krieg wird über die Kollaboration oder zumindest Kooperation vieler Insulaner, wie sie auch die Tagebücher des Freiherrn von Aufseß deutlich dokumentieren, zunächst lange Zeit der Mantel eines gnädigen Schweigens gebreitet. Frauen allerdings, die sich mit Deutschen ›eingelassen‹ haben, werden von vielen Insulanern, vor allem von jenen, die den Krieg in England verbracht haben, geächtet.65 Auch dieses Muster ist mit den Vorgängen in Frankreich vergleichbar. Dort werden Frauen nach der Befreiung stellvertretend für den Abgrund an Kollaboration, dessen sich große Teile der französischen Gesellschaft schuldig gemacht haben, gedemütigt und geschlagen.66 Auch die Kinder aus diesen Verhältnissen werden ausgegrenzt. Männer wie Carey oder Coutanche aber, deren Verhalten mindestens diskussionswürdig war, können nach 1945 als geachtete Mitglieder der Inselgemeinschaft weiterleben.

Auf den Kanalinseln gibt es keine Massenerschießungen von Geiseln, und selbst die Repressalien sind im Vergleich zu den Menschheitsverbrechen von SS und Wehrmacht in anderen Teilen Europas weniger dramatisch, dabei aber keineswegs harmlos. Auch auf den britischen Kanalinseln werden zwischen 1940 und 1945 Juden verfolgt, Einwohner deportiert und sterben Hunderte Zwangsarbeiter67. Die Deutschen verwickeln biedere und mit der Situation überforderte Beamte, aber auch viele Inselbewohner in einen Zwiespalt zwischen Widerstand und Überlebenswillen, der manche, aber keineswegs alle Insulaner in die Grauzonen von Kollaboration und Kooperation führt. Der Mikrokosmos der deutschen Okkupation der Channel Islands im großen Makrokosmos des Zweiten Weltkriegs verdient es, auch in Deutschland, im Land der Täter und ihrer Nachfahren, genauer betrachtet zu werden. Es gibt dabei vielleicht aus englischer, ganz gewiss aber aus deutscher Sicht keinen Grund, sich die Jahre 1940 bis 1945 auf Jersey, Guernsey, Sark und Alderney ›schönzureden‹.

Hans Max Freiherr von und zu Aufseß (1906–1993)

Hans Max Freiherr von und zu Aufseß ist vielleicht ein Stück weit, aber sicherlich nicht ganz und gar der ›gute Deutsche‹, als der er sich in seinen veröffentlichten Tagebüchern darzustellen versucht und als der er in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg auch in englischen Publikationen geschildert wird. Als Teil eines Besatzungsregimes gehört er zu den Mittätern, wobei der Begriff des ›Täters‹ selbstverständlich differenziert werden muss. Freiherr von Aufseß ist kein Mörder, aber ein Rädchen im Getriebe eines Mordapparats.

Es ist nicht die Aufgabe des Historikers, die Menschen der Vergangenheit mit erhobenem moralischen Zeigefinger zu beurteilen und ihnen ihre Schwächen vorzuhalten. Doch der Mühe einer kritischen Einordnung in den historischen Kontext und einer Abwägung der Handlungsmöglichkeiten und -spielräume, die diesen Menschen in schwierigen, potentiell verbrecherischen Umständen zur Verfügung standen, sollte man sich als Historiker doch unterziehen. Das gebietet schon allein der Respekt vor den Subjekten der Untersuchung. Folgt man aber der einzigen umfassenderen deutschsprachigen Biographie, die 2015 in den ›Fränkischen Lebensbildern‹68 erschien, war Hans Max Freiherr von Aufseß ein bruchlos tadelloser Mann, der auf den Inseln sein Möglichstes tat, um die Einwohner vor den größten deutschen Repressalien zu schützen. Der Verfasser dieser Biographie folgt dabei dem von Aufseß selbst geschaffenen, von Casper, dem Hauptverantwortlichen für die Durchführung der von seinen Vorgesetzten in Paris angeordneten antijüdischen Maßnahmen auf den Inseln69, und einigen englischen Autoren nach dem Krieg weiter tradierten Bild einer ›guten Okkupation‹ durch gebildete und distinguierte Besatzer von adeligem Geblüt. Casper verweist in seinem wenig glaubwürdigen Verteidigungsbüchlein auf englische Zeugen, die von Aufseß als tadellosen Besatzer schildern: »Er war eine der bedeutendsten Persönlichkeiten von deutscher Seite, soweit es die Zivilbevölkerung betraf, und eine der interessantesten (…).«70 Auch die 2014 publizierte Chronik der Familie von Aufseß unterlässt eine Einordnung in den historischen Kontext und erwähnt die Tätigkeit des Freiherrn auf den Kanalinseln nur in dürren Worten.71 Selbst im Jahr 2015, 70 Jahre nach Kriegsende, sind noch die alten Mechanismen von Verdrängung und Verleugnung der unmittelbaren Nachkriegszeit wirksam. Doch nur selten präsentiert sich die Vergangenheit, wenn man sie gründlich betrachtet, als eindimensionale Angelegenheit ohne Widersprüchlichkeiten und Brüche. So ist es auch bei Hans Max Freiherr von und zu Aufseß, der sich gern selbst mit ›HMA‹ abkürzte.

Die Quellenlage zur Biographie des Freiherrn von Aufseß ist gut, wurde bisher aber in Teilen übersehen oder ignoriert. Die Zentrale Mitgliederkartei der NSDAP im Bundesarchiv Berlin gibt Auskunft über eine Parteimitgliedschaft, die aussagekräftige Spruchkammerakte des Entnazifizierungsverfahrens befindet sich im Staatsarchiv Coburg. Unterlagen des Kriegsgefangenenlagers ›Camp 18 – Featherstone Park‹ mit Informationen zu Hans Max von Aufseß’ Zeit als ›Prisoner of War‹ (›PoW‹) lagern im National Archive im Londoner Stadtteil Kew. Im Fränkische-Schweiz-Museum Tüchersfeld befindet sich der Nachlass des Freiherrn mit Manuskripten, privaten Aufzeichnungen und Korrespondenzen. Schließlich sind auch die zahlreichen Publikationen, die Hans Max von Aufseß nach dem Krieg veröffentlicht hat, weitere Quellen zum Verständnis und zur Einordnung seiner Person. Viele im ›Jersey Archive‹ befindliche Unterlagen, die seine Tätigkeit auf den Inseln dokumentieren, wurden von britischen Autoren, vor allem von Paul Sanders, gehoben, akribisch gesichtet und in der schon erwähnten umfangreichen Literatur verarbeitet.

Hans Max Otto Hermann Karl Gustav Freiherr von und zu Aufseß wird am 4. August 1906 in Berchtesgaden geboren. Er ist Teil einer fränkischen Adelsfamilie, die sich bis ins 12. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Noch heute zeugen eine Burg, ein Schloss und ein Dorf in der Fränkischen Alb von der Geschichte der Familie von Aufseß. Seine Vorfahren waren Bischöfe, freie fränkische Ritter – Raub-, aber auch Ordensritter – Reichsfreiherren, Verwaltungsbeamte und Militärs. Zuletzt erlangte Markus von Aufseß, 1987 bis 1990 Fußballprofi beim Zweitligisten SpVgg Bayreuth, eine gewisse Bekanntheit. Das Haus Aufseß trennt sich im 18. Jahrhundert in die Linien ›Unteraufseß‹ und ›Oberaufseß‹. Hans Max Freiherr von Aufseß gehört zur Linie ›Oberaufseß‹. Sein bis heute bekanntester Vorfahr ist sein Großonkel Hans von Aufseß aus der Linie ›Unteraufseß‹, der Begründer des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg. Sein Vater Ernst Moritz Leopold, verheiratet mit Caroline Freiin von Hohenfels, ist zur Zeit der Geburt von Hans Max Leiter des Bezirksamts in Berchtesgaden.72 Bei seiner Geburt hat Hans Max bereits zwei Schwestern, Anna und Elisabeth, und 1925 folgt mit Bruder Albrecht noch ein ›Nachzügler‹. Der Freiherr wird in die festgefügte Provinzadelswelt des späten bayerischen König- und deutschen Kaiserreichs hineingeboren. In dieser Welt gibt es Privilegierte und Gesinde. Seine glückliche Kindheit auf Burg Aufseß schildert Hans Max 1930 als junger Mann in einem romantisch-naturbewegten Gedicht: »Der Hof lag groß und breit, leicht im Gefälle/Hinauf zum Schloß, hinunter in die Ställe/Lief ich wohl hundertmal in Knabenschnelle/Und als Jüngling wieder hundertmal. (…) Hell überflattert von den Wolkenfahnen:/Das Tal, der Wald und Flur und Burg der Ahnen./Ich war daheim, Du gütiges Geschick.«73 Schon in diesem Jugendwerk spiegeln sich eine schwärmerische Ader und eine virile Lebensbejahung, die auch im Tagebuch der Okkupationszeit immer wieder durchscheinen. Als der Erste Weltkrieg ausbricht und auch das Leben in der fränkischen Provinz berührt, ist Hans Max von Aufseß acht Jahre alt. Mit Rittmeister Otto-Walter von Aufseß, der im November 1914 fällt, und Major Siegfried von Aufseß, beide aus der Linie ›Unteraufseß‹, der 1917 an den Folgen einer Verwundung stirbt74, verliert, wie viele andere auch, diese Familie im Krieg Menschenleben. Bei Beginn der ersten deutschen Republik, welche 1919 die Standesprivilegien des deutschen Adels abschafft und so die Lebensverhältnisse der ganzen Familie verändert, ist Hans Max zwölf Jahre alt. Er gehört damit zu jener sogenannten ›Kriegsjugendgeneration‹75 der zwischen 1900 und 1912 Geborenen, die, zu jung für eine Bewährung im Fronteinsatz, das Ende von Kaiserreich und alter Ordnung sowie die schwierigen Anfangsjahre der deutschen Republik als Verlusterfahrung wahrnehmen, gegen die sie sich machtlos fühlen. Diese Generation radikalisiert sich und ihr entstammt ein Großteil der späteren nationalsozialistischen Funktionsträger, u. a. Heinrich Himmler, Reinhard Heydrich oder der schon erwähnte Werner Best. Auch der fast gleichaltrige Hans Werner von Aufseß aus der Linie ›Unteraufseß‹, der wie Hans Max in München Jura studiert, gehört zur ›Kriegsjugendgeneration‹. Mitglied in der SS und der NSDAP macht er Karriere als persönlicher Referent des Reichslandwirtschaftsministers Walter Darré. Bei den ›Nürnberger Prozessen‹ nach 1945 sagt Hans Werner von Aufseß als Zeuge aus.

Hans Max von Aufseß besucht die Volksschule sowie Gymnasien in Bayreuth und München. Anschließend studiert er Rechtswissenschaften und Forstwissenschaften in München, Erlangen, Wien, Hamburg und Paris.76 Im Wintersemester 1927/28 schließt er sich dem ›Verband der Vereine Deutscher Studenten – Kyffhäuserverband‹ in München an.77 Der Verband ist zu diesem Zeitpunkt zwar nichtschlagend, aber antisemitisch und antirepublikanisch eingestellt. Seit 1926 bestehen Kontakte des Verbands zum ›Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund‹. Der junge Student Hans Max von Aufseß bewegt sich damit in einem politisiert-antidemokratischen Umfeld.

Am 1. Mai 1933 tritt Hans Max Freiherr von und zu Aufseß mit der Mitgliedsnummer 2524705 in die NSDAP, Ortsgruppe Heiligenstadt, Gau Bayerische Ostmark, ein.78 Als Wohnort gibt er Oberaufseß, als Beruf »Assessor« an.79 An diesem 1. Mai 1933, dem im ganzen Reich aufwendig begangenen ›Tag der Nationalen Arbeit‹, treten überdurchschnittlich viele Deutsche in die NSDAP ein, um so noch knapp einer Aufnahmesperre der Partei entgehen zu können, die mit Wirkung dieses Datums gilt. Der Freiherr gehört damit der sehr großen Zahl von Neumitgliedern an, die nach der nationalsozialistischen ›Machtergreifung‹ am 30. Januar 1933 und den unfreien Wahlen vom 5. März d. J. in die Partei eintreten und die der Volksmund spöttisch als ›Märzgefallene‹ bezeichnet. Hatte die Partei Ende 1932 719 446 Mitglieder, sind es im Mai 1933 bereits 2,5 Millionen.80 1,3 Millionen der 2,5 Millionen Mitglieder treten erst zwischen der Märzwahl 1933 und dem 1. Mai d. J. in die NSDAP ein.81 Altgedienten Nationalsozialisten sind diese Neumitglieder ein Ärgernis, werden doch hinter vielen Eintrittsgesuchen mit Recht Opportunisten und ›Glücksritter‹82 vermutet, wie das Oberste Parteigericht mit Blick auf die ›Märzgefallenen‹ urteilt: »Wer vor dem 30. 1. 1933 zu uns kam, war willens für die Bewegung zu opfern. Jetzt kamen nicht mehr nur Menschen, die für die Ziele des Führers kämpfen wollten, es ließen sich auch Leute aufnehmen, die nun an der Bewegung verdienen wollten.«83 Die Aufnahmesperre, die erst 1937 wieder aufgehoben wird, soll diese Entwicklung stoppen. Am Ende des ›Dritten Reichs‹ sind dennoch 8,5 Millionen Deutsche Parteimitglieder.84

Nachweis über die Mitgliedschaft in der NSDAP in der Berliner Zentralmitgliederkartei

Der Umstand, dass von Aufseß der NSDAP beitritt, bedeutet nicht zwingend, dass er ein von allen ideologischen Inhalten überzeugter Nationalsozialist ist. Vielmehr ist anzunehmen, dass der am Anfang einer möglichen Karriere stehende 26-jährige ›Assessor‹ für seine Pläne, sich als Jurist zu etablieren und eine Familie zu gründen, die Parteimitgliedschaft für hilfreich hält. Des Freiherrn Berufsstart fällt genau in die Zeit der Etablierung der nationalsozialistischen Diktatur und ähnlich wie z. B. für viele frisch examinierte und häufig arbeitslose Junglehrer ist auch für Juristen am Anfang der Laufbahn die Einfügung in das neue System Voraussetzung für Erfolg. Diese Argumentation bemüht von Aufseß 1947 dann auch in seinem späteren Entnazifizierungsverfahren. Es muss jedoch deutlich gesagt werden, dass auch nach dem Beginn des ›Führerstaats‹ ein Parteieintritt immer freiwillig ist und niemand gezwungen wird, sich aus Gründen beruflicher Opportunität der NSDAP anzuschließen.85 Es war im ›Dritten Reich‹ möglich, moralisch integer zu bleiben, wenn man bereit war, auf Vorteile des Systems zu verzichten. Ungeachtet der Frage, ob Hans Max von Aufseß beim Parteieintritt überzeugter Nationalsozialist ist, kann festgestellt werden, dass er nicht zögert, in eine aggressiv antisemitisch, rassistisch und demokratiefeindlich orientierte Organisation einzutreten, die im Mai 1933 ihre brutale Gewaltbereitschaft bereits hinlänglich nachgewiesen hat.

Im Jahr 1934 zieht von Aufseß in das 90 Kilometer von Oberaufseß entfernte oberfränkische Industriestädtchen Naila und lässt sich dort als Anwalt nieder.86 Im selben Jahr heiratet er Marie Luise (Marilies) von Klipstein; dem Paar werden 1936 und 1939 die Töchter Uta und Cordula geboren.87 Ein Sohn, Hans-Michael, folgt noch während der Zeit des Freiherrn auf den Kanalinseln. Von Aufseß tritt später noch dem ›Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps‹ (NSKK) und dem ›Nationalsozialistischen Rechtswahrerbund‹ (NSRB) bei.88 Die Mitgliedschaft im NSRB ist für Juristen keine Zwangsmitgliedschaft, aber faktisch unerlässlich, will man im ›Dritten Reich‹ als Anwalt tätig sein.

Die ältere Tochter Uta erinnert sich im Rückblick an die Vorkriegszeit in Naila: »So begann er mit einer Anwaltskanzlei in Naila und zog mit seiner kleinen Familie dort hin. Hier gab es Industrie, und es lebten Freunde und Verwandte in der Umgebung. Als 1939 Cordula geboren wurde und die Eltern mittlerweile ein kleines Haus mit Garten gebaut und ihr Eigen nannten, schritten die Kriegsvorbereitungen immer weiter voran und die Eltern hielten das Leben in dieser Industriestadt mit kleinen Kindern für nicht mehr angebracht und sinnvoll. Außerdem wurde mein Vater auch gleich eingezogen, und wir zogen mit Sack und Pack nach Altaussee in Österreich zu Freunden der Eltern, die dort schon eine Wohnung in einem Bauernhof besorgt hatten.«89

Hans Max von Aufseß wird nach Kriegsausbruch zu einer FLAK-Abteilung der Luftwaffe eingezogen und an »verschiedenen Fronten im Osten und Westen eingesetzt.«90 Im Mai 1941 erhält er den Rang eines Unteroffiziers.91 Ab November 1941 wird er Stabsunteroffizier bei der Luftwaffe in Frankreich, jedoch wegen seiner guten Französischkenntnisse bei der Spionageabwehr in Paris eingesetzt.92 Als Kriegsverwaltungsrat kommt der Freiherr schließlich 1942 auf die Kanalinseln, zunächst als Stellvertreter Caspers. Diese Versetzung verdankt von Aufseß nun seinen Englischkenntnissen.93

Marilies von Aufseß. Bildunterschrift: »Die Reisebegleiterin / ›Wer will eine Reise tun / der muss mit der Liebsten fahren‹ Eichendorff«.

Seine Haltung zum Nationalsozialismus ist trotz der Parteimitgliedschaft bereits 1940 kritisch. In einem unveröffentlichten Essay aus dem Jahr 1940 mit dem Titel ›Die sanfte Gewalt‹ schreibt von Aufseß: »Wir Deutschen sind nach dem Weltkrieg lange genug durch eine Zeit der Schwäche geschritten, um uns nach einem starken Willen zu sehnen. Wir haben ihn bekommen. Das SA Gesicht auf dem Plakat hat in Reinform die Züge des Männlichen und Willensmässigen getragen. Wir Deutsche sind wie so oft in unserer Geschichte von einem Extrem in das andere gefallen. Vom uferlosen Liberalismus ging es über in die Begrenztheit des totalen Staates, von der Disziplinlosigkeit in die höchste Ausrichtung und von der Planlosigkeit in das doktrinäre Programm. (…) Das Preussisch-Nationalsozialistische Deutsche bricht über von Tatkraft, seine Sprache ist befehlsmässig abrupt, seine Meinungsäusserungen zu laut (…) Es fordert heraus, weil es einseitig den Kampf, den Willen und die Pflicht bejaht und anbetet, – weil es keine sanfte Gewalt ist.«94 Der Freiherr spricht einem sanften, christlich geprägten autoritären Staat das Wort: »Es ist der ganze wärmere Blutstrom des deutschen Südens auf den Plan zu rufen, damit das Unharmonische im Deutschen nicht beherrschend wird.«95

Diese vollzogene innere Distanz zum Nationalsozialismus hindert von Aufseß jedoch nicht an der Zusammenarbeit mit dem Regime. Nach dem Krieg schildert Hans Max von Aufseß seine Tätigkeit auf den Inseln allerdings auf günstigste Weise: »Es ist mir dort gelungen, alle Nazimethoden in der Verwaltung des Landes, auch alle Nazidienststellen fernzuhalten.«96 Folgt man dem Urteil von Paul Sanders, der die englischen Quellen am besten kennt, überzeichnet von Aufseß seine Rolle allerdings ein wenig: »Von Aufsess’ power (…) was limited to deploring and intervening in the cutting down of old trees. Von Aufsess clearly had too much time on his hands to have been part of the inner political circle. (…) devouring every genre of books and films that got into in his hands and criss-crossing the island, often on horseback, cultivating relationships with compatriots and a select few islanders alike.«97

In Briefen, die von Aufseß nach 1945 von den Kanalinseln erhält, wird aber deutlich, dass er sich durchaus im Rahmen seiner Möglichkeiten um die Bedürfnisse der Inselbewohner bemüht hat und dabei auch Erfolge erzielen konnte. In einem Brief einer Inselbewohnerin vom 2. Januar 1947 an den Freiherrn heißt es: »I shall never forget your great effort in 1945 in trying to give us civilians our vegetables when that detestable Nazi admiral did his best to starve us all.«98 Edward Le Quesne, Präsident des ›Committee of public health States of Jersey‹, schreibt an von Aufseß im November 1947: »As minister of Labour during the whole of the Occupation of the Islands I can bear witness to the moderation you showed in putting into operation the orders of your superiors.«99

Doch ist Sanders’ Einschätzung ebenfalls zutreffend. In der Tat findet von Aufseß neben der mit begrenzten Kompetenzen versehenen Verwaltungstätigkeit viel Zeit für Gespräche, Frauenbekanntschaften, Ausritte oder entspannte Stunden am Strand. Im Auftrag der Feldkommandantur 515 gibt der Freiherr sogar einen Bildband mit dem Titel ›Bilderbogen‹100 über die Kanalinseln heraus. Die Texte und Bilder stammen vom Freiherrn, der dafür viele Stunden müßig über die Inseln gezogen sein muss. Das Buch erreicht drei Auflagen und wird in insgesamt 36 000 Exemplaren ausgeliefert. Nach Kriegsende ist es ein gesuchtes Souvenir englischer Soldaten. Sogar Adolf Hitler soll ein Exemplar erhalten haben, wie von Aufseß im Oktober 1943 berichtet: »Es wurde vom Chef des Fuehrerhauptquartiers, General Schmundt dem Fuehrer in den schweren Tagen vor Stalingrad im Januar 43 vorgelegt. Trotz des besonderen Interesses des Fuehrers für die Kanalinseln habe er begreiflicherweise keine Zeit dafuer gehabt, denn der Russe habe wider alle Regeln der Kriegskunst eine ungeheure Winteroffensive gestartet, stand woertlich gleich einem Eingestaendnis des Ueberraschtseins darin. (…) Die Engländer auf den Inseln haben es in grosser Menge gekauft und den oeffentlichen Bibliotheken eingereiht, wobei sie zugestanden haben, dass es das beste bisher erschienene illustrierte Buch der Inseln sei. Eine englische Uebersetzung des Textes ist hinzugefuegt worden.«101 Das Buch selbst ist eine unkritische Lobpreisung der Inseln und stellt dabei die deutsche Besatzung als freundliches Idyll dar.

Im Oktober 1943 beginnt von Aufseß mit den Eintragungen in seine Tagebücher. Vor seinen Mitarbeitern hält von Aufseß in diesem Jahr immer wieder programmatische Vorträge, in denen er sich für die schon aufgezeigte Mäßigung im Umgang mit den Inselbewohnern ausspricht, aber durchaus auch Identifikation mit den deutschen Zielen im Zweiten Weltkrieg beweist. So führt er am 15. Juli 1943 unter der Überschrift ›Vom Takt und Rücksichtnahme im Krieg‹ aus: »(…) denn zum totalen Krieg gehört nicht nur die Mobilisierung aller materiellen Güter der Nation, sondern ebensosehr der volle Einsatz aller geistigen, zu denen zweifelsohne als Tochter der Vernunft auch die echte Rücksichtnahme zählt. Wieviel in der Welt schon durch kluge Rücksichtnahme erreicht und wieviel durch ihr Fehlen zerstört wurde, darüber ließen sich Bände füllen. Wir Deutschen, die wir heute zur Lenkung und Verteidigung des Schicksals der europäischen Völker berufen sind, müssen uns dies besonders klar vor Augen halten. Denn so wenig die Waffen allein uns zum Siege bringen werden, so wenig wird uns die blosse Gewalt die Vormachtstellung in Europa sichern. (…) Wo es die Verteidigung und die höchste Ausnützung des Landes für den Krieg bedingt, gibt es natürlich keine persönliche Rücksichtnahme. Für wen soll es aber z. B. gut sein, dem Engländer sein Tennis- und Golfspielen zu verbieten, wenn er die ganze Woche für uns gearbeitet hat. (…) So muss sich die deutsche Geradheit mehr in Geschmeidigkeit wandeln (…). Es wird dann nicht mehr die Rede vom taktlosen oder rücksichtslosen Deutschen sein. Dem Augenblick nur immer richtig angepasst, müssten wir sogar mit unseren guten Grundeigenschaften allen wahrhaft überlegen sein.«102 Ähnliche Gedanken formuliert von Aufseß in einem Vortrag im August 1944. Der Vortrag trägt den Titel ›Die Kanalinseln im Belagerungszustand‹: »Wir handeln hier als Besatzungsmacht auf rechtlicher Grundlage. (…) Alles, was hier geschieht, steht unter der Glasglocke der Weltöffentlichkeit. Unser Handeln wird nicht nur als ein Verhalten der Deutschen in einem besetzten Staat schlechthin gewertet, es hat auch eine unmittelbare Auswirkung auf die weit grössere Anzahl von Deutschen, die unter englischer und amerikanischer Herrschaft lebt. Nicht dass wir deswegen in unserem Handeln vom Urteil der anderen abhängen (…). Aber es gibt eine Bindung an das Recht und eine Rücksichtnahme aus Vernunft, deren wir uns bei allen Handlungen bewusst sein müssen. (…) Als Grundsatz des Rechts einer Besatzungsmacht gilt die Erhaltung des fremden Volkes. Man muss die fremde Zivilbevölkerung leben lassen und ihr nicht das Letzte nehmen. Dieser Grundsatz wurde von Herrn General Schmundt bei seinem Besuch der Kanalinseln als ausdrücklicher Wunsch des Führers bestätigt. Der Militärbefehlshaber in Frankreich, General von Stülpnagel, der Befehlshaber Nordwestfrankreich, General Vierow und General von Mühlendorf vom AOK VIII haben endlich wiederholt der hiesigen Militärverwaltung zum Ausdruck gebracht, dass für die Bedürfnisse der englischen Zivilbevölkerung in ausreichendem Mass gesorgt werden müsse.«103

Bei allen Appellen zur Mäßigung scheint aber auch dieser angeblich so moderate Besatzer von Aufseß nicht frei von Herrenmenschenallüren gewesen zu sein. Joe Mière, damals 15 Jahre alt, berichtet von einer Begegnung und charakterisiert den Freiherrn ausgesprochen negativ. Mière arbeitet in einem Hotel, das deutschen Offizieren als Unterkunft dient. Er hat schwer zu tragen, als ihm von Aufseß begegnet: »We start to cart away the plates from the plant room which was at the back of the Hotel through a very narrow passage leading to the roadway. We had to wear gloves, because there was still acid dripping from the plates (…). On one trip I was half way down the long narrow passage when a German officer started to come in the passage from the roadway. He told me to go back so that he could pass up the passageway without the plates that were still dripping acid splashing his very highly polished boots. The plates were very heavy, so I did not feel like retreating back up the passage. I told him to pass me and I did try not to let the wet plates touch his boots but my hand slipped and one of the plates did touch his boots. He went mad, and like all the so-called master race, he started to shout in English, but mostly German. Curly came along (his mother was German so he spoke German like a native). He tried to calm the officer down who was still shouting and laying down the law to me. Curly translated what the officer was going on about. He told me that he would have me arrested the next time I caused any trouble and if his high boots were damaged I would have to pay for a new pair (…). Curly told me later (…) that the officer was Baron von Aufsess (…). I was only just over 15 years old at this date and thought what a bully this Baron was, and made a note in my mind to remember his face and keep out of his way.«104 Der Wahrheitsgehalt dieser Geschichte lässt sich heute nicht mehr überprüfen. Das Bild eines cholerischen Offiziers, der nicht zögert, einen Jugendlichen wegen einer Kleinigkeit mit seiner ungesetzlichen Machtfülle zu bedrohen, ist jedenfalls überaus unsympathisch und gegensätzlich zu dem Bild, um das von Aufseß nach 1945 so bemüht war. Die auch an anderer Stelle bezeugte Eitelkeit des Freiherrn wird in der Anekdote Mières allerdings deutlich illustriert. Auch eine weitere Begegnung Mières mit von Aufseß nimmt nicht für den Freiherrn ein: »The next time I saw this German baron was in January 1944 we were up Westmount and in passing helped an old couple to cut the branch off a pine tree. A German staff car pulled up and out came two officers, one of them was the German Baron von Aufsess. We made a run for it up towards the old football field. As we looked back we saw the Baron was taking the old couple’s identity cards away from them.«105

Manchmal muss der Freiherr einige Tage nach Paris reisen, um dort weitere Maßnahmen abzustimmen. In einem Brief berichtet er von einer neuntägigen Reise. Dieser undatierte und nicht namentlich markierte Brief zeigt ebenfalls eine inhaltliche Übereinstimmung mit Teilen der nationalsozialistischen Ideologie. Von Aufseß berichtet über die Tätigkeit der Résistance in Frankreich, aber auch von Treffen mit Kollaborateuren: »In verschiedenen groesseren Waldgebieten sind bereits Truppen gegen die von den Englaendern mit reichen Waffen ausgestatteten Banden eingesetzt. Die wenigen Mutigen unter den Franzosen, die sich in Tat und Wort fuer das neue Europa einsetzen, sehen ihr Leben vielfach von Terror bedroht. (…) Am letzten Tag vor der Rueckreise auf die Insel haben wir wieder die reizende Graefin du Cor (…) besucht, denn sie gehoert auch noch zu den wenigen, die an unsere Sache glauben und sich dafuer einsetzen.«106 Doch fern solcher Ausflüge nach Frankreich dominieren für von Aufseß Mangel und friedliche Abgelegenheit das Leben auf den Inseln: »Es gibt nichts, aber auch nichts zu kaufen. Die Insel wurde in der Anfangszeit der Besatzung völlig ausgepowert. Außer den Soldatenheimen kann man weder Cafés noch Restaurants besuchen. Die Zeitungen sind so alt, dass sie nicht mehr interessieren. Die Briefe brauchen je nach Schiff oft noch viel länger. Das Stückchen Wasser trennt wie zweitausend Kilometer. Die kleine Frontbuchhandlung ist am 1. Tag nach Ankunft einer Bücherkiste sofort ausverkauft. (…) Manchmal liegt tiefste Friedlichkeit und Krieg nebeneinander, wenn ich daran denke, wie in einem Gartenhäuslein mitten in einem blühenden Garten am Meer die ersparten Geldscheine eines Soldaten zum Trocknen ausgelegt wurden, der auf einem von den Engländern versenkten Urlauberschiff mit der gesamten Besatzung ertrunken war.«107

Trotz der Verschärfung der Situation im Jahr 1944 findet der Freiherr auch jetzt noch Zeit für Frauen und Ausritte. Wenige Wochen nach der Landung der Alliierten in der Normandie, die das Ende des ›Dritten Reichs‹ einläutet, schreibt er am 30. Juli 1944 an eine Verehrerin und gibt dabei einen Eindruck von der sich zuspitzenden Situation: »Auf dem Pferd allein ist man ein wilder Naturbursche und die boesen Naechte werden dann abgeschuettelt. Ich habe mich gestern ueber manches vergraemt gehabt, aber heute bin ich wieder frisch und wohl. Es ist ein Kampf ununterbrochen mit der Verschlagenheit der Englaender, dem Egoismus der Truppe, der Kurzsichtigkeit und Denkfaulheit der ueberall vorherrschenden Mittelmaessigkeit, der Unzuverlaessigkeit aller Statistiken und bestehenden Zahlenreihen, der Fatalitaet der immer mehr sich verringernden Vorraete und der Unberechenbarkeit der Zukunft. (…) Wir haben uns gestern einmal abends im kleinen Kreis ueber unser voraussichtliches Weihnachten hier unterhalten ohne Kohle, ohne Licht, ohne Brot ohne Nachrichten usw. und wir haben dabei einen schaurigen Humor entwickelt. Der Krieg ist ja ein Feld fuer den Zynismus und was wir so am Rande der grossen Schlacht drueben alles hoeren beweist es taeglich.«108 Als von Aufseß diesen Brief schreibt, befindet sich seine Frau bereits im Gefängnis. Am 19. August 1944 wird Marilies von Aufseß wegen regimekritischer Äußerungen in Altaussee festgenommen.109 Nach dem Krieg wurde Marilies von Aufseß als ›politisch Verfolgte‹110 eingestuft. In der Chronik der Familie erinnert sich erneut Tochter Uta: »Meine etwas unvorsichtige Mutter hatte bald erkannt, was Hitler vorhatte und sprach mit allen Freunden und Bekannten recht unverblümt davon. Sie erzählte von den Briefen, die mein Vater von den englischen Kanalinseln sandte. Das sprach sich schnell herum. Eines Tages (…) tauchten zwei Gestapomänner in Ledermänteln auf und durchsuchten unser Haus. Meine Mutter versuchte noch in aller Eile, die Briefe aus England zu verstecken, was leider nicht gelang. Ich versteckte in meinem Eifer noch ½ Pfund Butter unter meinem Kopfkissen … wussten wir doch nicht, was diese Männer eigentlich wollten. Diese fackelten nicht lange, nahmen unsere Mutter in ihre Mitte und führten sie so durch das ganze Dorf ab. (…) 9 Monate saß unsere Mutter in Salzburg in einem Frauengefängnis. (…) Für uns Kinder war das keine schöne Zeit, da Mutter uns schon sehr früh beigebracht hatte, dass wir in der Schule nicht Heil-Hitler sagen müssten und die Nazis sowieso alles Ganoven wären. (…) Wir hörten nichts von ihr, bis in den letzten Kriegstagen die Gefängnisse geöffnet wurden und sie (…) nach Altaussee gebracht wurde.«111

Nicht mehr beweisbar ist die im Zuge des späteren Entnazifizierungsverfahrens aufgestellte Behauptung, Hans Max von Aufseß sei vom sogenannten »Volksgerichtshof« wegen der bei seiner Frau gefundenen regimekritischen Briefe angeklagt worden. Lediglich die abgeschnittene Lage der Kanalinseln habe ihm dabei das Leben gerettet. Eine gewisse Skepsis ist aber bei den so präzisen Erinnerungen einer bei Festnahme der Mutter Achtjährigen genauso angebracht wie bei den vielen, nach Kriegsende ähnlich erzählten Geschichten von vermeintlichem Widerstand und NS-Opposition.112

Im März 1945 enthebt Hüffmeier den ihm zu kritischen von Aufseß und versetzt ihn zur Nebenstelle nach Guernsey. Das Kriegsende und die Übergabe der Inseln an die englischen Sieger lässt die militärische Führung durch von Aufseß und damit durch den Leiter der Zivilverwaltung verkünden. In einer von zwei Versionen des letzten Bandes der Tagebücher reflektiert der Freiherr über die Jahre auf den Kanalinseln und die düstere Zukunft: »Über allem lag ein gnädiger Segen, auf den ich dankbar zurücksehe. (…) Fast trostlos sieht die Zukunft der Liebsten, der Heimat und der eigenen Person aus. Dennoch will ich mich nicht danieder beugen lassen, denn wenn mich schon der Krieg so gesund bewahrt hat, so werde ich schon langsam in Friedenzeiten (sic!) die Heimat die Liebsten und mich wieder hochbringen. Das ist die grosse Verpflichtung aus diesem wohlüberstandenen Krieg.«113

Nach der Befreiung der Kanalinseln gerät von Aufseß in Kriegsgefangenschaft. Folgt man Madeleine Bunting, die allerdings keinen Beleg für die Behauptung nennt, steht sein Name sogar auf der ›Central Registry of War Criminals and Security Suspects‹-Liste (CROWCASS) für Kriegsverbrecher, welche die Vereinten Nationen führen: »The Bailiffs of both Guernsey and Jersey were anxious that a small number of German officers in the islands’ military governments should be brought to trial for war crimes committed against islanders. They claimed there had been two war crimes: the deportation of islanders to German internment camps and the cutting back of civilian rations during the last year of Occupation. Evidence was collected, detailed physical descriptions of the alleged culprits were taken, and a list of about half a dozen names, including Baron von Aufsess and Oberst Knackfuss, was drawn up and registered with CROWCASS (…).«114 Die Ausbeutung der ausländischen Zwangsarbeiter scheinen die Bailiffs allerdings nicht als Kriegsverbrechen betrachtet zu haben. Auch die Verfolgung, Entrechtung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung, zu der die Inselbehörden Beihilfe geleistet haben, wird von ihnen nicht als Kriegsverbrechen angesehen.

Hans Max von Aufseß kommt am 10. Juni 1945 in das bekannte ›Camp 18 – Featherstone Park‹, das unweit des römerzeitlichen Hadrianswalls im nordenglischen Northumberland liegt.115 ›Camp 18‹ ist mit fast 5000 Inhaftierten, die große Mehrzahl davon Offiziere, eines der größten Kriegsgefangenenlager auf der britischen Insel. In diesem Lager werden überwiegend besonders überzeugte Nationalsozialisten gefangen gehalten. Eine Verfolgung wegen der von den Bailiffs geschilderten Kriegsverbrechen unterbleibt laut Bunting aber aus heute unbekannten Gründen: »No documents survive as to why the prosecutions were abandoned.«116